Es war einst, vor gar nicht all zu langer Zeit, dafür aber in einem um so weiter entfernten Land, da lebte eine Glockenblume.
Sie war eine gute Glockenblume, sie tat ihre Pflichten als Blume, sie leistete ihren Dienst den Bienen, denen sie ihren Nektar gab, sie erfreute auch die Wanderer, die des Weges kamen mit ihrem Duft, der wie sie so unendlich zart, so wundervoll und so schön war.
Die kleine Glockenblume war froh, dass sie nicht eine andere Blume war.
Sie wollte nicht ein so adeliges Edelweiß sein, das stolz in einer Felsspalte hockte und auf alles herab schaute, obwohl es doch auch so klein war.
Sie wollte auch nicht wie eine jener Rosen sein, die sich trotz ihrer herrlichen Blüte mit ihren gefährlichen Stacheln wehren musste.
Und auch nicht wie einer von den Löwenzähnen, die sich immer öffneten und schlossen und immer waren sie etwas anderes; mal Knospe, mal Blüte, mal weißer Ball.
Nur einen beneidete sie.
"Ach", sagte sie, "wie schön muss es sein, wie ein Schmetterling zu fliegen".
All die fernen Wiesen könnte sie sehen, die fremden Blumen und sie könnte endlich die Welt von oben betrachten.
Die anderen Blumen lachten über sie.
"Wie willst du denn fliegen? Du bist ein Blume, wie wir. Du kannst doch kein Schmetterling sein, dummes Ding!", kicherten die Gänseblümchen und steckten ihre Köpfe zusammen.
Das adelige Edelweiß lachte laut "Ist dir meine Gesellschaft nicht gut genug? Bin ich etwa zu klein? Du suchst doch nur nach jemandem, der besser ist als ich!"
Und die Rosen höhnten: "Was gibt es schon für dich zu sehen? Wie könntest du überhaupt überleben? Du hast ja nicht mal Dornen!"
Sie seufzte wehleidig und senkte ihr hübsches Köpfchen.
Da erblickte sie zu ihrem Erstaunen ein kleines Wesen. Nicht größer als eine Erbse.
Die Blume betrachtete das seltsame Wesen genauer. Es schien keine echte Form zu besitzen, als wäre es nur ein Stückchen Licht. Es funkelte und glitzerte dort unten an ihrer Wurzel wie ein Splitter von der Sonne.
Vorsichtig schob sie eines ihrer Blätter unter den schimmernden Funken und hob ihn hoch.
Sie sah noch genauer hin und konnte wirklich ein winziges Gesichtchen ausmachen.
"Wer bist denn du?", fragte die Glockenblume verwundert.
Der kleine Funken blinzelte.
Doch bevor er etwas sagen konnte, schrien schon die anderen Blumen dazwischen:
"Oh, seht mal!"
"Was hat denn die kleine unnütze Glockenblume da?"
"Ist es etwa Feuer? Hat das Unkraut etwa Feuer zu uns gebracht?"
"Wird es uns verbrennen? Will uns die Glockenblume alle verbrennen?"
"Wo hat sie es bloß her? Warum hat sie es?"
Die Glockenblume erschrak über diese Worte. Feuer? Was war das?
Verwirrt zog sie sich zurück. Sie krümmte ein wenig den Stiel, senkte das kleine Köpfchen noch weiter und schlang die Blätter um sich. So war sie beinahe unsichtbar.
"Was bist du?", flüsterte die kleine Glockenblume dem Funken zu.
"Ich bin ein Stern", hauchte das kleine Wesen, "ich fürchte, ich habe mich ein wenig verirrt."
"Wo kommst du denn her?", fragte die Glockenblume.
"Ja, aber weißt du das denn nicht? Ich bin ein Stern. Ich komme aus dem Himmel!", kicherte der Stern.
"Wo liegt dieses Land namens Himmel?", erkundigte sich die Glockenblume.
"Es ist weit entfernt, viel zu weit."
"Wie bist du denn hier her gekommen aus dem weit entfernten Land 'Himmel'?"
Da begann der kleine Stern bitterlich zu weinen, er schluchzte so laut, dass die anderen Blumen sich schon fast wieder daran erinnerten, was eigentlich los war.
