3. Der Fremde
Caitlin
Ich bin nach wie vor überzeugt, dass mein Herz stehen blieb, als sich plötzlich eine warme, starke Hand auf meinen Mund legte, während sich ein anderer Arm fest um meine Taille schloss. Im nächsten Augenblick wurde ich zur Seite gerissen, und dann raste der Waldboden unter meinen Füßen dahin, während ich vor Angst regelrecht gelähmt war. Der Vampir rannte mit mir auf den Armen so schnell durch den Wald, dass ich nicht hätte sagen können, ob seine Füße die Erde überhaupt berührten. Ich starrte wie gebannt auf den Boden, der so schnell unter mir hinweghuschte, dass alles zu einem schwarzen Band verschwamm.
Mir wurde übel, als ich daran dachte, was nun folgen würde. Er würde mich aussaugen, so wie es diese verdammten Vampire immer taten. Wie sie es damals mit meinen Eltern gemacht hatten. Ich konnte mich noch so gut an das langsame, feuchte, saugende Geräusch erinnern, mit dem sie erst meinem Vater und dann meiner Mutter das Leben genommen hatten. An die erst entsetzten, dann gequälten Schreie meiner Mutter, die mich unter ihren Röcken versteckt hatte, in der verzweifelten Hoffnung, die Vampire würden mich übersehen und nur sie töten. Eine unsinnige Hoffnung, bedachte man, dass ein Vampir einen Menschen auf mehrere hundert Schritte weit riechen konnte. Wir waren die Beute, sie die Jäger. Natürlich waren sie uns weit überlegen. Und sie hätten mich an diesem Tag sicherlich getötet – wäre nicht mein unbekannter Retter gewesen. Ich fragte mich oft, wer es wohl war, dem ich mein Leben zu verdanken hatte. Was ihn wohl veranlasst hatte, so zu handeln. Und wie es ihm gelungen war, sich gegen den Vampir zu stellen.
Ich hätte schon vor so langer Zeit sterben sollen, doch ich hatte wie durch ein Wunder überlebt. Das Schicksal ließ sich wohl nicht zum Narren halten, und so war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es zurückforderte, was ihm vorenthalten worden war. Es sah ganz so aus, als ob heute dieser Tag wäre. Ich fühlte mich wie in einem meiner Träume versetzt. Fast jede Nacht erlebte ich den Tag, an dem ich meine Eltern verloren hatte, wieder und wieder. Jetzt war der Traum Wirklichkeit geworden. Meine Zeit war endgültig abgelaufen, das Spiel vorbei. Ich hatte gewusst, dass ich ihm nicht entkommen würde, als ich mich umgewandt hatte und gerannt war. Warum war ich auch so töricht gewesen und hatte mich so weit vom Dorf entfernt? Warum nur hatte ich nicht auf meine innere Stimme gehört, die mir eindringlich zugeflüsterte hatte, dass ich mich in Gefahr begab? Doch jetzt war es zu spät, mir deswegen Vorwürfe zu machen. Ich würde für meinen Fehler bezahlen.
Eine endlose Zeit fühlte ich nur den eisigen Hauch des Windes, der mir durch das Haar fuhr, als wir durch die Nacht zu fliegen schienen, und die kräftigen Arme, die mich hielten. Warum hatte er seinen Worten noch keine Taten folgen lassen, wunderte ich mich. Warum brachte er mich nicht einfach um? Wohin brachte er mich jetzt? Ein schrecklicher Verdacht stieg in mir auf. Wollte er mich an einen Ort bringen, an dem er mich ungestört foltern konnte? An dem er meinen Tod - bis zum letzten Tropfen - auskosten konnte? Vielleicht liebte er es, seine Opfer langsam zu töten. Vielleicht schmeckte mein Blut tatsächlich süßer, wenn ich Qualen litt.
