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Prolog
Wie Ausgestorben



Ich renne durch den schneebedeckten Wald. Ich renne schnell, spüre, wie der eisige Dezember Wind an mir vorbei zischt und der kalte Schnee unter meinen Pfoten knirscht.
Ich renne schnell, und trotzdem ist das trommeln meiner schweren Pfoten im tiefen Schnee für Menschenohren zu leise, um wirklich wahrgenommen zu werden. Meine schnellen Schritte werden durch die immer noch fallenden weißen Flocken gedämpft, doch es ist sowieso keiner in der Nähe, der das leise Knirschen hören könnte.
Ich bin allein. Wirklich allein. Kein Tier sitzt noch lauernd auf ein anderes, schwächeres Lebewesen halb verdeckt im Schnee, kein Eichhörnchen hockt mehr in den Wipfeln der Bäume und kein Wild rennt mehr auf der Flucht vor einem stärkeren Jäger durch das Gestrüpp der Bäume und Tannen. Nicht einmal die Vögel singen noch hoch über den Wäldern und kein Steinadler kreist mehr am Himmel auf der Suche nach hilfloser Beute.
Der Wald ist wie Ausgestorben. Mit meinem kommen, sind alle Tiere verschwunden. In andere, sicherere Wälder, direkt vor die Gewehrläufe der Jäger, in weit entfernte Gebiete, in andere, fremde Bezirke. Ich weiß es nicht, und es kümmert mich nicht.
Es ist nicht der erste Wald und wird nicht der letzte sein, den ich aussterben lasse.
Der Wind peitscht mir ins Gesicht aber ich blicke weiter geradeaus, ohne mich um meine schmerzenden Augen zu kümmern. Ich muss mich beeilen. Dass ist mein einziger Gedanke seit ich im Frühling dieses Jahres aufgebrochen bin. Ich habe es schon damals gespürt. Diese Kälte. Anders als die, die mir gerade in diesem Augenblick die Nackenhaare zu Berge stehen und meine Bernsteinfarbenen Augen brennen lässt.
Kälter. Bedrohlicher. Seither bin ich auf der Suche nach dieser Bedrohung.
Ich muss mich beeilen.
Dabei weiß ich nicht einmal, warum ich mich beeilen muss, geschweige denn, was ich suche.
Plötzlich, und innerhalb des Bruchteils einer Zehntelsekunde, bleibe ich stehen, weil ich ein Geräusch höre. Es ist mindestens noch Zehn Kilometer entfernt, aber ich bin mir ganz sicher. Wer könnte das sein? Ein Tier? Unwahrscheinlich. Ich habe sie alle verjagt. Ein Mensch? Könnte sein. Aber welcher Mensch sollte das sein? Kein Mensch traute sich mehr in die Nähe dieses Waldes. Ich hatte nicht nur die Tiere abgeschreckt, sondern auch die Menschen. Sie erzählten sich gegenseitig von dem Ungeheuer, das seit ein paar Wochen im Lerchenwald sein Unwesen trieb. (Der Name passte jetzt natürlich nicht mehr, auch die Lerchen waren vor mir geflohen.) Die Eltern erzählen es ihren Kindern, die Kinder erzählen es ihren kleineren Geschwistern. Jede Tür wird gut abgeschlossen bevor die Eltern zur Arbeit gehen, um das Rätselhafte Ungetüm aus- und die kleinen Kinder, die sich für große Ritter auf Drachenjagd halten, ein zu sperren.
Es kommt näher.
Das Geräusch der Tannennadeln, das Rauschen des Windes, das alles würde die leisen, aber schnellen Schritte für Menschenohren, und wahrscheinlich für die jedes gewöhnlichen Tieres, fernhalten, aber ich höre sie.
Schritte. Leise, fast lautlose Schritte. Beinahe Geräuschlose Schritte. Sie kommen näher. Ich wende mich dem Wald links von mir zu, bereit, es mit was auch immer da in übersinnlicher Geschwindigkeit auf mich zukommt, aufzunehmen.
Es kommt näher. Tiefer Schnee dämpft die schweren Schritte. Ein leises Knacken, das Geäst bewegt sich und schiebt sich zur Seite.
Rot glühende Augen starren mich an.