"Ich werde es dir erzählen, kleine Glockenblume.
Einst war ich ein Stern am Himmel, wie die anderen auch. Doch ich war zu eitel und wollte endlich etwas anderes sein als nur ein Stern.
Aber weißt du, die einzige Möglichkeit für einen Stern, etwas anderes zu sein, ist, sich fallen zu lassen.
Du musst wissen, dass alle Sterne, die sich fallen lassen, auf die Erde stürzen. Die Menschen nennen uns dann Sternschnuppen.
Wenn sich jemand etwas wüscht, während wir fallen, werden wir zu diesem Wunsch.
Und irgendwann, wenn wir glauben, es sei an der Zeit, sorgen wir dafür, dass wir in Erfüllung gehen.
Und dann werden die Träume der Menschen wahr.
Doch als ich mich fallengelassen habe, da hat sich niemand etwas gewünscht und ich bin immer weiter gefallen, bis ich auf die Erde kam.
Und hier bin ich, liebe Glockenblume."
"Du wolltest ein Wunsch werden, kleiner Stern?", fragte die Glockenblume.
"Ja, das wollte ich. Aber niemand hat sich etwas gewünscht."
Der Stern schluchzte erneut.
Die Glockenblme überlegte. Dann kam sie auf eine Idee.
"Wie wäre es, wenn ich dich hochwerfe und mir ganz schnell etwas wünsche?"
Der Stern sah sie mit großen Augen an. "Würdest du das wirklich tun?"
"Ja, das würde ich."
Der kleine Stern hörte auf zu weinen. "Aber wir müssen aufpassen, ich möchte nicht der Wunsch von diesen gemeinen Rosen oder den eitlen Edelweiß werden."
"Dann werde ich diese Nacht wach bleiben. Ich werde dich heute Nacht hoch werfen, wenn die anderen Blumen schlafen, ja?"
"In Ordnung", nickte der kleine Stern. "Doch jetzt erzähle mir doch etwas von dir, kleine Glokenblume."
Die Glockenblume erzählte. Sie berichtete von den Wanderern, die sie bewunderten, auch durch die Rosen hindurch. Sie erzählte von dem erfrischenden Regen, von dem langen Schlaf im Winter und dem herrlichen ersten Frühlingtag.
Und während sie erzählte, da ging langsam die Sonne unter und der Mond erwachte und kletterte am Himmel empor, zu den anderen Sternen.
Die Glockenblume staunte über die vielen Sterne. Sie war noch nie in der Nacht wach geblieben und sah die Serne zum ersten Mal.
Dann sah sie sich um. Die anderen Blumen schliefen, sie hatten ihre Blüten geschlossen und schlummerten sanft, gewiegt von dem leichten Wind.
Die Glockenblume beugte ihren Stängel und streckte sich zu ihrer vollen Größe und warf den Stern hoch in die Luft.
Der kleine Stern jauchzte vergnügt und rief ihr von oben herab zu: "Wünsch dir was, kleine Glockenblume, wünsch dir was!"
Die Glockenblume kniff fest die Augen zu und wünschte.
Sie wünschte so doll, dass der Stern einen kleinen Schock bekam, als er zu ihrem Wunsch wurde.
Die Glockenblume öffnete die Augen. "Hat es geklappt, kleiner Stern?"
Doch sie konnte ihn nicht sehen.
"Kleiner Stern, wo bist du? Kleiner Stern!", rief sie.
"Aber ich bin doch hier", sagte da eine dünne Stimme, "nein, dreh dich nicht um. Ich will nicht, dass du mich als deinen Wunsch siehst, kleine Glockenblume."
"Also hat es geklappt". Die Glockenblume senkte erleichtert die Lider und schlief langsam ein.
Der Herbst hatte begonnen. Glockenblumen schlafen im Herbst, wie alle Blumen.
Sie zog sich zurück in die Erde, ließ ihre Hülle an der Oberfläche und kuschelte sich in ihre warmen Wurzeln ein.
Bald schon bedeckten bunte Blätter den Boden über ihr. Regen sickerte hindurch und stärkte die kleine Glockenblume ein wenig in ihrem Schlaf.
