Ich hatte nie gewusst, was sterben heißt.
Ich wusste es einfach nicht.
Aber dann... war da dieser Tag.
Ich wusste nicht, was sterben heißt.
Woher auch? Ich war ja noch so jung.
Doch an dem Tag, diesem verfluchten Tag, bin ich gestorben.
Stellt es euch nicht so schlimm vor. Der Tod ist eine Erlösung. Eine Erlösung vom Leben, dem ewigen Begleiter des Menschen.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie es geschah.
Aber es roch nach meiner Mutter. Ich habe den Hinterkopf meines Vaters gesehen.
Vermutlich saß er am Steuer eines Autos.
Da war ein lautes Geräusch.
Als ob eine Welt zusammenbrechen würde. Als ob sie untergehen würde. Als ob alle sterben.
Ich weiß auch noch, wie ich fiel.
Und das Vergessen.
Das Vergessen im letzten Moment des Lebens. Der letzte Schritt, bevor man die Hölle betreten kann.
Aber dann bin ich aufgewacht.
Eine weiße Zimmerdecke.
Ein weiches Bett.
Den Geruch von nichts in der Nase.
Das ist alles, was ich weiß.
Ich weiß, was der Tod bedeutet.
Ich weiß, was sterben heißt.
Aber schon bald sollte ich leben. Bald. Ich wusste es. Vermutlich.
Es waren rote Bälle.
Ich weiß bis heute nicht, warum sie rot waren. Vermutlich mochte irgendjemand die Farbe Rot. Ich nicht. Ich hasse rot. Es ist so... rot.
Diese Bälle waren rund. Oder sollten zumindest rund sein.
Niemand im Waisenhaus interessierte sich für blöde Bälle.
Ja, blöde Bälle.
Wir wurden dazu gezwungen, mit ihnen zu spielen. Auch wenn wir uns weigerten, uns wehrten, wir mussten es tun. Gestern hatte sich ein Junge geweigert, einen roten Ball in die Hand zu nehmen. Sein Name war Tam, glaube ich.
Naja, er war neu gewesen. Hatte seine Eltern erst vor kurzem verloren und war noch in der Phase gewesen, in der man alles ablehnt.
Er hatte vor der Leiterin gestanden und sie trotzig angesehen. Doch die hatte nur durch ihre Brille, durch die dicke, verkratzte Hornbrille, seine Augen fixiert.
Dann hatte sie hinter sich gegriffen und einen schwarzen Gegenstand in der Hand gehalten. Alle wurden zur Versammlung einberufen und mussten mit ansehen, was die Leiterin des Waisenhauses mit einem ihrer „Schützlinge“ anstellte.
Der Tacker war rot gewesen. Erst schwarz, dann rot. Und dann wieder schwarz, als das Blut trocknete.
Dieses Spiel war grausam. Es war Krieg. Ein Krieg, mit Regeln.
Jeder hatte einen Ball in der Hand und musste ihn auch dort behalten. Sonst wurde der Tacker geholt...
Ein Ball flog auf mich zu.
Ich konnte ihm gerade noch so ausweichen.
Die Regeln sind einfach: Behalte deinen Ball und wirf die Gegner mit den Bällen der anderen ab. Wer getroffen worden war oder seinen Ball verlor, musste das Feld verlassen. So war das nun einmal.
Ich hasste es.
Und es war nicht einmal ein richtiges Spiel.
Es war ein Kampf.
Ich sah, wie meine Freunde fielen, wie ihre Gesichter von Bällen, roten Bällen getroffen wurden, wie ihre Knie rot wurden, wenn sie hinfielen, wie sie ängstlich den Ball umklammert hielten, um nur ja nicht zu verlieren, denn dann würde ihnen Schlimmeres widerfahren als Tam. Schlimmeres, als die Hände an einen Ball geheftet zu bekommen. Qualen, wenn man sich nicht anstrengte.
Aber wenn man alles gab, dann hatte man eine Chance. Aber es war eine winzige Chance. Und man bezahlte mit dem kurzen Leben von anderen.
Ich wurde beobachtet, das wusste ich. Dazu war dies hier da.
Wir wurden beobachtet.
Wir wurden ausgemessen, abgewogen, abgeschätzt, berechnet.
Wir waren die Ausstellungsstücke. Und die Leiterin war der Besucher des Museums. Das Bild, das ihr nicht gefiel, wurde verbrannt, restlos vernichtet oder verkratzt, verwaschen, in einem großen Eimer Säure aufgelöst.
Es waren nur noch drei Spieler übrig.
Das waren zum einen Ramade, ein großer, bulliger Kerl, der alle nur durch seine bloße Anwesenheit einschüchterte. Er war der geborene Raufbold, ein Schläger.
Eigentlich war klar, wer gewann.
Aber die verdammte Hoffnung starb zuletzt.
Von wegen. Die Hoffnung war immer das erste, was vernichtet wurde. Alles, was blieb war der eiserne Wille, durch zu halten, selbst wenn man aus Platzwunden, Schrammen und Schnitten von herumliegenden scharfkantigen Steinen blutete.
Kaum hatte Ramade einen im Visier, konnte man nichts mehr machen. Es war wie das Wissen, dass man stirbt. Man weiß es, kann aber nichts mehr dagegen tun.
Die zweite noch im Spiel befindliche Person war Kira. Meine Schwester. Eine kleine, zierliche Person. Seltsamerweise waren wir uns sehr ähnlich. Ruhig, still, verschwiegen.
Ramade hob den Ball. Es war der Ball von Kasse, der schon am Anfang der Schlacht aus dem Spiel geflogen war.
Und es war einer der wenigen Bälle, die man nicht mit gigantischen Tomaten verwechseln konnte, da er ja doch sehr grau war vor Schmutz.
Der Ball flog. Er flog schnell.
Vermutlich flog er auf mich zu.
Vermutlich tat er es mit einer tödlichen Präzision. Eine, die mich nicht nur verletzen würde.
Vermutlich flog er aber auch auf Kira zu.
Der Ball traf mich nicht. Das war sicher. Mehr oder weniger.
Ich spürte nur einen leichten Lufthauch an meinem Gesicht, als etwas mit einer hohen Geschwindigkeit daran vorbeischoss.
Später fiel mir ein, dass ich die Augen zusammengekniffen hatte, als der Ball gehoben wurde.
Als ich sie wieder öffnete, wurde der Ball immer kleiner. Immer kleiner.
Er flog davon. Von mir weg.
Nein, ich hatte den Ball nicht abgewehrt. Nicht das. Ich hoffte darauf, dass ich den Ball nicht abgewehrt hatte.
Es bedeutete, dass man sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihn zu fangen.
Darauf stand Strafe. Schlimme Strafe.
Aber der Ball hatte mich doch nicht berührt, oder doch? Ich hatte ihn nicht berührt. Nicht angefasst.
Der Ball traf nicht. Er traf Ramade nicht!
Ramade war ausgewichen!
Das war natürlich erlaubt.
Ramade wandte sich Kira zu und starrte sie an. Sie war noch übrig und ein leichteres Ziel als ich.
Gleich wird er sie treffen, schrien meine Gedanken. Wenn er sie traf, würde sie schwer verletzt werden. Aber sie war doch meine Schwester, meine Familie, alles, was mir nach dem Tod meiner Eltern geblieben war.
Panik kochte in mir hoch, als der Ball gehoben wurde. Wie in Zeitlupe verließ er Ramades Hand und schlich mit einem Affenzahn auf Kira zu.
Kira drehte sich um. Wandte dem Ball den Rücken zu. Sie wollte sich schützen. Sich vor dem roten Ball schützen.
Aber vor dem roten Ball kann man sich nicht schützen.
Sie waren vermutlich einmal Bowling-kugeln gewesen, mit der Masse, die sie besaßen. Bis jemand so schlau war und sie mit Luft aufgepumpt hat.
Idioten.
Doch sie hatte sich umgedreht.
Und der Ball... der rote Ball, der rote Bowlingball, die unaufhaltsam geworfene Kugel, war auf dem Weg, um Kira das Rückgrat zu zerschmettern.
Doch etwas war da.
Eine Art Barriere, eine Wand, an der der Ball abprallte. Er prallte einfach ab und schien zurückzuweichen. Etwas schimmerte grün und undeutliche Schemen von runden Dingen flackerten in der Luft.
Dann flog der Ball davon.
Mir kam ein unguter Gedanke.
Leider bestätigte er sich auch sofort.
Es war ein schönes Geräusch, eine Art Platschen, ein Aufschlagen, ein Zusammentreffen zweier breiiger Massen.
Ramade kippte rückwärts.
Die Leiterin schrie etwas.
Sofort wurde der bewusstlose Ramade davongetragen. Er war aus dem Spiel.
Das war schlecht. Sehr schlecht.
Jetzt waren nur noch Kira und ich übrig.
Nur noch wir beide.
Wir hatten jeder einen Ball in der Hand und sahen uns an. Ich sah die Verzweiflung auf Kiras Gesicht, ich hörte sie leise schluchzen.
Wir beide waren übrig und wir beide waren Geschwister.
Ich kniff die Augen zusammen und nickte Kira zu. Ich sah nicht, was sie tat. Ich dachte, es wäre mein Ende. Ich würde vom Platz genommen werden. Ich würde eine Strafe erhalten, weil ich meine eigene Schwester nicht verletzen wollte. Weil ich nun mal nicht so war wie Ramade.
Die Leiterin schrie wieder etwas.
Was? Hatte sie das Spiel abgebrochen? Hatte sie eingesehen, dass keine Hoffnung darauf bestand, dass wir weiterspielten?
Bitte, bitte lass es so sein, flehte ich innerlich, den Kopf erfüllt vom blauen Glanz der Hoffnung.
Vorsichtig öffnete ich die Augen und sah, wie der Ball Kiras Hand verließ. Erstaunlicherweise war er langsam. Er bewegte sich wie in Zeitlupe, wie durch dickflüssigen Honig.
Blöde Hoffnung. Alle Dichter, Musiker, Regisseure, alle schwärmen von der legendären Hoffnung und der fantastischen Liebe. Hoffnung war immer dann da, wenn gerade die Sonne wieder aufging, den Himmel in gelbes Orange tauchte und zwei Schemen Hand in Hand in Richtung Osten spazierten, dem roten Feuerball der Sonne entgegen. Womit wir wieder beim Thema wären.
Ich riss noch die Arme hoch, um mich zu schützen, doch der Ball war zu langsam...zu schnell... zu rot... Ich fühlte keine Hoffnung mehr. Nur noch die abgrundtief graue Decke der blinden Panik.
Etwas schimmerte grün, kurz bevor sich der Ball endgültig meiner als Landeplatz annehmen konnte. Doch da tanzten spitze Dinger, wie Nadeln, nur breiter.
Es war wie Sand, der vom Wind davon geweht wurde, wie Wasser in einer Standuhr, und es schimmerte so schön wie ein Regen aus Funken.
Der Ball traf das grüne Schimmern und wurde noch langsamer.
Ich konnte bequem darum herumgehen. Ich betrachtete das Geschoss von allen Seiten, wie es dort in der Luft hing. Ein roter Ball inmitten eines schönen, grünen Schimmers und spitzen, undefinierbaren Dingern.
Ich bemerkte Kira, die einige Meter weiter entfernt auf dem Platz stand und mich erstaunt anblickte.
Dann lief sie mit großen Schritten zu mir hinüber und ging wie ich zuvor um den Ball herum. Was war das?
Habe ich das gemacht?
„Wie hast du das gemacht?“, fragte Kira.
„Ich war das nicht!“, sagte ich verblüfft, „Ich weiß nicht mal, was passiert ist.“
„So etwas soll vorkommen. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich gelesen habe. Der Junge wusste nichts von seinen Fähigkeiten, bis er auf einmal Glas verschwinden lassen konnte, sich mit Tieren unterhielt und seine Nachbarin aufblies.“
Im Nachhinein passte das alles gar nicht zusammen. Es klang albern.
„Aber der Ball besteht doch nicht aus Glas. Und die Leiterin ist auch nicht meine Nachbarin.“ Wie eine Flutwelle überkam mich die Frage nach der Leiterin. Schwungvoll drehte ich mich um und sah auch die Leiterin da stehen. Ich habe ihren Namen schon lange vergessen. Warum sollte ich mir auch die Mühe machen, mir etwas zu merken, woran ich sowieso nicht denken wollte. Die Leiterin hatte ihren Mund, der so faltig war wie die Kartoffeln vom Vorabend, weit aufgerissen und schien etwas in die Gegend zu schreien. Wie so oft. Doch etwas an ihr machte einen seltsamen Eindruck. Es war der gleiche Effekt, der einen auf einem alten Familienfoto sofort erkennen ließ, dass Großmutter Liesa blaue Augen hatte, statt braune, wie es immer in den Historien gepredigt wurde, und das auf einem verblassten schwarz-weiß Bild.
Wahrscheinlich war mit der Leiterin das gleiche passiert, wie mit dem Ball. Scheinbar waren beide in der Luft stecken geblieben und konnten sich nicht mehr bewegen.
Aber wie war das möglich?
Ich wusste nicht, was geschehen war.
Kira sah mich streng an. „Ich weiß, dass du das warst, Kumo.“
Ich war entsetzt, verständlich. Also brachte ich nur zustande: „Nein... nein, ich war das nicht!“ Natürlich nicht. Wie hätte ich das denn auch anstellen sollen?
„Kumo. Was hast du getan?“
„Was hast du getan, Kira? Der Ball hätte dich treffen müssen. Ramade hätte der letzte Spieler sein müssen. Aber du hast da doch irgendwas gemacht.“
„Ich... ich...“, stammelte Kira. Man sah ihr die Verwirrung nicht nur an, ich spürte auch, wie verzweifelt sie war.
Plötzlich war es, als träfe mich ein Ball in die Brust. Ich keuchte. Ein Stöhnen entwischte meinem Mund. Erschöpft sackte ich zusammen und fiel auf die Knie. Kira beugte sich zu mir. „Was ist los, was ist mit dir?“
Schmerzen schossen durch meinen Körper, als wären meine Adern plötzlich mit heißem Blei gefüllt.
Mit der Welt stimmte etwas nicht, das merkte ich sofort. Der Ball war wieder in Bewegung. Zuerst langsam, dann immer schneller. Schon bald war der Ball so schnell wie zuvor und schoss durch die Luft über mich hinweg.
Kira sah erstaunt zu, wie der Ball, den sie geworfen hatte, gegen einen Baum prallte, zurücksprang und wieder über das Spielfeld kullerte, wo er dann vor ihren Füßen liegen blieb.
Behutsam, als wäre die Möchtegerntomate eine zerbrechliche Glaskugel, nahm sie den Ball auf und erhob sich. Die Leiterin brüllte wieder etwas.
Natürlich, für sie musste es so aussehen, als wäre ich getroffen worden.
Natürlich.
Als ob Kira, meine eigene Schwester, mich verletzen würde.
Das... Das würde sie doch nicht, oder?
Ich sah sie an.
Sie starrte abwesend auf den roten Ball in ihren Händen, als wäre er eine Zauberkugel, in der man die Zukunft sehen könnte.
Ich sah die Leiterin auf uns zu schießen.
„Du bist RAUS, Nichtsnutz!“, schrie sie mich an. Ich zuckte unweigerlich zusammen. Die Schmerzen in meinem Körper hatten nachgelassen und ich stand auf und ging vom Spielfeld. Kira blieb alleine zurück und schien nur so auf die folgende Kaskade von Flüchen zu warten. Aber sie blieb aus. Ich hörte nichts, als ich durch die Tür vom Waisenhaus schritt.
Arme Kira, dachte ich, was wird die Leiterin wohl mit ihr anstellen? Was wird sie mit mir anstellen? Ich habe doch schließlich das Spiel verloren.
Im Laufe des restlichen Tages sah ich Kira nicht wieder.
Niemand wollte von ihr reden. Nicht von dem MÄDCHEN, das sie alle fertig gemacht hatte.
Der Raum war dunkel. Viele Räume sind dunkel. Besonders die in den Geschichten. Ich spürte, dass noch andere Lebewesen mit mir in dem Raum waren. Noch etliche andere. So etwas weiß man einfach. Wenn man mit dem Rücken zu drei Personen steht, weiß man, dass sie da sind, ohne sie zu sehen. Man weiß auch, wenn eine der Personen die Augen schloss. Aber hier waren ein wenig mehr als drei Personen.
Es war diese Stille, die sie verriet. Die Stille von Personen, die still zu sein versuchen, es aber nicht richtig können. Nicht alle Geräusche vermeiden können. Solche Leute wissen auch nichts von der Existenz anderer Leute in einem dunklen Raum.
Ich roch etwas, das mir bekannt vorkam. Es war ein Geruch, den ich nur zu gut kannte. Lange Zeit waren einige andere Waisenkinder und ich zum Maschinendienst eingeteilt worden; wir mussten die Heizung reparieren. Dummerweise war es eine alte Heizung, die noch mit Holz und Kohle heizte. Und so lief sie auch mit lauter Antriebswellen, Ketten und Zahnrädern, damit man aus einer kleinen Drehung möglichst viele machen konnte.
Die Heizung füllte übrigens zwei Räume aus. Und ständig war irgendetwas kaputt. Ständig mussten wir ran. Und ständig hatte ich verschmierte Kleidung und diesen Geruch in der Nase: Schmieröl. Das Zeug wurde Eimerwise über die Ketten gekippt, damit sie nicht ganz so viel Krach machten und die Leiterin nicht vielleicht doch bei ihrem Mittagsschläfchen störten.
Schmieröl. Wer brauchte Schmieröl in einem dunklen Raum?
Wisst ihr, Licht ist etwas Seltsames. In der Wissenschaft wird Licht als Strahlung angesehen. Und Licht ist auch scheinbar das schnellste, das es gibt. Aber es gibt etwas, das genauso schnell ist. Und das ist die Dunkelheit. Ist zu viel Licht da, weicht die Dunkelheit zurück.
Die Finsternis wird also verdrängt. Und nur Masse kann sich gegenseitig verdrängen. So ist das nun mal.
Merke: Licht ist Masse, Masse ist fest, feste Dinge tun weh.
Ich denke, das reicht, um euch zu erklären, dass es hell wurde.
Es war ein nicht gerade kleiner Raum. Nein, es war ein eher kleiner Saal. Die Decke war so hoch oben, dass man sie kaum noch sehen konnte und die Wände gerade so weit voneinander entfernt, dass man kein Auto brauchte, um von einer zur anderen zu kommen.
In der Mitte standen ungefähr ein Dutzend kleiner, runder Tische. Sie fielen in der Halle gar nicht auf, so unbedeutend waren sie. Um jeden Tisch stand eine Gruppierung aus fünf Holzstühlen. Für dieses Etablissement wären wohl eher Plastikklappstühle geeignet gewesen. Aber es hätte auch keine so gewaltige Halle geben dürfen, von daher...
Inmitten der Tischgruppen stand ein einzelner Stuhl. Mehr ein Sessel, oder ein Thron denn ein einfacher Stuhl. Liebend gerne hätte ich mich hinein gesetzt, doch er war schon belegt.
Etwas... Faltiges hockte darin. Es war unsere Leiterin. Erst jetzt machte ich mir die Mühe, sie mir genauer anzusehen. Seit ich denken konnte, lebte ich hier in diesem Waisenhaus und hatte die Welt nur hinter Glas beobachten können, aber diese Frau hatte ich mir noch nie richtig angesehen.
Sie war... faltig. Ihre Haut hing so schlaff herunter, dass das einzige Mittel, das sie als Anti-Falten-Creme benutzen konnte, ein Tacker war. Und wie gerne hätte ich ihr mit dem genannten Mittel den Visagisten gespielt. Sie war ein weibliches Exemplar einer lebenden Leiche, oder sah zumindest so aus. Eine eingefallene, mit papierdünner Haut auf blankem Knochen überzogene Visage wurde umrahmt von weißem Haar, in dem ehemals farbenfrohe Lockenwickler aus nun grauem Plastik langsam zerfielen. Ursprünglich mochten sie dazu gedacht gewesen sein, die Frisur zusammen zu halten, doch nun hielt das stinkende Stroh, das nicht einmal mit der, viel zu großen, blass rosa Schleife Haar genannt werden konnte, die bunten Bröselröllchen einigermaßen zusammen. Zu dieser sowieso schon grässlichen Aufmachung, zu der übrigens auch ein blass rosa Rüschenkleid und ein pinkes Handtäschchen von der Größe eines Reisekoffers mit mittleren bis gigantischen Ausmaßen gehörte, knarrte das Klappergestell auch noch wie eine verrostende Eichenholztür, was zwar wissenschaftlich so ziemlich an das Unmögliche grenzt, aber die Geräusche, die sie von sich gab doch ganz gut beschrieb.
Ich erinnerte mich auch wieder an ihren Namen. Sie nannte sich Fräulein Lurch. Und sie hatte uns immer eingebläut, sie wäre gekommen, um uns „etwas beizubringen“, auf uns „aufzupassen“ und uns zu „behüten.“
Bis heute wusste ich nicht, was sie damit meinte.
Aber ich wusste, dass sie nicht darin gut war. Wer auch immer dieses Waisenhaus bezahlte, sie verwaltete das Geld so gut wie eine Millionenerbin einer Glitzerhandtasche widerstehen konnte. Ja, solche Leute gibt es.
Und dummerweise sitzen sie meist auf den einflussreichsten Posten und machen von dort aus ihren Untergebenen das Leben zur Hölle.
Die Hölle, dachte ich, Ja. Das hier ist die Hölle.
Die Leiterin war nicht gut.
Die Leiterin verstand nichts von Kindern.
Die Leiterin hasste Kinder wie die Pest, was hier nur als metaphorischer Ausdruck gebraucht wird, denn ich vermutete, dass sie schon im Mittelalter als alte hexe die Pest erfunden und an den armen Leuten getestet hatte.
Die Leiterin war nur hier, weil sie Geld brauchte. Wer auch immer dafür sorgte.
Die Leiterin... war weg.
Überschwängliche Freude, dass ein Monstrum von den Ausmaßen einer metaphorischen und vor allen Dingen eingelegten Legehenne endlich verschwunden war, ertrank in dem Gedanken an ihren Verbleib.
Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, dass so etwas abscheulich altes und streichholzartiges Wesen verschwunden wäre, aber das Gehirn gebietet einem, immer das zu erwarten, was man nicht erwartet.
Mein Gehirn dachte daran, dass sie zwar weg war, aber immer noch plötzlich wie ein platzender Luftballon ohne Schnur hinter uns auftauchen konnte, um uns ein Messer in den Rücken zu stechen.
Jaja, das liebe Gehirn kommt schon auf seltsame Gedanken.
Meines schämte sich regelrecht dafür, als meine Augen ein Klappergestell sahen, das sich von einem sehr weichen Sessel erhob. Meine Ohren lauschten auf einen Schrei.