Ich wusste, wie es sich anhörte, wenn ein Mensch Qualen litt. Ich war einmal Zeuge gewesen, als Richter Brans Männer einen der Verlorenen hingerichtet hatten. Zuerst hatten sie ihn ein wenig erhangen, bis er gerade noch so lebte. Das schreckliche Würgen und die bläuliche Farbe, die sein Gesicht nach und nach angenommen hatte! Und dann hatten sie ihn auf die Streckbank gelegt und langsam auseinander gerissen. Als wäre es gestern gewesen, hörte ich das ekelerregende Knirschen, mit dem seine Schultergelenke aus der Fassung gesprungen waren, noch immer in meinen Ohren klingen. Und den beinahe unmenschlichen, schrillen Schrei, den er in den letzten Augenblicken seines Lebens ausstieß, kurz bevor er vor Schmerzen das Bewusstsein verloren hatte...was musste er gelitten haben! Ob es mir heute wohl ähnlich ergehen würde? Ob das letzte, was diese Welt von mir vernahm, auch so ein entsetzlicher, durchdringender Schrei sein würde?
Auf einmal fiel da die Erstarrung von mir ab, und ich versuchte fieberhaft, mich zur Wehr zu setzen. Ich wusste, dass ich keine Chance gegen ihn hatte, doch ich kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung. Er hatte seine Arme fest um mich geschlungen und drückte mir dadurch die Arme an den Oberkörper, so dass es mir nicht möglich war, freizukommen oder mich auch nur ein klein wenig zu bewegen. Ich versuchte zu schreien, doch der Laut wurde durch die Hand über meinem Mund zu einem unbestimmten Murmeln abgedämpft. Versuchsweise schnappte ich mit meinen Zähnen nach ihr, und tatsächlich gelang es mir, die Schneidezähne in einem seiner Finger zu versenken. Ich hörte ein überraschtes, ersticktes Aufkeuchen, und ich gewahrte, wie er leicht zusammenzuckte, doch die Hand bewegte sich keinen Deut von der Stelle.
„Verdammt, halt still! Er ist uns noch immer dicht auf den Fersen!“, raunte mir eine sanfte, tiefe Stimme beschwörend ins Ohr. „Und ich warne dich: wenn du noch einmal versuchst, mich zu beißen, drücke ich noch fester zu, und dann wirst du Schwierigkeiten haben, Luft zu bekommen!“, fügte sie in drohendem Tonfall hinzu.
Ich keuchte überrascht auf. Das war nicht die Stimme des Vampirs, der mich verfolgt hatte! Einem Donnerschlag gleich hallte die Erkenntnis in mir wieder. Ich kannte diese Stimme! Es war lange her, dass ich sie zuletzt vernommen hatte, und ich konnte mich auch nicht mehr entsinnen, wem sie gehörte, doch sie vermittelte mir ein unglaublich starkes Gefühl der Sicherheit. Zögernd entspannte ich mich und vertraute mich dem Unbekannten an, der mir gerade das Leben rettete. Zumindest hoffte ich das. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass es mein Los verbesserte, wenn ich mich in seinen Händen statt in denen Elenzars befand.
Ich vernahm ein wütendes, bedrohliches Knurren in unserem Rücken und begriff, dass der rotäugige Vampir uns nach wie vor verfolgte. Wir schienen jetzt nur so durch den stockfinsteren Wald zu fliegen; die kalte Nachtluft schlug mir wie ein eisiger Windstoß entgegen. Schon bald wich jedwedes Gefühl aus meinem Gesicht. Der Atem stach spitzen Nadel gleich in meiner Lunge. Hin und wieder erhaschte ich durch die bereits herbstlich kahlen Äste der Bäume einen Blick auf den Mond, der sichelförmig über dem Horizont erschienen war, ansonsten umgab mich tiefste Schwärze. Bald war mir, als habe ich die Fähigkeit zu sehen endgültig verloren. Es war ein beunruhigendes Gefühl. Noch beunruhigender war das zornige Zischen unseres Verfolgers dicht hinter uns – so dicht, dass ich schon glaubte, seinen feuchten Atem in meinem Nacken zu fühlen. Ein leiser Schauer rann durch mich hindurch, und mein Retter schien dies zu spüren. Die Arme, die mich hielten, schlossen sich noch ein wenig fester um mich.
