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2. Begegnung




Ray



Der Schattenclan machte uns den Teil des Waldes, den mein Vater von seinem Vater erhalten hatte, streitig, so lange ich mich erinnern konnte. Seit mein Großvater gestorben war tobte ein Konflikt zwischen den beiden Vampirclans der Caldunwälder. Im Grunde ging es um die Frage, ob es rechtens war, Menschen zu töten. Mein Vater hatte sich schon immer auf die Seite der Menschen geschlagen, doch als er meine Mutter kennenlernte, war sein Schicksal endgültig besiegelt – meine Mutter war ein Mensch gewesen. Und natürlich ging es – vor allem anderen – auch um das Land. Das Land, von dem meine Cousins überzeugt waren, dass es ihnen rechtmäßig zustand. In ihren Augen war unser Clan nur eine Horde Abtrünniger, und mein Großvater ein sentimentaler alter Narr, der sie um einen Teil ihres Erbes betrogen hatte. Es wurde gemunkelt, dass er keines natürlichen Todes gestorben war.


Mit dem Tod meiner Mutter hatte dieser Streit noch an Intensität gewonnen. Immer wieder kam es zu Kämpfen an unseren Grenzen. Wir erhielten ein zuverlässiges Netz aus Grenzwachen aufrecht, um den Schattenclan daran zu hindern, auf unserem Gebiet zu jagen. Normalerweise waren wir über die Raubzüge des Feindes dank mehrerer Späher recht gut unterrichtet. Natürlich gelang es ab und an einzelnen Vampiren, die Grenzen zu überschreiten und den ein oder anderen Menschen zu töten, doch meist konnten wir sie daran hindern. Meist, jedoch nicht immer. Es war einer jener Tage gewesen, an dem ihre Eltern gestorben waren.

All dies ging mir durch den Kopf, als ich lautlos durch das Unterholz des Waldes huschte. Eine leichte Brise fuhr mir durch das Haar, und ich vernahm das leise Rascheln der herbstlich verfärbten Blätter, die im Wind aneinander rieben, sich flüsternd zu unterhalten schienen. Ein paar lösten sich von einer Buche zu meiner Linken und fielen in einem tiefrot schimmernden Regen zur Erde.
Wieder einmal ging die Sonne unter, ihre letzten Strahlen tauchten den Wald in ein düsteres, blutrotes Licht. Eine Vorahnung?
Mich schauderte, und ich beschleunigte meine Schritte. Wieder einmal ging ein Tag zur Neige, wieder einmal schickte ich mich an, über ein schlafendes Mädchen zu wachen - wie ich es jede Nacht tat, seit nunmehr elf Sommern. Ich konnte mich noch in aller Deutlichkeit erinnern, wie alles damals begonnen hatte.
*****

Mein Cousin Elenzar hatte mit ein paar anderen Vampiren einige unserer Wachposten überwältigt und war bis tief in unser Gebiet eingedrungen. Sie waren auf Menschen gestoßen, die so unvorsichtig waren, den Wald kurz vor Sonnenuntergang zu betreten. Es sollte ihr letzter Fehler gewesen sein.

Ich war damals zwölf Sommer alt, und mein Onkel hatte mich nur mitgenommen, weil ich ihm keine Ruhe damit gelassen hatte. Ich war ein schwieriger Junge gewesen, er war froh, dass ich überhaupt Interesse an etwas zeigte. Und ich konnte schon äußerst geschickt mit meinem Schwert umgehen – es war das Schwert meines Vaters, und ich hatte mich immer dann, wenn der Schmerz zu groß wurde, in meinen Übungen vergraben. Auf diese Weise gelang es mir manchmal, wenigstens für ein kleine Weile zu vergessen.
Und so hatte Jaro mir meinen Wunsch gewährt, obwohl ich eigentlich noch zu jung war, um in den Kampf zu ziehen. Jedoch nur unter der Bedingung, dass ich nicht einen Augenblick von seiner Seite weichen würde.

