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Kapitel 1

Die Sonne kitzelte meine Nase, langsam blinzelte ich mit den Augen, bis ich sie aufschlagen konnte. Der Blick durch das Fenster war überwältigend, ich hatte das Penthouse im höchsten Hotel Hongkongs und konnte über viele Gebäude auf das unendliche Meer sehen. Auch wenn man sich mit Geld nicht alles kaufen kann, ist es doch von Vorteil für mich gewesen, einen reichen Erbonkel zu haben, auf diese Art konnte ich mein Traumstudium machen, ohne Zukunftsängste haben zu müssen.
Ich habe geerbt, als ich etwa 17 Jahre alt war, meine Eltern kannte ich nie, mein Vater ist vor meiner Geburt verschwunden und meine Mutter ist gestorben, als ich gerade mal eine Woche alt war. Mein Onkel Walter, ein junger schottischer Adeliger hat mich bei sich aufgenommen, bis er im Herbst vor zehn Jahren starb.
Heute reise ich durch die Welt und mache Ausgrabungen an uralten Bauten, dabei genieße ich aufgrund meines Reichtums Privilegien, die meinen Kollegen nicht zuteil werden, wie zum Beispiel diese großartige Aussicht.
Gut gelaunt schaute ich auf die Uhr, es war halb neun, ich hatte also noch über eine Stunde Zeit, mir die kleine Jadeopthiole, die an einer Kette angebracht war und die ich gestern heimlich in meinem Ausschnitt hatte verschwinden lassen, näher anzusehen. Doch zuerst brauchte ich eine Dusche, es war so stickig, dass man mehrmals täglich das Bedürfnis verspürte, sich unter den angenehmen Strahl zu stellen und den klebrigen Film von der Haut zu waschen. Ich achtete darauf, mit dem rechten Fuß zuerst den Boden zu berühren, griff mir das große, weiße Handtuch und schlenderte in das marmorierte Badezimmer, das eine wundervolle, große Dusche hatte, die hinter einem Wandvorsprung versteckt war. Während ich den Wasserstrahl warm werden ließ, betrachtete ich mich im Spiegel. Natürlich gab es bei mir, wie bei jeder Frau, Tage, an denen ich zufrieden in den Spiegel sehen konnte, heute war nicht so ein Tag.
Durch die Arbeit an der Sonne hatten sich meine Sommersprossen vermehrt, die mir ein jüngeres Aussehen verliehen, es störte mich ungemein, vor allem, da ich meine braunen Haare sehr kurz trug, zum einen, weil es einfach pflegeleichter war, zum anderen, weil ich mich von langem Haar erdrückt fühle. Meine Haut war leicht gebräunt und meine grünen Augen hatten von der Sonne einen goldenen Einstich bekommen. Mit meinem Gesicht war ich zufrieden, die Nase war nicht zu groß, aber auch nicht flach, der Mund nicht voll, sondern irgendwie passend und meine Augenbrauen hatten von Natur aus eine angenehm geschwungene Form. Am liebsten an meinem Körper mochte ich mein Schlüsselbein. Ich fand, es sah edel aus, wie sich mein Kopf auf meinem dünnen Hals über dem Schlüsselbein abhob, aber heute fand ich es eher mädchenhaft. Am meisten störte mich, dass man mir mein Alter nicht ansah. Ich weiß, viele Frauen sind dankbar für jedes Jahr, das sie jünger geschätzt werden und machen aus ihrem tatsächlichen Alter ein kleines Geheimnis, nicht so aber ich, ich fand es faszinierend die Zeichen der Zeit in meinem Gesicht abzulesen, allerdings kamen diese nur sehr langsam zum Vorschein, sodass ich häufig noch für unter 20 geschätzt wurde. Alles in allem sah ich jedoch recht durchschnittlich aus, ich war schlank, mittelgroß und vielleicht ein wenig blass, wenn ich nicht gerade eine Woche in der prallen Sonne arbeitete.
In Gedanken an die Ophtiole stieg ich unter das nun heiße Wasser, das eher wie ein tropischer Regen als ein Duschstrahl auf mich nieder prasselte. Schnell rubbelte ich mein Haar und meine Haut trocken und griff nach dem Sonnenschutz, der mir bei Temperaturen von 30 Grad im Schatten das Leben rettete, zog meine Shorts und mein T-Shirt über die schwarze Edelunterwäsche und wollte gerade nach der Ophtiole greifen, als es an der Tür klopfte. "Josephine, bist du fertig?" William, mein Chef, klopfte noch einmal, dieses mal ungeduldiger. "Wir fangen heute früher an, vielleicht können wir dann schon heute Nachmittag wieder zurück fliegen." Natürlich, dann musste er eine Übernachtung weniger bezahlen, der Arme lebte nur von dem, was er verdiente und wohnte dementsprechend zwar nicht in der Spielunke, die uns umsonst zur Verfügung gestellt worden wäre, aber auch bei weitem nicht so luxuriös wie ich, er war froh, wenn er möglichst schnell wieder zu Hause war und sich hinter den Schreibtisch klemmen konnte, wo er diese Hitze nicht ertragen musste. Enttäuscht darüber, dass ich mir meine Errungenschaft nicht genauer ansehen konnte, seufzte ich, versteckte das Schmuckstück in meiner Reisetasche und öffnete die Tür. William hatte bereits zu einem erneuten Klopfen angesetzt, aber anstatt an der Tür, klopfte er an meine Schulter. "Ist ja schon gut, ich mach ja schon, komm bitte einen Moment rein, ich brauche nur noch meine Wasserflasche und Schuhe." Er wurde ein bisschen rot, es war ihm sichtlich unangenehm, das schlichte, aber unübersehbar teure Zimmer zu betreten, er fühlte sich Fehl am Platz. "Beeile dich bitte Josephine, wir haben noch nicht viel gefunden und das Museum dreht uns den Hahn ab, wenn wir nicht etwas Sehenswertes mitbringen." Lächelnd drehte ich mich zu dem kleinen Kühlschrank, er wusste ja nicht, dass meine Reise sich gelohnt hatte.

