Prolog
„Nein!“ Verzweifelt brüllte ich auf, als mich die beiden Wachen von ihm fortrissen. Seine Hand fiel aus der meinen, erschlafft, leblos und kalt, so kalt. Ich hörte das leise, dumpfe Geräusch, mit dem sie auf dem vom Regen aufgeweichten Erdboden aufschlug, und der Laut fuhr mir einem Messer gleich ins Herz. Die Leere brannte sich beinahe schmerzhaft in meine noch immer nach ihm ausgestreckte Hand. Wie durch einen dichten Nebel nahm ich wahr, dass mir einer der Wächter gehässige Obszönitäten ins Ohr zischte, und dann wurden mir die Arme brutal hinter den Rücken gerissen und dort gefesselt. Sie wickelten das Seil so fest um meine Handgelenke, dass mir das Blut beinahe abgeschnürt wurde, doch ich nahm den Schmerz nur am Rande wahr.
Es war mir gleich, was sie mit mir machen würden. Ich hoffte auf einen schnellen Tod, und wusste zugleich, dass ich das Recht dazu schon vor langer Zeit verwirkt hatte. Sie würden mir diese Gnade nicht erweisen, aber auch das war mir nun egal. Alles, woran ich denken konnte, war das erloschene Leben in seinen Augen. Diese warmen, braunen Augen, die mich nun nie wieder anlächeln würden. Ich hatte alles gewagt, hatte alles in meiner Macht stehende getan, und doch hatte ich ihn nicht retten können.
1. Im Wald
Caitlin
Alles begann an einem Nachmittag im Mond der fallenden Blätter. Als ich den entscheidenden Schritt in den Wald hinein tat, wusste ich noch nicht, dass dies eine Wende in meinem zuvor recht monotonen Leben bedeuten würde, und ich hatte noch keine Ahnung von den Ereignissen, die ich damit auslösen würde.
Dennoch überfiel mich leises Unbehagen, als mich die Schatten der Bäume verschluckten, grau im spärlichen Licht, das durch die dichte Wolkendecke drang. Unwillkürlich zog ich das aus bunter Wolle gewebte Schultertuch noch fester um meine Schultern.
Ein eisiger Windhauch fuhr durch das schwindende Blätterdach über mir, strich wie eine kalte Liebkosung durch mein zu einem festen Zopf geflochtenes Haar. Entnervt strich ich mir zum wiederholten Male eine der hellen, flachsblonden Strähnen aus dem Gesicht. Ich mochte meine Haare für gewöhnlich, ich liebte die seidige Glätte, den matten Glanz, den es innehatte, wenn ich es nur lange genug gebürstet hatte. Doch an Tagen wie diesem war es einfach nur lästig, dass sich die feinen, gelockten Strähnen wieder und wieder aus dem straff gewickelten Lederband lösten und mir ins Gesicht wehten.
In ein paar Wintern, oder wohl eher Monden, wenn es nach meinem ältesten Bruder Connor ging, der für mich Sorge trug, würde ich diese Schwierigkeiten nicht mehr haben. Denn als verheiratete Frau würde ich mein Haar unter einer dieser unansehnlichen, groben Leinenhauben verstecken müssen, um die Eifersucht meines zukünftigen Ehemannes zumindest in Grenzen zu halten. Es war unanständig, wenn eine verheiratete Frau ihr Haar offen zeigte. Und seit ein paar Sommern war es zudem bei Strafe verboten.
Hastig verdrängte ich den Gedanken an die drohende Hochzeit, die mich früher oder später erwarten würde. Ich würde es so oder so nicht verhindern können, und noch hatte kein Mann Interesse an mir bekundet. Ich gab mich nicht der Illusion hin, dass dies ewig so bleiben würde. Und dennoch hoffte ich auf ein wenig mehr Zeit. Nur ein paar Winter des Friedens und der Freiheit. Zugleich wusste ich auch, dass dies mehr war, als den meisten Frauen vergönnt war.
Das leise Rascheln der toten Blätter, die zu dieser Jahreszeit den Waldboden einem braunen, gescheckten Teppich gleich bedeckten, klang unnatürlich laut; beinahe war mir, als würde es von den hohen, vor Nässe pechschwarz glänzenden Stämmen der hohen Buchen zu mir zurückgeworfen. Diese Stille...sie war besorgniserregend, bedachte ich, wo ich mich befand. Ich trieb mich zu noch größerer Eile an und verfluchte die Tatsache, dass ich überhaupt hatte aufbrechen müssen.