Meine Nase war noch mit der Schmiere beschäftigt und meine Hände kramten in meinen Taschen nach etwas, das ich vielleicht als Waffe verwenden konnte. Leider war meine Tasche leer wie das Weltall. Die entsprechenden Sterne und Planeten waren verschieden große Krümel und Fussel.
Doch da war auch dieses eine interessante Wissenskapitel der Menschheit. Im Weltall gibt es Aliens. Fremde Wesen, die nicht in die hiesige Welt gehören.
Ich fühlte etwas Neues in meiner Tasche. Etwas aus Metall. Es war dünn wie eine Münze aber schärfer. Es hatte Zacken. Winzige Zacken, die mir in die Hand stachen. Ein Zahnrad, dachte ich, ein Zahnrad. Wie kommt ein Zahnrad in meine Tasche?
Doch dann erinnerte ich mich an den vergangenen Tag. „Der Tag der roten Bälle“, so hatte ich ihn getauft. Es waren rote Bälle gewesen. Und ein grünes Glitzern.
Plötzlich fühlte ich einen Luftzug hinter mir. Es war nicht nur eine Empfindung. Es war das Gefühl, dass jemand hinter einem steht.
Ich wagte natürlich nicht, mich umzudrehen. Respektvoll sah ich zu Boden, der dort unten wirklich nicht schlecht aussah. Seltsamerweise spiegelte er, denn er war frisch gewischt – wer auch immer sich dazu herabließ hier sauber zu machen. Und so sah ich in einem blanken Boden mein Gesicht.
An dieser Stelle sollte ich mich vorstellen. Es tut mir Leid, dass ich das bisher verpasst habe. Ich bin Kumo. Ich bin ein circa eins-fünfundsechzig großer Zwölfjähriger, der seit vier Jahren einen Hang zu grünen Kapuzenpullovern hat, normalerweise auch selbige trägt und komplett in seinen Sachen versinkt, die ihm mal wieder viel zu groß ausgesucht worden sind. Derzeit trage ich keine bestimmte Frisur. Meine schneeweißen Haare wären sowieso nicht dafür geeignet, sie in eine vorbestimmte Form zu pressen. Ich lebe seit ich mich erinnern kann in dem Waisenhaus ohne Namen mit meiner Schwester Kira. Sie ist ein wenig jünger als ich und sieht fast genauso aus, ist allerdings stiller und ruhiger als ich.
Das war vermutlich auch einer der Hauptgründe, warum ich sie nicht auf Anhieb bemerkte. Dabei stand sie direkt neben mir. Und wie es schien war Ramade auf meiner anderen Seite platziert.
Alle anderen waren in säuberlichen Reihen aufgestellt wie die Zinnsoldaten.
Plötzlich schritt Fräulein Lurch vor den Reihen her wie ein Feldwebel aus der alten Zeit der Pharaonen. Hm.
Sie deutete auf die Tische. Und gerade, als sie mit einer unglaublichen Lautstärke den Rekord für die meisten geplatzten Trommelfelle brechen wollte, löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit in der hintersten Ecke des Saales.
Sein Gesicht war nicht zu sehen, doch man konnte einen feinen schwarzen Anzug erkennen. Eine behandschuhte Rechte hob sich langsam. Die Leiterin verstummte urplötzlich in einem keuchenden Laut, der sie hoffentlich einige Jahre Leben kostete.
Dann nickte sie dem Schatten an der Wand zu und drehte sich wieder zu uns um. Eine Bewegung mit dem Kopf deutete einen knappen Befehl an, dem wir auf jeden Fall Folge zu leisten hatten. Da ich keine Ahnung hatte, was sie damit meinte, folgte ich einfach den anderen zu den Tischen, um die in Fünfergruppen Stühle standen.
Kira kam sofort zu mir. Ratlos standen wir zusammen neben dem Holztisch. In dem Augenblick tauchten auch Kasse und Loge an dem Tisch an. Die beiden waren die besten Freunde und man könnte meinen, sie wären Zwillinge. Aber sie waren in keinster Weise miteinander verwandt. Beide hatten sie stahlgraue Haare, wie kalte Asche und das in einer Frisur ohne Frisur.
Und dann standen wir zu viert da herum. Vier Personen, fünf Plätze. Allen sah man an, dass sie auf eine fünfte Person warteten. Und allen sah man an, dass sie nicht DEN erwartet hätten, der da kam.
Aber die Hoffnung ließ sich nur kurz blicken.
Ramade ließ sich auf den Stuhl fallen, der gefährlich brüchig knarrte. Vorsichtig setzen wir anderen vier uns ebenfalls.
Dann erst sah ich, was auf den Tischen lag. Bisher hatte ich nicht bemerkt, was dort vor sich hin kauerte, ich hatte ständig in die Schatten gestarrt, in der Hoffnung, dass ich dort eine Bewegung ausmachen könnte, die ich einer gewissen Person zuzuordnen imstande war, die die Leiterin unter Kontrolle hatte.
Eine Person, die Fräulein Lurch Befehle erteilen konnte, ohne sie zu überreden oder gar mit ihr zu sprechen.
Geistig setzte ich ein gewaltiges Ausrufezeichen hinter diesen Gedanken.
Fräulein Lurch unter Kontrolle.
Noch ein Ausrufezeichen. Gedanklich.
Bedenklich.
Eine Person, die es schaffen könnte, dass die Leiterin gefeuert würde. Eine Person, die dafür sorgen könnte, dass wir sie für immer los wären.
Eine Person, die in dem Schatten verschwand, als wäre dort eine Tür aus Schwärze.
Und ich saß hier. An einem Tisch mit meiner Schwester, zwei Mitleidenden und dem Schläger der ganzen Sache.
Und ich starrte verwundert auf das, was dort lag.
Es glitzerte und blinkte.
„Vor euch seht ihr einige Dinge“, begann die Leiterin, „Sie wurden von dem werten Herren dort drüben“, mit einem Lächeln deutete sie in die Düsternis, „persönlich ausgewählt. Für euch Ratten.“
Hüsteln aus dem Schatten.
„Ich meine natürlich... Für euch, meine Lieben. Jeder hat einen Gegenstand oder mehrere bekommen. Und keiner von euch wird hier wieder raus kommen, bevor ihr nicht wisst, was ich machen müsst und es getan habt, ist das klar?“
Ich nahm das erste Zahnrad und dachte: Was soll das? Ich soll etwas damit anfangen? Es sind nur Zahnräder. Wie soll das gehen?
Ich spielte mit dem Gedanken, eine Uhr zu bauen, verwarf diese Idee allerdings wieder, da sich tief in mir die Vermutung regte, dass man etwas brauchte, um die Zahnräder an Ort, Stelle und Achse zu halten. Und so etwas gab es hier nicht.
Nur elf Zahnräder. Lose Metallscheibchen mit Zacken. Sogar ein Loch fehlte. Man konnte also keine Achse hindurch stecken.
Vorsichtig spähte ich über die Gegenstände der anderen.
Kasse und Loge hatten jeder einen kleinen Metallring. Ratlos schauten sie auf die blinkenden Dinge hinunter. Scheinbar waren die Ringe identisch.
Ramade drehte verwirrt eine große, goldene Kugel in seinen Händen.
Doch dann fiel mir Kiras Gegenstand auf. Es war ein Reifen aus Silber, in dem mehrere Nadeln steckten wie in einem Igel oder einem Nadelkissen. Auch Kira schien nicht zu wissen, worum es ging.
Ein plötzliches Blitzen ließ meinen Kopf herum schnellen.
Kasse und Loge hatten scheinbar eine gewaltige Eingebung gehabt und die Ringe zusammengehalten, um sie zu vergleichen. Nun probierten sie verschiedene Entfernungen aus, um die Helligkeit des Gleißens zu verändern. Schon bald wurde aus dem hellen Leuchten ein pulsierendes Licht, das langsam ins Rosafarbene und dann ins Blutrote überging. Mit einem „Ping“ blieben die beiden Metallringe aneinander haften. So sehr sich Loge und Kasse auch anstrengten, sie waren nicht in der Lage, die ringe wieder zu lösen. Man hörte ein schrilles Kreischen und schon rauschte Fräulein Lurch mit wehendem Rüschenkleid heran, die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen. Sie packte die beiden mit einer unglaublich Kraft und zerrte sie in Richtung des seltsamen Herren, die Ringe in einer papierdünnen Hand verschlossen.
Kiras Blick streifte den meinen. Sie dachte garantiert an das, was passieren würde, wenn wir es nicht schafften, unsere Aufgabe zu erfüllen, was auch immer das sein mochte.
Wenn die Leiterin der Meinung, war, dass wir uns nicht anstrengten.
So trafen wir stumm eine Übereinkunft. Wir brauchten nur zu warten, was die anderen machten, dann könnten wir vielleicht etwas abschauen, um uns zu retten.
Gemeinsam beobachteten wir Ramade, der immer noch verzweifelt die Kugel in seinen Händen kreisen ließ. Dann standen plötzlich seine Finger still. Doch die Kugel drehte sich weiter.
Immer schneller.
Ramade sah sie dümmlich an.
Ein hohes Sirren wie von einem Schwarm elektronischer Wespen fiel metaphorisch von der Kugel. Dann lösten sich Ramades Hände von dem kreiselnden Gegenstand, der daraufhin in der Luft hängen blieb und sich ein wenig schwankend weiterdrehte.
Sofort war die Leiterin zur Stelle. Ramade sah sich schon ängstlich über die Schulter, als er sie kommen hörte, doch sie schien auf etwas zu warten. Sie zögerte. Stand einfach nur da.
Dann kam das, worauf sie harrte. Die Luft um Ramades Kugel schien zu verschwimmen, die Konturen lösten sich auf. Immer undeutlicher wurde das Objekt.
Und zum ersten Male kam mir der Gedanke, dass etwas nicht stimmte.
Vermutlich lag es daran, dass gerade zwei meiner Freunde wegen eines rot pulsierenden Ringes, oder besser gesagt, wegen zwei rot pulsierenden Ringen verschleppt wurde. Vielleicht kam es auch daher, dass sich eine unheimliche goldene Kugel vor meinen Augen in der Luft drehte, die plötzlich still stand. Ein feiner, grüner Streifen zeigte sich um ihren Äquator. Mit einem Zing platzte die Kugel auf und offenbarte mehrere Spalten, wie eine goldene orange, deren einzelne Fruchtstücke noch irgendwie zusammenhielten.
Die Leiterin lächelte.
Sie riss die Kugel aus der Luft, packte Ramade am Ohr und verschwand mit ihm in den Schatten am Ende der Halle.
Wieder sahen Kira und ich uns an. Wir mussten uns beeilen.
Ich starrte wieder auf die Zahnräder und versuchte meine Gedanken zu ordnen.
Verzweifelt suchte ich in meinen Taschen nach einem Taschenmesser, mit dem ich einige Löcher für Achsen in die Zahnräder bohren konnte. Doch meine suchenden Finger stießen auf etwas anderes.
Ein Zahnrad.
Ich erinnerte mich. Das hatte ich doch vorhin schon gehabt, oder? Oder war es da in der anderen Tasche gewesen?
Ich zog es hervor und drehte es im Licht. Es funkelte.
Dann legte ich es zu den anderen auf den Tisch.
Zwölf Zahnräder.
Zwölf.
Zwölf?
Mit einem Mal wusste ich, was zu tun war. Ich dachte lieber nicht daran, woher ich das wusste. Wenn man das tat, konnte man es nie gewusst haben.
Mit der Linken schnappte ich mir den Gegenstand, der vor Kira lag.
Mit der Rechten sortierte ich die Zahnräder.
Kira durchbohrte mich mit ihren Augen. Stumm formten ihre Lippen die Worte „Was machst du da?“
Ich lächelte sie an. „Vertrau mir einfach, ja?“
Dann begann sie auch zu lächeln. Sie rückte mitsamt Stuhl näher zu mir heran und sah zu, was ich tat.
Zuerst schob ich die Zahnräder in eine vertraute Form. Den Kreis.
Kreise sind zu vielen Dingen gut. In diesem Falle war der Kreis perfekt, um eine Uhr zu bauen.
Wie der Wind flogen meine Finger über die Konstruktion von Kira und schoben die Nadeln über den Ring.
Ich sah nicht, was ich tat. Und das war auch gut so. Ich hätte mich ja doch nur für verrückt erklärt.
Und dann war es fertig.
Ein Metallring. Er war gespickt mit tausenden Nadeln. Jetzt zeigten sie nach innen, wo alle zwölf Zahnräder sich befanden.
Sie befanden sich dort nur. Sie hingen nicht in der Luft, sie baumelten nicht an den Nadeln, sie waren einfach nur da. Und es war verwunderlich, dass sie sich nicht berührten.
Aber etwas fehlte. Etwas Wichtiges.
Was auch immer ich da gebastelt hatte, es war nicht vollständig.
Ratlos sah ich Kira an, die wissend grinste und auf ihre Jackentasche klopfte.
Es klimperte, als sie einige längliche Uhrzeiger hervorzog.
Ihre Hände verschwammen kurz, dann war alles wieder wie vorher. Nur, dass jetzt neun goldenen Zeiger in die Mitte des Metallringes zeigten.
Ich sah wieder Kira an, die tief einatmete und ihre Hand auf die Möchtegern-Uhr, oder was auch immer es war, legte.
Ich tat es ihr unwillkürlich nach.
Und dann...
Die Zeit.
Ich konnte sie fühlen.
Giftgrün funkelten einige Irrlichter in der Halle, als wir unsere Hände über die Nadeln und Zeiger bewegten. Ich spürte, wie einige dutzend Blicke auf uns gerichtete wurden.
Es interessierte mich auch herzlich wenig, dass es an einigen Tischen ebenfalls blitzte und entsetztes Keuchen zu uns herüber drang.
Fasziniert beobachteten wir, wie die Lichter in die Uhr gezogen wurden. Plötzlich sprangen die Zahnräder heraus und kreisten entgegen dem Uhrzeigersinn um den Metallring. Jedes Zahnrad hatte einen grünen Funken in sich und folgte seinem jeweiligen linken Nachbarn auf einer unsichtbaren Bahn um das Konstrukt.
Mit einem Klirren drehten sich die Zeiger um und deuteten auf einmal nach außen. Dann schossen sie wie der Blitz ein Stück weiter vom Ring weg und drehten sich als zweiter Kreis im Uhrzeigersinn um die Zahnräder, die in die andere Richtung unterwegs waren.
Ein sanftes Klimpern kündigte die Bewegung der Nadeln an, die sich in der Mitte des Ringes zu einem stacheligen Ball verdichteten, der sacht pulsierend wie ein kleines, womöglich schmerzhaft scharfes, Herz aussah.
Und alles stimmte.
Wenn man mal von der Tatsache absah, dass eine Möchtegern-Uhr ohne jegliches Zutun ihre Teile um sich selbst schleuderte...
Der Nadelball, der Metallring, die Zahnräder, die Zeiger. Alles passte.
Plötzlich klirrte das Konstrukt.
Ein Zittern lief durch die bis dato ruhigen Reihen aus Metall. Wie ein schwarzes Loch fiel alles in sich zusammen und bildete einen stacheligen Ball in der Mitte des Ringes.
Es erinnerte ein wenig an einen verängstigten Igel.
Eine fast skelettierte Hand schloss sich um das Gebilde.
Ein Grinsen, so freundlich wie das eines halb verhungerten Wolfes, drängte sich zwischen sie und die Uhr.
Dann riss Fräulein Lurch unsere Hände von dem Metall und zog uns mit sich in die Schatten.
Die Schatten kamen immer näher. Doch anstatt langsamer zu werden, nahm die Leiterin immer mehr Fahrt auf. Und die Wand rückte immer näher.
Und plötzlich waren wir auf der anderen Seite der Wand. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals eine Tür passiert zu habe, geschweige denn den Aufprall auf eine Backsteinmauer gespürt zu haben. Stattdessen war da nur ein... nichts. Nichts war da. Rein gar nichts.
Ich begann ich zu fragen, wo die Leiterin unser Werk hin gesteckt hatte. In einer Hand hielt sie Kiras Handgelenk umklammert, mit der anderen umschloss sie meine Hand. Hatte sie es überhaupt noch?
Ich sorgte mich ernsthaft um diesen seltsamen Gegenstand. Er war unsere einzige Rettung. Wenn wir nichts vorlegen konnten, würden wir nicht bestehen und eine gewaltige Strafe erhalten.
Doch was war überhaupt unsere Aufgabe gewesen? Alles wirkte unrealistisch, nicht mehr wirklich, als wäre es vor langer Zeit passiert.
Schließlich wurde es hell.
Es war ein klares, helles Licht, das nun erstrahlte. Schneeweiß wie an einem Wintertag das Sonnenlicht, das vom Eis widergespiegelt wird. Wir liefen auf einem schachbettgemusterten Boden.
An den Wänden hingen dünne rote Vorhänge. Sie passten nicht zu den weißen Wänden, dem weiß blauem Licht und dem schwarz-weißen Boden. Und sie schienen keine bestimmte Funktion zu haben. Irgendjemand hatte sich einen Spaß daraus gemacht, willkürlich Vorhänge aufzuhängen.
Aber wer machte so etwas?
Und der Raum wurde zu einem Gang und ich verlor allmählich jede Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses Laufes.
Da fiel mir auf, dass die Leiterin verschwunden war. Es war Kira, die so lange mein Handgelenk umklammert hielt und die ich nun mit mir zog. Oder sie mich mit ihr.
Ich drehte mich um. Dort war eine Wand.
Eine Wand? Wir waren doch schon so lange gelaufen. Wie konnte da eine Wand in der Richtung sein, aus der wir gekommen waren? Und wo zum Teufel war die Leiterin? Ja, hoffentlich zum Teufel.
Ich fragte: „War die Wand da schon vorher?“ Kira schüttelte den Kopf. Ich überlegte, ob ich Angst habe sollte. Aber da dies hier nur ein leerer Gang war, brauchte ich keine Angst zu haben.
Wir liefen noch einige Schritte und drehten uns dann wieder um.
Prompt war die Wand wieder hinter uns. Eine einzige, weiße Fläche. Keine Tür, kein Vorhang, kein gar nichts.
Diesmal rannten wir los. Weg von der unheimlichen Wand. Ich hatte keine Angst. Ich hatte keine Angst, klar? Keine Angst.
Okay, ich hatte doch Angst. Vor einer verdammten Wand.
Als wir uns umdrehten, war die Wand wieder da. Und sie war so glatt und weiß wie eh und je. Wir konnten noch so weit rennen, wir kämen ja doch nicht wieder nach draußen.
Ich drehte mich wieder um. Dem Gang entgegen. In der Ferne liefen die Wände zusammen.
Ich sah Kira an, die immer noch meine Hand hielt. Sie wusste etwas, was ich nicht wusste. Und ich ahnte, was es war.
„Wie kommen wir hier raus?“, fragte ich. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie schloss ihn gleich wieder. Stattdessen packte sie meine Hand noch fester. Es schmerzte fast.
Auch sie drehte sich zum Gang um. Zu der unendlichen Weite.
Ich stellte mich neben sie.
Zusammen traten wir einen Schritt rückwärts. Bis wir die Wand auf dem Rücken spürten. Und dann taten wir noch einen Schritt.
Es war eigentlich ganz logisch. Was in die eine Richtung funktionierte, musste auch in die andere Richtung gehen.
Sofort empfing Dunkelheit uns.
Und wir fielen, ohne nach hinten gekippt zu sein.
Alles war schwarz. Nichts war zu sehen. Ich konnte nur Kira erkennen, die ein wenig leuchtete. Ich nahm auch ihre andere Hand. Wind rauschte an uns vorbei. Und wir gegen ihn in die Tiefe.
Wie zwei Tänzer drehten wir uns auf einer Fläche. Hand in Hand tanzten wir auf der Waagerechten. Und etwas war da.
Etwas blitzte auf.
Oder glitzerte grünlich.
Dort, wo unsere Hände einander berührten, dort schimmerten grüne Funken. Dort irrlichterten Flocken aus Licht.
Zwischen uns, dort, wo man den Mittelpunkt unseres Reigens vermuten konnte, dorthin strebten alle Lichter.
Mit einem Klingeln materialisierte sich die Uhr, die sich weiterhin wie ein Igel zusammenkauerte.
Innerhalb von Sekunden sprangen die Zahnräder nach außen, die Zeiger fingen an sich zu drehen und die Nadeln begannen als kleiner Ball zu pulsieren.
Die Uhr war von einer grünen Aura umgeben und erleuchtete die Finsternis, was nicht viel brachte, denn wo auch immer wir waren, es war ziemlich weitläufig dunkel.
Und da war noch etwas. Oder jemand.
Ich sah niemanden außer mir und Kira, doch ich fühlte etwas, wie einen Blick. Es ist das Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl man genau weiß, dass es unmöglich ist, jemanden zu sehen oder gesehen zu werden.
Ich hatte in den letzten Stunden einiges erlebt, und so war ich nicht sonderlich überrascht, als Loge und Kasse auftauchten.
Auch sie hielten sich an den Händen. Gleichzeitig lösten wir unsere Umklammerungen und formierten uns zu einem losen Viererkreis.
In der Mitte schwebten unsere Uhr und die beiden Ringe.
Loge begann als Erster zu reden. „Was macht IHR denn hier?“
„Dasselbe könnte ich euch auch fragen“, antwortete ich.
„Nun, wir waren in einem Gang. Oder einem langgezogenen Raum“, begann Kasse zu erklären.
So so, dachte ich, ihr also auch. „Und dann seid ihr durch die Wand gegangen?“
Kasse sah erstaunt aus. „Nein. Wir sind gestolpert und sind durch den Boden gefallen. Und nun sind wir hier. Ihr seid also durch die Wand gegangen?“
„Sie hat uns verfolgt!“, warf Kira ein, „Egal, wie schnell wir waren, sie war immer hinter uns.“
Kasse dachte nach. Loge fragte: „Was ist das für ein Ding da?“
„Ich glaube, es ist eine Uhr. Ich hatte die Zahnräder und Kira hatte Zeiger, Nadeln und Ring. Und dann ist das passiert.“
„Sieht interessant aus. Interessanter als unser Werk hier. Wir wollten eigentlich nur sehen, ob die Ringe magnetisch sind. Dann haben sie angefangen zu leuchten und gingen nicht wieder auseinander.“
„Habt ihr schon herausgefunden, wozu sie gut ist?“, fragte Kasse, der aus seiner Gedankenstarre erwacht war.
„Ich weiß nicht, wozu eine Uhr gut sein soll, die aus zu vielen Zeigern, einen Nadelball und eindeutig nicht miteinander verbundenen Zahnrädern besteht.“ Ich beendete meine Aussage mit einem spöttischen „Ihr etwa?“
„Uhren messen die Zeit“
Oi, die Stimme kannte ich. Und ich war auch nicht gerade erfreut sie zu hören.