Wir stiegen in den gemieteten Geländewagen und fuhren ungefähr eine Stunde durch die überfüllten Straßen, durch den Lärm und die Mischung verschiedenster Gerüche. Ich wusste, dass die Gegend hier für die Touristen hergerichtet worden war, das wahre China gab es nur noch an solchen Orten oder in den tiefen der Provinz, der Kapitalismus und das damit verbundene Geld hatten den uralten Charme des Landes langsam in die hintersten Ecken verdrängt und Platz geschaffen für moderne Banken und chinesisch aufgemachte, überfüllte Tempeloasen. Stockend führte William den Wagen durch den Verkehr aus der Stadt hinaus, wir fuhren durch eine Waldgegend, zu einer verlassenen Ruine eines ehemaligen Tempels, die Genehmigung für die Ausgrabungen haben wir bloß bekommen, weil das alte Bauwerk droht, zusammenzubrechen und vorher noch möglichst viele Schätze geborgen werden sollen. Unmotiviert machte ich mich an die Arbeit, die Sonnenstrahlen fielen noch fahl durch das Blätterwerk und ließen die dunklen Überreste der Gebetsstätte unheimlich erscheinen. Der Vormittag verlief recht langweilig, William und ich redeten bei der Arbeit nicht viel, dennoch verstanden wir uns auch ohne Worte, wir waren ein eingespieltes Team. Während meines Studiums war er mein Professor und als fünf Jahre zuvor die Gelegenheit auftauchte, mit ihm zu arbeiten, meldete ich mich sofort freiwillig. Seitdem arbeiten wir zusammen, nach dem Studium bin ich direkt bei ihm geblieben und als er sich entschloss, die Stelle als Dozent aufzugeben und an Ausgrabungen im alten China teilzunehmen, begleitete ich ihn kurzer Hand. Gedankenverloren schaute ich ihn an, an ihm war die Zeit nicht so spurlos vorbei gegangen, seine Haare wiesen silberne Stellen auf und der Ansatz seines Bartes war nicht mehr so dunkel. Konnte ein Mensch in fünf Jahren so altern? "Hörst du das Josephine?" Erschrocken horchte ich auf. Tatsächlich, es klang nach einem Motorengeräusch. Schnell versteckte er die wertvollsten Fundstücke in seiner Hose, ich ließ einige Kleinigkeiten in meinem Ausschnitt verschwinden, es waren die Orte, die bei Verdacht nicht durchsucht wurden, nur Amateure tragen die guten Sachen in ihren dafür vorgesehenen Koffern. Ein staatlicher Aufpasser kam uns entgegen und begutachtete kritisch den Rest der Dinge, die wir ans Licht geholt hatten. In gebrochenem Englisch fragte er uns, nach einer Kette, an der ein kleines Fläschchen hing. William konnte guten Gewissens behaupten, so etwas nicht gefunden zu haben, ich schüttelte nur zustimmend den Kopf. Als junge Frau hatte ich sowieso nichts zu sagen. Meine Neugier auf meine wundersame Entdeckung stieg. Der Mann sammelte fast alles ein und hieß uns, nach Hause zu fahren, den Rest würden die staatlichen Archäologen machen. Natürlich, wir machten die Vorarbeit und sie konnten dann nicht mehr viel falsch machen. Zum Glück hatten wir einige Kleinigkeiten, die wir dem Museumsdirektor geben konnten, damit William seinen unlukrativen, aber heiß geliebten Job behalten konnte. Wieder verfiel ich in Gedanken. Früher habe ich ein wenig für ihn geschwärmt, aber ich weiß, dass er eine Frau hat, die er wahnsinnig liebt und dass sie schon lange versuchen, ein Kind zu bekommen. Nach den ersten Monaten unserer Zusammenarbeit hat sich unser Verhältnis zu einem schweigenden Einvernehmen entwickelt, dass durch unumgängliche Worte gestört wird, es macht keinem von uns etwas aus zu schweigen. So natürlich wie möglich gingen wir auf den Wagen zu, mit den wertvollen Gegenständen in seinem Schritt, hatte er es schwerer als ich. Ich fragte mich, wie der Beamte die Ausbeulung übersehen konnte, bis ich bemerkte, dass er uns einen anzüglichen Blick aus dem Fenster zuwarf, bevor er den Motor startete. Männer.

Der Flughafen war riesig, daher hatten wir viel Auswahl, als es um die Entscheidung ging, in welchem Café wir auf den Abflug warten würden. Mir war ein bisschen mulmig, ich hatte die Kette wagemutig um den Hals gelegt in der Hoffnung, sie würde als Souvenir durchgehen. William bestellte sich einen schwarzen Kaffee und setzte sich an einen kleinen Tisch in der Mitte vieler anderer.Ich schaute mir kurz die Auswahl an und bestellte einen Chai Latte, vor dem Flug konnte ich kein Koffein gebrauchen. Mit Blick auf die Abflugtafel schritt ich an den Tisch und setzte mich ihm gegenüber. Noch zwei Stunden bis zum Abflug. Seine Augen wanderten ruhelos von einem Punkt zum anderen, er hasste es zu warten, und blieben schließlich an meinem Hals hängen. Glücklicherweise war der Anhänger tief in meinem Ausschnitt versteckt. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn aber schnell wieder wortlos. Vielleicht wollte er sich nicht mitschuldig machen. Spätestens wieder in Birmingham erwartete ich aber einen Kommentar.

Der Flug verging ereignislos und am Flughafen trennten wir uns und fuhren nach Hause, ich in mein großzügiges leeres Appartement und er in sein kleines, in dem jemand auf ihn wartete. Es war komisch zu wissen, dass mich niemand vermissen würde. Der nächste Auftrag begann erst in einem Monat, William würde in der Zeit den Papierkram erledigen und sich auf das nächste Ziel vorbereiten, ich würde ein wenig malen, ein paar Freunde besuchen und vielleicht einen kleinen Ausflug nach Frankreich oder Belgien machen, allerdings alles allein. Ich könnte auch die ganze Zeit über in meinem Appartement verbringen und mir Essen liefern lassen, es würde niemand bemerken. Trotzdem freute ich mich darauf, ich mochte die Einsamkeit, sie bedeutete nämlich auch Ungestörtheit. Ich bezahlte den Taxifahrer, kramte umständlich meinen Schlüssel aus der Tasche, stieg die 24 Stufen hoch und öffnete die Tür. Alles war noch genauso, wie ich es verlassen hatte. Erschöpft schmiss ich meine Habseligkeiten auf die Bank im Eingangsbereich, griff mir meinen Korb und machte mich auf den Weg in den Supermarkt einige Straßen weiter. Die Sehnsucht nach einem guten Stück Brot war riesig. Ich kaufte ein Baguette, etwas Rucola, Tomaten und Putenbrust, mit etwas Olivenöl, Salz und Pfeffer würde ich schnell meinen Appetit stillen können, für ein aufwendiges Essen war ich zu hungrig und zu müde.