Natürlich wusste ich um die gefährlichen Geschöpfe, die diese Wälder bewohnten. Ich wusste ebenfalls, dass sie nicht immer in den Wäldern jenseits des Flusses blieben. Nach Einbruch der Dunkelheit trieben sie auch hier ihr Unwesen, die Vampire, selbst wenn die alten Legenden davon sprachen, dass der reißende Strom Refoin, der das Dorf von den endlosen Wäldern trennte, ein Hindernis für sie darstellte. Ich wusste es besser, hatte ich doch selbst miterlebt, wie ernst die Gefahr war. Und ich war nicht die einzige, die so dachte. Wir lebten mit der Gefahr, hatten es schon seit Generationen getan, und seit dem Niedergang des Großreiches waren wir auf uns alleine gestellt, hier, am äußersten Rand der von Menschen bewohnten Welt. Kaum kam jemals Nachricht von der Landeshauptstadt bei uns an. Gynerions Boten waren schon so lange nicht mehr im Dorf zu Gast gewesen, dass die alten Wege längst von Gestrüpp überwuchert waren. Bald würden sie gänzlich verschwunden sein, und mit ihnen vielleicht auch die Erinnerung, dass es jemals ein Dorf gegeben hatte, das so weit von der Hauptstadt entfernt lag.
Nein, auf Unterstützung brauchte man hier nicht zu hoffen. Wir waren auf uns gestellt, lebten von dem, was wir selbst anbauten, sammelten und herstellten, auch wenn die Winter meist mager und dürftig waren. Wir waren allein, kämpften einen schier aussichtslosen Kampf, und doch hatten in den vergangenen Wintern die Angriffe auf das Dorf erstaunlicherweise nachgelassen, waren gar zur Ausnahme geworden. Doch die Erfahrung hatte gelehrt, dass es nicht ratsam war, sich in Sicherheit zu wiegen.
Aus diesem Grund wurden im Dorf bei Anbruch der Dämmerung sämtliche Fenster und Türen verrammelt. Wir hatten einen einfachen, aber hohen hölzernen Palisadenzaun, der das ganze Dorf umgab, und bei Einbruch der Dämmerung hatten alle in ihren Häusern zu sein, wollte man nicht in den Kerkern unter dem Ratshaus landen. Drei Wachtürme gab es, und sie waren Tag und Nacht bemannt.
Bran und seine Mannen herrschten über das Dorf. Ihre Gesetze waren die einzigen, die ich kannte. Die strengen Regeln, die ebenso rigoros wie gnadenlos durchgesetzt wurden, sollten angeblich nur unserem Schutz dienen. Und doch hatte ich stets daran gezweifelt, ob es wirklich notwendig war, so unbarmherzig und streng vorzugehen. Und obgleich ich wusste, dass sie es niemals wagen würden, es offen zu äußern, glaubte ich doch, dass mein Großvater und Kian in dieser Hinsicht einer Meinung mit mir waren. Kian – mein zweitältester Bruder, der trotz seiner Jugend schon so früh die Verantwortung für mich übernommen hatte, der sich um mich kümmerte, seit wir unsere Eltern in jener grauenvollen Nacht verloren hatten. Seit jener schicksalshaften Nacht lebte ich gemeinsam mit ihm und meinem jüngsten Bruder Colin bei meinem Großvaters, doch es war Kian, der unserem Haus vorstand.
Ich war noch sehr jung gewesen, vielleicht sechs Sommer alt, und doch erinnerte ich mich in aller Deutlichkeit an jene Nacht, in der wir beide Eltern verloren hatten. Oft schrak ich schreiend aus dem Schlaf, aus Albträumen, die immer von weißen, spitzen Zähnen und rotglühenden, gierigen Augen handelten. Albträume, die mich wohl mein ganzes Leben lang begleiten würden. Wie konnte ich es auch jemals vergessen, war es doch meine Schuld gewesen, dass sie gestorben waren. Eine Schuld, die mir noch immer wie ein bleiernes Gewicht auf den Schultern lastete. Nein, vergessen würde ich es nie.
Doch immer, wenn die Träume zu wirklich wurden, wenn ich an meinem eigenen, schrillen Schrei erwachte und dann wieder erschöpft in mein Kissen zurücksank, stand auf einmal ein anderes Bild vor meinen Augen. Ein bleiches Gesicht, von schwarzen, halblangen Haaren umrahmt, und zwei warme, rehbraune Augen. Und dieses Bild nahm mir jedes Mal die Angst.