„Uhren messen die Zeit“, wiederholte Ramade, „Dazu sind sie gut.“
Er scheint nicht mehr ganz so brutal, wenn es dunkel ist, dachte ich. Kaum hatte er sich unserem Kreis angeschlossen und war mit uns auf dem Weg nach unten, tauchte auch seine Kugel auf und drehte sich langsam um ihre eigene Achse. Ramade beobachtete sie und sagte dann: „Mit diesem Ding weiß ich allerdings nichts anzufangen. Uhren messen die Zeit.“
„Ach“, witzelte Kasse, „Und was sollen wir mit diesen dämlichen Ringen? Unter der Bettdecke lesen, oder was? Vielleicht könnten wir...“ Ein böser Blick von Kira ließ ihn verstummen. So kannte ich meine Schwester noch gar nicht. Ich war ernsthaft überrascht. Zum ersten Mal in der letzten Zeit.
Die Dunkelheit bestand weiterhin. Doch um uns die Zeit zu vertreiben bis wir einem sehr schmerzhaften Tod durch Aufprall auf einen hoffentlich nicht allzu harten Boden erlitten, redeten wir. Wie es schien war auch Ramade in dem seltsamen Gang gelandet, in dem einen die Wand verfolgte. Allerdings war er weder gestolpert, noch hatte er die Wand betreten, nein, er hatte einfach aus Wut die Wand eingeschlagen und war gesprungen. Jedem das seine.
„Wer es wohl noch geschafft hat, seinen Gegenstand zusammen zu bauen“, überlegte Kira. Aber es war eine gute Frage. Bisher schwebten nur wir vier (plus Ramade) durch die Gegend, die im Übrigen nicht sehr abwechslungsreich war.
Doch das sollte sich gleich ändern.
Der Fall nach unten verlangsamte sich. Nicht allzu schnell, aber doch merklich.
Dann tauchten aus dem Dunkel helle Quadrate auf, die wie ein kaputtes Schachbrett durch die Gegend schwebten. Jedes für sich und jedes ungefähr so groß wie ein durchschnittlicher Mensch.
Kaum einer merkte, dass wir nicht mehr fielen, bis wir wirklich fielen. Was auch immer unseren Flug verlangsamt hatte, war verschwunden und zwar in exakt dem Moment, als wir ganz kurz über dem Boden waren.
Im Gegensatz zu Kira, Kasse und mir verloren Loge und Ramade ziemlich schnell das Gleichgewicht und fielen hin. Während sich Loge still aufsetzte, fluchte Ramade erst mal ordentlich, bevor er sich erhob.
Wir sahen uns um und sahen nicht viel.
Scheinbar waren wir auf einem sehr großen Quadrat gelandet, das sich bis zum Horizont erstreckte.
Plötzlich fing der Untergrund leicht an zu beben und das Quadrat wurde mit einer gewaltigen Geschwindigkeit schmaler.
Letztendlich, als wir schon dachten, es würde vollkommen verschwinden, blieb nur noch ein dünnes Band übrig, das sich in der Ferne und Finsternis verlor.
Und da uns nichts anderes übrig blieb, machten wir uns auf den Weg.
Wir liefen wirklich sehr lange.
Mir taten schon die Beine weh, als Kasse mit einem Mal stolperte.
Aus Erschöpfung, die durch den langen Marsch verursacht wurde, fiel er einfach um. Ich musste mit ansehen, wie sein bewusstloser Körper über das Weiß rutschte und über den Rand kippte, wo er verschwand. Loge riss verzweifelt die Augen auf, er schrie.
Ich erschrak, als Loge hinterher springen wollte. Doch Ramade hielt ihn fest, als er schon über dem Rand baumelte
Aber auch der gewaltige Schläger begann zu rutschen. Ich legte mich flach auf den Boden und hielt seine Füße fest, damit er nicht auch über den Rand fiel.
Es nützte alles nichts.
Panische Angst erfasste mich, als Loge, Kasse und ich fielen.
In die endlose Tiefe.
Bodenlose Finsternis.
Kira. Sie wurde immer kleiner.
Kira?
„Kira!“, schrie ich. Und dann etwas, was ich selbst kaum glauben konnte: „Kira, komm!“
Kira sprang.
Mit wehenden Haaren glitt sie neben mich. Jetzt würden wir alle gemeinsam sterben.
„Ich bin da“, sagte sie. „Wo ist Ramade?“
„Der ist...“ Ich drehte den Kopf, kreiselte einige Male um meine Achse, wie ein Hund, der seinem eigenen Schwanz hinter her jagt. „...weg“, vollendete ich meinen Satz. „Wo ist Ramade?“
„Das, mein Lieber, habe ich dich gerade gefragt“, lachte Kira. Sie schien sichtlich Spaß an der Sache zu haben.
„Kira?“
„Jaha?“, trällerte sie
„Machst du dir keine Sorgen, dass wir gleich einen sehr ekelhaften Tod sterben? Und warum lachst du so?“
„Weil wir gleich sterben. Das ist doch lustig, nicht war?“
Kalte Angst kroch mir den Rücken hinunter. Eisige Kälte durchzog meine Adern als ob meine Venen mit Eiskristallen gefüllt waren.
„Du... du...“, stammelte ich.
„Ich?“ Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Was ist mit mir? Sehe ich seltsam aus?“
„Nein, ich glaube, du siehst aus wie immer.“ Was war mit Kira los?
„Weißt du was, Kumo?“
„Was ist denn?“
„Ich glaube, dass das hier gleich endet. Ich meine nicht unser Leben. Ich meine DIESES Leben.“
Ich fragte lieber nicht, was sie meinte.
Der Fall wurde wieder langsamer, wie auch zuvor, als wir auf dem seltsamen Schachbrettquadrat gelandet waren. Vielleicht werden wir doch nicht sterben, dachte ich.
Dachte ich.
Sagte es aber nicht laut.
Wir hielten an. Da war keine weiße Fläche, das war nur Schwärze um uns herum. Nichts weiter.
Und doch war da jemand.
Ich fühlte es mehr, als dass ich es sah oder hörte. Und es erinnerte mich sehr stark an das Gefühl, als es hell wurde und ich in dem komischen Raum mit den Tischen war.
Eine Stimme machte sich breit. Eine Reihe von Worten schob sich durch die Finsternis.
„Zeigt mir eure Kardien.“
Ratlos sah ich Kira an, die sofort meine Hand ergriff. Die andere Hand streckte sie weit von sich. Ohne zu merken, was ich tat, machte ich es ihr nach. Etwas, das nicht ich war, steuerte mich. Mein Körper handelte von ganz allein. Aber es war ein warmes Gefühl. Wundervoll warm.
Grüne Funken tanzten um unsere Köpfe, verdichteten sich vor uns und die Uhr tauchte wieder auf.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie weg war. Vermutlich verschwand sie kurz vor unserem Aufprall auf den weißen Weg.
Die Stimme ohne alles andere meinte: „Gut. Tretet ein.“
Bevor ich in Erwägung ziehen konnte, mich umzudrehen und nach einer Tür zu suchen, öffnete sich eine vor uns. Etwa einen Meter vor uns. Schnell sprang ich zur Seite, um nicht getroffen zu werden.
Dann spähte ich vorsichtig um die Ecke, Kira neben mir. Sie schaute mich an und trat durch die Tür. Ich zögerte, doch schließlich kam ich zu dem Entschluss, dass, was immer dort hinter der Tür wartete, entweder Kira verschlingen oder belohnen würde, für was auch immer. In beiden Fällen musste ich zumindest versuchen, etwas zu unternehmen.
Ich erkannte ihn sofort.
Schwarzer Anzug, schwarze Handschuhe, aber diesmal sah man sein Gesicht.
„Guten Tag, ich bin Sir Ligon. Du bist Kumo. Und du bist Kira. Ich bin hier, ihr seid da. Ich werde euch behalten, ihr werdet mir folgen.“
Damit stand er auf und ging durch die Tür, durch die wir gerade erst gekommen waren.
Und dann war da wieder Schwärze.
Nicht die von eben. Es war die wohlige Schwärze von Müdigkeit im Endstadium: dem Schlaf. Ich hörte noch, wie Kiras Körper neben mir dumpf auf dem Boden aufschlug, dann umfing mich endgültig der kleine Tod, den man jeden Tag erleben musste.
Als ich aufwachte lag ich scheinbar in einem Bett. Ich spürte den weichen, weißen Stoff der Decke, der aus dieser Perspektive wie eine schneebedeckte Hügellandschaft aussah.
Ich dachte: Ich habe noch nie die Berge gesehen. Warum nicht? Weil mich eine missgebildete Mumie in einem Haus festhielt und mich dazu zwang, das Spiel der roten Bälle zu spielen.
Das Spiel der roten Bälle. Ob es wohl zu irgendwas gut war?
Dann erinnerte ich mich daran, was am nächsten Tag passiert war.
Die Uhr... Ich hatte mit Kira...
KIRA!
Ich schrak hoch und legte mich augenblicklich wieder flach, als ich der hiesigen Tradition eines Traumfängers begegnete, der scheinbar aus Stein gemacht und nur wenige Zentimeter über dem Gesicht des Schlafenden zu baumeln schien.
Eine Stimme fragte: „Bist du schon wach?“
Mit schmerzverzerrtem Gesicht murrte ich: „Nein, ich tue nur so.“
Dann beugte sich die Person über mich und ich erkannte Kira.
„Oh, guten Morgen, Kira.“
„Was? Ach so, du hast ein wenig länger geschlafen als ich. Es ist Abend“, erklärte sie. „Es ist wohl besser, du stehst jetzt auf. Sir Ligon erwartet uns bereits.“
„Wer ist...“ Ach, der, dachte ich.
„Ihm gehört dieses Haus. Ich habe bereits mit ihm gesprochen, aber nicht allzu viel herausgefunden. Er sagte etwas von wegen Auserwählt und so ein wirres Zeug. Vielleicht erfahren wir nachher mehr. Ich gehe schon mal vor. Du kommst doch gleich nach, nicht?“
„Jaja.“
Sir Ligon also. Der Mann mit dem schwarzen Anzug und den schwarzen Handschuhen. Hmmm.
Ich erhob mich endgültig aus dem Bett, obwohl ich noch ein wenig länger liegen geblieben wäre, aber einen Herren, der noch dazu ein Sir war und Fräulein Lurch etwas befehlen konnte, so einen Mann ließ man lieber nicht warten.
Ich fand auf dem Stuhl neben meinem Bett einen neuen grünen Kapuzenpullover und eine dunkelblaue Hose. Meine alten Sachen hatte ich noch an, aber sie waren mit etwas beschmutzt, das sowohl weiß als auch schwarz war; je nach dem, wie man es im Licht drehte.
Letztendlich sah ich, dass auch diese Sachen zu groß waren.
Dann sah ich mich im Zimmer ein wenig um.
Es war nicht sonderlich groß; es standen ein Bett darin, ein Regal mit Büchern, die ich mir lieber nicht näher ansah, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein kleiner Esstisch mit zwei weiteren Stühlen und ein Schrank, in dem wahrscheinlich weitere Bücher lauerten.
Als ich auf den Gang trat, erwartete mich ein vertrauter, sowie verhasster Anblick: ein weißer Gang. An den Wänden hingen rote Vorhänge in unregelmäßigen Abständen.
Und hunderte Türen. Tausende. Jede Tür war schwarz.
Ich blinzelte.
Was war das für ein Haus?
Gab es überhaupt so gewaltige Bauten?
Neben mir öffnete sich eine Tür und ein weißhaariger Junge sah hinaus. Er trug einen grünen Kapuzenpullover und...
Ich erstarrte, als ich mir selbst gegenüber stand.
Schwindel erfasste mich oder ihn, oder wen auch immer. Zugleich verspürte ich das Bedürfnis, mich wieder hin zu legen. Ins Bett. Wo ich meine Ruhe hatte.
Aber ich ging weiter.
Schnurstracks geradeaus. Ich wusste nicht mal, ob es die richtige Richtung war. Hinter welcher Tür war wohl Sir Ligon? Und was wollte er von uns? Wo waren Loge, Kasse und... Ramade? Und was sollten wir hier?
Ich öffnete eine beliebige Tür, weil es mir zu bunt wurde, und damit waren die ersten drei Fragen beantwortet.
Ein gewaltiger Raum erstreckte sich vor mir. Die Decke war so weit entfernt, dass sie in dunstigem Nebel verschwand und die Wände so weit voneinander weg, dass sie kaum noch zu sehen waren. Selbst, als ich einige Schritte hinein machte, gab es keine Anzeichen dafür, dass eine der Wände näher rückte. Vielleicht war das aber auch besser so.
In dem Raum stand ein langer Tisch. Um den Tisch herum standen etwa ein dutzend Stühle. Und alle, bis auf drei waren besetzt.
Sir Ligon saß natürlich an der Stirnseite der langen Tafel. An den Seiten saßen Leute, die ich nicht kannte, aber auch meine Freunde und Ramade. Außer Loge und Kasse waren demnach noch Kira, ein Junge namens Mirko und ein Mädchen mit dem Namen Laura anwesend von denen, die ich kannte. Und das wiederum bedeutete, dass ich 42% der hier anwesenden Personen nicht kannte.
Was selbige allerdings nicht davon abhielt, mich anzustarren. Ich wurde von Blicken durchbohrt. Wenn Blicke töten könnten... naja.
Blicke konnten zwar nicht töten, aber ich wurde fast durchbohrt. Von etwas scharfem.
Ich konnte gerade noch ausweichen, bevor mich das Messer traf. Vielleicht hatte der Werfer ja auch absichtlich daneben gezielt, denn das Messer war nicht nur scharf, sondern auch sehr spitz. Kein stumpfes Messer konnte sich so tief in einen Holzrahmen bohren und nicht stecken bleiben. Etwas klimperte und ich sah noch einmal zum Messer, das zitternd in der Tür steckte. Eine dünne Silberkette war an dem Griff des Messers befestigt und straffte sich nun unter leisem Klirren.
Erstaunt blickte ich die Kette entlang und bemerkte ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Sie trug ein weißes Kleidchen und hatte pechschwarze Haare. In einer Faust hielt sie die Kette, in der anderen eine Gabel, mit der sie lustlos in ihrem Essen herumstocherte, das sich auf ihrem Teller häufte. Sie sah mich nicht an.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass es Essen gab. Aber im Nachhinein knurrte mein Magen.
„Setzt dich, Kumo. Dort ist noch ein Platz frei“, meinte Sir Ligon. Mir war der Typ noch immer nicht geheuer, aber ich gehorchte und setzte mich, ließ aber das Mädchen mit dem Messer nicht aus den Augen. Sie hatte nicht aufgesehen, als sich das Messer neben mir in die Tür bohrte und sie blickte auch nicht hoch, als es sich aus der Tür löste. Und sie antwortete auch nicht, als Sir Ligon sie tadelte: „Karat. Sei nicht so unhöflich. Kumo ist nur zu spät.“
Mit einem Lächeln sah er mir in die Augen, als ob er mich ermahnen wollte, mich nächstes Mal zu beeilen. Ich beschloss, es wirklich zu tun, wer weiß, ob ich nächstes Mal auch ausweichen konnte.
Dann aßen wir. Es war still, während ein Teller nach dem anderen geleert wurde. Ich achtete nicht darauf, was wir da aßen. Ich wusste hinterher nur noch, dass es salzig gewesen war. Ich hatte einen gewaltigen Durst.
Nach dem Essen ging ich irgendwie wieder zurück in mein Zimmer. Ich weiß immer noch nicht, wie ich es schaffte, die richtige Tür aus all den Türen zu finden.
Ich lag auf meinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und dachte an mein Spiegelbild. Was war das für ein Wesen, das genau so aussah, wie ich? Eine perfekte Kopie von mir?
Ich verwarf den Gedanken und versuchte mich an etwas anderes zu erinnern.
Meine Eltern... Es war... schmerzlich. Ich erinnerte mich nur noch an meinen Vater. Er hatte schwarze Haare gehabt, meine Mutter rote. An sie war die Erinnerung so verblasst, dass ich sie nunmehr als verschwommenen Fleck sah. Sie war wie eine alte Fotokopie von etwas, das vielleicht ein Daumen auf einer Linse sein konnte.
Aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es meine Mutter war.
Zwar erinnerte ich mich an meinen Vater besser, aber auch nicht sonderlich gut. Der Geruch von Schmieröl hatte ihm immer angehaftet.
Dann war da noch ein Bild. Meine Eltern, wie sie mit dem Rücken zu mir standen. Meine Mutter, mit ihren roten, langen Haaren und mein Vater mit den schwarzen Stoppeln. Die Umgebung war schwarz. Nur schwarz.
Aber da war noch...
Ein Klopfen riss mich aus meinen Tagträumen. Schnell wischte ich mir eine Träne aus dem Gesicht, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte und ging zur Tür, öffnete sie und streckte den Kopf hinaus.
Ein Junge stand dort draußen. Er legte den Kopf schief und sah mich einfach nur an.
„Wer bist du?“, fragte ich, als mir das Starren langsam unheimlich wurde.
„Jika“, meinte er. „Ich bin Jika.“ Er starrte mich weiter an. Er hatte sehr große Augen, ein kindliches Gesicht und trug ein blaues Shirt mit der Aufschrift „Grün ist das neue Blau!“
„Was möchtest du?“, bohrte ich nach.
„Sir Ligon schickt mich.“
„Und?“
„Er möchte, dass wir alle in den losen Saal kommen.“
„Ich bin sicher, du meinst den großen Saal, oder?“ Ich HOFFTE, dass er den großen Saal meinte.
„Vermutlich. Du sollst sofort mitkommen.“
„Natürlich.“ Ich schloss die Tür hinter mir und trat auf den weißen Gang hinaus. Ich stellte mich innerlich schon mal auf einen langen Marsch ein, doch Jika ging nur zur gegenüber liegenden Tür und trat hindurch.
Naja, mir sollte es recht sein.
Dahinter wartete Dunkelheit auf mich. Doch damit hatte ich gerechnet. Neuerdings war jedes Zimmer beim Betreten dunkel.
Und es überraschte mich nicht, dass es auch wieder hell wurde.
WAS mich allerdings ein wenig verblüffte, war, dass der Saal weder groß noch lose war. Innerlich seufzte ich erleichtert, aber ich dachte auch daran, dass alles noch passieren konnte. Wirklich alles.
Ich setzte mich schließlich in einen der weißen Sessel, die überall herumstanden. Außer mir war noch niemand da. Aber schon bald klopfte es an der Tür und Karat trat ein. Sie warf mir einen bösen Blick zu und ließ sich in einen Sessel fallen, der mir gegenüber stand.
Nacheinander kamen auch Jika, der wieder verschwand, um einige andere zu holen, Loge und Kasse, die bei ihm waren, wieder Jika und Kira, die sofort zu mir rannte und sich in den Sessel warf, der neben mir stand. Sie sah fast verzweifelt aus.
Dann trudelten auch Ramade, Mirko und die anderen ein.
Und dann saßen wir da.
Lange.
Und es war diese peinliche Stille, in der niemand etwas sagt, bis einer ausrastet, „RUHE!“ schreit und empört aufspringt, während die anderen ihn verwundert ansehen.
Warum sollte es hier anders sein?
Hier saßen zwölf Menschen in einem weißen Raum, der eben weiß war und groß und... weiß und... leer bis auf die Sessel mit den entsprechenden Menschen drin.
Schließlich räusperte sich jemand. Elf Köpfe schossen herum und zwanzig Augenpaare starrten gebannt Mirko an. Mirko riss erschrocken die Augen auf, als fühlte er sich ertappt, sagte aber dann: „Hallo.“
Und zwölf Menschen entspannten sich wieder.
Doch dann kam das große Anfangen, in dem jeder versuchte, die schlimme, schlimme Stille zu zerbrechen. Ein vielstimmiges Hallo folgte einem nervösen Hüsteln, was ein paar dutzend erstaunte Blicke auf sich zog.
Wieder begann Mirko: „Hallo, ich bin Mirko. Und wer seid ihr?“
Mutig. Sehr mutig der Junge, dachte ich, schob aber die Reihe von Worten schnell wieder in die hinterste Ecke meiner Gedankenschublade zurück, als ich merkte, dass ich klang wie ein alter Mann.
Nacheinander stellten sich nun alle vor, und das war erstaunlich.
Meine Schwester Kira, die manchmal viel zu schüchtern war, um selbst in meiner Gegenwart zu reden.
Karat, die jeden mit einem vernichtenden Blick strafte, dem sie begegnete.
Ramade, dem man ansah, dass er so unter Spannungen stand, dass er den erstbesten, und sei es Sir Ligon persönlich, verprügelt hätte.
Loge und Kasse, die Freunde, die fast nur unter sich sprachen.
Ich.
Jika mit dem albernen Shirt.
Und dann waren da noch die anderen.
May, ein wenig größer als ihre Freundin Karat, saß neben selbiger und schien auch in etwa den gleichen Blick und denselben Charakter zu haben.
Claire, sie sprach mit einer Stimme wie aus Eis, hatte hellblaue Haare in einem Zopf zusammengebunden und einen Pelzmantel an.
Laura, sie hielt sich vollkommen zurück, redete nicht viel und es hatte den Anschein, dass sie immer mehr in den Schatten des weißen Raumes zu verschwinden gedachte.
Und zu guter Letzt Ameno. Sie hatte eine schwarze Hose an und trug enges, schwarzes Kleid, das allerdings nicht im Mindesten dem kleinen Schwarzen ähnelte, das auf Partys ständig getragen wurde. Außerdem hatte sie einen großen Schirm auf dem Rücken, mit dem sie, bevor sie sich hingesetzt hatte, ewig herumhantierte, bis sie ihn in eine etwas bequemere Position gebracht hatte als die Au-tut-das-weh-ich-sterbe-vor-Schmerzen-Position.
Nun kannte ich alle Namen.
Damit stieg der Bekanntschaftsgrad auf einhundert Prozent, was das allerdings nicht sonderlich verbesserte.
Jeder von uns hätte damit gerechnet, dass Sir Ligon den Raum betrat.
Niemand hätte jedoch auch nur im Traum daran gedacht, dass er die ganze Zeit über da gewesen war.
Niemand erschrak, dafür hatten die Meisten schon zu viel erlebt, die Wenigsten keine Angst und die Minderheit, also ich, einfach nicht aufgepasst.
„Gut. Ich bin Sir Ligon und ich werde euch heute die Fragen beantworten, die euch quälen. Wie klingt das?“
Er sah einmal kurz in die Runde und setzte seine Rede fort:
„Ich werde dies in Form eines Vortrages tun. Ihr werdet mir zuhören und NICHT mitschreiben.“ Er sah scharf Mirko an, der von irgendwoher einen Notizblock hatte, aber keinen Stift.
„Gut, ich beginne.“
Plötzlich sah ich etwas die Wände herunterlaufen. Es war schwarze Farbe, die aus der Decke tropfte und die weißen Wände herunter rann, bis sie den Boden erreichte und sich dort ausbreitete. Ganz plötzlich waren die Wände verschwunden und nur noch die Schwärze blieb, in der wir in unseren weißen Sesseln saßen, bei denen ich mich nicht traute, drunter zu sehen, aus Angst, etwas könnte dort lauern, das sich bei meinem Anblick erschrecken könnte und den Sessel loslassen könnte, der so frei im Anti-Raum schwebte.