Nachdem ich schnell gegessen hatte, huschte ich unter die Dusche und machte es mir danach bei einem Glas Wein und Jane Austen auf der Couch gemütlich. Meine Wohnung war sehr schön. Wenn man sie betrat, gelangte man zunächst in einen Eingangsbereich, der an das große Wohnzimmer grenzte. Direkt an der Tür stand eine Bank und daneben ein stummer Diener. Man konnte in das üppige Wohnzimmer sehen, dass in warmen Tönen gehalten war und dessen Schmuckstück ein antiker Couchtisch war, den ich auf einem Flohmarkt ergattert hatte. Wenn man in das Wohnzimmer ging, war man links eine Tür in ein Badezimmer und etwas weiter dann die Küche, die ich von den Vorbesitzern übernommen hatte, sie war weiß und strahlte den Charme der Provence aus, sie hatte mich sofort begeistert. Geradeaus kam man dann in das Gästezimmer und rechts davon lag mein geliebtes Schlafzimmer. Ich hatte einen begehbaren Kleiderschrank, der in mein persönliches Badezimmer führte. Jeden morgen beglückwünschte ich mich zu diesem wundervollen Kauf, die Wohnung war perfekt für mich. Während ich las, fiel mir plötzlich die Ophtiole wieder ein. Ich holte sie unter meinem Shirt hervor. Ich hatte sie für den Flug in ein winziges Seidentüchlein gewickelt, damit mein Schweiß keine Verfärbungen hinterließe. Sie war wunderschön, die Jade war besonders dunkel und im Licht sah es aus, als wären unter der Oberfläche, die mit Ornamenten aus Drachen und Schlangen übersät war, kleine helle Sterne eingelassen. Doch irgendetwas kam mir merkwürdig an diesem kleinen Gefäß vor, es ließ sich nicht öffnen, was bei einem geschätzten Alter von knapp 1500 Jahren kein Wunder war, das wunderliche jedoch war, dass ich es unbedingt öffnen wollte, als würde der Inhalt nach mir rufen, mich auffordern ihn endlich zu befreien. Vorsichtig versuchte ich die Verschlusskappe zu drehen. Nichts geschah. Ich wendete etwas mehr Kraft auf, drehte und zog, allerdings gab es kein Stück nach. Nun schon sehr kräftig, legte ich meine ganze Hand um den Deckel und versuchte es erneut. Anstatt das Gefäß zu öffnen, stach ich mich an einer kleinen spitzen Ausbuchtung, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Etwas von meinem Blut blieb an dem Fläschchen haften, ich legte es auf den Tisch um meine Hand unter den Wasserhahn in der Küche zu halten und kam mit einem Papiertaschentuch um die Hand und einer Zange zurück in das Wohnzimmer. Ich platzierte das Werkzeug auf dem Tisch, um die Ursache meiner Verletzung näher zu betrachten. Als ich die Kette anhob, fiel die Kappe auf den Tisch zurück. Erschrocken starrte ich einen kurzen Moment das Gefäß an, als mich eine seltsame Gier ergriff, es an meinen Mund zu führen. Ich verharrte noch einen Moment in dieser Position und merkte, wie unglaublich schwer es mir fiel, das Schmuckstück wieder auf den Tisch zu legen. Was es wohl damit auf sich hatte? Es musste sehr wertvoll sein, schließlich hatte der Beamte danach gefragt. Noch immer hielt ich die Kette in meiner Hand. Langsam zwang ich mich, sie wieder hin zulegen. Ich würde sie vorerst dort liegen lassen und herausfinden, was genau meine kleine Errungenschaft eigentlich ist. Ich ignorierte die Anziehungskraft und holte meinen Laptop aus meiner Tasche. Während er startete beschäftigte ich mich damit aufzuräumen und versuchte nicht auf den Gegenstand zu achten, der auf meinem Couchtisch lag. Ich atmete kurz durch und setzte mich an das andere Ende der Couch und gab "Jadeophtiole" in die Suchmaschine ein. Im Internet stand nichts Interessantes zu dem Thema. Auch andere Suchwörter wie "Jadeanhänger" oder "Jadefläschen" brachten keinen Erfolg. Unruhig suchte ich etwa drei Stunden und entschloss mich, die Fachbibliothek aufzusuchen. Schlafen würde ich unter diesen Umständen nicht können. Kurz überlegte ich, die Kette mitzunehmen, entschied mich aber dagegen, sie übte eine beunruhigende Anziehung auf mich aus.
Ich sammelte Schlüssel und Geldbeutel, sowie meinen Bibliotheksausweis ein und machte mich auf den Weg. Die Bibliothek war zu jeder Tageszeit geöffnet und elektronisch gesichert. Mit meinem Ausweis verschaffte ich mir Zugang und ging zielstrebig zu dem Bereich, in dem ich die Informationen über antiken Schmuck wusste. Im stehen durchstöberte ich die Inhaltsverzeichnisse. Nachdem ich frustriert das fünfte Buch zurückstellte, fiel mir ein Buch auf, das hinter der ersten Reihe versteckt zu sein schien. Verwundert schlug ich zunächst zufällig eine Seite auf und blätterte ein wenig zurück, bis ich auf ein Bild meines Anhängers stieß. Hastig suchte ich die Seite und begann zu lesen.
Meine Ophtiole war angeblich verzaubert, sie gehörte einem alten Adelsgeschlecht und sollte einen Trank enthalten, mit dem man durch die Zeit reisen kann. Belustigt las ich weiter, ich hatte nie an Magie geglaubt. Wenn man einen Tropfen trinkt, brächte der Zauber einen zu der Person, die den Trank gebraut hat. Das Fläschchen öffne sich allerdings nur für die Person, für die der Trank auch bestimmt ist. Ich glaubte immer weniger an die angebliche Magie, der Anhänger war uralt, wer auch immer den Trank hergestellt hatte, hatte keine Ahnung von mir gehabt. Enttäuscht legte ich das Buch zurück und machte mich auf den Heimweg, die Müdigkeit machte sich bemerkbar. Als ich wieder zu Hause war, schaute ich zuerst auf die offene Ophtiole. Mir kam die Legende wieder in den Sinn, irgendwie amüsierte mich der Gedanke. Entschlossen nahm ich das Fläschchen in die Hand und hielt die Öffnung über meinen Finger, bis ein Tropfen darauf fiel. Das Gefäß war so klein, dass höchstens zwei Tropfen drin waren. Gebannt betrachtete ich die silberne Flüssigkeit auf meinem Zeigefinger. Ein Verlangen den Geschmack zu erfahren machte sich in mir breit. Ich legte die Flasche um meinen Hals und verschloss mit meiner freien Hand die Öffnung wieder so gut ich konnte. Mit geschlossenen Augen führte ich den Finger an meine Lippen und probierte von dem Trank. Plötzlich wurde mir bewusst, was ich eigentlich tat. Ich hatte eine mir unbekannte uralte Substanz auf meiner Zunge. Hoffentlich würde ich nicht sterben. Angespannt wartete ich auf einen Effekt. Ein fruchtig-saurer Geschmack entstand in meinem Mund, der bald süßlich wurde. Merkwürdig, den Tod hatte ich mir anders vorgestellt. Langsam zählte ich bis zehn und öffnete die Augen. Nichts geschah. Was hatte ich auch erwartet? Dass ein magischer Traumprinz mich empfängt und ich das mittelalterliche Großbritannien erforschen kann? Gleichzeitig erleichtert und enttäuscht zog ich mich aus und ließ mich ins Bett fallen. In wenigen Augenblicken war ich eingeschlafen.