Niemand konnte sich erklären, warum gerade ich überlebt hatte. Noch nie zuvor hatte ein Mensch einen Angriff der bluttrinkenden Wesen überlebt. Nur ich. Ein kleines, siebenjähriges Mädchen. Völlig verängstigt hatte ich mich hinter dem breiten, ausladenden Rock meiner Mutter versteckt, als die Horde Vampire aus dem Wald zum Angriff übergegangen war. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen hatte ich hilflos mit ansehen müssen, wie sie zuerst meinen Vater und dann meine Mutter töteten. Und dann hatten sich mir gierige, rote Augen genähert. Die weißen Zähne gebleckt, hatte sich einer der Vampire über mich gebeugt– und war von einem auf den anderen Augenblick verschwunden gewesen. Statt dessen hatte ich in warme, braune Augen geblickt. Und ein unglaublich intensives Gefühl der Sicherheit hatte mich durchströmt. Irgendwie hatte ich gewusst, dass mir jetzt nichts mehr geschehen konnte. Vertrauensvoll hatte ich die Hand nach meinem Retter ausgestreckt, und er hatte mich aufgehoben und mich ins Dorf zurück gebracht. Irgendwann war ich in seinen Armen eingeschlafen. Er muss mich, von allen anderen unbemerkt, bis in mein Bett getragen haben, denn dort war ich am nächsten Morgen aufgewacht.
Jahre waren seitdem verstrichen, doch während ich an jenem Nachmittag durch den Wald stapfte, fühlte ich mich plötzlich wieder von jener unbegreiflichen Angst ergriffen, die mich selten trog. Ich war in Gefahr. Etwas war im Begriff zu geschehen. Doch dann schüttelte ich den Gedanken energisch ab. Es war Tag. Die Sonne war hinter einer dichten Wolkendecke verborgen, doch die bluttrinkenden Wesen warteten immer bis zum Einbruch der Dunkelheit. Niemals war ein Vampirangriff vor der Dämmerung erfolgt.
Und wir brauchten dringend das Reisig. Mein Bruder Connor brachte uns ab und an bereits gespaltenes Brennholz – die Familien waren einander verpflichtet, anders hätte sich der alte Geizkragen nie zu solch einer Mildtätigkeit durchringen können. Meine Schwägerin hatte jedoch mit der Feldarbeit, dem Haushalt und ihren drei Kindern genug zu tun, um auch noch Reisig für unseren kleinen Haushalt zu sammeln. Unseres war gestern zur Neige gegangen, und die Nächte wurden jetzt bereits empfindlich kalt. Ich musste in den Wald. Ich würde nicht allzu lange brauchen, ich wäre lange vor der Dämmerung zurück. Vielleicht ahnte ich einen drohenden Angriff auf das Dorf. Das würde meine Angst erklären. Ein wenig beruhigt, doch immer noch mit bangem Herzen, folgte ich dem schmalen Pfad in den Wald hinein.
Menschenmengen schienen den Wald vor mir nach Reisig wahrlich durchkämmt zu haben, denn ich fand ungewöhnlich wenig davon. Zu wenig. Ich zwängte mich durch das dichter werdende Unterholz immer tiefer in den Wald hinein, um meinen Korb zu füllen. Kleine Äste und Dornen verfingen sich in meinem Rock und in meinem Haar, sie schienen raschelnd nach mir zu greifen und mich zu verhöhnen. Es war mir, als wolle mich der Wald mit aller Macht daran hindern, weiter in seine Tiefe vorzudringen.
Irgendwann gab ich mich geschlagen. Mehr als zur Hälfte würde ich den Korb nicht füllen können, doch ich war vollkommen erschöpft, und zu meinem Entsetzen bemerkte ich da auf einmal, wie dunkel es bereits geworden war. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Meine Zeit lief ab.
Hastig raffte ich meine Röcke, deren schwerer Wollstoff die Feuchtigkeit des Waldbodens wahrhaft aufgesogen hatte. Zumindest der Saum war völlig durchnässt, und da ich in meinem Leichtsinn geglaubt hatte, mich weitaus früher auf den Rückweg machen zu können, hatte ich mir nur den leichten Baumwollumhang übergeworfen. Mit der aufziehenden Dämmerung stieg auch die Kälte nun aus dem feuchten Waldboden auf, kroch mit spinnendürren Fingern in meine durchweichten Stiefel und wanderte unter meinen Rock. Ich schauderte, klammerte meine kalten Finger um den glatten, angenutzten Griff des alten Weidenkorbes und wandte mich dann um. Mit raschen Schritten eilte ich den schmalen Pfad zurück, auf dem ich den Wald betreten hatte.