„Ganz ruhig“, murmelte er mir beruhigend zu. „Wir haben fast das Dorf erreicht. Bald bist du in Sicherheit. Dir wird nichts geschehen.“ Und seltsamerweise glaubte ich ihm.
Nach einer Zeit, die mir sehr lang erschien, fühlte ich endlich wieder festen Boden unter meinen Füßen. Taumelnd kämpfte ich um mein Gleichgewicht und stützte mich schwer auf den Arm, der mir augenblicklich zu Hilfe kam. Als die schwarzen Schleier schwanden, die mir die Sicht genommen hatten, blickte ich auf – und gewahrte, dass wir uns bereits im Dorf befanden! Unbemerkt, lautlos und ohne die geringste Anstrengung hatten wir die Palisaden überquert! Und ich hatte immer so sehr auf die Sicherheit hinter dem hölzernen Bollwerk vertraut!
Dann erinnerte ich mich wieder meines geheimnisvollen Retters, der schweigend vor mir stand. Ich fühlte seinen nachdenklichen Blick auf mir ruhen. Scheu sah ich zu ihm auf - und mir stockte der Atem. Ich sah in ein Paar warme Augen, deren Farbe ich im spärlichen Licht des Mondes nicht so recht zu erkennen vermochte – rot waren sie jedoch nicht, dessen war ich mir gewiss. Ihnen fehlte der eiskalte, entrückte Glanz, der den Augen der anderen Vampire inne gewohnt hatte. Ganz im Gegenteil schienen die seinen von einer außergewöhnlichen Tiefe zu sein, die dem zufälligen Betrachter verborgen blieb. Ich war jedoch kein zufälliger Betrachter. Ich glaubte, so etwas wie Verlorenheit und tiefe Trauer in ihnen zu lesen – Gefühle, die mir nicht fremd waren. Vermutlich erschienen sie mir deswegen so offensichtlich.
Die Augen, die mich so gefesselt hatten, lagen in einem ebenmäßigen Gesicht, das von rabenschwarzem, dichten Haar umrahmt wurde. Es fiel ihm leicht in die Stirn, was ihm ein beinahe jugendliches Aussehen verlieh – obwohl ich vermutete, dass er doch ein paar Sommer älter war als ich.
Vor mir stand ein Vampir, ohne jeden Zweifel, seine Kraft und seine Schnelligkeit hatten ihn verraten. Ich wusste, dass Vampire gefährlich waren. Tödlich. Ich hatte es selbst erleben müssen. Und dennoch empfand ich seltsamerweise keine Angst. Er war mir irgendwie .... vertraut. Als würde ich ihn irgendwoher kennen...
Ich muss ihn viele Augenblicke lang sprachlos und wie gebannt angestarrt haben, und er schien mich nicht minder intensiv zu betrachten. Nicht wie der andere Vampir, nicht wie ein Jäger seine Beute. Er musterte mich neugierig und...beinahe liebevoll? Er fing sich jedoch schnell wieder, und ein leises Lächeln huschte über seine Lippen, bevor seine Miene wieder sehr ernst wurde.
„Geht es dir gut?“, erkundigte er sich schließlich leise.
Ich nickte wortlos, ich hatte meine Stimme noch immer nicht so weit unter Kontrolle, dass ich auch nur einen Ton über meine Lippen hätte bringen können. Der Schreck saß mir noch in den Gliedern.
„Das war ganz schön knapp. Bist du des Lebens schon so müde, dass du bewusst den Tod suchst?“ Er sprach immer noch sehr leise, doch ich hörte den Vorwurf deutlich heraus. Mühsam riss ich mich zusammen.
„Ich habe mich verirrt“, erklärte ich mit unsicherer, zitternder Stimme.
Die vollen Lippen verzogen sich ungläubig und missbilligend, und seine breiten, dunklen Augenbrauen zogen sich wie die Schwingen eines Raben über den ausdrucksstarken Augen zusammen.