Dann kam der Winter mit seinem Schnee. Glitzerndes Weiß senkte sich über die Erde und machte alles kalt und eisig. Doch die Glockenblume schlief weiter in der warmen Erde.
Dann kam der Frühling.
Und mit ihr erwachte die kleine Glockenblume zu neuem Leben.
Die ersten Sonnenstrahlen scholzen den schweren Schnee und die Glockenblume schob sich schnell durch die Erde nach draußen.
Sie lächelte und schüttelte das kleine Köpfchen.
Wie überracht war sie jedoch , als sie ein Klimpern hörte.
Sie bewegte sich noch einmal und da war es wieder!
Mit jedem Schritt, den sie tat, klimperte es.
Schritte? Die Glockenblume war sehr verwundert.
Sie konnte laufen! Vorsichtig machte sie einige Schrittchen. Es klimperte.
Sie begann zu lachen und zu kichern, sprang auf und ab, ließ es klimpern und klingeln, so dass alle Blumen wach wurden.
Doch die waren nicht weniger erstaunt.
"Was hast du mit unserer Glockenblume gemacht?", fragten sie.
"Ja aber erkennt ihr mich denn nicht? Ich bin es doch!", antwortete sie.
"Nein, Nein. Du bist doch keine Blume! Du hast Beine und keine Wurzeln. Und keine Blätter, sondern Arme. Du hast auch keine Blüte, sondern Flügel. Du bist auf keinen Fall eine Blume."
Die Blumen schüttelten ihre Köpfe.
Sie sollte keine Blume mehr sein?
Wie konnte das nur passieren?
Mit viel Geklingel und Geklimper lief sie zu einem Teich und betrachte ihr Spiegelbild im Wasser.
Und wirklich, da sah sie keine Blume.
Verwundert versuchte sie sich zu erinnern.
Das musste der Stern gewesen sein! Das war ihr Wunsch!
Sie konte fliegen!
Vor Glück jubelnd schwang sie sich in die Luft und kreiste um den Teich herum, um die eitlen Blumen, die sich erschrocken duckten und klimperte dabei so laut wie nur irgend möglich.
Dann sah sie an der Stelle, wo sie noch vor einem halben Jahr als Glockenblume gestanden hatte, ein Funkeln.
Sie landete und besah sich die Stelle genauer.
Das war ja ihr Stern!
Sie nahm ihn in die Hände und fragte ihn: "Ach, kleiner Stern, wie kann ich dir nur danken? Du hast mich aus diesem Leben als Blume elöst und mich zu einer Fee gemacht! Wie kann ich dir das nur jemals verdenken?"
"Ach, kleine Glockenblume"; antwortete da der Stern müde, "Kleine Glockenblume, ich möchte nur noch eines: Ich möchte nach Hause. Zurück zu den anderen Sternen."
"Aber da kann ich dir ja helfen!", rief die kleine Glockenblumenfee erfreut.
Sie steckte den Stern in ihre Tasche und erhob sich wieder in die Luft.
Sie flog immer höher und höher, bis die Welt unter ihr nur noch eine große Fläche aus Grün war. Blau schimmerte das Meer und so wundervoll bunt die Wiesen mit all den sonderbaren anderen Blumen.
Und immer höher flog die kleine Glockenblumenfee, so hoch, dass selbst die Sterne am Tag schienen.
Dort oben nahm sie den kleinen Stern aus der Tasche und hängte ihn wieder an den Himmel.
Jetzt wusste sie, dass der Himmel da oben war, sie wusste, dass es kein fernes Land gab, das 'Himmel' hieß, sondern, dass es nur die große blaue Ebene war, die sie jeden Tag gesehen hatte.
Sie hängte den Stern an seinen alten Platz und flog zurück zur Erde, um all die schönen Dinge zu sehen, von denen sie immer geträumt hatte.
Und bis in alle Ewigkeiten besuchte sie jede Nacht die Sterne, um ihrem kleinen Freund zu danken, dass er ihr geholfen hatte.
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
und ich widme es allen jenen, die wissen, was es bedeutet.