Wir waren auf der Lichtung angelangt, und alles, was ich sah, war ein kleines, blondes Mädchen, dass völlig verängstigt und entsetzt neben den Leichen einer Frau und eines Mannes, augenscheinlich ihre Eltern, kniete, und ihrem nahen Tod in Gestalt meines Cousins ins Auge sah. Sie schrie nicht, sondern erwiderte kreidebleich den hungrigen, rotglühenden Blick, obwohl ihr Tränen der Trauer und der Angst über die Wangen flossen. Ich unterdrückte einen entsetzten Aufschrei. In jenem Moment sah ich mich dort kauern, und neben mir lagen die leblosen Körper meiner Eltern. Ich wusste genau, was jenes kleine Mädchen empfand. Und ich konnte nicht anders. Obschon mein Onkel noch kein Zeichen zum Angriff gegeben hatte, stürmte ich über die Lichtung auf das Mädchen zu. Ich riss Elenzar von ihr fort – woher ich die Kraft dazu nahm, kann ich bis heute nicht sagen. Es muss die Kraft der Verzweiflung gewesen sein. Und natürlich war der Moment der Überraschung auf meiner Seite.
Elenzar, bis zu diesem Augenblick völlig auf seine Beute fixiert, fauchte aufgebracht und bleckte die Zähne, als ich es wagte, mich zwischen ihn und das Mädchen zu drängen und sie mit meinem Körper vor ihm abzuschirmen. Seltsamerweise verspürte ich in jenem Moment jedoch keinerlei Furcht. Alles was zählte war das Leben des unschuldigen Mädchens. Ich zog das Schwert aus der Scheide und ging leicht in die Knie, ohne meinen Gegner auch nur einen Augenblick lang aus den Augen zu lassen. Ich beobachtet jede seiner Bewegungen. Roter Hass schlug mir aus seinen Augen entgegen, doch ich zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ein leises Knurren ließ meinen Brustkorb erbeben, und Elenzar lachte leise.
„Glaubst du wirklich, du seist ein Gegner für mich, Kleiner? Geh mir aus dem Weg und lass mich mein Mahl beenden, dann werde ich mich um dich kümmern, wenn du so erpicht darauf bist, mit deinen Eltern vereint zu werden!“
Das leise Schluchzen des Mädchens in meinem Rücken schnitt mir einem Messer gleich ins Herz, und ich schüttelte entschieden den Kopf.
„Du wirst mich zuerst töten müssen!“, entgegnete ich entschlossen und umklammerte das Schwert in meinen Händen noch fester. Es war kein Breitschwert, dennoch war es für meine Arme noch zu schwer, als dass ich es mit einer Hand hätte führen können.
Elenzar zuckte die Achseln. „Wenn du darauf bestehst.... Aber weißt du, ich hatte eigentlich vor, noch ein wenig damit zu warten. Ich hätte nicht gedacht, dass Jaro es zulässt, dass du dich in Gefahr begibst, und da sagte ich mir, es wäre doch so viel besser, dich erst zu töten, wenn du weißt, wie schön das Leben sein kann. Wenn du weißt, was du verlierst.“ Mein Cousin musterte mich nachdenklich.
„Aber vielleicht verwunde ich dich auch nur. Und dann darfst du dabei zusehen, wie sie stirbt. Ganz langsam und qualvoll. Wie deine Mutter damals, kannst du dich noch erinnern?“
Ich erbleichte, und Elenzars Augen glühten vor Begeisterung. „Oh ja, du erinnerst dich!“, seufzte er. „Das war kein Anblick, den man so schnell wieder vergisst, oder?“
Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, und mir wurde übel. Ich war wie erstarrt, und die Erinnerungen drohten, mich wieder einmal zu überwältigen. Er würde gewinnen, wie er bis jetzt immer gewonnen hatte. Ich war ein Narr gewesen, zu glauben, dass ich bereit war. Ich war es nicht.
Ich taumelte einen Schritt zurück, und dann noch einen. Die Schreie meiner Mutter klangen wieder in meinen Ohren, schrill, panisch, verzweifelt. Ich schauderte.
„Ray!“, drang da Jaros Stimme durch den Nebel der Vergangenheit zu mir durch. „Ray, Junge!“
Kräftige, warme Hände packten meine Schultern und schüttelten mich leicht. Wie betäubt blickte ich in die bekannten, gütigen Augen auf, die mich besorgt musterten.
„Wo ist er?“, fragte ich erstaunt. „Elenzar, wo ist er hin?“
„Er hat das Weite gesucht – unsere Überzahl war ihm zu groß. Ist mit dir alles in Ordnung, Junge? Hat er dich verletzt?“
„Nein“, murmelte ich leise.
„Was hast du dir nur dabei gedacht! Einfach so voran zu stürmen – er hätte dich töten können!“
„Das Mädchen! Ich wollte das Mädchen retten...“
Erschrocken wandte ich mich um – und da war sie. Sie schien sich die ganze Zeit keinen Deut von der Stelle gerührt zu haben. Wie erstarrt verharrte sie halb kniend, die linke Hand nach wie vor fest um die ihrer Mutter geschlossen.
„Kümmere dich um sie und bleib bei ihr, Ray. Ich muss Logan helfen, diese verdammte Horde in die Flucht zu schlagen“, meinte mein Onkel. Ich nickte nur, die Augen nach wie vor auf das Mädchen geheftet.