Kapitel 2

Ein merkwürdig vertrauter Duft stieg in meine Nase. Ich atmete tief ein, streckte mich ein wenig bevor ich mich aufrichtete und die Augen rieb. Es war der Duft von Regen auf trockenem Asphalt. Ich öffnete die Augen und sah durch das Fenster auf die Tropfen, der davor niedergingen. Es war das Gefühl, nicht zu Hause zu sein, das mich irritierte. Langsam ließ ich meinen Blick schweifen, es war alles unverändert, dennoch beschlich mich eine sonderbare Bedrückung. Irritiert ging ich zunächst in das Bad und machte mich an meine Morgentoilette, die wegen meines kurzen Haares recht wenig Zeit beanspruchte. Dann ging ich in die Küche und holte die Reste des Baguettes aus dem Brotkasten. Bevor ich mich auf den Weg zum Einkauf machte, wollte ich frühstücken. Natürlich hätte ich auch etwas nahrhafteres auf dem Weg essen können, jedoch missfiel mir der Gedanke auswärts zu Essen schon immer, ich fand es unnötig und ging nur in ein Restaurant, wenn ich Besuch hatte, genauso missfiel mir nämlich der Gedanke, einem Besucher vielleicht etwas zu vor zusetzen, das er nicht mochte und aus Höflichkeit aß. Dieser Gefahr konnte man durch ein Essen auswärts sehr leicht vorbeugen.
Da ich aber in der nächsten Zeit keinen Besuch erwartete, ging ich in den Keller und schleppte mein Fahrrad, das sowohl vorne als auch hinten mit einem Korb ausgestattet war nach oben. Ich hasste es das zu tun, aber es war nun mal keine Herausforderung mein Fahrradschloss zu knacken und inmitten der Nacht für jeden Betrunkenen, der kein Geld mehr für ein Taxi hatte eine willkommene Lösung seines Problems. Dann zog ich den hässlichen, peinlichen, dafür aber überaus praktischen Regenmantel an, den man für ein Leben auf der großen Insel Europas einfach brauchte. Natürlich war ein Schirm wesentlich stilvoller, aber mit Schirm vom Fahrrad zu fallen hatte wiederum umso weniger Klasse. Während ich fuhr überlegte ich mir, was ich in nächster Zeit essen würde und worauf ich heute Lust hatte. Ich entschied mich für eine kleine Sünde und notierte zwei Becher Sahne auf meinem imaginären Einkaufszettel. Im Geschäft hing ich meinen Mantel an den dafür vorgesehenen Haken und nahm mir einen von den billigen Plastikkörben, ich hatte zuvor schon mehrfach versucht, meine Einkäufe in den Händen zu tragen, aber da ich beim Suchen in den Gängen immer etwas fand, was meinen Appetit anregte, hatte ich es mir relativ schnell angewöhnt sofort einen Korb mitzunehmen und nicht erst zu warten, bis ich keine Hand mehr frei machen konnte, um in das Regal zu greifen. Ein weitere Gewohnheit von mir war, dass ich zuerst nach ganz hinten im Markt ging und meinen Einkauf dort begann, meist standen die alltäglichen Produkte sowieso dort, auf die Art konnte ich sichergehen, zuerst das Nötige zu kaufen, bevor der Korb überquoll.
Nachdem ich alles nötige und auch unnötige gekauft hatte, verstaute ich es in meinen Fahrradkörben und fuhr, gehüllt in buntes Plastik, zurück. Obwohl es regnete, war es verhältnismäßig warm, ich begann zu schwitzen. Eigenartig erschien mir bloß, dass andere Passanten diese ungewöhnliche Hitze nicht zu bemerken schienen, im Gegenteil, sie wickelten sich sehr eng in ihre dicken Mäntel und Jacken und schienen es eilig zu haben, möglichst schnell ins warme Haus zu kommen.