„Ihr wisst, dass die Erde in einem Universum existiert, oder?“
Eine blaue Kugel tauchte weit unten in der Finsternis auf. Sie war umgeben von weißen Federwolken und bestückt mit grünen und gelben Flecken.
„Das ist die Erde, wie ihr sie kennt“, kommentierte Sir Ligon, „und das das Universum.“
Prompt wurde der blaue Planet kleiner und wich einem größeren Modell: Dem Sonnensystem. Alle acht Planeten plus Pluto kreisten um eine Sonne im Mittelpunkt. Ich erschrak ein wenig, als ich von einem Meteor durchflogen wurde. Doch er ging einfach durch mich hindurch; ich spürte überhaupt nichts.
Das Sonnensystem verschwand ebenfalls und machte einem anderen Anblick Platz.
Ein weißer, glitzernder Tornado. Milliarden Sonnensysteme und unzählige Sterne schimmerten in einem Kreisel des Weltalls. Die Milchstraße drehte sich langsam.
„Damit ist das, was ihr kennt, an seinen Grenzen, nicht wahr?“, fragte Sir Ligon lächelnd.
Er wedelte kurz mit der Hand und ein Geräusch erklang, als würde ein Luftballon platzen, allerdings weit entfernt unter einer dicken Decke.
Prompt nahmen wir Geschwindigkeit auf. Sterne, Sonnensysteme, ganze Galaxien sausten an uns vorbei. Wir ließen glitzernde Meere aus Sternen und funkelnde Teiche aus Licht hinter uns und schossen durch das Universum.
Plötzlich war da etwas anderes. Die Umgebung sah anders aus. Komplett anders.
Wo vorher die undurchdringliche Schwärze des Universums war, prangte nun vergilbtes Papier. Sterne wurden zu Zeichnungen aus Tinte.
Schimmernde, irisierende Tinte, ja, aber immer noch Tinte.
Worte durchzogen die Skizzen, aber ich konnte sie nicht lesen.
Versteht mich nicht falsch, ich hatte Lesen und Schreiben gelernt, dafür war die Möchtegernmumie von Waisenhausleiterin ja gut gewesen, aber das hier war anders. Es war eine fremde Sprache, eine unbekannte Schrift mit vielen Kurven und Schnörkel, so dass sie aussah wie ein verknotetes Band.
Dann schlug das Buch zu.
Plötzlich wurden alle Zeichnungen verdeckt von anderen Seiten voller Zeichnungen. Zeichnungen mit Tieren, Pflanzen und Wesen, die gar nicht existieren konnten. Oder doch?
Mit einem Mal war da Leder statt leicht gelbem Papier, ein Buchdeckel statt Schrift.
Und wir wichen noch weiter zurück.
Viel weiter. Sahen erst den Einband mit dem umherirrenden Titel, dann den Buchrücken, als sich das Buch drehte.
Schließlich waren da andere Bücher, mit anderen Titeln. Auch diese Worte schienen ein Eigenleben zu führen. Sie veränderten sich fortwährend, schlängelten sich durch ihre eigenen Buchstaben, krochen über und untereinander.
So war da ein ganzes Regal voller Bücher.
Und dann noch eins.
Und noch eins.
Hunderte Regale mit Hunderten von Büchern mit Hunderten von Seiten, auf denen Milliarden von Galaxien warteten.
Ich staunte.
Sah nach unten.
Entdeckte den Boden.
Er war schwarz und weiß kariert wie ein Schachbrett. Fasziniert folgte ich dem Muster, bis zu einer Wand.
Wir hielten genau darauf zu.
Kurz bevor eine Kollision unvermeidlich gewesen wäre, öffnete sich eine Tür. Sie war schwarz und fiel kaum an den schwarzen Wänden auf.
Wir flogen hindurch und ich merkte, dass „öffnen“ ein völlig falsches Wort war, um das zu beschreiben. Dummerweise war es das einzige, was mir einfiel.
Dahinter war ein weißer Gang.
Und an den den Wänden von dem weißen Gang kauerten sich tausende von Türen aneinander. In unregelmäßigen Abständen hingen rote Vorhänge an den Wänden. Es war nicht nur ein weißer Gang, es war DER weiße Gang. Ich seufzte und wusste nicht, ob ich erleichtert oder verärgert sein sollte.
Wieder öffnete sich eine Tür, und diesmal öffnete sie sich wirklich, indem sie einfach aufschwang.
Und dahinter war der Raum, in dem dreizehn weiße Sessel standen.
Aber wenn die Sessel... wie sind wir..., dachte ich und sah nach unten.
Weißer Stoff blickte mir entgegen. Ich saß also auf einem Sessel.
Ich sah wieder geradeaus und sah... Karat, die mich finster anstarrte.
Also war ich wieder auf dem Sessel, von dem aus ich gestartet war. Interessant.
Sir Ligon stützte sein Kinn auf die gefalteten Hände und meinte: „Das, was ihr gerade gesehen habt, war das Universum, wie es wirklich ist.
Jedes dieser Bücher in der Bibliothek enthält eine Welt.
Diese Welten entstehen durch Vorstellungen.
Ein Mensch oder ein anderes, halbwegs intelligentes, Wesen stellt sich eine Welt vor. Dann erscheint ein neues Buch in der Bibliothek, das diese Welt enthält.
Wenn die Bibliothekare ein solches Buch bemerken, bringen sie es zu einem besonderen Raum, in dem Schicksal sich das Buch durch liest, von Anfang bis Ende und dann schließlich seine Genehmigung für die Welt gibt.
Verblasst die Erinnerung des Wesens, das die Welt erschaffen hat, zerfällt das Buch. Das Gleiche passiert auch in dem Augenblick, in dem Schicksal das Buch abweist.
Je länger Bücher dort stehen, desto dicker werde sie, weil sich immer mehr Details herausbilden, die immer mehr Seiten füllen.
Selbstverständlich hat auch dieser Ort ein Buch. Aber es ist klein und würde in die Hosentasche eines jeden von euch passen.
Aber dafür ist es wertvoll. Dieses Buch, diese Welt, dieses Haus, es ist die Brücke zwischen allen Welten.
Vielleicht ist es euch schon aufgefallen, vielleicht aber auch nicht. Wenn ihr eine Tür hier öffnet ist immer der Raum dahinter, den ihr gesucht habt, nicht wahr? Ihr könnt es später ausprobieren.“
Er räusperte sich kurz und fragte dann: „Noch Fragen?“
Sofort schoss eine Hand in die Höhe.
„Ja, Mirko?“, seufzte Sir Ligon.
„Warum sind wir hier?“, fragte Mirko.
Sir Ligon hob die Augenbrauen und lächelte. Es war ein nettes Lächeln, hinter dem ein wissendes Grinsen lauerte.
„Das werdet ihr morgen erfahren.“ Er blickte zu mir. Seine Augen fixierten mich an meinem Stuhl.
Dann lachte er und meinte: „Am Tag der funkelnden Stürme.“
Ich hörte, wie der Wind um das Haus strich. Als ich aus dem Fenster sah, klapperten kahle Äste an das Glas. Doch es waren keine Äste, sondern Finger. Kalte, glitzernde Finger aus Metall. Sie klopften gegen die Fenster, als wollten sie hinein. Dann änderten sie ihre Taktik und lockten mich mit gekrümmten Händen.
Ihre grinsenden Fratzen gierten nach mir. Ich konnte fühlen, wie sie mich mit blicklosen Augen anstarrten, die Gesichter nur Totenschädel. Wie Masken. Rote und baue Haare wippten im Wind, der sie an die Außenwand drückte. Scharfe Krallen rissen an dem Rahmen, der das Fenster umgab. Ich hoffte, dass er hielt.
Schließlich waren sie im Zimmer. Sie kamen als unheimliche Schatten aus den Wänden, tropften als schwarze Flüssigkeit zu Boden und verdichteten sich zu klirrenden Gegnern, die man nicht besiegen konnte. Sie waren überall.
Aber dann war da eine Stimme... Eine Stimme... Stimme... Von wem?
War es meine Stimme? Kiras? Die von Sir Ligon?
Nein... es war... eine andere Stimme, eine, die ich noch nie gehört hatte. Oder doch? Sie war so... bekannt.
Das Denken fiel mir schwer. Doch diese Stimme weckte etwas anderes in mir. Hass? Liebe?
Mein Kopf tat weh. Schrecklich.
„Kumo. Kuuumooooo.“
Ich wachte auf.
Über mir stand Jika. Er grinste mich an. „Na, schlecht geträumt?“
Ich schloss energisch die Augen und drehte mich um.
„Ach komm schon, Kumo. Es ist ein schöner Tag.“
Woher auch immer er das wusste. Dieses Haus hatte keine Fenster, wie ich schon festgestellt hatte. In Hinsicht auf meinen Traum vielleicht ganz gut so.
„Kumo, du musst mitkommen“, nörgelte Jika „Oder willst du Sir Ligon warten lassen?“
Lieber nicht.
„Wohin geht es?“
„Der lose Saal.“
Lose. Ich zweifelte immer mehr daran, dass er nicht vielleicht doch ‚groß‘ meinte. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Blöde Hoffnung.
Schnell stand ich auf, wich gekonnt dem steinernen Traumfänger aus, der, wie ich nun wusste, zu nichts zu gebrauchen war, zog mich nicht an, weil ich schon angezogen war, fragte mich, wie letzteres funktionierte, hoffte weiterhin auf einen Sprechfehler beim großen Saal und dachte: Jika ist weg.
Wahrscheinlich war er schon vorausgegangen.
Ich trat auf den weißen Gang hinaus und nahm die nächstbeste Tür zum großen Saal. Gut, dass ich wusste, dass er praktisch hinter jeder Tür sein konnte. Oder etwas anderes, denn eigentlich erwartete ich, dass Sir Ligon falsch lag und hinter jeder Tür ein Monster lauerte.
Auf der anderen Seite der Tür warteten bereits die anderen. Nur Jika nicht.
Als ob er meine Gedanken lesen könnte, sagte Sir Ligon: „Jika komm heute nicht mit. Er kennt das schon.“
Mit? Wohin? Rätsel über Rätsel (plus Rätsel). Na, das konnte ja was werden.
Alle standen in einem Halbkreis um Sir Ligon herum. So konnte er alle im Blick behalte, während alle ihn sehen konnten.
„Heute...“, begann er, „Werde ich euch verraten, warum ihr hier seid.“
Ah, sehr schön. Aber ehrlich gesagt war es mir herzlich egal, solange ich nur von dieser Mumienrosinenfrau wegkam und blieb.
Sir Ligon klatschte in die Hände und die Wände verschwanden. Sie kippten einfach nach hinten weg. Und verschwanden in der Ferne nach unten. Dahinter war blauer Himmel. Einige kleine Wölkchen zogen ihre Kreise und ein Vogel kreuzte die Bahn der Sonne, die wohl näher war, als ich dachte, denn der Vogel verbrannte augenblicklich zu feiner Asche und wurde von einem lauen Sommerlüftchen davon geweht, woher auch immer es kam.
Ich atmete tief ein. Roch Blumen und frisches Gras.
Dachte an die anderen und kam wieder zur Besinnung.
Karat hatte die Arme verschränkt und den Kopf eingezogen. Ihr schien das alles nicht zu gefallen.
Sir Ligon klatschte erneut in die Hände und der Boden begann zu beben. Plötzlich riss das Gras auf und aus dem grünen Meer stiegen hohe Steinsäulen in dem Himmel. Einige wurden nur wenige Zentimeter hoch, andere wurden immer größer und größer und begannen die Sonne zu verdrängen, indem sie sie einfach beiseite stießen. Andere wurden sogar so groß, dass sie den Himmel zerstachen und hindurch wuchsen. Es regnete blaue Splitter.
Also ist dies alles nicht echt, dachte ich, wer hätte das nur vermutet?
„Ihr werdet nun Jeder einen von denen hier bekommen“, sagte Sir Ligon und hielt einen faustgroßen, schwarz glänzenden Kristall hoch, der so wenig in diese Umgebung hineinpasste wie eine rosa Geburtstagstorte mit Glitzer in eine Geisterbahn aus Transsylvanien.
Von irgendwoher zog er nun weitere Kristalle und reichte sie herum.
Ein paar behielt er selbst.
„Diese Kristalle sind sogenannte Kardiasteine. Eine Kardia hat ein jeder von euch und es ist euer wichtigster Besitz. Aber jede Kardia ist einzigartig. Es gibt keine zwei, die gleich sind. Und sie können die unterschiedlichsten Formen haben.
Eine Kardia ist in dem Sinne ein Herz. Ihr tragt es immer bei euch und ihr könntet sterben, wenn ihr es verliert. Könntet.
Ihr seit hier, um zu lernen, wie man mit den Kardien umgeht und sie benutzt, denn eine Kardia ist nicht nur die Quelle einer besonderen Macht, die in euch wohnt, sondern auch die Quelle einer enorm starken Waffe, die von Person zu Person unterschiedlich ist.
Zuerst aber, bevor ihr eure Kardia nutzen könnt oder wisst, wie man die entsprechende Waffe benutzt, müsst ihr erst einmal testen, zu welcher Art von Kardia ihr gehört.
Dazu benutzt ihr bitte diese hübschen schwarzen Dinger. Konzentriert euch einfach darauf, dass sich der Stein verändern soll und seht, was passiert.“
Er ging zu einer nicht ganz so hohen Säule und setzte sich darauf.
Er drehte den Kopf und schaute Mirko an. „Mirko, da du sowieso immer der erste bist, komm her.“
Mirko trat gehorsam einen Schritt nach vorne und umklammerte den Kristall mit beiden Händen. Dann schloss er die Augen und runzelte die Stirn.
Einige Zeit lang passierte nichts, aber dann blitze es einmal ganz kurz zwischen Mirkos Fingern auf. Als er die Hände öffnete, hielt er statt des schwarzen Kristalls einen etwa zehn Zentimeter hohen steinernen Würfel in der Hand.
Sir Ligon meinte: „Das ist die Wirkung eines Kardiasteines. Da Mirko in seinem Herzen das Element der Erde trägt, ist sein Kristall zu einem steinernen Würfel geworden.“
Ich überlegte, was wohl aus meinem Kristall werden würde, doch ich traute mich noch nicht, es auszuprobieren.
Loge und Kasse traten gleichzeitig nach vorn, hielten jeder einen schwarzen Kristall in der Hand und starrten ihn an. Es funkelte kurz ein wenig rot und sie nahmen die Hände auseinander. Anstelle des schwarzen Steines lag nun auf zwei Handflächen je ein Ring, der mit ruhiger, orangefarbener Flamme brannte.
„Feuer. Ihr besitzt die Kraft des Feuers.“, kommentierte Sir Ligon lustlos, als wäre das nicht offensichtlich.
Ameno erhielt eine gläserne Kugel, in der eine kleine Regenwolke ihre Arbeit tat. Angestrengt beobachtete sie, wie die mikroskopisch kleinen Regentropfen in ein ruhiges, winziges Meer fielen.
„Regen“
Laura ließ ihr Ergebnis fallen, als sie die Hände öffnete. Es war ein kleiner Ball aus tausenden von Nadeln, die ineinander verwoben waren. Als der Ball das Gras berührte, wurde er wieder zu einem schwarzen Kristall.
„Mm“, überlegte Sir Ligon, sagte aber dann: „Schatten.“
Mays Kristall schien sich vollkommen aufzulösen. Einzig eine unerklärliche Nebelschwade kroch um ihre Finger.
„Nebel.“
Als Karat nach vorne trat, hatte sie ihren Stein schon verändert. Sie präsentierte Sir Ligon ein Gebilde, das aussah wie zwei Kettenglieder, die ein winziges Messer banden.
„Ebenfalls Nebel“, beeilte sich Sir Ligon zu sagen.
Bei Ramade dauerte es ein wenig länger als bei Mirko, aber auch er schaffte es. Als er nachsah, prangte eine goldene Kugel auf seiner Handfläche.
Erstaunt hob Sir Ligon eine Augenbraue. „Oh, ein Kugolot.“
Claire hielt nach einigem Hin und Her mit dem scheinbar plötzlich kalten Kristall einen Eiszapfen in de Hand, der gar nicht daran dachte, zu schmelzen.
„Eis.“
Naja, ziemlich offensichtlich, nicht?
Schließlich blieb die Reihe an mir hängen. Zögernd trat ich einen Schritt nach vorne und hielt mich an meinem Kristall fest, als wäre er ein Rettungsring oder eine feste Insel.
Ich konzentrierte mich auf den Stein und fühlte, wie er sich unter meinen Fingern zu verändern begann. Doch es blitzte nicht.
Vorsichtig schaute ich zwischen meinen Fingern hindurch, sah aber nichts. Dann öffnete ich die Hände ganz und erblickte einige Uhrzeiger. Sie lagen einfach auf meiner Hand herum.
Sir Ligon sprang von seiner Säule und lief zu mir. Hatte ich was falsch gemacht? Warum hatte das bei den anderen funktioniert und bei mir nicht? Aber es war doch immerhin schon mal etwas, dass der Kristall kein Kristall mehr war, oder?
Er nahm mir die Zeiger aus der Hand und sah Kira an.
Die trat sofort einen Schritt vor, fasste ihren Stein fester und schloss die Augen. Nach einiger Zeit öffnete sie sie wieder und schloss sie erneut.
Sir Ligon raufte sich ratlos die Haare. Dann schien er eine Idee zu haben.
„Kumo, stell dich neben Kira und versucht es gleichzeitig.“
Das könnte klappen, dachte ich. Und hoffte ich. Ich wollte auch so was Schönes haben wie die anderen.
Wir stellten und nebeneinander und konzentrierten uns auf unsere kleinen Schützlinge in unseren Händen. Ich auf meine Zeiger, die ich gerade von Sir Ligon wiederbekommen hatte, und Kira auf einen inzwischen immerhin ein wenig platten schwarzen Kristall.
Nichts passierte.
Ich leerte alle meine Gedanken, was mir nicht im Mindesten schwer fiel, denn ich war ein wenig müde. Dann richtete ich alle Konzentration, die ich aufbieten konnte, auf das Ding in meiner Hand.
Es blitzte. Grünes Licht schoss zwischen unseren Fingern hindurch. Heller, als die kleine Sonne da oben und gleißender noch als... als...als alle anderen Sonnen, die ich kannte.
Ich schaute auf meine Hände, drehte sie, besah sie von allen Seiten, aber da war nichts. Hatte es etwa schon wieder nicht geklappt?
Ich sah auf zu Kira, aber etwas versperrte meine Sicht.
Es war die Uhr. Nicht irgendeine Uhr, sondern DIE Uhr.
Der Nadelball pulsierte ein wenig, während der Metallring sich langsam drehte. Zeiger und Zahnräder zogen ruhig ihre Bahnen um die äußeren Sphären des Gebildes. Grüne Funken sausten zwischen den Einzelteilen hin und her.
Sir Ligon nickte. „Kumo und Kira. Ihr habt alles richtig gemacht, keine Sorge. Aber es war das falsche ‚richtig‘. Das hier ist eure Kardia. Ich bin überrascht, dass ihr sie schon hervorholen könnt.“
Er wandte sich nun an alle.
„Ihr habt nun alle eure Kardia gesehen und ich habe jedem von euch gesagt, welches Element sie besitzt. Nun werdet ihr versuchen, eure Waffe zu beschwören. Ich habe die Paare zusammen gestellt. Ihr werdet die jeweils anderen angreifen. Mit allem, was ihr habt.
Und gebt euch Mühe, ich werde erst eingreifen, wenn der Kampf vorbei ist.“, er wandte sich uns zu, „ihr seht zu, wie ihr klar kommt. Ich werde mich nun wieder da hin setzen und euch beobachten.“
Doch dann schien ihm noch was einzufallen „Eure Waffen beschwört ihr genau so, wie ihr die Steine verändert habt.“
Damit setzte er sich auf seine Säule und rief: „Fangt an!“
Ameno und Claire fingen an.
Claire beschwor gekonnt einige Eiszapfen, wusste dann aber nicht mehr, wohin damit. Verzweifelt schmiss sie sie Ameno entgegen, die lustlos auswich.
Sofort startete die einen Gegenangriff. Ameno hieb mit ihrem Schirm nach Claire, die zu Boden fiel und sich nicht mehr bewegte.
Doch, da war noch ein wenig Leben in ihr. Claires Hand schnellte vor und packte Amenos Knöchel. Ein siegessicheres Grinsen entfuhr Claire, als Amenos Fuß begann zu gefrieren. Doch Ameno riss sich los und sprang elegant zurück. Eis knackte, als sie aufkam. Mit schmerzerfülltem Gesicht hielt sich Ameno den Knöchel.
Doch dann lächelte auch sie. „Ich brauche nicht zu rennen, um dich zu besiegen“, meinte sie, „Ich brauche noch nicht einmal meinen Schirm, klar?“ Mit diesen Worten warf sie den Schirm weg, setzte sich auf den Boden und schlug die Beine übereinander. „Na komm, Mädel! Greif an!“, rief sie und lachte.
Claire stand auf und holte weitere Eiszapfen aus der Luft. Wut zeichnete sie. Drohend umkreisten die Eiszapfen Claire.
Doch Ameno wandte sich an Sir Ligon: „Es ist Ihnen doch recht, wenn der Raum beschädigt wird, oder?“
Sir Ligon machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mach, was du willst.“
Ameno lächelte. „Damit wäre das geklärt. Na komm, Mädchen, oder hast du nicht den Mumm dazu?“
Claire war außer sich vor Zorn. Mit einer Geste ihrer Hand schossen die Eiszapfen auf Ameno zu, die überhaupt nichts tat.
Kurz, bevor die Geschosse ihr Ziel erreichten, atmete Ameno aus. Die Eiszapfen trafen sie nicht, sondern bohrten sich in den Boden hinter ihr. Der Grund dafür war, dass sich das grüne Gras, auf dem Ameno gesessen hatte, plötzlich zu Wasser geworden war. Ameno verschwand mit einem Platschen in einer Pfütze. Ging einfach unter.
Claire war verwirrt. Sie suchte verzweifelt nach Ameno, doch die war unauffindbar.
Ich beobachtete, wie aus der Pfütze, in der Ameno verschwunden war, kleine Wassertropfen aufstiegen. Hunderte kleiner Tröpfchen schwebten zum Himmel und verdichteten sich zu einer Wolke aus Wasser.
Ich weiß natürlich, dass Wolken aus Wasser bestehen, aber diese Wolke zeigte noch ihre Wassertropfen.
Sekunden später flog die Wolke in den Luftraum über Claire, die sich vor Schreck nicht bewegen konnte. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie die Wolke auf sie nieder regnete.
Es war ganz normaler Regen, doch er gefror auf Claires Haut zu Eisnadeln.
