Prolog
Ich rannte schnell, schneller als ich jemals gerannt war.
Mein Atem ging stockend, ich bekam kaum noch Luft, aber ich musste weiter! Nur noch ein bisschen...
Ich schrie ihren Namen, doch sie reagierte nicht. Warum war sie nur so taub, so blind? Warum bemerkte sie mich nicht?
Noch einmal rief ich ihren Namen in die kalte Nachtluft die in meine Lunge drang, mir den Atem nahm, mir den Weg noch schwerer machte...
Warum tat sie nichts?
Ich keuchte ihren Namen so laut ich konnte herraus. Er hallte über den dunklen Weg vor mir, wie ein Wegweiser... der mich allerdings kurz vor dem Ziel im Stich lies, den die Botschaft kam nicht an.
Dann erkannte ich die dunkle Gestalt hinter ihr. Die Gestalt, die so viel schneller war als ich... sie erreichen würde, bevor ich es tat.
Meinen Schrei musste sie doch hören...
Ich konnte nicht mehr. Aber jetzt durfte ich es mir nicht erlauben auszuruhen, nicht jetzt!
Nicht jetzt, nicht jetzt...
Ich zwang meine Beine weiter zu laufen, zu rennen, schnell genug zu sein um zu retten was mir wichtig war...
Der Schatten kam immer näher.
Ich stolperte, fiel fast hin und lief weiter, immer weiter...
Hinter ihr sah ich gelbe Augen aufblitzten.
Ich rief ein letztes Mal ihren Namen, bevor ihr Tod zum Sprung ansetzte.
Geburtstagswünsche
»Bald sind wir da, Alice, Schatz. «
Ich saß mit meiner Mutter im Auto und starrte durch das Fenster nach draußen.
Es war stockdunkel und nur die wenigen Autos, die uns entgegen kamen, oder die in großen Abständen verteilten Straßenlaternen erhellten die dunkle Nacht und gaben den Augen das passende Bild zu dem nieselnden Regen der ohne Unterbrechung auf das Autodach prasselte.
Ich hasste Regen.
Ich hasste es, wenn der Regen mir in den Nacken lief, weil einer meiner Klassenkameraden die Kapuze meiner Regenjacke mal wieder in einen Mülleimer gesteckt oder im die Herrentoilette geworfen hatte, ich hasste es, wenn meine Socken durchweicht und meine Füße pitschnass waren und ich hasste es, dass ich seit ca. vier Monate in einer Stadt leben musste, in der sich im Herbst die Sonne oft Tagelang hinter einer grauen Wolkenwand versteckte und auch im Sommer sich öfter mal der Himmel hinter grauen Wolken verbarg.
Natürlich wusste ich, dass es nicht anders ging, den seit der Scheidung meiner Eltern musste meine Mutter wieder in ihrem alten Job als Verkäuferin im Lidl hinter der Ladentheke stehen, und damit verdiente sie nicht gerade viel.
Und da meinem Vater die Wohnung in Phoenix gehörte, und ich und meine Mutter uns in einer so angesagten Stadt keine neue Wohnung leisten konnten, waren wir nach Hamburg gezogen.
Abgesehen von der Sprache, fand ich es in Hamburg absolut grässlich.
Da meine Eltern beide aus Deutschland waren und wir erst vor etwa drei Jahren aus Berlin in die USA gezogen waren, konnte ich natürlich viel besseres Deutsch sprechen als Englisch.
Mit Sprachen lernen, hatte ich es nicht so.
Es war mein allerschönstes Geburtstagsgeschenk gewesen, dass meine Eltern mir zu meinem zehnten Geburtstag machen konnten – die Verkündung, dass wir in etwas mehr als einem halben Jahr nach Phoenix ziehen würden.
Na ja, besonders lange hatte der Traum ja nicht angehalten.
Ich gab gerne meiner Mutter die Schuld dafür, auch wenn ich natürlich ganz genau wusste, dass meine Mom auch nichts dafür konnte, aber mir viel niemand anderer ein, dem ich die Schuld dafür in die Schuhe schieben konnte.
Außer vielleicht noch meinem Vater, aber von dem hatte ich seit unserem Auszug nichts mehr gehört, und ich verbot mir regelmäßig an ihn zu denken, weil mir dann immer die Tränen hochkamen und überliefen.
Als ein greller Blitz den Himmel durchzuckte und aussehen lies, als wäre er in der Mitte auseinander gebrochen, fuhr ich zusammen und das ohrenbetäubende Donnergrollen, das gleich darauf folgte, riss mich dann endgültig aus meinen Gedanken.
Kurz danach setzt ein noch gewaltigerer Regenguss ein, als ich es je für möglich gehalten hätte, dass das Wasser je so Nadelartig herunterstürzen konnte wie jetzt.
Die einzelnen Tropfen liefen an der Fensterscheibe der Autotür herunter und hinterließen nasse, schlängelnde Spuren auf dem kalten Glas. Ich schauderte.
»Unheimlich, so ein Gewitter, nicht wahr? « fragte mich meine Mom, Michelle, Gedanken
verloren.
Ich stöhnte so leise auf das sie es nicht hörte, und brummte zustimmend; hauptsächlich, um
sie zu überzeugen, ich fände ein Gewitter mindestens genauso spannend wie meine beste Freundin Leonie.
Wenn meine Mom so drauf war, könnte sie eher Leos Mutter sein als meine.