Wieder zu Hause machte ich mich daran, in der Küche die Einkäufe zu verstauen. Als ich mich bückte um ein unteres Fach zu öffnen bemerkte ich, dass ich noch immer die alte Halskette trug. Ich würde sie wohl William überlassen. Sie als Schmuckstück zu tragen wäre ungemein ignorant, schließlich war sie ungemein alt und gehörte eher in ein Museum als an meinen Hals. Außerdem war ich enttäuscht, dass sich bloß erfundene Geheimnisse um das gute Stück rankten. Ich hatte irgendwie gehofft, dass vielleicht ein Kaiser daraus vergiftet wurde oder dass sie als Behälter für den Liebestrank einer vernachlässigten Konkubine diente. Stattdessen war ich auf ein Märchen gestoßen, dass selbst Kinder kaum glauben würden. Teilnahmslos betrachtete ich die Ornamente. Hübsch war es, ich könnte es wohl noch eine kleine Weile behalten. Während ich mit den Anhänger hielt überlegte ich, wie ich erklären sollte, dass er noch in meinem Besitz war. Wenn ich sagen würde, ich hätte es vergessen, würde mir niemand Glauben schenken, das war ein lächerlicher Gedanke. Würde William Schweigen darüber bewahren, dass er während des Fluges an meinem Hals hing? Ich ließ den Anhänger los. Für einen Moment glaubte ich, er würde einen Augenblick länger in der Luft verweilen, als die Schwerkraft eigentlich erlauben sollte.
Leider hatte ich keine Zeit für Verwunderung, es klingelte an der Tür. Erstaunt über den unerwarteten Besuch ging ich zur Tür. Vorsorglich brachte ich die kleine Kette, die vor einem völligen Öffnen bewahren sollte, an. "Ja, bitte?" fragte ich den Unbekannten, er trug eine Uniform. Wahrscheinlich hatte einer der Nachbarn etwas bestellt und war nun nicht zu Hause. Bei dem Gedanken, das Paket abzuliefern und auf einen Tee bleiben zu müssen bekam ich schlechte Laune. Es war nicht so, dass ich meine Nachbarn nicht mochte, im Gegenteil, sie waren alle sehr freundlich und es machte mir nichts aus ihnen einen Gefallen zu tun. Allerdings hasste ich gezwungene Gespräche und noch mehr die peinliche Stille, die dazwischen lag. Hätte ich einen Mann oder Freund gehabt, wäre es einfacher gewesen, von anderen zu erzählen ist immer leichter als von sich selbst. Nur leider war es mir nicht vergönnt gewesen, mich jemals richtig zu verlieben. Die Männer die ich kennen lernte wurden einfach zu schnell uninteressant, sie erzählten alle das Gleiche und in ihren Augen konnte ich immer dasselbe sehen: Sie wollten mich nicht wegen meines guten Abschlusszeugnisses, manche wollten mich nicht einmal wegen meines Aussehens, sondern wegen des Erbes, es war ermüdend zu selektieren und die tatsächliche Suche hatte ich schon längst aufgegeben, entweder der richtige Mann würde mir irgendwann zufällig über den Weg laufen oder ich würde als alte Jungfer sterben. "Miss? Paket für Josephine McMiller." Der junge Mann musste schon einmal gefragt haben, er sah mich erwartungsvoll an. Mit einem Seufzer riss ich mich aus meinem Selbstmitleid und öffnete die Tür um mein Paket entgegen zu nehmen. Bei der Unterschrift merkte ich, dass ich gar keine Sendung erwartet hatte. "Von wem ist es?" fragte ich deshalb. "Keine Ahnung, der Absender hat keinen Namen angegeben, das Paket wurde in einer unserer Filialen direkt abgeschickt." Neugierig geworden fragte ich weiter. "Wo liegt diese Filiale?" Er drückte einige Knöpfe an seiner elektronischen Datenbank. "Sehr merkwürdig, tut mir Leid Miss, die Informationen sind verloren gegangen, das kann schon mal passieren. Vielleicht ist in dem Paket eine Notiz." Ich kramte ihm einen kleinen Schein Trinkgeld hervor und schloss, ohne auf sein "Danke, einen schönen Tag" zu warten die Tür. Obwohl ich neugierig war, legte ich das Päckchen zunächst auf den Tisch und ging mich umziehen. Wieder im Wohnzimmer legte ich den Anhänger neben dem Objekt meiner Neugierde ab und begann es zu öffnen. Keine Notiz, aber zwischen vielen Holzspänen lag dort das Buch, in dem ich am Abend zuvor die wenigen Informationen über den Jadeanhänger gefunden hatte. Einen Moment lang saß ich erstarrt da, wer konnte mir das Buch geschickt haben. Plötzlich begann ich zu frieren und holte mir eine Strickjacke. War ich krank? Gerade hatte ich noch vor Hitze geschwitzt. Während ich an dieses seltsame Phänomen dachte, setzte ich mich wieder auf die Couch und wollte gerade nach dem Buch greifen um es noch einmal näher zu betrachten, als ich bemerkte, dass von dem Fläschchen eine Wärme ausging. Es war mir zwar nicht ganz geheuer, aber trotzdem wollte ich es wieder umlegen. Auch wenn es vielleicht unvernünftig war, redete ich mir ein, dass sowieso nichts passieren könne. Also legte ich es um und begann nach der Abbildung zu suchen. Diesmal las ich genauer. Anscheinend entfaltete der Trank nur bei Vollmond seine Wirkung, das war aber erst in knapp einer Woche. Zwar glaubte ich nicht an den Inhalt des Buches, aber es hatte etwas beruhigendes, diese Informationen zu sammeln. Das Fläschchen selbst sei ungefähr 1600 Jahre alt und wurde von einem mächtigen Zauberer erschaffen. Angeblich befand es sich bis es an die Mönche des Tempels geraten war im Besitz der Nachkommen eben jenes Zauberers. Ich las noch ein wenig weiter, bis ich merkte, dass es schon dunkel wurde und beschloss mit William darüber zu sprechen, allerdings erst am nächsten Tag.

Ich sollte nicht mehr dazu kommen.

Kapitel 3

Am nächsten Tag entschloss ich, einen Kaffee trinken zu gehen und ein nettes Buch zu lesen. Ich hatte nichts zu tun und konnte genießen, ein wenig Freizeit zu haben. Nach drei Tassen Cappuccino und fünf Geschichten Hermann Hesses, überlegte ich einen kleinen Einkaufsbummel zu machen. Es war ein Arbeitstag und die Geschäfte würden angenehm leer sein, sodass ich mich in aller Ruhe umsehen könnte. Da ich nach nichts Bestimmtem suchte, ging ich langsam durch die Gänge. Dabei fiel mir in einem Spiegel ein abstoßender Mann hinter mir auf, der mich zu beobachten schien. Es war nicht sein Aussehen, das mich ab stieß, es war etwas mir in dem Moment Unerklärliches. Vielleicht sein Blick. Er schaute mich hemmungslos an, auch als er schon längst wissen musste, dass ich ihn bemerkt hatte. Verunsichert ging ich in das nächste Geschäft. Er folgte mir nicht. Hatte ich mich geirrt? Beobachtete er mich gar nicht sondern war nur ein vereinsamter Psychopath, der sich alle Frauen im Geschäft so schamlos anschaute?
"Ma'am, sie haben etwas verloren." Der Mann bückte sich um mir ein Taschentuch zu reichen, das nicht meines war. Ich nahm es.
Aus der Nähe konnte ich erkennen, dass der dunkelblaue Anzug, den er trug außergewöhnlich gut geschnitten war. Auch der Stoff erschien mir edel. Allerdings machte mir ihn diese Tatsache nur noch unheimlicher, die wenigsten Männer kommen von selbst auf die Idee, einen Schneider zu engagieren und dieser Anzug war mit Sicherheit eine Maßanfertigung. Vielleicht hatte er eine Frau. Dann wusste ich allerdings nicht, wieso er mir folgte. Er sah nicht aus, als hätte er so etwas nötig.
"Miss bitte. Vielen Dank."
"Nichts zu danken, Miss...?"
Er bildete sich tatsächlich ein, ich würde ihm meinen Namen sagen, bloß weil er mir irgendein Taschentuch, das wahrscheinlich auch noch sein eigenes war, gereicht hatte.
"Entschuldigen sie mich. Ich bin etwas in Eile. Einen schönen Tag."
Viel zu langsam, als dass er meine Lüge glauben könnte schlenderte ich aus dem Geschäft und direkt in das nächste. Von so einem eitlen Pfau würde ich mich sicher nicht einschüchtern lassen.
Wieder folgte er mir, sprach mich aber nicht an. Er beobachtete mich bloß. Fasste er meinen langsamen Gang als Aufforderung auf? Ich konnte mir vorstellen, dass er selten von Frauen eine Absage bekam. Die Weltgewandtheit und der Reichtum, den er ausstrahlte, mochten faszinierend wirken. Zu dumm nur, dass ich lieber meine eigenen Erfahrungen machte, als mir den Lebenslauf solcher Männer anhören zu dürfen. Provokativ lange betrachtete ich eine hässliche Seidenbluse, sie war braun und hatte schwarze, verschlungene Kreise als Muster. Ich wollte gerade das Geschäft verlassen, als ich merkte, dass er mein Handgelenk griff.
"Bereite dich vor..." Erschrocken schaute ich über meine Schulter zurück. Mitleid lag in seinem Blick, er wirkte merkwürdig, als würde er mich beschützen wollen, als kenne er mich schon eine Ewigkeit und wüsste, dass ich ihn für verrückt hielt. Ich bemerkte, dass seine Nase etwas krumm war, als wäre sie einmal gebrochen und nicht gerichtet worden. Sein dunkles Haar und seine gebräunte Haut wirkten zusammen erst übertrieben gepflegt, aber der Schatten seines Bartes ließ ihn wieder männlicher erscheinen. Gefesselt von seinem Anblick starrte ich auf seine Lippen, die sich zu einem spöttischen Lächeln verzogen, als er bemerkte wie ich ihn musterte. Das machte mich wütend.
Bevor ich ihn auffordern konnte mich los zulassen, war er durch die Tür verschwunden. Ich lief ihm nach und sah ihn hinter eine Ecke biegen.
Was er wohl gemeint hatte. Den Rest des Tages hatte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Die Versuche, William zu erreichen, scheiterten, niemand nahm den Hörer ab.
Rastlos wanderte ich auf und ab. Was sollte ich als nächstes tun. Worauf sollte ich mich vorbereiten und wer war dieser Fremde.