„Du bist so anders, als alle anderen“, seufzte Ameno, die wieder in der Pfütze saß und sich nicht rührte. „So anders. Wenn du dich aufregst, kühlt sich deine Haut ab, im Gegensatz zu anderen Menschen, deren Körpertemperatur in solchen Situationen erheblich steigt. Aber du kühlst dich ab, Claire. Und deswegen kann ich dich besiegen, ohne mich zu bewegen.“
Inzwischen war Claire über und über mit Eis bedeckt. Es war dickes Eis. Claire fror vor Wut alles in ihrer Umgebung ein und das beinhaltete eben auch den Regen von Ameno. Schließlich war da nur noch eine regungslose Claire, die, bedeckt von Eiszapfen, die in alle Richtungen abstanden, sich nicht bewegen konnte.
„Halt“, meinte Sir Ligon, „Der Kampf ist vorbei. Sieger ist Ameno! Den nächsten Kampf werden Laura und Ramade bestreiten.“
Während Ameno die gefrorene Claire vom Feld schob, machten sich Laura und Ramade auf zur Mitte des Feldes.
„Fangt an!“, rief Sir Ligon.
Laura reagierte sofort, indem sie verschwand.
Ramade blickte sich um, aber er konnte sie nicht entdecken.
Der Kampf war schneller vorbei, als der erste.
Und es endete mit einem hilflosen Ramade, der mit tausenden Nadeln an eine der Steinsäulen genagelt war.
Niemand sah die Nadeln kommen, nur wo sie trafen, das wusste ich. Ramade stöhnte vor Schmerzen, als Laura sich seiner erbarmte und ihm die Nadeln aus der Haut zog und ihn damit von der Säule befreite.
Ich wünschte mich in die Vergangenheit mit Laura, da wäre uns die eine oder andere Tracht Prügel erspart geblieben.
Schließlich zerrte Laura den massigen Körper von Ramade vom Feld. Scheinbar hatte sie einige Nerven getroffen und Ramade konnte sich nicht mehr bewegen. Ich freute mich innerlich richtig.
Endlich bekam der Fiesling alles wieder, was er so viele Jahre ausgeteilt hatte.
„Sieger ist Laura, wegen offensichtlicher Unfähigkeit des Gegners“, rief Sir Ligon. „Den nächsten Kampf tragen Kumo und Kira gegen Karat aus. Viel Spaß.“
Entsetzen meinerseits.
„Aber ich.. Wir können doch noch gar nicht unsere Waffen beschwören!“, protestierte ich.
„Das werdet ihr schon noch raus finden, wenn ihr überleben wollt.“
„Wenn wir...“, begann ich, doch Sir Ligon unterbrach mich.
„Fangt an!“
Karat fixierte mich und rannte dann ganz plötzlich auf mich zu. Warum immer ich? Und ich hatte nicht mal eine Waffe!
Panik erfasste mich, als sie mit ihrer Messerkette ausholte. Diesmal würde sie besser zielen, als das letzte Mal und diesmal war auch weit und breit keine Tür in der Nähe.
(Wo war die überhaupt hin?)
Sie warf.
Silbern schimmerte das Messer. Es flog direkt auf mich zu. Schnell sprang ich zur Seite. Doch die Klinge erwischte mich an meiner Schulter. Rotes Blut quoll hervor und ein scharfer Schmerz durchzuckte meinen Arm. Ich schrie und fiel ins weiche Gras, das noch immer durchnässt war von Amenos seltsamer Attacke.
Karat holte ihr Messer wieder ein und holte erneut aus. Schnell versuchte ich aufzustehen, doch mein Arm knickte ein und ich landete wieder auf der Erde.
Dann flog wieder das Messer auf mich zu. Nein, auf Kira. Sie stand neben mir und... das Messer riss ihr ein wenig Haut vom Handrücken. Kiras Schrei gellte durch den unwirklichen Raum. Dann sank sie zu Boden. Sie zog ihre Knie an und schlang die Arme um ihren Körper. Zitternd saß sie da.
Ein silbernes Blitzen aus dem Augenwinkel ließ meinen Kopf herum zucken. Karat schleuderte ihr Messer über ihrem Kopf, so dass es mit der Kette eine flache Scheibe bildete. Eine gefährlich scharfe Scheibe.
„Verteidigt euch gefälligst!“, schrie sie.
Dann ließ sie los und das Messer schoss auf uns zu.
Kira saß immer noch bebend am Boden. Sie konnte sich nicht wehren. Ich raffte mich zusammen, nahm alle Kraft, die ich noch nicht durch die Wunde verloren hatte, und stieß sie zur Seite. Ich selbst warf mich zur anderen Seite und schaffte es in der letzten Sekunde aus der Gefahrenzone. Kurz, bevor sich das Messer in den Boden neben mir bohrte.
Schmerz explodierte vor meinen Augen als leuchtendes, schauerlich schönes Feuerwerk. Das war zu viel Bewegung, aber schlimmer wäre es gewesen, von dem Messer durchbohrt zu werden.
Wie der Wind holte Karat ihr Messer wieder ein.
Doch diesmal schien sie wirklich wütend zu sein. Mit mehrmaligem Blitzen erschienen weitere Messer an der dünnen Silberkette, die sie wieder in einem tödlichen Kreis über ihrem Kopf wirbeln ließ.
Sie kicherte. Es schien ihr Spaß zu machen, uns zu quälen, indem sie ein wenig wartete, bis sie angriff. „Hey, hier bin ich!“, rief sie. Und mit einem sadistischen Lachen ließ sie ihre Messer von der Kette, die ohne die gefährlichen Klingen weiter über ihrem Kopf kreiselte.
Wie Pfeile schossen die Messer auf uns zu.
Alles, was mir blieb, war, zu hoffen, dass es schnell vorbei ging.
Ich riss die Arme hoch und versuchte, mich zu schützen.
Ich wusste, dass es dumm war, Messer aus Metall mit den Armen abfangen zu wollen, aber das war mir egal.
Irgendjemand machte plötzlich irgendetwas irgendwie sehr richtig. Und da ich es nicht war...
Wenige Zentimeter vor meiner Nasenspitze verharrten die Messer. Ich drehte den Kopf und sah Kira, die auf wackligen Beinen im Gras stand und mich ansah.
„Kira?“, frage ich erstaunt. Meine Stimme war ungewohnt kratzig.
„Ja?“, lächelte sie
„Kira, sag mir bitte, dass du das machst.“
„Ich... ja, ich glaube, diesmal mache ich das.“
Karat starrte uns an.
Die Messer steckten in der Luft fest, was nicht weniger spektakulär war als die zu Eis erstarrende Claire.
Karat schrie wütend und schleuderte weitere Messer in unsere Richtung. Doch etwas glitzerte grün und die Klingen bewegten sich nicht mehr.
Ich lächelte und fand die Kraft irgendwo in meinem Körper, aufzustehen. Trotz meines verletzten Armes konnte ich aufstehen.
Ich ging mit schleppendem Schritt zu Kira hinüber und drückte sie fest an mich. „Du hast mir schon wieder das Leben gerettet. Damals im Waisenhaus, das warst auch du, oder?“, flüsterte ich ihr ins Ohr.
„Ich weiß es nicht“, meinte sie. Doch dann flüsterte sie erstickt: „Kumo, unternimm etwas. Was auch immer ich hier mache, ich kann das nicht mehr lange halten. Sir Ligon hatte doch gesagt, jeder hätte eine Waffe. Mach etwas!“
Ich geriet abermals in Panik. Wenn Kira die Kräfte verließen, dann würde uns nichts mehr vor Karats Angriffen schützen. Und dann würden wir sterben.
Ich musste etwas tun. Aber was?
Rote Bälle. Es ist wie das Spiel der roten Bälle, überlegte ich, keiner hat Ahnung von gar nichts, und das bedeutet, das jemand etwas weiß. Aber wer weiß, was ich machen musste?
„Kumo!“, schrie Kira. Zwischen den Messern flackerten Umrisse von runden, gezackten Dingen.
Ich dachte angestrengt nach.
Karats Waffe war eine silberne Kette mit beliebig vielen Messern. Ihre Kardia ähnelte dem. Genauso war es mit Laura und ihren Nadelbällen.
Aber Kira und ich, wir hatten doch die Uhr heraufbeschworen?
Und wenn die Waffe und die Kardia zusammenhingen, dann waren die runden Dinger da, die uns gerade vor weiteren von Karats Messern beschützten... Zahnräder?
Kira beschützte uns mit Zahnrädern? War das auch am Tag der roten Bälle so gewesen?
„Kumo! Was auch immer, mach etwas!“
Kira konnte nicht mehr. Sie sank auf die Knie und die Zahnräder erbebten.
Waffe, dachte ich, Waffe, Waffe, Waffe, Waffe.
Ich erinnerte mich an den Tag nach dem Spiel der roten Bälle.
Ich hatte plötzlich Zahnräder in der Tasche.
Kira hatte die Zeiger der Uhr in ihrer Tasche gehabt. Später hatten wir sie dann der Uhr beigefügt.
Sie hatte die Zeiger, ich die Zahnräder.
Jetzt hatte sie die Zahnräder und ich...
Zeiger?
Meine Waffen waren Zeiger?
Natürlich, das waren die spitzen Dinger am Tag der roten Bälle. Jetzt ergab wenigstens DAS Sinn.
Ich atmete tief ein und konzentrierte mich auf einen Zeiger.
Nichts passierte. Wäre ja auch zu schön gewesen. Aber es klang schon so blöd: Ein Junge, der mit Uhrzeigern kämpft. Sollte ich sie etwa werfen? Konnte ich nicht einfach ein Schwert bekommen, das einigermaßen von alleine kämpfen kann?
Kira keuchte.
Ein Zahnrad fiel zu Boden. Es war gerade so dick wie eine Hand breit war, aber es hatte einen Durchmesser von mehr als zwei Metern. Weitere Zahnräder lösten sich und fielen scheppernd aufeinander. Sie alle schienen nicht ganz fest zu sein, denn sie ließen das erkennen, was hinter ihnen war.
Schließlich lagen alle Räder auf dem Gras. Einige so groß wie eine Kinderhand, andere wie Teller und wieder andere waren geradezu winzig, wie für eine Taschenuhr.
Plötzlich lachte Karat triumphierend, als sie ihre Chance sah. Erneut ließ sie die Kette kreisen. Und diesmal folgte ein wahrer Hagel aus Messern. Und ich hatte keine Waffe, und Kira war...
„KIRA!!“, schrie ich.
Allen Schmerz vergessend warf ich mich vor sie und hob schützend die Arme.
Etwas Warmes durchflutete meinen Körper.
Ich dachte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit: So fühlt sich nicht das Sterben an. Garantiert nicht so.
Und statt dem tödlichen Schmerz von hunderten von Messern, die sich in meinen Körper bohrten, hörte ich ein Klirren und Klingeln.
Vorsichtig sah ich auf.
Messer lagen um mich herum. Kein einziges hatte mich getroffen.
Der Grund dafür war etwas in meiner Hand...
Ein Schwert?
Nein.
Ein gigantischer Uhrzeiger lag in meiner rechten Hand. Er sah nur aus wie ein Schwert.
Gut, dass Karat so perfekt gezielt hatte, sonst hätte die dünne Klinge nicht alle Messer aufhalten können.
Ich stand auf. Das Zeigerschwert war so leicht, als wäre es aus Papier.
Probeweise schwang ich es ein paar Mal.
Ein Zeigerschwert?
Ja, das ging.Ob es ein wenig magisch war, dass es alleine...
Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Mit großen Schritten stürmte ich vorwärts. Auf Karat zu, die erschrocken da stand.
Sie hatte versucht, mich und Kira, meine Schwester, umzubringen. Es hätte gereicht, uns einfach zu besiegen, uns in eine Ecke zu drängen, aber nein, sie hatte uns töten wollen. Der Kampf wäre zu Ende gewesen, wenn sie uns an eine Säule geheftet hätte, wie Laura es mit Ramade getan hatte.
Ich schlug zu, doch sie blockte mit einer straff gespannten Kette ab. Wie der Wind lief ich um sie herum und attackierte sie von allen Seiten, doch immer war eine Kette im Weg.
Ich wurde immer schneller. Immer schneller und schneller.
Alles um mich herum wurde zudem langsamer.
Ich merkte kaum, wie Nebel plötzlich den Boden bedeckte. In dicken Schwaden kroch er über das Gras. Doch ich flog nur so über die Erde.
Ich sah das Messer zu spät kommen. Es streifte mich an meiner Wange, schrammte die Haut auf. Warmes Blut lief mir in einem dünnen Rinnsal über das Gesicht.
Ich prallte zurück.
Wo war das Messer her gekommen?
Aus dem Nebel?
Aber wie war das möglich?
Ich rannte wieder los. Das Schwert zum Schlag erhoben.
„Halt!“, rief jemand. Ich gehorchte erst und bemerkte dann, wer da gesprochen hatte.
Sir Ligon war aufgestanden.
„Der Kampf ist vorbei. Kumo und Kira gewinnen.“
„Aber ich...“, begann Karat.
„Du bist schon zu erschöpft, Karat.“
„Bin ich gar nicht!“, empörte sich Karat. Sie war wie ein kleines Kind, das nicht ins Bett wollte. Unwillkürlich musste ich grinsen.
„Und mit dir habe ich noch eine Gans zu rupfen!“, fuhr sie mich an.
Gans?, dachte ich, warum eine Gans?
„Der nächste Kampf! Mirko gegen May!“, verkündete Sir Ligon.
Und mit den Worten „Das könnte interessant werden“, setzte er sich auf seine Säule.
Kira, Karat und ich tauschten den Platz mit Mirko und May, die sich voreinander verbeugten.
Unnötig, dachte ich.
„Fangt an!“
Mirko begann, indem er drei Würfel von irgendwoher zog und einen in die Höhe warf.
Währenddessen startete May einen Angriff. Sie raste auf Mirko zu, der nicht einen Zentimeter zur Seite wich.
Der Würfel drehte sich und fiel wieder herunter.
May holte mit der Faust aus, die mit einem Male mit Draht umspannt war, wie ein Handschuh, und hieb nach Mirko. Doch der war schneller. Wie der Blitz warf er den zweiten Würfel nach May, die jedoch auswich und den nächsten Angriff einleitete.
Diesmal hinderte der Würfel, der inzwischen auf dem Rückweg von seiner kleinen Reise in den Himmel war, sie daran.
Mit dem dritten Würfel in der Hand verschwand Mirko in dem herabfallenden Objekt. May drehte sich abrupt um, doch es war schon zu spät: Mirko war aus dem zweiten Würfel wieder erschienen und warf den Dritten nach ihr.
Sie konnte gerade noch ausweichen, bevor er sie traf.
„Deswegen habe ich mich nach dem Raum erkundigt“, meinte Ameno ruhig, „Man kann ihn ruhig zerstören und darauf basiert Mirkos Strategie.“
Ich sah Ameno an. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie neben mir stand.
Aber ich wandte meine Aufmerksamkeit lieber ganz dem Geschehen auf dem Feld zu.
Ein Donnern erklang und die Erde begann zu beben.
Mit einem Krachen riss die Erde auf und Risse zogen sich durch den Boden.
Und der Mittelpunkt dieses Getöses war Mirkos dritter Würfel.
In einem gewissen Sinne bildete er den Ursprung der Risse, die strahlenförmig von ihm ausgingen. Gigantische Brocken alten Gesteins brachen weg und verschwanden in der Tiefe.
Bald war der gesamte Boden im Umkreis des Würfels abgesackt. Am jeweils anderen Rand standen sich Mirko und May gegenüber. Zwischen ihnen eine unüberwindbare Kluft aus bodenloser Schwärze.
Mirko lachte und rief: „Ist das alles, was u kannst? mit Drahthandschuhen deine Schläge verstärken? Aber so kannst du mich nicht erreichen. Du bist eben auf eine kurze Distanz angewiesen.“
May starrte in den Abgrund und sprang.
Weniger erschrocken denn erstaunt blickte Mirko ihr nach.
Dann meinte er: „Damit wäre der Kampf entschieden. Sir Ligon? Beenden Sie bitte den Kampf.“
Sir Ligon saß einfach nur da und sagte: „Tut mir Leid, das geht nicht. Der Kampf ist noch nicht entschieden.“
„Was soll das...“, begann Mirko, doch er stockte, als er sah, was Sir Ligon meinte.
Ich hatte so etwas schon häufig gesehen. Es war ein Wunderwerk der Natur. Ich staunte immer wieder, wie so kleine Tiere so etwas Schönes erzeugen konnten. Aber es in dieser Größenordnung zu sehen, raubte mir fast den Atem.
Ein gewaltiges Spinnennetz spannte sich über den Abgrund. Es war so gearbeitet, dass man es kaum sah und gerade so dicht, dass man nicht hindurch fallen konnte, wenn man wusste, worauf es bei einem Netz dieser Größe ankam.
May stand in der Mitte des Kunstwerkes und lächelte ein wenig, als sie erklärte: „Hast du wirklich geglaubt, dass ich mich so leicht täuschen lasse? Dass ich nur auf Drähte an den Händen zurückgreifen kann? Dass ich so schlecht bin? Ich habe von Anfang an deine Taktik durchschaut, Mirko. Und nun lass mich dir etwas zeigen. Ich habe es während unseres kleinen Schlagabtausches an dir befestigt.“
Sie griff in die Luft und zog an einem feinen Draht, den man kaum erkennen konnte. Nur das Licht der unwirklichen Sonne spiegelte sich in dem Metall der Fäden.
Zwar zog sie daran, aber es passierte nichts.
Darum zog sie weiter, bis ein kurzer Ping-laut ertönte.
Wie von einem gerissenen Draht, dachte ich.
Mirko schnellte in die Luft. Seinem verwirrten Gesicht konnte man ansehen, dass nicht er es war, der diese Bewegung verursachte.
In exakt der Höhe, in der man eigentlich umkehrte um zum Boden zurückzufinden, machte Mirko Halt und verblieb dort.
Heftig strampelnd versuchte er, sich aus dem Netz zu befreien, was herzlich wenig brachte. Hilflos musste er darauf warten, dass May auf einem ihrer dünnen Hilfsmittel ankam und ihn befreite.
Es dauerte nur wenige Sekunden, da Mirko bereits eingesehen hatte, dass es nichts brachte, heftig zu strampeln.
Im Vorbeigehen warf er noch einen Würfel in die Tiefe, woraufhin das Feld wiederkehrte, allerdings ein wenig leiser als es verschwunden war.
„Damit wäre der Kampf entschieden. Sieger ist May!“
Sir Ligon klatschte erfreut in die Hände.
„Der nächste Kampf.“
Ich überlegte. Loge und Kasse waren als einzige Anwesende noch nicht dran gewesen.
Aber es fehlte jemand. Jemand, gegen den sie kämpfen könnten. Oder sollten sie gegeneinander antreten?
Das konnte Sir Ligon doch nicht von ihnen verlangen, oder? Doch nicht von den besten Freunden dieser Welt?
„Loge und Kasse“, bemerkte Sir Ligon, „Ihr seid dran. Geht bitte in die Mitte des Feldes.“
Gehorsam machten die zwei einige Schritte, zögerten jedoch bei der Aufstellung.
„Keine Sorge, ihr beiden, ihr bekommt euren Gegner schon noch.“
Prompt schlugen sich beide auf eine Seite und stellten sich nebeneinander auf.
Dann klatschte Sir Ligon erneut in die Hände und eine Tür erschien mitten in der Luft. Sie öffnete sich und heraus kam... Jika.
„Jika?!“, riefen Loge und Kasse gleichzeitig.
„Hallo, meine lieben Freunde“, meldete sich der Angesprochene winkend zu Wort.
„Wir sollen gegen dich antreten?“, meinte Loge verzweifelt.
„oh, echt? Nur ihr beide? Na dann, wann geht’s los?“
Sir Ligon klatschte erneut, die Tür verschwand. Dann sagte er: „Jetzt. Fangt an.“
Jika wandte sich den beiden zu. „Ihr habt es gehört, fangt an.“
Loge und Kasse wechselten einen kurzen Blick und sahen dann wieder Jika an, der die Arme hinter dem Rücken verschränkt hatte und einfach nur dastand.
Loge und Kasse streckten die Hände nach vorne und schlossen die Augen. Jika hätte diese Chance super nutzen können, doch er wartete nur ab.
Schließlich blitzte es rot auf und zwei Ringe erschienen auf den Handflächen der beiden.
„Ah, ich sehe schon. Die Iriagniringe“, kommentierte Jika.
Loge und Kasse steckten sich die Ringe an und warteten. Plötzlich standen ihre Hände in Flammen, doch sie schienen es nicht zu bemerken.
Dann stürmten sie voran. Direkt auf den regungslosen Jika zu. Doch der meinte nur: „Wusstet ihr, dass Feuer jemandem mit Feuerkardia nichts anhaben kann?“
Eine brennende Faust schlug nach seinem Gesicht, doch er beugte sich nach hinten und pustete gegen die Hand, die ihm über der Nasenspitze thronte. Die Flamme erlosch.
Kasse prallte zurück und schnippte mit den Fingern, um die Flamme wieder anzuzünden. Sie ging auch an, aber sie blieb es erst nach mehrmaligem Schnippen auch.
Loge drosch derweil auf Jika ein, der einfach auswich. Schließlich kam auch Kasse wieder hinzu.
Die Schläge der beiden wurden nun immer schneller. Doch auch Jika bewegte sich immer flinker. Keiner der Hiebe traf.
Dann versuchten beide es mit Tritten.
Wie gespiegelt schwangen sie sich in der Hocke herum und traten nach Jikas Beinen.
Jika sprang hoch und landete wieder elegant auf dem Boden.
Er wandte sich Sir Ligon zu. „Sir Ligon, ist es mir erlaubt, zurückzuschlagen?“
Sir Ligon nickte. „Selbstverständlich ist es das, Jika. Zeig ihnen, wie gut sie wirklich sind.“
Jika drehte sich wieder zu Loge und Kasse um, die keuchend vorne über gebeugt dastanden und sich mit dem Händen auf den Knien abstützten.
Langsam sagte er: „Ich habe euch erzählt, dass Feuerangriffe keine Wirkung gegen andere Feuerkardia haben. Doch kann durchaus schon die Wucht allein genügen. Die These der Immunität stützt sich nur auf die Flammen und deren Hitze, klar? Also, versucht es mal.“
Die beiden schauten auf und brachten ihre Beine in Ordnung. Dann nahmen sie eine Kampfhaltung ein, die ich nicht kannte.
Vielleicht war es Kung Fu, vielleicht aber auch Karate.
Dann streckten sie jeder einen Arm nach hinten.
Das, was nun erschien, erinnerte entfernt an Kiras Zahnräder. Doch die beiden hielten sie in der Hand und schwangen sie wie runde Schwerter. Mir war noch nicht ganz klar, wie sie sie hielten, aber sie schafften es irgendwie, die zwei Ringe in ihren Händen zu balancieren, ohne, dass das Metall ihre Hände berührte.