Ehe ich mich versah, kniete ich vor ihr nieder. Große, blaue Augen sahen zu mir auf, und dann legte sich eine kleine, kühle Kinderhand vertrauensvoll in meine. Ich schluckte, und eine kleine Ewigkeit sahen wir uns verblüfft an. Nur mühsam konnte ich mich von diesem erstaunlich direkten Blick lösen, der bis tief in mein Innerstes zu sehen schien.
Da gewahrte ich auf einmal, dass das Kind kurz davor war, zusammenzubrechen, und ich nahm sie vorsichtig und behutsam auf meine Arme. Sie legte die Arme um meinen Nacken und schmiegte sich eng an meine Brust, begann leise zu zittern und beruhigte sich wieder. Ihr Körper entspannte sich, wurde schwerer, der kleine Kopf barg sich Schutz suchend an meiner Schulter. Ich erstarrte, wie vom Donner gerührt. Auf einmal verspürte ich den übermächtigen Drang, dieses Mädchen, das so zerbrechlich und zart schien, vor allem Bösen auf dieser Welt zu bewahren. Meine Hände schlossen sich instinktiv fester um den schmalen Körper. Leise und beruhigend murmelte ich ihr tröstende Worte zu, und ihre Augen schlossen sich. Ihre Atemzüge wurden langsamer und regelmäßiger, und kurze Zeit später erschlaffte sie vollständig in meinen Armen – sie war eingeschlafen, doch ihre kleinen Fäuste waren nach wie vor fest in meinen Mantel gekrallt. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich es nicht über mich gebracht, diesen verzweifelten Griff zu lösen, mit dem sie sich am Leben festklammerte. Sie hatte soeben alles verloren. Ich war der einzige Halt, den sie hatte. Ich würde ihr das nicht nehmen. Ich wusste zu gut, wie sich Schmerz und Verlust anfühlten.

Eine kleine Weile stand ich so schweigend am Waldrand, das Mädchen in meinen Armen, und versuchte, meiner Gefühle Herr zu werden. Dieses kleine, unschuldige Wesen, das mir so vorbehaltlos vertraute, berührte mein Herz in einer Art und Weise, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich hatte mir geschworen, dass dies nie geschehen würde. Und dennoch war ich hilflos. Ich konnte das Kind nicht sterben lassen. Wenn ich ihm jetzt den Rücken kehrte, wäre sein Tod besiegelt.
Und so nahm ich an dem kurzen, heftigen Kampf, der auf der Lichtung tobte, nur als Beobachter teil, der Ausgang war ohnehin offensichtlich. Selbst der stärkste Kämpfer ist einer solch überwältigenden Überzahl nicht gewachsen. Wir hatten unsere Gegner überrascht, und obschon wir jeden Grund gehabt hätten, sie alle zu töten, um unsere eigenen Verluste zu rächen, taten wir das nie. Wir töteten nicht zum Vergnügen. Das war eine der Regeln, denen der ganze Clan folgte, auch wenn es dem einen oder anderen sichtlich schwer fiel. Wir töteten nur, um uns und andere zu verteidigen. Hätten wir uns der blinden, mächtigen Wut und dem Hass hingegeben, würden wir früher oder später zu dem werden, was wir zu bekämpfen suchten. Gründe für Hass und Wut gab es zur Genüge. Wir hatten bereits viele Verluste hinnehmen müssen, seit wir uns für diesen Weg entschieden hatten. Es gab nicht eine Familie, die nicht jemanden verloren hatte. Oh ja, wir alle wussten, was Schmerz ist. Doch der Schmerz verschwand nicht, wenn man Rache nahm. Das hatte uns die Vergangenheit gelehrt.