In einem Kurztrip nach Belgien sah ich die Lösung meiner Rastlosigkeit. Ich würde weit weg sein, Zeit haben mich zu entspannen, vielleicht ein nettes Wellness-Hotel aufsuchen und mich in aller Ruhe davon ablenken, dass mir der Mann aus dem Geschäft nicht mehr aus dem Sinn ging. Es machte mich wahnsinnig, mich nicht als Herr der Lage zu fühlen, woher nahm er sich die Frechheit, so widerlich zu grinsen? Noch verrückter machte mich die Gewissheit, ihn nicht wieder zu sehen. Es wunderte mich, was er wohl gemeint haben könnte. Wie gerne hätte ich ihn gefragt, was es mit seinem Verhalten auf sich hatte und herausgefunden, ob es tatsächlich mit meinem Fund in Südchina in einem Zusammenhang stand. Stundenlang drehte ich mich im Kreis, stellte immer und immer wieder die gleichen Fragen und entschied mich letztendlich dafür, diese unglücklichen Zufälle als das abzutun, was sie eben waren: Zufälle.
Den Jadeanhänger ließ ich in meinem Appartement.Ganz sicher würde ich mir meinen Urlaub nicht durch irreführende und zwecklose Gedanken bestimmen lassen.
Ich begann Paranoia zu entwickeln, andauernd bildete ich mir ein, ihn in einem Café oder auf einer Bank im Park sitzen zu sehen. Einmal sogar in der Lobby meines Hotels. Ich bemühte mich, das alles zu ignorieren und so zu tun, als könne ich meinen Aufenthalt genießen. Bei Spaziergängen, Massagen, sündig gutem Essen und dem Besuch von Museen und Theatern wollte ich mich auf andere Gedanken bringen, die dennoch und das scheinbar ausschließlich um diesen Mann schwirrten. Alles in mir schien sich um ihn zu drehen, vor dem Einschlafen sah ich seine Lippen, die dieses widerliche Lächeln bildeten und stellte mir kurz vor, wie er wohl unter dem Anzug aussähe, was ich mir aber sofort wieder verbot.Soweit sollte es nun wirklich nicht kommen, dass ich die Lust alleine mit ihm vor Augen für mich entdeckte.