Dann stürmten sie wieder nach vorn.
Diesmal hielten sie die gespreizten Hände mit den Ringen vor sich. Sie schlugen nach Jika. Die Ringe hinterließen rote Spuren in der Luft.
„Iriagniringe... ich hatte ganz vergessen, welche Macht in ihnen steckt.“ Mit diesen Worten sprang der grinsende Jika zurück.
Gleichzeitig warfen die beiden ihre Waffen nach ihm. Sie sausten mit wehendem Rot dahin und zerschnitten die Luft. Doch kurz bevor sie Jika erreichen konnten, ja, auch nur in seine Nähe kamen, wurden sie von einer Feuersäule in den Himmel geschleudert.
Sogar bis an den Rand des Feldes spürte ich die Hitze. Wahrscheinlich begann Claire in diesem Augenblick ein wenig schneller zu schmelzen.
Jika wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab, als die Feuersäule erlosch.
„Wow, ihr hättet mich fast erwischt. Ihr seid schnell“, meinte er vergnügt.
Dann stellte er sich mit seinen eins fünfzig Metern Körpergröße breitbeinig hin, löste die Arme, die er die ganze Zeit verschränkt gehalten hatte, von seinem Rücken und ließ sie links und rechts von seinem Körper baumeln.
Dann verkündete er: „Ich werde jetzt einen Gegenangriff starten. Bitte passt auf euch auf.“
Loge und Kasse nahmen prompt Kampfhaltung an, nachdem sie enttäuscht zusammengesackt waren, als ihr Angriff ins Leere ging.
Jika rief: „Jetzt komme ich!“, bewegte sich aber nicht von der Stelle.
Stattdessen stürmte noch eine Feuersäule in den Himmel. Noch stärker, noch gewaltiger, noch heißer.
Doch sie verebbte nicht einfach, sie schrumpfte. Erst wurde sie immer schmaler, dann nur noch kürzer.
Schließlich war sie nur noch ein dünner Ring aus leuchtend weißem Feuer, der wie eine fliegende Untertasse um Jika kreiste.
Jika hob die Hände und mit ihnen hob sich auch der Ring aus seiner Umlaufbahn.
Er streckte beide Hände nach vorne. In dem Ring erschienen kleine Flammen und leckten an seinen Fingern.
Dann richtete er den Ring auf Loge und Kasse aus, die sich, bereit zur Verteidigung, mit ihrem Ringen zu schützten versuchten.
Doch es half nichts. Erst wurde der Ring kleiner, immer schmaler, dann schoss er plötzlich in Richtung der zwei Freunde mit den silber- grauen Haaren.
Doch kurz vor ihren Füßen stoppte er fiel zu Boden und blieb liegen. Ein kleiner, schwelender Ring, der das Gras um sich verkohlen ließ.
Erstaunt blickten die Beiden nach unten.
Jika schaute verwirrt seine Hände an. Dann jedoch schnippte er mit den Fingern.
Es war ein einfaches Fingerschnippen, doch es hatte unglaubliche Auswirkungen.
Ein gewaltiger Feuerball, so hell wie tausend Sonnen und gerade so groß, dass er Loge und Kasse verschlang, hüllte die beiden ein.
Tosen und Rauschen nahm alle Geräusche in Anspruch. Vielleicht schrien die beiden in der Glutkugel.
Ich konnte die Hitze kaum ertragen.
Dann wurde das weiße Feuer langsam blau, schließlich gelb und langsam orange, als die Glut abkühlte.
Endlich und schließlich wurde das Feuer rot und der Ball aus Hitze erlosch.
Jika kicherte. „Ich dachte schon, ich kann es nicht mehr. Habe es schon lange nicht mehr benutzt.“
Ein dumpfer Laut erklang, als Loge und Kasse zu Boden fielen. Ihre Kleidung war leicht angekohlt und ihre Haut schlug Blasen von der Hitze. Die einzigartigen silber- grauen Haare der beiden glühten noch vor Hitze, brannten aber nicht ab.
Was auch immer die zwei vor dem Schicksal als Kohlenstück bewahrt hatte, es hatte nicht komplett ausgereicht.
Regungslos lagen die beiden auf einer Fläche aus kochendem Glas, was ihnen nicht mehr auszumachen schien, als eine Federmatratze mit Siebenzonenkern, oder wie auch immer das hieß.
Sir Ligon winkte einmal mit der Hand. Ohne einen Laut zu erzeugen, klappten die Wände des Raumes wieder hoch. Die Säulen verschwanden im Boden und das Gras schmolz und wich dem Schachbrettmuster des Bodens.
Der Himmel machte der Decke Platz und kleine Krater, die noch von Mirkos Angriff auf den Raum übrig waren, wuchsen ein wenig in die Höhe, um zu weißen Sesseln zu werden, in die wir uns erleichtert setzten.
Dann öffnete sich die Tür, die inzwischen auch wieder erschienen war, und zwei kleine Roboter rollten herein. Es waren Spielzeuge, gerade so groß wie meine Hand. Sie glänzten golden und in ihrem Rücken drehten sich winzige Schlüssel.
Ohne Mühe hoben sie Ramade, Claire, Loge und Kasse auf und trugen sie aus dem Raum.
Übrig blieben wir anderen: May, Karat, Ameno, Laura, Kira und ich.
Alle starrten wir Jika an, der mit seinem blauen Shirt grinsend im Sessel saß.
Schließlich fragte Mirko: „Sie wollten uns doch erzählen, was wie hier sollen, oder?“
Sir Ligon antwortete: „Hm... ja stimmt. Das mache ich morgen. Gute Nacht.“
„Setzt euch, bitte“, meinte er.
Gehorsam nahm ich an der langen Tafel Platz. Auf dem dunklen Holz lagen Platten mit geschmierten Broten.
Goldgelb glitzerte der Honig im Licht der unwirklichen Sonne und tiefrot lag die Marmelade so dick auf den Broten, dass sie schon fast herunterlaufen und die silberne Platte beschmutzen würde, wenn man sich nicht beeilte.
Sir Ligon bemerkte die Blicke seiner Gäste wohl und machte eine umfassende, einladende Handbewegung.
Vorsichtig, als wäre es aus Glas, nahm ich ein Brot und biss hinein.
Ich kam mir vor, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen.
Vielleicht lag es daran, dass ich gestern erschöpft ins Bett gefallen war, ohne etwas zu mir zu nehmen. Ich hatte tief und fest geschlafen, hatte mich beim Aufwachen aber nach dem „Warum“ gefragt.
Nach dem reichlichen Frühstück klatschte Sir Ligon in die Hände und der Tisch versank ohne einen Laut im Boden, der sich fugenlos über ihm schloss. Prompt erschienen die weißen Sessel wieder auf dem schachbrettartigen Boden. Es gab etwas zu sagen.
Diesmal blieben wieder drei Sessel leer.
Zwei für Loge und Kasse, die immer noch im Krankenzimmer lagen. Mit Brand- Schürf- und Platzwunden im Gesicht und die Arme entlang.
Jika, der für die Verletzungen verantwortlich war, fehlte ebenfalls. Aber diesmal schien es so, als ob er nicht durch eine plötzlich erscheinende Tür kam und unschuldige Leute in einem völlig sinnlosen Kampf verletzte.
Es dauerte einige Zeit, bis sich alle gesetzt hatten.
Claire hatte mit ihren dicken Klamotten zu kämpfen, die sie noch vor ihrer eigenen Kälte schützen sollten.
Ramade krümmte sich vor Schmerzen, die ihm die Nadeln bereitet hatten und Kira schien immer noch erschöpft zu sein von unserem Kampf.
Sir Ligon blickte einmal in die Runde und sagte dann: „Heute werde ich euch etwas sagen.“
Wer hätte das gedacht?, fragte ich mich mit stillem Sarkasmus.
Sir Ligon schaute uns noch einmal an und genoss sichtlich die Unruhe, die er uns bereitete. „Ihr werdet schon noch früh genug erfahren, warum ihr hier seid.“ Er blickte mich an. „Und warum ihr diese Kämpfe auszutragen hattet.“
Karat starrte mich verächtlich an, drehte sich dann jedoch um und zeigte mir eine Schulter, wie sie selbst Claire nicht kälter hätte machen können. Sie war wohl immer noch sauer, dass sie gegen uns verloren hatte, obwohl sie ja eigentlich gewonnen hätte. Zum Leidwesen unserer Gesundheit.
„Aber zuerst“, hob Sir Ligon seine Stimme wieder an, „werdet ihr ihr noch einmal eure Kardien zeigen.“
Er beugte sich vor und blinzelte. Einmal. Zweimal.
Wir streckten fast synchron unsere Hände nach vorn.
Bunte Lichter blitzen, als wir unsere Kardien heraufbeschworen, oder es zumindest versuchten.
Kira und ich hatten keine sonderlichen Probleme. Es klappte gleich beim zweiten Versuch.
Karat, Ameno und Laura meisterten diese Aufgabe ebenfalls ohne größere Mühen.
Ramade hingegen setzten die schnellen Erfolge der anderen in Sachen Kardia ziemlich zu. Er geriet unter den Gruppendruck und verlor komplett die Kontrolle über die goldene Kugel, die sich gerade materialisiert hatte, mit der Folge, dass sie in einem goldenen Funkenregen zerbarst. Beim zweiten, erzwungen ruhigeren Versuch, klappte es.
„Ah, sehr schön. Gut gemacht. Ramade... naja“, meinte Sir Ligon. Er streckte die Hand aus „Ich darf doch?“
Ramade zögerte, doch schließlich übergab er die goldene Kugel an den Mann im feinen Anzug, den ich zum ersten Mal als Rot erkannte.
Doch ja, ein roter Anzug. Eine weiße Hose. Ein schwarzer Zylinder.
Ein Gentleman eben.
Sir Ligon hielt die Kugel in der einen Hand und strich mit der anderen darüber. Dazu brumme er irgendetwas.
Dann gab er die Kugel an Ramade zurück und klatschte in die Hände.
Ich erwartete fast, dass der Raum in seine Einzelteile zerfallen würde oder dass plötzlich alles voller Spinnen wäre. Oder dass Ramade explodierte.
Letzteres war mehr eine Hoffnung als eine Erwartung.
Aber es passierte gar nichts.
Rein gar nichts.
Ich spürte nur, wie sich die Luft um Sir Ligons Hände ein wenig bewegte. Mehr nicht.
Dann erhob er sich, machte eine Bewegung, ihm zu folgen und ging durch die Tür nach draußen. Wir trotteten hinterher.
Auf dem weißen Gang drehte sich Sir Ligon um und meinte: „Ihr wisst doch, dass hinter jeder dieser Türen genau das ist, was ihr erwartet. Ich möchte euch aber nun etwas anderes zeigen.“
Mit diesen Worten trat er zur nächstbesten Tür und stieß sie auf.
Dahinter erstreckte sich ein weiterer Raum.
Als wir eintraten, merkte ich, dass wir uns in einem weißen Würfel befanden.
Dann merkte ich, dass der Würfel keinen Ausgang mehr hatte.
Dann merkte ich, dass ich an der Decke stand.
Oder auf dem Boden. Oder an der Wand.
Zumindest stand Kira in einem exakten 90° Winkel zu mir an der anderen Seite.
May, Laura und Karat hatten sich auf der gegenüberliegenden Wand platziert, während Mirko und Ramade links und Ameno und Claire rechts von uns standen. Uns... uns bedeutete in diesem Falle, Kira und mir. Scheinbar war es möglich, von einer Wand zur anderen zu wechseln.
Das war immerhin schon mal etwas.
Sir Ligons Stimme hallte in dem Raum wider. Doch er selbst war nirgends zu sehen, als er sagte: „Dies ist ein normaler Raum. Aber er ist nur in dem Sinne dieses Hauses normal. Ich will damit sagen, dass das Haus nicht normal ist. Soweit verstanden? Naja, ist auch egal.
Ihr seht mich nicht, oder? Ich bin dabei genau hier.“
Interessanterweise wirklich sehr präzise, Herr Lehrer, dachte ich, als ich ihn sah.
Und noch mal sah. Und noch mal.
Und in Wirklichkeit standen hunderte Sir Ligons im Raum. Alle in dem gleichen roten Anzug und auch alle mit demselben, geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen. Eine Armee aus Sir Ligon.
Ich war beeindruckt.
Kira lachte laut. Alle starrten sie entgeistert an. Aber sie schien das nicht zu stören und sie lachte noch lauter, als wollte sie der ganzen Welt mitteilen, dass sie glücklich war.
Das letzte Mal hatte sie in der schwarzen Welt gelacht, als sie sicher war, dass wir sterben mussten.
Jetzt lachte sie. Aber ich sah, dass es einen anderen Grund hatte.
„Sehr gut“, meinte ein Sir Ligon, „Kira, du bist gut.“
Auch er lachte. Alle Sir Ligons und meine Schwester lachten.
Und ich verstand die Welt nicht mehr. Nicht, dass ich es je getan hätte.
Ich hatte kein Problem damit gehabt, dass wir von einer Frau, die in Zucker geboren und in Essig gestorben, in Klopapier eingewickelt und mit Zitronensaft mumifiziert worden war, durch eine Wand gezogen worden waren.
Ich hatte auch nichts gesagt, als wir in einem unwahrscheinlich tiefen Raum mehrere Meilen tief gefallen waren, landeten, uns die Hacken abliefen, erneut fielen und schließlich durch eine Tür gingen.
Mir war es auch ziemlich egal gewesen, als ein kleiner Würfel ausgereicht hatte, um einen ganzen Saal zu zerstören, oder dass ein kleiner Junge wie Jika nicht nur ständig verschwunden, sondern auch noch mit dem Feuer umging, als sein es ein kleines Hündchen ohne Zähne, doch mit einem gewaltigen Gebiss, wenn es darum ging, seinen Herren zu beschützen.
All das hatte mich nicht im Mindesten verwundert.
Es war halt einfach so und nicht anders.
Aber dass alles um mich herum lachte, brachte mich vollkommen aus dem Konzept.
„Kira? Woher wusstest du es?“, fragte Sir Ligon.
„Ich hatte nur so ein Gefühl, als würde etwas nicht stimmen“, antwortete Kira wieder mehr oder weniger ernst.
Sie drehte sich um und versuchte, alle Anwesenden, außer Sir Ligon, im Auge zu behalten. Dann sagte sie: „Es ist nicht real. Es ist nur eine Illusion.“
„Kira hat ganz recht. Ich bin nur eine Illusion“, riefen alle Sir Ligons im Chor. „Nur eine Illusion. Hervorgerufen durch... Das Haus.“
Plötzlich war nur noch ein Sir Ligon da und ich atmete erleichtert auf.
„Das ganze Haus“, sagte er, „ ist voller Räume, die die groteskesten Überraschungen bereithalten. Es ist besser für euch, nicht zu beschließen, alle besonderen Räume zu finden. Einst gab es mal einen, der der Gruppe eurer Vorgänger angehörte.“
Wir hatten also Vorgänger?
„Er hatte den Entschluss gefasst, alle besonderen Räume und alle erwartenden Räume auf einer Karte des Hauses zu verzeichnen. Doch er ist an einem Raum gestorben, weil er nicht gewusst hatte, was hinter der Tür lauerte. Er ist an einem Raum zugrunde gegangen, der ihn nicht wieder hat gehen lassen.“
Plötzlich war er sehr ernst. Eine seltsame Aura umgab ihn. Wabernde Dunkelheit.
„Bitte merkt euch: Die besonderen Räume sind nichts für schwache Nerven oder Personen. Jeder, der einen besonderen Raum betritt, sollte sich der Gefahr bewusst sein, de er sich aussetzt.
Dieses Exemplar“, er machte eine ausschweifende Handbewegung, „ist nur eins der niedrigsten Gefahrenstufe. Doch hättet ihr mich nicht dabei, könntet ihr ihn nicht wieder verlassen.
Bitte merkt euch meine Worte.
Vergesst sie nicht, denn das könnte euer Ende sein.“
Mit einer weiteren Handbewegung erschien eine Tür mitten im Raum.
Plötzlich veränderte sie sich. Sie drehte sich, begann zu schlingern und... krempelte sich um. Es war... seltsam, beinahe unheimlich.
Und dann war der Eingang außen und der Rahmen innen.
Die Tür, oder was auch immer sie geworden war, wuchs an und verschlag Sir Ligon, der mit einem irren Grinsen in die Dunkelheit trat, die sich um den Rahmen bildete.
Nacheinander gingen wir alle durch die seltsame Pforte, die gerade groß genug war, um an alle Wände des Raumes heran zu reichen.
Dann standen wir wieder auf dem Gang und fragten uns, was gerade geschehen war.
Sir Ligon drehte sich zu uns um und eröffnete uns seine Pläne: „Ihr werdet für mich etwas erledigen.“
Natürlich denkt man in solchen Momenten einfach nur: und was?
Aber bei Sir Ligon konnte man sich das, so meine Erfahrung mit ihm, sparen. Irgendwann rückte er ja doch mit der ganzen Sache heraus.
Ich dachte: Was war das? Waren das meine Gedanken?
Habe ich das gerade gedacht?
Sir Ligon kennen? Erfahrung mit ihm haben? Ich kenne ihn doch erst seit...
„Ihr werdet etwas für mich erledigen“, wiederholte Sir Ligon und unterbrach mich in meinen Gedankengängen, was eigentlich auch ganz gut so war. Wer weiß, zu welchem Schluss ich noch gekommen wäre?
„Ihr werdet etwas für mich tun. In gewisser Weise etwas abholen. Aber denkt nicht einmal daran, dass es einfach werden wird.
Ihr werdet euch in die unsicheren Gebiete des Hauses wagen müssen, damit ihr es finden könnt. In die besonderen Räume.“
Er lächelte. Seine weißen Zähne blitzten und mir fiel auf, dass sie ein wenig spitzer waren, als sie eigentlich sein sollten. Eigentlich sein könnten.
„Arbeitet zusammen und versucht bitte nicht zu sterben. Fangt an!“, rief er und riss eine Hand durch die Luft, sodass ein roter Schemen seines Anzugs in der Luft hängen blieb. Das Licht war nicht schnell genug. Interessant.
Hastig fuchtelte Sir Ligon durch das Überbleibsel aus verlangsamten Partikeln der Wirklichkeit und sammelte sie auf diese Art wieder ein. Wieder verschwand er.
Verzerrte Realität. Illusion? Ein zu langsames Licht? Besondere Räume? Etwas finden?
Und dann fiel es mir siedend heiß ein: Was sollten wir suchen?
Ich beschloss, erst mal etwas anderes zu finden: eine Tür.
Die waren nämlich alle verschwunden.
In der Ferne sah einige noch blass schimmern, doch sie erloschen wie eine einsame Wüstenkerze in einem Sandsturm. Mit einem leisen Flackern gingen sie einfach... AUS. Wie davon geweht.
Ich dachte nach.
Illusionen. Keine Tür da. Das hatten wir doch gerade schon, oder? Und Kira hatte...
Sie sah mich an. Legte den Kopf schief wie ein kleines Hündchen. Lächelte. „Es ist eine Illusion. Die Türen sind noch da“, meinte sie, „Aber sie sind nicht mehr komplett in einer Illusion verborgen.“
Ramade machte ein selten dämliches Gesicht. Selbst für seine Verhältnisse. „Wassis los?“
„Seufzend drehte sich Kira zu ihm herum und machte einen Schritt auf ihn zu. Das zwang sie zwar, ihren Kopf in den Nacken zu legen, um Ramade in die Augen zu sehen, aber es hielt sie nicht davon ab, SEHR entschlossen auszusehen.
„Das bedeutet, dass es zwar eine Illusion ist, wir aber nichts dagegen tun können. Klar?“
Ramade stolperte ein wenig zurück. Erstaunlich. Warum war meine kleine, stille Schwester mit einem Male so selbstsicher?
Ich wusste nicht genau, ob ich mich freuen, oder um sie sorgen sollte.
Karat fiel mir auf.
Sie hatte ihre Kette in der Hand und ließ einige Messer daran erscheinen und wieder verschwinden. Es sah aus wie eine Weihnachtsmarktlichterkette. Nur gefährlicher.
Kiras Kopf ruckte herum.
Karat grinste selbstsicher. „Es ist wie mit meinen Messern. Ich kann sie nach Belieben an den Orten erscheinen lassen, die ich für richtig halte.“
„Aber du bist nicht für das mit den Türen verantwortlich“, sagte jemand.
Sagte ich.
Warum ich?
Karats Lächeln verschwand. „Nein, für die Türen bin ich nicht zuständig. Das macht jemand anderes.“
„Dann würde ich vorschlagen, denjenigen zu suchen, bevor wir hier drin auf ewig feststecken“, meinte jemand.
Und diesmal war es nicht ich! Ich jubelte innerlich laut und vor allen Dingen gedanklich auf.
„Er weiß vermutlich, was wir für Sir Ligon holen sollen“, überlegte Laura.
Karat verschränkte ihre Arme. Prompt verschwanden Kette und Messer. „Das habe ich schon lange geplant!“
Wie ein kleines Kind, dachte ich, wie eine verzogene, kleine Göre.
Leider hatte sie recht.
Verdammt noch mal recht.
„Und wo sollen wir mit dem Suchen anfangen?“, fragte Kasse.
„Wie wäre es mit dieser Tür dort?“, antwortete ihm sein Freund Loge.
Illusionen.
Loge und Kasse lagen doch im Krankenhaus. Aber... Sie waren die ganze Zeit bei uns und ich habe sie nicht bemerkt.
Tür?, fragte eine sehr kleine, nicht unbedingt einsame Stimme in meinem Kopf. Inzwischen wimmelte es dort oben vor seltsamen Gedanken.
Einer lautete: wer ist wohl der mysteriöse Illusionist?
Einer lautete: was sollen wir wohl für Sir Ligon holen?
Einer lautete: Wer ist Sir Ligon überhaupt?
Einer lautete: Was soll der Mist?
Einer lautete: Welcher Mist?
Einer lautete: Lauf geradeaus und mach die verdammte Tür auf. Ich will wissen, was dahinter ist.
Letztendlich waren sich meine Gedanken einig und entschieden sich dafür, alles noch mal genau zu überdenken.
Also rannte ich ziemlich gedankenlos hinter den anderen her, die schon lange durch die Tür gegangen waren.
Dahinter lauerte Schwärze.
Nicht weiter verwunderlich.
Es wäre mir nämlich nichts lieber gewesen. Solange es dunkel war, sah man nicht, was hinter der Finsternis war. Man konnte nichts sehen und das war auch gut so. In diesem Falle allerdings komplett unbegründet.
Und blödsinnig.
Mirko hatte einen seiner magischen Würfel hervorgezogen und ihn auf den Boden geworfen. Scheinbar war er nicht sonderlich tief gefallen, was zum einen bedeutete, dass da kein Abgrund und auch keine Wand waren. Und zum anderen, dass es dort noch weiter ging.