„Wie dem auch sei, es wird in Zukunft nicht mehr vorkommen, dass du alleine in der Dunkelheit durch den Wald streifst!“, stellte er schon beinahe beiläufig fest. So, als habe ich in dieser Hinsicht nichts zu sagen, und als wäre es alleine an ihm, über mein Tun und Lassen zu bestimmen. Unwillkürlich richtete ich mich ein wenig auf. Er mochte recht haben - ich wusste selbst, dass ich einen Fehler begangen hatte, und ich gedachte nicht, ihn zu wiederholen. Dennoch regte sich leiser Widerstand in mir. Doch aus Erfahrung wusste ich, dass es nicht ratsam war, dem nachzugeben und einem Mann zu widersprechen. Zudem einem, den ich nur so flüchtig kannte und der augenscheinlich um einiges stärker war als ich selbst.
„Und jetzt solltest du rasch hineingehen!“, drängte der Fremde und nickte mit dem Kopf in Richtung des Hauses, das ich zusammen mit meinem Großvater und zwei meiner Brüder bewohnte. Wir standen nur wenige Schritte weiter die Straße hinunter, verborgen in den Schatten des Nachbarhauses, einen Steinwurf von unserer Haustüre entfernt. Ich sah einen schwachen Lichtschimmer unter der schweren Eichentüre hindurch dringen, und aus dem Kamin drangen kleine Rauchwolken, die sich hell gegen den dunklen, sternenklaren Himmel abhoben und im Wind verwehten. Woher hatte er nur gewusst, wohin er mich bringen musste, fragte ich mich. Er hatte kaum ein Wort mit mir gewechselt, und ich hatte ihm den Weg nicht gewiesen. Hatte er meinen Geruch verfolgt? Es wäre eine mögliche Erklärung...
„Die Tore sind schon lange geschlossen. Deine Familie wird in großer Sorge um dich sein. Bete, dass sie noch nicht die Wachen auf dein Verschwinden aufmerksam gemacht haben!“, fuhr der Fremde fort und riss mich damit abrupt wieder in die Gegenwart zurück. Ich erschrak. Bis zu diesem Augenblick war ich zu erleichtert gewesen, dass ich tatsächlich überlebt hatte, um mir der Gefahr bewusst zu sein, in der ich nach wie vor schwebte. Ein Dorfbewohner, der die Tore nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichte, wurde zu den Verlorenen gezählt. Einem Verlorenen war es auf ewig verwehrt, das Dorf erneut zu betreten. Tat er es dennoch, war er des Todes. Es wurde angenommen, dass jene Menschen entweder den Vampiren zum Opfer gefallen waren oder sich mit ihnen verbündet hatten. Ich fragte mich, woher mein Retter all dies wohl wusste. Nichts als Fragen, und keine Antworten. Der Fremde war ein einziges Mysterium. Doch ich hatte jetzt keine Zeit, lange darüber nachzusinnen. Ich musste so schnell wie möglich nach Hause.
Rasch sah ich wieder zu ihm auf. „Werde ich dich wiedersehen?“ fragte ich leise. Ich wollte mich noch nicht von ihm trennen. Er hatte mein Leben gerettet, und ich fühlte mich ihm so nah. Mich jetzt von ihm verabschieden zu müssen ohne ihn jemals wiederzusehen – der Gedanke schmerzte. Ich kannte noch nicht einmal seinen Namen!
Er sah mich nachdenklich an. Ich konnte seinen Blick nicht recht deuten. Sich widersprechende Gefühlsregungen spiegelten sich für einen kurzen Moment in den dunklen Augen wieder, doch es geschah zu schnell, als dass ich sie hätte benennen können. Dann streckte er langsam den Arm aus und strich mir sanft mit dem Handrücken über die Wange. Die Wärme seiner Haut schien bis auf meine Knochen zu dringen, und sie entzündete ein kleines Feuer in meinem Herzen.
„Ich sollte dies nicht tun“, flüsterte er. „Aber ich werde da sein. Du wirst schon sehen.“ Im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Fassungslos sah ich ihm hinterher – oder zumindest in die Richtung, in die er meiner Meinung nach verschwunden war. Auf einmal fühlte ich mich sehr einsam und sehr schutzlos.
Texte: (c) by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2010
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