Als ich gerade von einem Museumsbesuch und anschließender Theateraufführung zurück kam, hatte ich vor dem Öffnen meines Zimmers plötzlich ein beklemmendes Gefühl, als würde mich jemand beobachten. Schnell huschte ich rein und sah...schwarz. Ich sah überhaupt nichts mehr. Selbst das Licht, das vom Gang aus hätte rein scheinen müssen war nicht zu sehen. War ich etwa ohnmächtig oder sogar tot? Ich versuchte die Augen zu schließen und wieder zu öffnen. Wenn man ohnmächtig war, konnte man dann denken? Eine Hand berührte meinen Rücken.
„Du bist da.“
Ich drehte mich um und sah ihn. Der Raum, in dem wir uns befanden sah uralt aus, es erinnerte mich an das Bühnenbild von McBeth, allerdings wirkte das hier wesentlich authentischer. Er lächelte und wiederholte seine Worte.
„Du bist da.“
„Sie.“
Mir gefiel dieser plump vertraute Ton, den er anschlug überhaupt nicht, überhaupt nicht. Auch wenn ich träumte, würde ich die Etikette wahren. Eine andere Erklärung gab es nicht, ich war ohnmächtig geworden und in Schlaf verfallen. Jetzt träumte ich. Nicht, dass es reichte tagsüber an ihn zu denken, jetzt hatte er sich auch schon in meine Träume geschlichen.
„Ich werde dich nicht Siezen Josephine. Du gehörst mir.“ Mein Verstand musste mir völlig verloren gegangen sein, so ein Traum kann nicht gesund sein.
Ich ignorierte ihn und wartete darauf, wach zu werden. Während ich wartete, könnte ich allerdings ein bisschen Spaß in die ganze Sache bringen. Es würde schließlich niemand erfahren. Sofort vertrieb ich diese Gedanken wieder und konzentrierte mich darauf, in die Realität zurück zu kehren. Unverwandt schaute er mich weiterhin an, regungslos, als wartete er auf meine Reaktion, seine Augen schienen jeden Teil meines Körpers zu erfassen und plötzlich wurde ich mir bewusst, dass ich bis auf den Anhänger völlig nackt war. Den hatte ich doch in England gelassen. Ich sah es als Bestätigung, dies war also tatsächlich ein Traum. Dennoch stieg mir die Schamröte ins Gesicht, mir wurde heiß. Vergeblich versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. Warum gab ich mir Mühe, irgendwann würde ich aufwachen. Hoffentlich war ich nicht tot und das hier meine persönliche Hölle, ich hatte nie an die Hölle geglaubt, aber bei dem Gedanken befiel mich Panik. Würde er etwas tun, das ich nicht wollte? Wir waren allein in einer mir unbekannten Gegend, niemand würde mir helfen können, ich wüsste nicht, wo ich mich verstecken oder Hilfe holen sollte. Er setzte sich in Bewegung.
„Du bist anders, als ich gedacht hatte.“
Ich schluckte, mein Horrorszenario schien Gestalt anzunehmen.
„Du bist sehr klein. Wie groß bist du? Eins-sechzig?“
Er hatte gut geschätzt, ich hielt es für unnötig zu antworten.
„Ich mag langes Haar lieber.“
Seine Stimme klang sehr trocken und rau, ich ballte meine Hände zu Fäusten. Was bildete er sich ein, so mit mir zu sprechen.
„Und blass bist du auch. Isst du zu wenig?“
Ich wollte beginnen ihn zu beschimpfen, da streifte er mir ein wunderschönes grünes Kleid über den Kopf. Wo kam das den so plötzlich her?
Bewundernd sah ich an mir herunter, es war knöchellang und hatte einen Stich ins Blaue, es saß sehr locker an meinem Körper und der Rücken war tief ausgeschnitten. Es war so schön, dass ich mich nicht wunderte, wie er meine Arme durch die dafür vorgesehenen Öffnungen gebracht hatte.
Ich wusste nicht, ob es angebracht war ihm zu danken.
„Natürlich füllst du es nicht besonders gut aus, vor allem hier oben.“
Reflexartig verschränkte ich die Hände vor der Brust. Sicher würde ich ihm nicht danken, wahrscheinlich fand er meinen nackten Anblick einfach nur ein wenig lächerlich und hatte keine Lust mehr. Ärger und Erleichterung vermischten sich zu einem seltsamen, unbekannten Gefühl. Natürlich war ich nicht seine verdammte Liga. Er war groß. Sehr groß. Außerdem strahlte er diese gepflegte Männlichkeit aus, die nur wenigen zu Teil ist. Sein Bart war noch immer sehr kurz, er musste sich in der Zwischenzeit rasiert haben, es sah aus, als wäre es zwei oder drei Tage her. Seit ich mit William zusammen arbeitete, konnte ich derartiges gut einschätzen.
Giftig schaute ich ihn an und wendete meinen Blick auf den Boden. Wie lang würde denn dieser elende Traum noch dauern?
„Das wird dein Zimmer sein.“ Ohne weitere Worte verließ er den Raum. Bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, rührte ich mich nicht vom Fleck. Laut atmete ich aus. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Konnte man im Traum die Luft anhalten? Ich dachte daran, mich zu kneifen. Ich spürte meine Finger und das Zwicken, allerdings realisierte ich noch nicht, was das zu bedeuten hatte. Noch einmal, aber fester. Das konnte doch nicht sein. Siedend heiß fiel mir ein, dass heute Vollmond war. Stimmte etwas an der Geschichte? Das war völlig unmöglich. Es musste ein außergewöhnlich realistischer Traum, tröstete ich mich. Am schlimmsten war für mich an dem Gedanken, dass hier sei die Realität, nicht, dass ich in einer anderen Zeit an einem fremden Ort war, sondern dass ER mich dann tatsächlich nackt gesehen hätte. Beschämt setzte ich mich auf das Bett. Erst jetzt betrachtete ich den Raum genauer, wohl fühlte ich mich nicht. Neben dem Bett stand eine große Schüssel, über deren Zweck ich zunächst lieber im Unbestimmten blieb. Ansonsten gab es einen Tisch mit hübschen, antiken Stühlen und einer Schale Obst. Außerdem ein großer, dunkler Kleiderschrank, vielleicht aus Nussbaum. Da hatte jemand ordentlich geschleppt, als ich ihn untersuchte sah ich nämlich, dass man ihn nicht auseinander bauen konnte, nicht eine Schraube war zu sehen.
Als ich ihn öffnete stockte mir der Atem. Dort hingen wundervolle Kleider, alle dem ähnlich, das ich trug, nur waren sie doch alle verschieden. Der Stoff fühlte sich großartig an, sehr weich und leicht, aber trotzdem warm. Wenn ich aufwachte, würde ich nach so einem Kleid suchen. Ich nahm mir ein Stück von dem fremdartigen Obst und begann, die Zeit zu vertrödeln. Es war schrecklich langweilig. Nachdem mir die trostlose Einsamkeit zuwider wurde sah ich mich gezwungen, der Realität ins Auge zu sehen. Wenn dies hier tatsächlich ein Traum sein sollte, war er nicht nur lang sondern schien auch unglaublich echt, ich verspürte Hunger und Müdigkeit, war sogar kurz ein gedöst. Ich schluckte meinen Stolz herunter und öffnete vorsichtig die Tür, um nach der Küche zu suchen. Leider war ich keines von den Mädchen, die von einer Schale Obst satt werden konnten. Ich hatte im Schrank Stoffsandalen entdeckt und schlich nun tatsächlich auf leisen Sohlen durch den kühlen, spärlich beleuchteten Gang. Das einzige Licht kam von einem winzigen Fenster am anderen Ende, sodass ich die Umrisse meines Schattens sehen konnte. Er führte mich zu einer schmalen Treppe aus Stein. Sehr gut, kein verräterisches Knarren und Knacken. Auf halbem Weg nach unten begann ich den Geruch von frisch gebackenem Brot wahrzunehmen. Weniger vorsichtig und mit knurrendem Magen folgte ich dem himmlischen Duft, vorbei an einer sperrigen Tür und sah ihn. Bedeckt mit Mehl und mit ein wenig Schweiß auf der Stirn, wie er einer molligen Frau half, einen steinzeitlichen Ofen zu bedienen und nacheinander drei goldbraune Laib hervor zu holen. Ich setzte mich an den riesigen Eichentisch und roch ausgiebig an dieser Köstlichkeit. Die Frau lächelte mich mütterlich an.
„Kind, du musst ja verhungert sein. Bleib nur sitzen und lass es auskühlen, du bekommst etwas Fleisch und Gemüse dazu.“
Verlegen lächelte ich.
„Ich bin übrigens Juno. Hier Kind, iss dich satt.“
Sie stellte zwei Teller, mit kleinen Tomaten, Gurken und Möhren sowie kaltem gebratenem Rindfleisch in meine Reichweite. Während ich aß, bemerkte ich gar nicht, wie er den Raum verließ.