Der Würfel blitzte in der Dunkelheit auf.
Nicht hell, aber das Licht wurde zurückgeworfen von etwas Glänzendem.
Ich hauchte ein ehrfürchtiges „Wow“ in die Welt hinaus.
Kristalle.
So weit das Auge sehen konnte, funkelten winzige Kristalle in einem runden Gang. Solche Farben, wie sie die zu Dutzenden gruppierten Kristalle ausstrahlten, hatte ich noch nie gesehen.
Ganze Bündel aus schillernden Figuren hingen von der Decke, scharten sich an Tropfsteinsäulen und drängten sich an Wänden und am Boden zusammen.
Und zwischen drin der schwarzblaue Fels des Tunnels. Wie Sterne schimmerten die schmuckvollen Steine auf dem Schwarz eines granitenen Himmels.
In allen Größen, in allen Farben, in allen Kombinationen aus beidem, in allen Formen, Richtungen und Beschaffenheit wuchsen Milliarden von Kristallen überall in dem Tunnel, der in der Ferne seine Wände zusammenkrachen ließ, dass es nur so funkelte.
Ich streckte vorsichtig die Hand nach den glänzenden Flächen aus, doch ich griff hindurch.
Plötzlich steckte meine Hand in einem aus der wissenschaftlichen Sicht gesehenen normalerweise sehr festen Diamanten.
Karat lachte abfällig. „Was hast du erwartet? Es ist eine Illusion. Wie alles hier.“
Kira staunte über die Höhlendecke und meinte langsam: „Nicht alle. Es sind nicht alles Illusionen.“
Mirko stimmte ihr zu: „Ich fühle es auch. Nur ein kleiner Bruchteil dieser Kristalle ist nicht echt. Alle anderen sind so wirklich wie die da.“
Er deutete mit der Hand auf Karat, die ihn mit einem bösen Blick strafte.
„Lasst uns endlich gehen“, unterbrach ich ihr folgendes Blickduell, um einen Streit zu verhindern. „Mir ist dieser Ort hier unheimlich.“
Ich tat einen schritt den Gang hinab und kam nicht weit.
Kaum war ich zu nahe an eine Gruppe Kristalle gekommen, schossen die mit unglaublicher Geschwindigkeit wie Pfeile auf mich zu. Doch bevor sie mich treffen konnten, schimmerte so etwas wie eine grüne Scheibe in der Luft.
Zahnräder.
Fragend sah ich zu Kira. Es waren schließlich ihre Zahnräder.
„Ich war das nicht“, meinte sie und hob abwehrend die Hände.
Ich riss mich zusammen und drehte mich in die andere Richtung des Ganges. Dort wartete kalter Fels. Die Tür war verschwunden. Wer hätte das gedacht?
„Hier können wir nicht lang“, entschied ich. Mit dieser Logik fing ich mir gleich drei strafende Blicke ein. Von Karat, Loge und von Laura.
Mirko zückte einen seiner Würfel und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wo er die her hatte.
„Wenn wir da nicht lang können“, er deutete auf den Gang, „dann müssen wir uns selbst einen Weg machen.“
Ich dachte daran, was sein Würfel bei dem Kampf angerichtet hatte. Doch bevor ich ihn aufhalten konnte, schleuderte er den kleinen Kubus mit aller Kraft gegen die Wand.
Ich seufzte. Man kann eben nichts dagegen machen, wenn man in einem kurzen Stück Gang eingesperrte ist und mit nichts weiter als der Gewissheit weiterleben muss, dass man gleich von einem riesigen Loch, ausgelöst von einem Miniwürfel, verschluckt wird.
Doch das Erwartete blieb aus.
Mehr oder weniger.
Anstatt den Naturgesetzen zu gehorchen und einfach auf den Boden zu prallen, klatschte der Würfel an die Wand und blieb hängen.
Dann löste er sich ein wenig und begann, sich zu drehen.
Risse zeigten sich in dem schwarzen Fels als dünne weiße Linien.
Langsam, unendlich träge lösten sich kleine Brocken aus der Wand uns wurden vom Würfel angezogen, der sie mit seiner Drehbewegung um seine eigene Achse schleuderte wie kleine Monde einen Planeten umkreisen.
Während sie so ihre Bahnen zogen, wurden sie immer kleiner und kleiner und gerieten immer mehr in die Nähe des Würfels, der sich schließlich erbarmte und mikroskopisch kleine Klappen öffnete, durch die die inzwischen Sandkorn- großen Steinchen herein flogen.
Nach und nach löste sich die Wand auf.
Aus den Haarrissen wurden klaffende Spalten und Löcher. Schließlich war ein Durch Gang von der Größe einer Tür freigelegt.
Interessanterweise war es eine Tür.
Und wie es sich für eine Tür gehörte, so öffnete sie sich auch gleich.
Was für ein Service, dachte ich, Die Türen öffnen sich, wenn man sie erst mal gefunden hat. Das ist praktisch.
Hinter der Tür war Dunkelheit.
Und dann war da noch etwas.
Eine Melodie.
Wundervolle Klänge und betörende Klangfarben durchzogen die Luft als dünne Fäden.
Einige Geräusche waren farbenprächtige Schnüre, an denen die Noten wie silberne Glocken hingen. Andere waren graue Klumpen, die schwerfällig durch die Dunkelheit streifte und dumpfe Geräusche von sich gaben.
Und alle bildeten ein... Muster.
Ich erinnerte mich an das Netz aus Drähten, das May genutzt hatte, um Mirko zu fangen und ihn an die Decke zu haften.
Doch dies hier war anders. Nicht so schön wie ein Spinnennetz, sondern... unbeschreiblich wundervoll.
Blaue Streifen mit silbernen Intarsien umschlagen ein rotes mit goldenen Beschlägen geschmücktes Glockenspiel. Die bildliche Verbindung von einem Donnerschlag und einer kleinen Sinfonie durchstieß einen der großen Klumpen, der unter Klingel und Klirren in Milliarden glitzernde Steinchen zerbarst.
Geometrische Figuren als Melodien und interessant verknotete und verworrene Schleifen als Fanfarenstöße und Querflötenlaute umkreisten einander und verwickelten sich in einer Art, wie es nicht möglich war, sie wieder zu lösen. Sie begannen zu zittern, so in einem Ball aus Klang und verschmolzen zu etwas vollkommen neuem. Es war ein Kreis aus Punkten. Jeder in einer anderen Farbe und Größe. Alle kreisten um einen unbekannten Mittelpunkt und zerplatzen schließlich gleichsam einem bunten Funkenregen, als einige graue Trommelschläge beschlossen, die sphärischen Klänge zu durchbrechen.
Plötzlich verschwanden die Geräusche.
Und dann Licht.
Ein einzelner Scheinwerfer erleuchtete ein kleines Podest.
Und darauf lag etwas Eckiges.
Eckig.
Und nicht gerade groß.
Es war offen.
Und man sah weiße Flächen.
Umrahmt von darunter hervor sehenden schwarzen Kanten.
Beschrieben mit etwas, von dem ich hoffte, dass es getrocknete rote Farbe war.
Ich denke ich bin deutlich genug geworden.
Jeder dachte etwas anderes. Und man konnte es in ihren Gesichtern lesen wie in einem einfachen Buch für, sagen wir... Kindergartenkinder.
Ramade dachte eindeutig: Was ist denn das?
Im Gegensatz zu ihm hatten Loge und Kasse so etwas schon mal gesehen und dachten: Buch?
Ameno dachte vermutlich kaum etwas, genauso wie Mirko, Laura, May, Claire und Karat.
Kira schien daran zu denken, was das für ein Buch sein mochte.
Ich dachte: warum liegt ein Buch in einem dunklen Raum auf einem von nur einem Licht erhellten Podest?
Auf dem Sockel war ein unmissverständliches Symbol eingemeißelt. Der Totenkopf war so unumstößlich einfach zu interpretieren, dass es schon fast zu leicht war.
Und dann dachte ich: Was soll das? Ein Buch? Einsam und allein? Auf einem Podest, wie ausgestellt? Das musste eine Falle sein.
Ich spürte plötzlich Metall unter meinen Fingern. In meiner geschlossenen Faust.
Als ich daran hinab sah, entdeckte ich das seltsame Zeigerschwert.
Es hatte mir bisher nützliche Dienste geleistet, im Kampf gegen Karat.
Kira hatte ein Zahnrad in der Hand, so groß wie eine Kuchenplatte.
Vor Ramades Gesicht drehte sich die goldene Kugel.
Loge und Kasse hatte ihre Reifen (wie hatte Jika sie genannt? Iriagniringe?) in ihren Händen und schauten ziemlich verständnislos.
Alle hatten ihre Waffen in der Hand.
Und in ihren Kindergartenkinderbilderbuchgesichtern las man, dass sie nicht dafür verantwortlich waren.
Mit einem Mal begann das Schwert in meiner Hand zu vibrieren. Nur ganz leicht, doch es steigerte sich merklich, je länger ich es an der Bewegung zu hindern versuchte. Es wollte irgendetwas.
Es wollte irgendwo hin.
Zu dem Buch auf dem Totenkopfsockel.
Ich sah verzweifelt zu den anderen hinüber, doch die hatten ähnliche Probleme mit ihren Waffen.
Und dann veränderte sich die Umgebung.
Plötzlich war da nicht mehr das altbekannte, schon fast beliebte Schwarz.
Mit einem Male wirbelten rote Schwaden um das Podest. Aber es sah falsch aus.
Nicht wie die schönen Melodien vorhin, sondern eher bedrohlich.
Es wirkte, als würde das Rot nicht wirklich sein, sondern wäre nur auf den Boden und die Wände, die Decke gemalt. Wie projiziert. Wie ein Film.
Schwarze Schatten huschten in dem wirbelnden Wolkenrot.
Dann wurde mir mein Schwert aus der Hand gerissen. In hohem Bogen flog es auf das Buch zu und versank darin wie in einem kleinen Teich. Die Seiten kräuselten sich ein wenig.
Verzweifelt stürzte ich meiner einzigen Waffe hinterher, doch die Seiten waren nur Seiten.
Papier.
Beschriebenes Papier.
Und ich wusste, dass es keine Illusion war.
Ein Sirren ertönte, hoch und schrill.
Jemand schrie eine Warnung.
Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig unter dem heran sausenden Zahnrad hinweg.
Auch Kiras Waffe tauchte ohne Probleme durch die Seiten in die Welt dahinter.
Keine Illusion!
Das konnte nur eine Illusion sein, aber das war es nicht!
Es war einfach viel zu echt.
Ich sank am Podest zusammen, den Totenkopf im Rücken. Meinen Kopf vergrub ich in meinen Armen. Ich hörte hinter mir oder vor mir oder von wo auch immer ein Schluchzen.
Ich sah nicht hin. Ich wusste, dass eine weitere Möglichkeit hier raus zu kommen in einem blöden Buch verschwand.
Schluchzen. Platschten wie von kleinen Wellen.
Ich konnte sie alle gut verstehen.
Es war, als würde mir ein Stück meines Herzens herausgerissen.
Etwas von mir selbst war verschwunden.
Wieder Platschen, dann ein leises Weinen.
Einfach weg.
Ich schaute auf.
Alle kauerten am Boden. Kira lehnte wie bewusstlos an der Wand, die von Rot und Schwarz durchzogen wurde.
Und dann war da etwas anderes.
Etwas Absurdes.
Eine Erinnerung.
An etwas.
An den Traum.
Ich hörte, wie der Wind um das Haus strich. Als ich aus dem Fenster sah, klapperten kahle Äste an das Glas. Doch es waren keine Äste, sondern Finger. Kalte, glitzernde Finger aus Metall. Sie klopften gegen die Fenster, als wollten sie hinein. Dann änderten sie ihre Taktik und lockten mich mit gekrümmten Händen.
Ihre grinsenden Fratzen gierten nach mir. Ich konnte fühlen, wie sie mich mit blicklosen Augen anstarrten, die Gesichter nur Totenschädel. Wie Masken. Rote und baue Haare wippten im Wind, der sie an die Außenwand drückte. Scharfe Krallen rissen an dem Rahmen, der das Fenster umgab. Ich hoffte, dass er hielt.
Schließlich waren sie im Zimmer. Sie kamen als unheimliche Schatten aus den Wänden, tropften als schwarze Flüssigkeit zu Boden und verdichteten sich zu klirrenden Gegnern, die man nicht besiegen konnte. Sie waren überall.
Mit wackligen Knien stand ich auf.
Stellte mich aufrecht hin.
Versuchte stehen zu bleiben.
Tränen rannen über mein Gesicht.
Heiße, kleine Tropfen wie geschmolzenes Eisen.
Ich sah sie an.
Es waren hunderte.
Tausende.
Sie warteten hinter den roten Schwaden.
Klopften leise mit metallenen Fingern an die Wand.
Aber diesmal war da kein Fenster.
Kein Glas dazwischen.
Kein gar nichts. Nur rote Wolken
Und einer hob die Klauen und riss sie wieder herunter.
Die rote Schwade, vor der das Etwas stand, zerfaserte in pure Finsternis und passte sich perfekt in den Hintergrund ein.
Andere machten es ihrem Kollegen mit fliegenden Klauen nach. Weitere Wolken zerfielen.
Und dann konnten sie herein.
Herein.
Ich stand hier. Und sie da.
Sie starrten mich nur aus leeren Augenhöhlen an. Ihre roten und blauen Haare wippten in einem unvorhandenen Wind.
Ich taumelte.
Mir fiel auf, dass ich komplett wehrlos war.
Und alle anderen noch mehr. Sie lagen zusammen gekrümmt auf dem inzwischen schwarzen Boden und klammerten sich an alles, was ihnen blieb:
Die Hoffnung.
Ich verfluchte mich dafür, nur noch so etwas Lächerliches wie Hoffnung übrig zu haben.
Ich sah es zu spät kommen.
Hätte ich es gesehen, hätte ich die Arme hochgerissen und die allerletzte Kraft, die mir noch blieb, an Hoffnung verschwendet.
Menschen sind ja so was von leichtgläubig.
Ich wusste, wie der Tod war.
Ich kannte das Sterben.
Das Erinnern.
Das Hoffen, dass alles nur ein Fehler war.
Ich wusste, wie es sich anfühlte, einfach nicht mehr zu existieren.
Aber ich bin immer wieder aufgewacht.
Immer kurz vor dem Licht.
Blumen blühten auf der anderen Seite des Lebens.
Es waren schwarze Blumen auf einer Wiese und ich stand am Rand.
Eine alte Frau stand am anderen Ende der Wiese und schüttelte den Kopf.
Langsam bückte sie sich und pflückte eine schwarze Lilie aus den hunderten.
Dann warf sie sie hoch in die Luft und ich sah zu, wie sie von unsichtbaren Winden davon getragen wurde.
Direkt auf mich zu.
Mit einer Hand fing ich die schwarze Lilie auf und betrachtete sie eingehend.
Eine normale Lilie. Nur eben tiefschwarz.
Ich blickte zu der Frau, die sich umdrehte und langsam zu verblassen begann.
Sie wurde immer undeutlicher.
Ihre Konturen begannen zu schimmern und zu glitzern.
Funkelnder Staub wurde davon geweht.
Dieselben Winde, die die Lilie zu mir getragen hatten, brachten mir nun den goldenen Staub, der sich wie von selbst auf die Lilie legte.
Die Lilie erblühte.
Von einer Knospe zu einer Blüte in wenigen Augenblicken.
Ich hatte nicht gesehen, dass sie noch so jung war, dass sie erst eine Knospe war.
Doch nun wurde sie immer größer.
Offenbarte mir ihre prächtigen schwarzen Blütenblätter.
Und dann sah ich tief in die Blume hinein.
Ganz tief.
Und sah mich selbst auf einer Wiese stehen.
Auf der Wiese blühten lauter schwarze Blumen.
Ich sah mich die Hand öffnen.
Auf meiner Hand lag eine kleine Münze.
Klein und pechschwarz.
Ich wusste, wie der Tod war.
Wie kalt und endgültig.
Für die Ewigkeit geschaffen.
Ich hatte ihm einmal ins Auge gesehen.
Ihn wieder verlassen.
Irgendwie.
Tausende male bin ich danach noch gestorben.
Tausend Tode.
Doch das waren alles nur Träume.
Einmal richtig gestorben zu sein, zeichnet einen fürs Leben.
Und meines war nun vorbei.
Vorbei?
VORBEI?
Nein.
Nein!
NEIN!
NEIN!
NEIN!
Nicht vorbei.
Es ist ein Tod.
Ich bin bereits gestorben.
Damals.
Da waren der Hinterkopf von meinem Vater und der Hinterkopf von meiner Mutter.
Und da war... etwas anderes.
Da war...
Da war... ein Schloss.
Ein großes, dunkles Schloss.
Und dann war da noch...
Der Tod.
Das ewige Schlafen.
Und dann bin ich aufgewacht.
In dem Waisenhaus.
Und dann bin ich aufgewacht.
Naja... was gab es schlechteres für ein Ende einer Geschichte, als dass alles nur ein Traum war?
Aber ich wachte auf.
Ich sah die Bettdecke wie eine weiße Schneelandschaft vor mir. Ein unüberwindbares Gebilde, eine unbezwingbare Bergkette.
Ich seufzte und setzte mich auf.
Dann wartete ich ein wenig. Nur um des Momentes Willen.
Ich schwang die Beine über die Bettkante. Dabei verrutschte das Kopfkissen ein wenig.
Wisst ihr, es gibt im Leben Momente, die man einfach mit Musik unterlegen kann. In diesem Falle war es eine langsame, drohende und unheimliche Melodie. Sie hätte in dem seltsamen Raum vermutlich etwa so wie ein großer Ball ausgesehen. Riesig, beinahe gigantisch. Und pechschwarz. Schwarz wie die Lilien in dem seltsamen Garten, der von der alten Dame bewacht wurde.
Schwarz wie... Lilien. Schwarz wie... Die Welt. Schwarz wie... eine Höhlendecke.
Und Schwarz wie... eine Münze.
Eine kleine, tiefschwarze Münze, die aus purer Dunkelheit gemacht worden war.
Und eine kleine, tiefschwarze Münze, die unter einem schneeweißen Kopfkissen hervor schimmerte.
Ich nahm sie vorsichtig in die Hand und wog sie ab. Sie war ungefähr so groß wie... eine Münze und wog in etwa so viel wie eine Büroklammer.
Nachdenklich und immer noch auf die Münze starrend, stand ich vollends auf und ging zum Bücherregal. Dort nahm ich das erstbeste Buch heraus und schlug es auf.
Es war leer.
Wer stellte leere Bücher in ein Regal?
Aus einer Laune heraus legte ich die schwarze Münze auf die gelbliche Seite.
Es war, als ob sie auf einem Schalter zur Ruhe gekommen wäre. Und der Schalter löste eine Falltür aus, die wiederum den Blick freigab auf ein Loch im Buch.
Es war ein tiefes Loch.
Verwundert schaute ich auf den Buchdeckel, doch der war unversehrt. Nur die Seiten waren etwas zehn Zentimeter tief eingedrückt worden, so dass ein rechteckiger Schacht entstand, der einfach unbegreiflich tief war.
Die Münze lag daneben.
Der Schacht sah aus wie... ein Münzschlitz.
Natürlich war klar, dass dieses Buch nicht irgendwelche Münzen annahm, sondern nur diese eine, pechschwarze.
Und natürlich konnte ich dem Drang nicht widerstehen und steckte sie hinein.
Sie fiel.
Und fiel.
Ich sah ihr hinterher, wie sie in eine andere Welt sauste. Immer weiter fort, bis auf das Licht am Ende des Tunnels zu.
Es war albern.
Aber ich schlug das Buch zu und öffnete es wieder. Der Schacht war immer noch da.
Mit flinken Fingern blätterte ich einige Seiten um und sah auf ihnen nach einer Fortsetzung nach. Doch da war nichts. Es waren nur leere Seiten in einem Buch, das gerade meine Münze gefressen hatte.
Ich schüttelte und kippte das Buch hin und her, so dass die Schwerkraft es eigentlich hätte bestimmen müssen, dass eine Münze heraus fällt.
Ich schrie es an: „Gib mir meine Münze wieder. Ich brauche die noch!“
Ich brauche sie noch?
Na, wenn ich das sagte, klang es so, als wüsste ich, was ich da redete.
Aber ehrlich gesagt, hatte ich ja keine Ahnung, was ich da von mir gab.
Doch wer wusste, o ich sie nicht vielleicht doch noch gebrauchen konnte?
Ich klappte das Buch wütend zu und sah mich im Zimmer um.
Zimmer: Sessel, Tisch, Stuhl, Bett, Regal.
Regal: Bücher, Bücher, Bücher, Buch, das Münze gefressen hat.
Buch, das Münze gefressen hat: seltsamer Münzschlitz.
Münzschlitz: meine Münze!
Ich nahm ein weiteres Buch aus dem Regal und schlug es auf. Es war ein wenig größer und deshalb schien es mir auch logisch, dass es einen größeren Schacht enthalten musste.
Schacht. Ja, da war er. Gerade so groß, dass ich...
Mit einer einzigen Handbewegung knallte ich das Münzen fressende Buch zu und stopfte es in das zweite Buch.
Meine Erwartung ging nicht direkt auf, ich hatte ehrlich gesagt überhaupt nichts erwartet. Und schon gar nicht das.
Grüne Funken stoben auf, als die Uhr erschien.
Sie war einfach da, erst ein wenig blass, dann immer fester und schließlich komplett da.
In ihrer Mitte pulsierte weiterhin der Nadelball, aber er war ein wenig größer als sonst. Mit einem Finger stupste ich ihn vorsichtig an.
Plötzlich erzitterte das kleine Stachelherz und explodierte.
Doch die Nadeln kamen nicht weit, sondern blieben im äußersten Ring stecken.
Nun kreiste in der Mitte... die schwarze Münze.
Interessant.
Wie war sie dahin gekommen?
Kaum hatte ich die Frage in Gedanken ausformuliert, verschwand die Uhr.
Ich streckte mich.
Jetzt war also alles wie vorher.
Es war gerade keine Uhr da und die schwarze Münze war auch weg.
Sehr schön.
Blieb noch...
Das Sterben.
Ich war gestorben.
Dessen war ich mir sicher.
Ich hatte dort gestanden und war umgebracht worden. Das war... Kira! Was war mit Kira los?
Sie war doch ganz alleine in dem unheimlichen Raum zurückgeblieben. Mit all diesen seltsamen Kreaturen.
Ich stürmte durch mein Zimmer, riss die Tür auf und prallte zurück, als ich Jika gegenüberstand. Er hielt die Hand so, als wollte er gerade anklopfen: eine Faust, etwa auf Höhe meiner Brust.
Erst jetzt fiel mir auf, dass er viel kleiner war als ich. Und da ich eine etwas geringere Körpergröße hatte als Loge und Kasse, musste das bedeuten, dass die beiden von einem Winzling in Grund und Boden gebrannt wurden.