Auf einmal fand ich mich auf einer kaum sichtbare Weggabelung wieder, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Beide Pfade verschwanden nach wenigen Schritten in den düsteren Schatten der hohen Bäume. Welchem sollte ich folgen? Ich entschied mich für den breiteren der beiden, doch bereits nach kürzester Zeit wurde er immer schmaler und endete schließlich ganz im Unterholz. Angst griff mit kalten Klauen nach meinem Herzen. Dunkle Schatten immergrüner Tannen umgaben mich. War ich in diesem Teil des Waldes schon einmal gewesen? Ich konnte mich nicht mehr erinnern, jemals so viele Tannen gesehen zu haben. Mich fröstelte. Es war unnatürlich still im Wald. Irgendwo zu meiner Linken knarrte ein alter Baum in einer leichten Brise, die seufzend durch die hohen Wipfel strich und mir sanft durch das Haar zauste. Das leise Zirpen der Grillen, die in der Dämmerung ihr eintöniges, beruhigendes Lied anstimmten, war verstummt. Kein Vogel zwitscherte, keine Maus raschelte durch das tote Laub. Ich erstarrte ebenfalls. Ein verstummter Wald, das wusste ich, bedeutete Gefahr. Das Nahen eines Raubtieres. Ich musste so schnell wie möglich fort von hier!
Um nicht Gefahr zu laufen, im Kreis umherzuirren, entschied ich, meine einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten, obschon ich keinen Weg mehr erkennen konnte.
Rücksichtslos kämpfte ich mich nun so schnell ich es vermochte durch das dichte Gestrüpp. Äste und Dornen verfingen sich wiederum in meinem Haar, kratzten und rissen an mir, wollten mich nicht gehen lassen. Ich bis die Zähne zusammen, bemüht, die Wut und die Verzweiflung, die in mir aufstiegen, niederzuringen, riss mich los und wischte mir energisch die Tränen vom Gesicht. Das leise Schluchzen drängte ich gewaltsam zurück, bis nur noch ein ersticktes Keuchen aus meinem Mund drang. Schon bald musste ich mir eingestehen, dass ich mich bereits hoffnungslos verirrt hatte. Im Dämmerlicht wurden die wenigen, schwach ausgetretenen Waldpfade vollständig von den Schatten verschluckt. Ich war verloren, und ich wusste es. Wenn der letzte Schatten von der Dunkelheit verschlungen wurde, würden sie die Tore des Dorfes für die Nacht schließen. Ab jenem Moment gab es keine Rettung mehr für mich. Sie würden mich nicht mehr einlassen. Ich hatte dann die Wahl, mein Glück im Wald zu versuchen, oder dem Tod in den Kerkern unter dem Ratshaus entgegen zu sehen. Noch sah ich die Hand vor Augen...wenn auch nur mühsam. Noch blieb mir ein wenig Zeit...
Ich biss die Zähne zusammen, sammelte meine letzten Kräfte und kämpfte mich weiter durch das Unterholz, bis ich irgendwann völlig erschöpft eine Lichtung erreichte. Ich stolperte fast in meiner Hast, freizukommen, und schon keimte Hoffnung in mir auf. Sollte das die Lichtung sein, die so dicht am Waldrand lag, dass ich jeden Stein, jede lose Wurzel dort kannte? Sollte ich doch noch rechtzeitig am Tor anlangen? Doch als ich den letzten Schritt aus dem Unterholz heraus tat und aufblickte, war die Enttäuschung so groß, dass mir ein leises Schluchzen entwischte. Ich kannte diese Lichtung. Oh ja, und wie ich sie kannte. Niemals würde ich den Ort vergessen, an dem meine Eltern gestorben waren. Die Quelle, die ich als Kind so geliebt hatte, plätscherte munter zu meiner Rechten, und ich vernahm das leise Gurgeln, mit dem sich der kleine Bach durch das hohe Gras wand. Eigentlich ein beruhigendes Geräusch, aber ich hatte stets nur den Tod mit dem Flüstern des Wassers verbunden. Wie passend, dass diese Lichtung nun auch meinen Tod besiegeln würde. Und seltsamerweise verspürte ich auf einmal eine merkwürdige Schicksalsergebenheit und eine Gelassenheit, die mir fremd war. Ich war verloren, und es gab nun nichts mehr zu tun. Nichts konnte mich mehr retten. Die tiefen Äste einer alten Weide zu meiner Linken bildeten eine Art natürlichen Unterstand. Mehr sah ich nicht im schwindenden Licht. Zitternd hüllte ich mich in meinen dünnen Umhang und kroch so tief wie möglich in den Schatten. Ich schlang die Arme um meine Knie und legte das Kinn auf die verschränkten Arme. Ein altes Kinderlied summend wiegte ich mich hin und her.