Diese ganzen Warum - ist – eine – Glockenblume – gelb – und – nicht – rot - Fragen, das Geheimnis des Regenbogens, das ach so spannende Geheimnis, warum bei einem Gewitter nicht grüne Funken anstatt Regen aus den Wolken sprühten, das Leonie so spannend fand, und mit dem sie sich auch die Größte Zeit ihrer Freizeit beschäftigte, fand ich einfach nur Todlangweilig.
Außerhalb dieser Fragen beschäftigte Leonie sich noch mit Astronomie, Horoskopen, Weissagung, Meterphysik und anderem Magiezeugs, all so ein Kram eben. Ich wusste nicht, ob sie wirklich an das ganze Zeug glaubte, aber abgesehen von diesem Tick war Leo die beste Freundin die man sich wünschen konnte.
Was Leonie in letzter Zeit auch vie Spaß machte, und was eigentlich gar nicht zu ihrer Vorliebe für mystische Geschehnisse passte, war, Geschichten zu schreiben. Sogar welche, in denen nicht eine Wahrsagerin auftauchte!
Leonie las auch gerne, noch so eine Eigenschaft, die ich überhaupt nicht verstehen konnte.
Es war sowieso kaum zu glauben, das Leo für all diese Dinge genug Zeit hatte, denn sie verbrachte ja auch noch eine Menge Zeit mit mir.
Allerdings braucht sie für Hausaufgaben, mit denen ich mich Stundenlang herumquälte, gerade mal ein paar Minuten.
Um ein Gedicht oder eine Seite aus Erdkunde oder Bio auswendig zu lernen, musste sie es sich nut ein Mal durchlesen und schon konnte sie es.
Bei Vokabelabfragen schrieb die nur Einsen, selbst wenn sie sich die Vokabeln nur ein paar Sekunden angeschaut hatte.
In kaum einem Fach stand sie schlechter als auf einer zwei, während ich mich öfter abmühte, nicht sitzen zu bleiben.
Die drei einzigen Fächer, in denen sie nicht besser als der Rest unseres Jahrgangs war, (und dabei war sie die jüngste in der Klasse) waren Musik, Kunst und Sport.
In Musik stand sie auf einer 3+, was aber nur daran lag, das sie, wenn man sie abfragte, immer Einsen bekam, denn singen oder ein Instrument spielen konnte sie überhaupt nicht. Auch mit jeder Art von Musiknoten stand sie auf dem Kriegsfuß
Auch malen und zeichnen lag ihr nicht, deshalb stand sie in Kunst auf einer 3- und in Sport stellte sie sich so ungeschickt an, dass sie sich dort nur knapp auf einer schlechten 4 halten konnte.
Kunst und Musik waren meine Lieblingsfächer, in beidem stand ich af einer guten 2 und auch Sport mochte ich, obwohl ich es dort noch nicht auf etwas Besseres als auf eine gute 3 gebracht hatte.
Immerhin, das war schon eine Höchstleistung für mich.
Meine beiden größten Problemfächer waren Mathe und Französisch – Leonies
Lieblingsfächer.
Nun ja, das hatte ja nun wieder dein gutes, denn Leo konnte mir die Fächer problemlos erklären.
Obwohl sie so gut in der Schule war, gab Leonie niemals damit an und wurde niemals überheblich.
Die perfekte Freundin eben.
In der Schule wurde Leonie deshalb ziemlich oft gehänselt und war immer die Zielscheibe jedes Spotts. Zumindest war das so gewesen, bevor ich in die Klasse gekommen war.
Jetzt war ich der Mittelpunkt aller Gemeinheiten, und da Leonie sich mit mir angefreundet hatte, wurde auch sie wieder mit hinein gezogen.
Unsere Mitschüler hatten einige wenig schmeichelnde Namen für sie. Da Leonie selbst für ihr Alter noch ziemlich kein war, wurde ihr oft „Streberfloh“, „Protzmaus“, „Angeberspinne“ oder „Mini-Wurm“ hinterher gerufen.
Doch Leonie hatte sich in etwas mehr als zwei Schuljahren daran gewöhnt.
Wir gingen jetzt beide in die siebte Klasse der Gesamtschule Hamburg.
Außer mir hatte Leonie dort keine Freunde, sie hatte auch noch nie welche gehabt.
Auch außerhalb der Schule hatte Leonie nicht so etwas wie Freunde, keiner wollte diesem komischen, kleinen Mädchen mit dem Geheimnisse –Tick und dem möglichen Hirnschaden zu nahe kommen.
Leo war vielleicht ein bisschen verrückt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie keinen Hirnschaden hatte.
Leonies Mutter meinte, dass ihre Tochter ein brillantes Genie war und ihre Talente unbedingt gefördert werden müssten.
Doch da war Leonie eindeutig anderer Ansicht.
Ihre Eltern hatten eine eigene Arztpraxis, in der sie Tag und Nacht arbeiteten und nur wenig Zeit bei ihrer Tochter verbringen konnten.
Was diese durchaus praktisch fand.
Herr und Frau Dr.Schmeuser waren über Leonies Leistungen in der Schule entzückt, denn Frau Schmeuser geriet schon bei einer 2- in Sorge, ihre Tochter könnte so schlecht in der Schule werden, das sie sitzen bleiben, oder, noch schlimmer, nicht in die Fußstapfen ihrer Eltern würde treten können.
Nicht, das Leonie Arzt werden wollte.
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2011
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