Wenig später war der Kampf auf der Lichtung vorüber; die Überlebenden hatten ihr Heil in der Flucht gesucht, dem feigen Beispiel Elenzars folgend. Jaro kam zu mir herüber. Nachdenklich blickte er auf das kleine Bündel in meinen Armen.
„Sie wird nie wieder sicher sein, bist du dir dessen bewusst?“ fragte er ruhig. „Elenzar ist entkommen, und er wird nicht eher ruhen, bis er sich für diese Niederlage hier rächen kann. Das Mädchen ist ein leichtes Opfer, und er hat jetzt eine Möglichkeit gefunden, dich zu verletzen.“
Ich nickte. „Es tut mir leid, ich konnte nicht anders“, flüsterte ich.
Mein Onkel musterte erst mich, dann das kleine Mädchen in meinen Armen aufmerksam und schweigend. Schließlich nickte er ebenfalls.
„Willst du sie in unsere Familie aufnehmen? Sie annehmen an Kindes Statt?“, fragte er. Neugierde blitzte kurz in seinen Augen auf, doch ich sah auch die Güte, die genauso zu meinem Onkel gehörte wie die unglaublich intensive, grüne Augenfarbe. Ich wusste, dass er es ernst meinte. Nach dem Tod meines Vaters hatte er mich ohne das leiseste Zögern in seine Familie aufgenommen, sich um mich gekümmert, als sei ich einer seiner anderen Söhne. Es war nicht leicht gewesen, ich wusste, dass ich verstört und traumatisiert war, keine leichte Aufgabe, zumal Jaro zudem mit seiner neuen Bürde, die Stelle meines Vaters als Anführer des Clans zu übernehmen, zu kämpfen hatte. Doch er hatte mich das nie spüren lassen.
„Ich könnte sie ebenfalls aufnehmen, wenn die Verantwortung dir zu groß erscheint. Auf ein Kind mehr oder weniger kommt es wirklich nicht mehr an“, bot Jaro mir achselzuckend an, nachdem ich eine lange Weile geschwiegen hatte.
Ich schluckte. Widerstreitende Instinkte kämpften in mir. Einerseits wollte ich, dass das Mädchen sicher war. Die Menschen konnten sie nicht verteidigen, aber dennoch gehörte sie zu ihnen. Sie war ein Mensch, und es wäre falsch, sie zu zwingen, bei uns zu leben. Sie wäre immer ein wenig anders als alle anderen. Ich wusste nur zu gut, wie sich das anfühlt, anders zu sein. Ich hatte mir immer gewünscht, so sein zu können wie alle anderen. Dann hätte ich wenigstens gewusst, wo mein Platz ist. Halb Mensch, halb Vampir, hatte ich mich nie wirklich irgendwo zugehörig gefühlt, mit Ausnahme meiner Familie, und die war mir genommen worden...
Ich schüttelte langsam den Kopf. Nein, das würde ich dem kleinen Mädchen nicht antun. Nicht, nachdem sie heute ihre Familie verloren hatten. Wiederum wusste ich nur zu gut, wie sich dieser Schmerz anfühlte. Und wäre sie bei meinem Clan wirklich in Sicherheit? Wenn wir jederzeit mit einem Angriff der anderen Vampire rechnen mussten? Nein, entschied ich. Und vielleicht hatte sie ja heute nicht ihre gesamte Familie verloren...
„Ich werde sie zurück in das Dorf bringen. Ich folge ihrem Geruch und versuche herauszufinden, ob sie noch eine Familie hat, die auf sie Acht geben kann. Sollte dies der Fall sein, werde ich sie im Dorf lassen. Ich will nicht, dass sie heute ALLES verliert. Wenn sie keine Familie mehr hat, dann werde ich dich bitten, sie in den Clan aufzunehmen“, erklärte ich.
„Du bürdest dir große Verantwortung auf“, meinte Jaro, doch ich sah das gütige Lächeln in seinen Augen.
Ich wusste, worauf er anspielte. Ich würde das Mädchen nicht sich selbst überlassen können, nicht, nachdem Elenzar gesehen hatte, wie ich sie rettete. Das bedeutete, dass ich von nun an über sie würde wachen müssen, sollte sie überleben.
„Ich bin der Aufgabe durchaus gewachsen“, erklärte ich mit fester Stimme.

Würde ich nicht weiterhin auf sie Acht geben, dann würde sie leiden müssen. Unendlich leiden, um meinen Schmerz zu mehren. Das konnte ich nicht zulassen. Ich konnte mich nur zu gut erinnern, wie meine Mutter gelitten hatte. Ich war dabei gewesen. Carum – ich weigerte mich nach wie vor, ihn auch nur in meinen Gedanken Onkel zu nennen - hatte sehr daran gelegen, dass ich ihren Schmerz mitbekam. Sie war gestorben, irgendwann, nach endlosen Qualen, während derer ich verzweifelt an meinen Fesseln gezerrt hatte. Ich hatte sie nicht retten können. Und mein Vater war zu spät gekommen. Gerade noch rechtzeitig, um ihre letzten Atemzüge zu erleben. Sie war in seinen Armen gestorben, und ich wusste, mein Vater wäre ihr am Liebsten gefolgt. Doch es gab ja noch mich. Sie hatte ihm das Versprechen abgenommen, auf mich Acht zu geben. Ich hatte die Verzweiflung in seinen Augen gesehen.
Damals schwor ich mir, nie wieder jemanden so nahe an mich heranzulassen. Nie wollte ich den Schmerz erleben müssen, der meinen Vater so viele Jahre verfolgte. Letztlich hatte er seinen Tod regelrecht herbeigesehnt. Als ich zehn Sommer zählte war sein Wunsch dann in Erfüllung gegangen, und ich war zur Waise geworden.