***
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen war, aber ich musste wohl doch leicht eingenickt sein, denn ich schrak unvermittelt auf, als ich leise Stimmen ganz in der Nähe vernahm. Sie näherten sich. Sie kamen aus der Richtung, aus der ich die Lichtung ebenfalls betreten hatte. Aus genau derselben Richtung! Folgten sie meinen Spuren?
Eine der Stimmen, schon sehr viel näher jetzt, riss mich aus meinen Gedanken. Ein eiskalter Schauer rann mir den Rücken hinab, und mein Atem beschleunigte sich. Leise kroch ich noch tiefer in den Schatten, zog den Umhang noch enger um mich und wünschte, ich könnte unsichtbar werden. Die Stimmen waren verstummt, doch ich spürte die Bedrohung beinahe körperlich, die so lautlos wie eine Schlange immer näher kam.
Ich vernahm ein leises Rascheln, und dann sah ich mich auf einmal einem bleichen Gesicht gegenüber. Mein Herz setzte einen Schlag aus und begann dann schon beinahe schmerzhaft schnell zu pochen. Ich starrte wie gebannt in die gierigen, rotglühenden Augen, die sich in meine bohrten, mich taxierten. Es waren die Augen, die mich in meinen Träumen verfolgten! Mir wurde übel.
Der Vampir machte sich nicht einmal die Mühe, sofort nach mir zu schnappen. Er wusste, dass ich keine Chance hatte. Ein selbstbewusstes Lächeln spielte um seine Lippen.
„Die gehört mir, Endor!“, schnurrte er.
„Wie du willst, Elenzar“, antwortete eine andere Stimme in beinahe gelangweiltem Tonfall von der anderen Seite der Lichtung. Leises Blätterrascheln begleitete die Worte – mein anderer Verfolger entfernte sich augenscheinlich und überließ mich dem anderen. Mit einer Bewegung, die so schnell war, dass sein Arm vor meinen Augen verschwamm, schob der Vampir einen Ast aus dem Weg und stand plötzlich dicht vor mir.
Mein Körper spannte sich, ich ballte meine Hände zu Fäusten und stand langsam auf. Mein Herz raste, mein Magen zog sich vor Angst zusammen und ich war kurz davor, zusammenzubrechen, doch mein Überlebensinstinkt war sehr stark. Obwohl ich wusste, dass es sinnlos war, wandte ich mich um und rannte.
Ich rannte, wie ich noch nie zuvor gerannt war, kämpfte mich keuchend und schluchzend durch den dunklen Wald. Ich hörte ein leises Rascheln hinter mir, das mir verriet, dass mir der Vampir dicht auf den Fersen war. Er hätte mich ohne die geringste Anstrengung einholen können. Er tat es nicht – noch nicht. Er spielte mit mir.
„Hilfe!“ brüllte ich verzweifelt in die unbarmherzig schweigende Dunkelheit hinein. „Hilfe! Ist da jemand? Hilfe!“ Ich weiß nicht, wie lange ich schrie, doch irgendwann brach meine Stimme. Ich vernahm ein leises, belustigtes Lachen hinter mir.
„Hier hört dich niemand, Mädchen“, erklärte mir mein Verfolger unbekümmert. „Schrei, so laut du willst, ich werde trotzdem dein Blut trinken, bevor die Nacht herum ist. Ich mag Beute, die sich wehrt!“ Ein genüssliches Schmatzen hallte laut in der Stille. Ein eiskalter Schauer durchfuhr mich. Die Stimme wurde rauer, animalischer. „Das Blut ist immer so viel süßer, wenn das Opfer zuvor ein wenig leidet. Und leiden wirst du, das verspreche ich dir.“
Texte: (c) by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2010
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