Kapitel 1



Ungeduldig wippte ich mit dem Fuß auf das Straßenpflaster unter meinen Füßen und verdrehte genervt die Augen. Wo blieb sie nur? War ja wieder typisch, das sie mich so ewig warten lies. „Hey, Milena!“ Mit quietschenden Reifen hielt ein weißes Fahrrad vor mir und meine beste Freundin Larissa stieg ab. “Hey Rissa, warum kommst du erst jetzt?” beschwerte ich mich entnervt und warf ihr einen tadelnden Blick zu, den sie geflissentlich ignorierte. „Ach, soo spät bin ich doch gar nicht, “ Tat sie meine Bemerkung mit einer lässigen Handbewegung ab und stellte ihr Mountenbike an einer Straßenlaterne ab. „Wie spät ist es denn?“
„Es ist viertel nach drei!“ beschwerte ich mich empört. „Du wolltest um drei hier sein!“
„Ach… die fünfzehn Minuten…“ redete sie sich mit einem Achselzucken heraus. „Die Eisdiele wird wohl immer noch offen sein! Aber, ok, beim nächsten Mal bin ich pünktlich.“ Beeilte sie sich unter meinen strengen Blick zu sagen. Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu, um den sie sich jedoch nicht kümmerte und folgte ihr in die Eisdiele.
Beide mit einem großen Eis in der Hand saßen wir danach auf einer Bank am Mainufer und unterhielten uns. Wir hatten in letzter Zeit nicht oft Gelegenheit dazu ausgiebig zu quatschen, zumindest nicht seit Rissa umgezogen war. Früher hatten wir nebeneinander gewohnt, aber seit ein paar Wochen waren ihre Eltern getrennt. Rissa lebte jetzt bei ihrem Vater, da ihre Mutter nach Russland gegangen war, worauf Rissa echt keine Lust gehabt hatte. Ihre Mutter kam aus Russland, aber Rissa hatte sich schon immer strikt geweigert russisch zu lernen.
Also lebte sie jetzt bei ihrem Vater in Essen, fast vier Stunden entfernt. Ihre Eltern hatten das Haus in Miltenberg neben uns verkauft, da es für Rissas Vater auf Grund seiner Arbeit sinnvoller war in Essen zu leben. Na ja, da blieben uns eben nur diese seltenen Tagen oder auch mal Wochenenden um richtig was zu unternehmen.
Rissa lehnte sich auf der Bank zurück, verschränkte die inzwischen leeren Arme – ihr Eis war längst in ihrem Magen verschwunden – und lies sich die Sonnenstrahlen ins Gesicht wehen. Dann gähnte sie und sah auf ihre Armbanduhr. Wie der Blitz sprang sie auf.
„Was ist, Riss?“ fragte ich verwirrt und schläfrig zu gleich.
„Verdam.mt, es ist schon fast halb sechs! Um fünf sollte ich bei meiner Tante sein!“ Sie verzog das Gesicht. „Du weißt doch wie meine Tante ist. Wenn ich da auch nur fünf Minuten zu spät komme bekomm ich schon gewaltigen Ärger!“ Ja, das wusste ich nur zu gut. Rissa hatte mich mal zu ihrer Tante mitgenommen – einmal und nie wieder, in aller Ehre für meine beste Freundin!!!
Schon allein wenn man in die Wohnung kam konnte man sich denken das die Person, die hier lebte sehr, sehr viel Geld hatte und bestimmt keine nette Nachbarin war. Und schon gar keine wünschenswerte Verwandte. Tja, der erste Eindruck täuscht in diesem Fall wirklich nicht – sie war, ich wahrsten Sinne des Wortes, ein Drachen. Oder, eine Hexe, ein Seeungeheuer… wie es einem am besten gefällt, das kam, denke ich, in diesem Fall auf dasselbe heraus.

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Tag der Veröffentlichung: 11.07.2011

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