Kapitel 4

Es war ihr bestimmt mein zu sein. Mein. Ich hatte mich gegen den Gedanken gesträubt, dass meine Frau mir vorherbestimmt war und ich nicht selbst entscheiden durfte. Mein Vater war außer sich vor Wut, ich konnte mich vor dem Krieg gar nicht von ihm verabschieden. Als er mir den Anhänger gezeigt hatte, war ich 16 und verliebt in irgendein Dorfmädchen, das wahrscheinlich nun längst nur noch in ihren Urenkeln weiterlebte.
Ich hatte mich gesträubt, bis ich sie das erste mal in meinen Träumen sah. Sie musste es sein. Sie war alles andere und doch genau das, was ich immer erwartet hatte und wollte. Wunderschön. Ihr kurzes Haar brachte ihre feinen Gesichtszüge und ihren schmalen Hals zur Geltung. Der Kontrast ihrer grünen Augen und ihres braunen Haares ließen sie wie eine Elfe erscheinen, was durch ihren zierlichen Körperbau und ihre Blässe noch hervorgehoben wurde. Nachdem ich sie das erste mal gesehen hatte, begann ich Kleider für sie in Auftrag zu geben. Ich suchte persönlich den Stoff aus und mischte die Farbe an, beschrieb dem Schneider in jedem Detail, wie es fallen sollte, damit es sich perfekt an meine einzigartige Geliebte anpasste.
Doch der Zeitpunkt ihres Erscheinens war denkbar ungünstig. Mitten im neuen Krieg.Ich musste zwar nicht kämpfen, solange die Herrschaft nicht ernsthaft bedroht war, aber die feindliche Armee war sich meiner Macht sehr wohl bewusst und immer nach der Suche nach Schwachstellen. Sie würde diese Schwachstelle sein, verletzlich, zerbrechlich und unglaublich naiv. Ich musste sie dazu bringen mich zu verachten und zu glauben, ich verachte sie. Je weniger ich in ihrer Nähe war, desto sicherer war sie.
Wie ich mich nach dem Ende dieses lächerlichen Zwistes sehnte. Es war tatsächlich lächerlich. Des Königs Tochter wollte einen Bauernburschen heiraten. Natürlich hatte Cassius, der König, das nicht erlaubt, woraufhin seine Tochter Venetia durchgebrannt war und sich mit ihrem Burschen versteckte. Die beiden wurden von einer ziemlich schlauen Horde Bauern beschützt, die der Armee des Königs einiges entgegen zu setzten wusste. Es schien mir dennoch nur eine Frage der Zeit, bis er des Wartens überdrüssig um meine Hilfe bat und ich würde sie alle wohl oder übel vernichten müssen.
Ich war durch Magie an die Befehle des Königs gebunden und obwohl ich jahrhundertelang nach einem Ausweg gesucht hatte, mich von diesem elenden Zauber der mich so einschränkte, zu befreien, konnte ich nicht einen einzigen Anhaltspunkt finden, der mir geholfen hätte. Da ich unsterblich war, hatte ich viel, viel Zeit gehabt.
Mein Vater war ebenfalls unsterblich gewesen. Allerdings übertragen wir diesen Segen oder auch Fluch auf unseren Sohn oder unsere Tochter. Bis ich also ein Kind zeugen würde, könnte ich mein Alter und sogar mein Aussehen beeinflussen.
Mit dem Tod meines Vaters wurde ich zum Herrn der Zeit. Wollte ich, dass jemand jünger wird, ließ ich seine innere Uhr zurück laufen. Wollte ich durch die Zeit reisen, drehte ich an der Uhr des Universums. Alles was sehenswert war, hatte ich gesehen und doch schien sie mir -wie sie nieste oder jeden morgen darauf bedacht war, mit dem rechten Fuß aufzustehen- die Krönung der Schöpfung zu sein.
Endlich stand sie vor mir. Es war das erste mal, dass ich die Wirkung des Zeittonikums gesehen hatte. Natürlich war das meiste, was in dem Buch stand, das ich ihr zukommen lassen hatte, völlig frei erfunden. Nur dass der Vollmond die Magie auslöste, das stimmte. Sie war da.
Nervös sah sie aus. Ein wenig verängstigt. Plötzlich umspielte ein wissendes Lächeln ihr Gesicht.
Ihre Mundwinkel verlockten mich zu einem Kuss, den ich unterdrücken musste.
Es tat mir weh, sie schlecht behandeln zu müssen. Auch fiel es mir schwer, die abstoßende Aura, die mich umgab aufrecht zu erhalten, wenn ich sie doch eigentlich nur in den Armen halten wollte.
Solche Gedanken durfte ich mir nicht erlauben. Ich merkte, wie sie mich wohlwollend musterte. Sofort konzentrierte ich mich wieder darauf, Verachtung auszustrahlen. Ich zog ihr das Kleid drüber und machte durch einen kleinen Trick den Stoff kurz durchlässig, sodass alles perfekt saß.
Sie war noch schöner, als ich es in Erinnerung hatte, bevor die Mauer meiner Beherrschung bröckelte, verließ ich den Raum.
Rennend brachte ich den schmalen Gang hinter mich und lief an der Küche vorbei durch die Eingangshalle, die mit vielen orientalischen Teppichen geschmückt war, nach draußen, dem See entgegen, aus dessen Mitte eine idyllische, aber winzige Insel ragte. Jeden Tag schwamm ich morgens dorthin, um den Sonnenaufgang betrachten zu können, ich liebte das Gefühl zu wachen, während der Rest der Welt schlief und dabei diesen einzigartigen Anblick für mich allein zu haben.
Jetzt schwamm ich, um mir Abkühlung und einen klaren Kopf zu verschaffen. Mit gleichmäßigen aber schnellen Zügen näherte ich mich der Insel. Nachdem ich mich ein bisschen erholt hatte und das Wasser auf meiner Haut getrocknet war, machte ich mich etwas langsamer auf den Rückweg. Ich brauchte Beschäftigung, wenn ich mich von ihr ablenken wollte.
Meine Mutter war wie immer in der Küche, sie war das Herzstück der Burg, jeder Raum den sie betrat erfüllte sich sogleich mit Wärme. Obwohl sie meinen Vater vermissen musste, ließ sie sich nur selten in einem traurigen Moment erwischen, vor allem heute nicht, da sie ihre lang erwartete Schwiegertochter kennen lernen würde. Strahlend empfing sie mich.
„Hast du sie geholt? Kann ich mit ihr sprechen?“, ihre Vorfreude war ihr ins Gesicht geschrieben.
„Mutter!“
„Ich werde nett zu ihr sein, sie muss ja nicht wissen, dass du mein Sohn bist.“
„Mutter, du weißt es wäre sicherer...“
„...wenn sie völlig unglücklich davon liefe?“, unterbrach sie mich.
Wir stritten uns schon eine Weile darüber. Teilweise gab ich ihr auch Recht, aber dennoch sollte sie lieber eine scheinbare Gefangene sein, die Bauern würden ihr im Zweifelsfalle nichts tun. Ich hatte schreckliche Angst, sie könnten Josephine in meiner Abwesenheit entführen. Der Gedanke, sie zu verlieren bevor ich sie überhaupt gehabt hatte machte mich wahnsinnig, so lange schon beobachtete ich sie und sehnte den Tag herbei, an dem sie kommen würde.
Auch wenn ich die Zeit manipulieren konnte, konnte ich doch nur in meiner eigenen dauerhaft leben. Nur kurz konnte ich mich in ihrer Nähe aufhalten, bevor ich zurück gezogen wurde. Zu jung war ich ihr Herr geworden und deshalb war sie, die Zeit, sehr störrisch. Zwar wurde es von Jahrhundert zu Jahrhundert einfacher für mich, bis sie sich mir gänzlich unterwerfen würde, brauchte es aber noch einiges, die Zeit war wie eine schmollende Frau, die sich mit ihrem Geliebten gestritten hatte und sie verzieh nur langsam. Ich hatte ihr zwar nichts getan, wie denn auch? Aber sie forderte viel von denen, die sie manipulierten und brauchte eine lange Eingewöhnungszeit.
„Nicht zu nett...“, murmelte ich widerwillig bevor ich eine Schüssel nahm, um den Teig für das Brot zu machen, das wir zu Abend essen würden.

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Tag der Veröffentlichung: 22.05.2010

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