Und so hatte ich das kleine Mädchen zurück in ihr Dorf gebracht. Ich hatte festgestellt, dass sie tatsächlich noch eine Familie hatte, die sich um sie kümmern konnte – einen Großvater und zwei Brüder, die für sie sorgen würden. Der Ältere der beiden Brüder teilte sich ein Zimmer mit ihr, und er schien vertrauenswürdig zu sein. Verlässlich. Er liebte sie, das konnte man sehen. Er würde sich gut um sie kümmern.
Natürlich konnte er sie nicht ausreichend schützen. Das war von nun an meine Aufgabe.

*****

Den ganzen Abend schon hatte ich das seltsame Gefühl gehabt, dass irgend etwas im Begriff war zu geschehen, dachte ich, als ich beobachtete, wie das letzte Licht des Tages nun allmählich verblasste. Ich war angespannt, und die Sorge um das Mädchen war auf einmal um einiges stärker als sonst. So seltsam es auch erschien, ich war mir auf einmal sicher, dass sie in Gefahr war. Unsinn, schalt ich mich in Gedanken. Ich war nur unruhig, weil sich der andere Vampirclan in letzter Zeit so ruhig verhalten hatte. Doch es gab keinerlei Hinweise, dass sich dies gerade heute ändern würde. Schon seit Tagen lag Spannung in der Luft. Wir alle spürten dies, es war die Ruhe vor dem Sturm. Doch warum sollte dieser gerade heute losbrechen? Es gab keinerlei Anzeichen dafür.
Ich würde mich vergewissern, dass sie in Sicherheit war, beruhigte ich mich. Ich würde außerhalb der Palisaden warten, bis die Nacht ihre langen Schatten gänzlich über das Land geworfen hatte, um dann in ihrem Schutze zu wachen.

Ich war schon auf halbem Weg, als ich auf einmal in der Entfernung Schreie vernahm. Menschliche Schreie. Weibliche. Ich kannte diese Stimme!
`Nein!´, stöhnte ich innerlich auf. Und nun flog der Boden regelrecht unter meinen Füßen dahin. Ich hoffte inständig, mich geirrt zu haben, doch die Stimme, die auf die Hilfeschreie antwortete, war mir ebenfalls sehr gut bekannt.
Elenzar! Wie lange würde er mit ihr spielen, bevor er sie tötete? Ich kannte ihn gut, ich wusste, wie er tötete. Wie er seine Opfer quälte. Mir wurde übel, als ich mir das zarte, zerbrechliche Mädchen in seinen Fängen vorstellte. Erinnerungen stiegen auf, Erinnerungen, die ich so sehr zu verdrängen suchte – meine Mutter, blutend, sterbend, dieses verzweifelte Schluchzen, das mich noch immer in meinen Albträumen verfolgte – mit Gewalt rang ich die Bilder nieder. Wie lange würde er sie quälen, bevor ihn seine Blutlust überwältigte? Würde dies mir genug Zeit lassen, um sie zu finden? Wann würden die Verletzungen, die er ihr zufügte, so schlimm sein, dass sie daran starb, auch wenn es mir gelang, sie in Sicherheit zu bringen?
Was hatte sie überhaupt hier draußen im Wald zu suchen, so kurz nach Einbruch der Dunkelheit?! War sie verrückt? Alle Menschen fürchteten sich – völlig zu recht – vor den Vampiren, die den Wald des Nachts beherrschten. Warum musste sie ihr Schicksal derart herausfordern? Hatte sie keinerlei Instinkte? Ich fluchte und schimpfte leise vor mich hin, doch die Verzweiflung gewann rasch die Oberhand. Was, wenn ich zu spät kam? Wenn ich sie dieses Mal nicht mehr retten konnte? Wie oft ließ sich das Schicksal zum Narren halten? Ich verbot mir diese Gedanken, sie waren zu schmerzhaft. Statt dessen konzentrierte ich mich darauf, sie zu finden. Rechtzeitig.

Impressum

Texte: (c) by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2010

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