Nun sah der Winzling zu mir hoch. „Sir Ligon schickt mich. Du sollst...“
„Jaja ich weiß schon. Ich soll in den großen oder losen oder was-auch-immer-Saal kommen, nicht?“
Nicken.
„Dann teile bitte Sir Ligon mit, dass ich gerade keine Zeit habe, um ihn zu treffen. Ich muss Kira retten!“
„Retten? Wovor?“, fragte Jika interessiert.
Ich rang verzweifelt mit den Händen. Raufte mir die Haare und antwortete: „Ich weiß es nicht.“
„Komm mit, ja? Sir Ligon wartet.“ Damit drehte er sich herum und ging auf die nächstbeste Tür zu.
Ich regte mich nicht.
Ich konnte Kira doch nicht einfach so alleine lassen.
„Aber, was ist mit...“, begann ich. Doch...
Jika stockte.
Er senkte den Kopf.
Plötzlich wirbelte er herum. Seine Stimme klang drohend, als er sagte: „Du willst nicht mitkommen?“
Ich zuckte zurück. Stolperte, doch ich hielt mich auf den Beinen.
Weiß glühende Funken tanzten in seinen roten Haaren. Feuerschlangen spielten um seine Handgelenke.
Er stand unheimlich wütend vor mir. Aber... es war doch nur Jika! Ein kleiner Junge!
Nein, korrigierte ich mich, Ich habe schon einmal gesehen, wozu er fähig ist. Ich sollte nicht zulassen, dass er, was immer er gemacht hat, an mir ausprobiert.
Widerwillig folgte ich ihm durch die weiße Tür.
Dahinter wartete Sir Ligon. Er saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch.
Vor dem Schreibtisch standen zwei Stühle.
Einen für mich, den anderen für...
KIRA!
Sie saß auf dem rechten Stuhl, den Rücken zu mir. Sie drehte sich nicht um.
War das alles nur ein Traum gewesen?
Ich ließ mir nichts anmerken, als ich mich neben Kira setzte.
Sir Ligon starrte uns abwechselnd an.
Durchdringend.
Ich dachte: Schule.
Sir Ligon ist der Rektor und wir haben etwas Verbotenes gemacht, weswegen wir nun bestraft werden.
Aber... wir haben doch nur seine Anweisungen ausgeführt. Es doch seine Schuld, dass wir... dass ich gestorben bin.
Sir Ligon räusperte sich kurz.
„Ich glaube“, begann er, „Ich glaube, ich muss euch etwas sagen.“
Er will sich bei uns entschuldigen, dass er uns in eine solche Situation geschickt hat! Er will sich dafür rechtfertigen! Sich herausreden!
„Ihr erinnert euch daran, dass ich gesagt habe, die Welt sei ein Buch... und es steht in einer Bibliothek?
Nun, das war nicht gelogen. Nur trifft es nicht auf diese Welt zu.“
„Was wollen Sie uns damit sagen?“, fragte ich. Es wurde mir ein wenig kalt. So fühlt sich also ein kalter Schauer an, dachte ich, ein Schauer, der einem den Rücken herunter läuft. Es fühlt sich an wie eine dicke, fette schwarze und glitschige Raupe mit einer enormen Geschwindigkeit.
Ekelhaft.
„Ich will damit sagen, dass diese Welt eigentlich nicht existiert.“ Er sah uns an und entschloss, etwas weiter auszuholen.
„Was wisst ihr über den Schicksalsspieler?“, fragte er.
Ich war verwirrt. Schicksalsspieler? Was sollte das sein?
„Also nein. Ich werde es euch erklären.
Der Schicksalsspieler ist in dem Sinne das Schicksal selbst. Aber weil er nun einmal er ist, kann er nicht das Schicksal sein.
Der Schicksalsspieler übernimmt die Aufgabe des Lebens.“
Sir Ligon raufte sich die Haare.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich es euch zeige.“
Er stand auf und ging zur Tür.
Mit einer Handbewegung bedeutete er uns, ihm zu folgen.
Wir sahen uns einmal kurz an, um ganz sicher zu gehen, dass wir es waren, die ihm folgten. Man konnte ja nie wissen in einem Haus, das nicht existiert.
Wir traten durch die Tür.
Doch anstatt Dunkelheit empfing uns ein seltsam flackerndes Zwielicht.
Gleich darauf erkannte ich, was es war.
Lange Reihen von Regalen waren zu einem gigantischen System der Bücher angelegt. Ein Labyrinth, aus dem man selbst mit der ausgefeiltesten Technik nicht herausfinden konnte.
Man konnte zwar so weit sehen, dass die Reihen aus Bücherregalen in der Ferne zusammenlaufend im wabernden Staubteppich der Jahrtausende verschwand, doch ich wusste, dass das nur täuschte.
Sir Ligon, der immer noch die Hand erhoben hatte, um die Tür zu öffnen (selbige war übrigens verschwunden anstatt aufzugehen), senkte die Arme wieder.
Urplötzlich rasten wir los.
Komplett ohne Fahrtwind oder den geringsten Widerstand sausten wir durch die langen Reihen dahin. Bücher standen in den Regalen.
Bibliothek der Sterne.
Dies ist die Bibliothek der Sterne, dachte ich.
Abertausende Bücher lagern hier. Und in jedem befindet sich eine Welt.
Wir fliegen durch das ultimative Universum.
Was für ein interessanter Gedanke.
Nach einigen Momenten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, verlangsamten wir unsere Raserei und stoppten schließlich ganz knapp vor einer Tür.
Sie schien ein exaktes Ebenbild der Türen zu sein, die im weißen Haus das schlimmste Schicksal verbargen, was die Welt zu bieten hatte. Doch diese Tür war schwarz.
Ein silberner Stern mit neun Zacken prangte in einem verschlungenen Muster auf dem dunklen Holz. Und es schien sich zu bewegen.
Doch, ja. Ganz langsam veränderten sich die Linien, flossen um den Stern herum und hindurch, ohne ihn jemals wirklich zu berühren.
Die Tür klappte von ganz allein auf, ohne jegliches Zutun, wie es sich für eine magische Tür gehörte.
Was wird mich wohl erwarten?
Die Frage war einfach zu beantworten.
Es war seltsam, was jetzt passierte.
Wirklich eigenartig.
Dies ist die Bibliothek der Sterne.
Dies ist der Ort, an dem alle Welten aufeinander treffen.
Gefangen in Büchern, gebunden auf Papier harren sie einer Welt, die außerhalb einer Tasse liegt.
Ein Geruch von altem Papier liegt in der Luft. Millionen Jahre können hier nachgeschlagen, Äonen von Welten, Epochen längst vergangener Zeiten gefunden werden.
Und doch, obwohl alles real ist, gibt es diese eine Tür. Sie befindet sich am Ende des riesigen Raumes und beherbergt das Zimmer.
Dieses Zimmer ist nichts weiter als eine Illusion. Nur ein Trugbild.
Knarrend öffnet sich die Tür. Schatten kriechen aus dem entstanden Spalt. Staub wirbelt auf, als ob dieser Dreck sich darüber freuen würde, dass endlich jemand ihm Gesellschaft leistet.
Und in der Mitte eines Raumes, der nicht existiert, steht ein Tisch.
Nur ein Tisch.
Darauf befinden sich einige Gegenstände: Eine Tasse, neun Würfel mit jeweils neun Flächen, ein Kartenstapel aus neun Karten, eine Tasse, ein Buch und ein Schachbrett aus Dreiecken.
Eine Gestalt betritt das irreale Zimmer.
In dem grauen Staub bleiben keine Fußabdrücke zurück.
Das wäre nicht richtig. Nicht standesgemäß. Und langweilig.
Neben dem Tisch steht ein Stuhl. Er ist aus Plastik und sieht nicht gerade so aus, als würde er hier hin gehören.
Die Person flucht leise und setzt sich vorsichtig. Mit einem Seufzen erscheint ein neuer Stuhl. Für einen kurzen Moment überschneiden sich die Sitzgelegenheiten im Raum-Zeit-Kontinuum. Doch dann verschwindet der Plastikklappstuhl und der große Sessel nimmt den ganzen Platz ein. Ohne überhaupt einen Laut von sich zu geben, flackert eine der Kerzen auf, die an der Wand entlang angebracht sind. Einige der anderen Beleuchtungen tun es ihr nach und schon bald ist der ganze Raum erhellt vom zitternden Schein einiger Wachsstöckchen. Doch die Atmosphäre wirkt nun ein wenig geheimnisvoller, unheimlicher, verschwörerischer.
Die Person betrachtet die Gegenstände auf dem Tisch.
Sie zögert. Dann nimmt sie die Karten zur Hand. Mit der anderen Hand ergreift sie die Würfel. Bedächtig wiegt sie sie gegeneinander ab und entscheidet sich für das Schachbrett. Mit gekonnten Bewegungen setzt sie die silbernen Figuren auf die ein Seite und die goldenen auf die andere.
Dann legt sie die Hand die Mitte.
Die Person sagte etwas.
Eine graue Staubwolke schaffte es, sich etwa einen halben Meter vom Boden zu erheben, als die in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt mit einmal verschwindet und nichts als ein sehr stabiles Vakuum zurücklässt, das jedoch nicht genug Bestand hat und sich sofort in pures Licht auflöst.
Die Kerzen starren beleidigt auf die verlassene Stelle, in deren Nähe sich auf einem Tisch einige Karten in die Luft erheben und wie wild um einen unbestimmten Mittelpunkt kreisen.
Um ihre Scham über die Niederlage in dem ewigen wer-strahlt-heller-Spiel zu verbergen, erlöschen die Kerzen eine nach der anderen. Zurück bleibt nur Staub, der leise kichernd seinen alten Platz auf dem Boden einnimmt.
Und irgendwo, in einer anderen Welt erklingt mitten in der Nacht ein Schrei...
Die Worte klangen in meinen Ohren nach, als würden sie einfach den Umstand ignorieren, dass es sie gäbe.
Und dann das, was die Gestalt zu mir gesagt hatte.
Wir sehen uns, Kumo, Bis Bald.
Was sollte das bedeuten?
Ich spürte, dass mir eine Hand auf die Schulter gelegt wurde. Ein weißer Handschuh bedeckte die Haut, doch ich wusste auch so, wer es war.
Sir Ligon zog mich ein wenig zurück. Vermutlich tat er mit Kira das gleiche.
Und schon rasten die endlosen Reihen an Büchern wieder an uns vorbei. Aber ich sah nicht, wohin es ging.
Bemerkte es einfach nicht.
Bis wir wieder auf unseren Stühlen saßen. Sir Ligon an dem großen Schreibtisch vor uns. Er stützte seinen Kopf auf die Hände.
„Das war der Schicksalsspieler. Er lenkt den Lauf der Ereignisse in die richtige Richtung.
Ihr habt gesehen, wie er verschwand. Das war aber nicht alles, was er kann. Ihr habt vermutlich die Karten bemerkt? Auf einer dieser Karten war dieses Haus.
Die Würfel. Auf ihnen sind Zahlen eingraviert. Es sind Lebensspannen, meine Kinder.
Das Schachbrett. Es stellt die Welt da. Alle Welten. Die einen Figuren sind die einen Menschen, die anderen die anderen. Und beide sind wichtig für das Spiel.
Damit der Schicksalsspieler das Spiel gewinnen kann, muss er alle Figuren auf dem Brett nutzen. Diese Figuren sind enorm wichtig für das Gelingen. Denn obwohl die Figuren nur Figuren sind, bewegen sich die Menschen, die sie darstellen in einem unvorhersehbaren Kreis aus Ereignissen, den der Spieler nur schwerlich steuern kann.
Der Spieler hat gewaltige Kriege entschieden, indem er einfach nur eine Figur auf dem Brett einen Schritt nach vorn gesetzt hat.
Der General, der dazu gehörte, starb zwar, aber dafür konnte der Krieg gewonnen werden ohne großes Blutvergießen.
Dieser Krieg ging in die Geschichte der Welt ein als der große Krieg von Arkanthanon.
Wäre dieser Krieg anders verlaufen, wäre die Welt im Chaos versunken. Das Buch dazu hätte nicht mehr existiert.
Aber das ist die Aufgabe des Spielers. Er muss die Bücher der Welten schützen. Er muss sie davor bewahren, zu zerfallen, selbst wenn dadurch die Welt leer und unbewohnbar wird.
Ich habe euch gerade erzählt, dass der Spieler die Welten beschützt. Aber ihr müsst auch wissen, dass er niemals eingreifen würde.
Er setzt nur die Figuren auf dem Brett, die das Spiel für ihn entscheiden.
Und für die Welt.“
Sir Ligon machte eine Pause.
Ich nutzte die Gelegenheit, um etwas zu fragen.
„Er setzt also die Figuren? Und wenn sie sich entscheiden, nicht zu gehorchen?“
„Dann muss der Spieler umdenken. Muss seine Strategie ändern. Aber letztendlich ist es alles dasselbe.“
„Ist der Spieler für die Wesen verantwortlich?“
Sir Ligon durchbohrte mich mit seinem Blick.
„Welche Wesen?“
„in dem Raum mit dem Buch. Ich dachte, Ihr wüsstet davon.“
„Das Buch? Welches Buch?“
Spielte er jetzt nur den Unschuldigen?
„Das Buch, das unsere Waffen gefressen hat. Seltsame Wesen sind durch die Wände gekommen und haben mich angegriffen. Und dann war da dieser Garten, der...“
Sir Ligon sprang auf.
„Garten?!“, schrie er entsetzt.
„J...Ja. Da war ein Garten mit schwarzen Lilien.“
Sir Ligon sank langsam in seinen Sessel zurück.
„Ihr seit schon dort gewesen“, flüsterte er heiser, sich die Augen reibend, „Ihr seit schon dort gewesen. Warum seit ihr schon dort gewesen?“
Ich sah verzweifelt zu Kira. Normalerweise gab mir ihr Blick Stärke. Er gab mit Mut, um mein Leben zu bewältigen. Aber nicht jetzt.
„Das... das war alles nicht geplant.“
Geplant?
Ich schaute wieder zu dem rot gekleideten Mann. „Was ist los? Was ist passiert? Haben wir was Schlimmes getan?“
„Es ist... es ist alles falsch“, murmelte Sir Ligon, „Alles falsch.“
Dann wandte er sich wieder uns zu.
„Ihr solltet eigentlich noch einige Monate hier bleiben. Ihr solltet trainieren, um euch vorzubereiten. Aber dafür ist nicht mehr genug Zeit. Ihr müsst euch beeilen.“
„Was ist los, verdammt noch mal?“, fragte ich. Ich wurde allmählich wütend.
Sir Ligon lachte.
„Ihr werdet zu Figuren auf dem Schachbrett. Ihr werdet hinausgehen in die Welt und um eine Welt kämpfen.“
„Wir sollen WAS?“
„Ihr werdet kämpfen.“
Zu schnell, dachte ich, es ist zu schnell. Geschichten. In Geschichten bekommt der Held immer eine Vorbereitungszeit oder wird direkt in den Kampf geschickt, nur, weil er eine besondere Fähigkeit hat. Aber das hier, das geht zu schnell. Wir sind nicht darauf vorbereitet, zu kämpfen. Und wir haben keine besondere Fähigkeit.
Oder doch? Die Kardien...
„Aber unsere Waffen wurden von einem blöden Buch gefressen!“, warf ich ein. Eigentlich nur, um nicht weiter nachdenken zu müssen.
„Ihr habt doch noch eure Kardien, oder?“
„Aber Sie sagten doch, sie seien unsere Herzen! Damit kann man nicht kämpfen!“
Sir Ligon stand auf. Ganz langsam.
Er ging wieder zu der Tür.
Er öffnete sie.
Und da war er wieder: Der Blick von Kira. Und sie schien mir nicht verängstigt zu sein. Nicht einmal leicht erschauert.
Nicht einmal... ja, was denn?
Die Tür, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.
Kleine Stimme, zart und fein.
Wirst du gleich ganz stille sein.
Blödes Gedicht.
Wieso fiel mir so etwas immer in den unpassendsten Momenten ein?
Ich erinnerte mich.
An... den Unfall. Den Hinterkopf meiner Mutter. Den Hinterkopf meines Vaters.
Und auch da war auch auf einmal eine kleine Stimme.
Wenn die letzte Hoffnung stirbt
Weil der Winter nimmt ihr Leben
Noch Kälte in den Herzen klirrt
Wird es nie mehr Leben geben...
Ich spürte etwas von außerhalb meiner Gedanken. Etwas, das zu meinem Körper gehörte.
Kira schüttelte mich.
Ich öffnete die Augen und sprang auf.
„Sir Ligon ist da rein. Wir sollten ihm folgen“, sagte ich mit fester Stimme und deutete auf die Tür, durch die der rote Mann gegangen war.
Sie nickte kurz und wir gingen zusammen zu der Tür.
Noch gestern wären wir ganz ohne Angst durch eine weiße Tür gegangen, doch dieser Anblick, Das Aussehen dieser Armee von fremdartigen Wesen, das hatte sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt.
Zusammen ergriffen wir den Türknopf und drehten ihn. Mit dem Ergebnis, dass die weiße Tür sich in Schwärze auflöste.
Es war... nicht weiter verwunderlich, dass das passierte.
Aber es war unheimlicher als gestern.
Dahinter konnte alles warten.
Doch dahinter war, wie zu erwarten war, nicht alles.
Nur etwas.
Oder... in einem gewissen Sinne alles.
Hellblaue Dunstschleier krochen über den Boden und ringelten sich um unsere Füße. In dem wirbelnden Rauch glitzerten kleine silberne Funken.
Der Himmel war aus Finsternis gezimmert und die Wände aus Dunkelheit gepresst.
Nur der Boden war... wie eine Wolke.
Nicht komplett fest, es fühlte sich an, als ginge man auf Federn.
Gerne hätte ich es mit Moos verglichen, so weich und wattig wie es war.
Doch ich war nie auch nur in die Nähe von dem weichen Pflanzenzeug gekommen. Das lag zum einen an einer gewissen Mumie, zum anderen an der ständigen Trockenheit, die das Waisenhaus umgab wie eine Todeszone. In dieser Zone, die gewissermaßen einer Grenze gleichkam, konnte nichts wachsen, nichts gedeihen, nichts blühen.
Nur schmerzhafte Brennnesseln und stechend prickelnde Disteln wurden geduldet.
Kein Moos, nur Watte.
Wohlig warm säuselten mir die silbernen Funken Geschichten zu.
Hunde retteten kleine Kinder aus brennenden Gebäuden, die zu gefährlich waren für den schleimigen Feuerwehrmann.
Dort waren hohe Türme, wie von Schlössern, die alles überragten und in deren Eingeweiden trauernde Jungfrauen auf die Rettung von außerhalb warteten, weil sie zu faul waren, den Turmschlüssel zu benutzen, der neben der Tür hing.
Ich sah feuerspeiende Drachen, riesige Ungetüme, so hoch wie ein Haus, schlängelnde Drachen, gespaltene Zungen, große, grüne Ungeheuer.
Ich beobachtete Helden auf edlen Rössern, die nicht wussten wohin mit der einen Gehirnzelle.
Ich sah wundervoll gekleidete Frauen, die nur mit einer Küchenrolle bewaffnet einen Riesen zerschlugen, den König retteten und allen Männern zeigten, was es bedeutete, eine Frau zu sein.
Ich sah die schönsten Landschaften mit grünen Bäumen, saftigen Wiesen und blauen Himmeln.
Andere Planeten, so bunt wie ein Regenbogen oder so trostlos schwarzweiß wie das Gefängnis, in dem täglich hunderte Menschen zu Tode gefoltert wurden.
Ihr wollt wissen, wo meine Geschichte beginnt?
MEINE Geschichte? Die von Kumo aus dem Waisenhaus, der schon zweimal gestorben ist?
Meine Geschichte beginnt in einem von diesen kleinen Funken.
Stimmen wisperten mir die Zeilen zu, die mein Gehirn durchspülten und es so gründlich durcheinander brachten, dass ich kaum mehr denken konnte außer an diese Zeilen.
Wenn dann doch der letzte Traum
Überlebt in Schicksals Händen
Ja, dann wird in diesem Raum
Weiter Schicksal Karten wenden
Als Kira mit zitterndem Finger auf die Gestalt vor uns deutete, wurde mir schlagartig bewusst, was es hieß, urplötzlich aus einem Gedanken gerissen zu werden.
Es ist ein schlechtes Gefühl. Ein Stück von dem Gedanken bleibt in der Erinnerung hängen, der andere Teil versinkt im Fluss der Gedanken.
Ich sah Sir Ligon.
Er stand mit ausgebreiteten Armen einige Meter vor uns.
Sein Körper verdeckte die Quelle des schimmernden Dunstes. Es war ein Brunnen.
Er war ein aus dunkelblauen Steinen gebauter Steinkreis, in dem Wasser zu kochen schien.
Ständig platzten Luftblasen und enthüllten ihr Inneres indem sie es einfach ausspien. Mit jeder zerstörten Wasserkugel kam ein wenig Nebel auf dem Boden hinzu und es fiel eine neue Geschichte in den blauen Dunst.
Kurz vor meiner Nase explodierte in einem Sturm aus blauen Schwaden ein Bild von einem riesigen Affen, der ein Hochhaus erkletterte, umflogen von Flugzeugen.
Sofort war es wieder verschwunden.
Kira und ich stellten uns neben Sir Ligon, jeder auf eine Seite.
Und wir sahen in den Brunnen.
Tief hinein.
Gesichter lächelten mich an. Doch es waren nur Dunstschleier, die langsam zerfaserten.
Hände streichelten meine Wangen. Aber sie lösten sich in kleine Wolken auf.
Dann schnitten mich Klingen. Rissen meine Haut auf, so dass Blut in den Nebel fiel. Das war keine Illusion. Oder?
Ich sah, wie ein roter Tropfen den Nebel zerschnitt und... hängen blieb?
Plötzlich platzte eine Seifenblase direkt vor mir.
Grüne Funken stoben davon.
Grün?
Natürlich, grün!
Als sich das Etwas ein wenig stabilisiert hatte, erkannte ich auch, was es war.
Nicht, dass ich es nicht geahnt hätte.
Grüne Funken, die unter mysteriösen Umständen etwas preisgeben.
Die Uhr.
Doch sie sah anders aus.
So, wie ich sie in Erinnerung hatte, bestand sie aus einem Metallring, in dessen Mitte sich ein Nadelball am Leben hielt. Um den Ring herum waren Zeiger, die ohne jegliche Verbindung zur Uhr ihre Kreise zogen.
Dazwischen waren Zahnräder, die in die entgegen gesetzter Richtung flogen.
So hatte sie in meinen Erinnerungen gelegen.
Aber nun...
Sie hatte weiterhin den Metallring. Doch nun drehten sich die Zahnräder um ihre eigene Achse. Sie befanden sich zudem IM Ring und nicht außerhalb davon. Sie wirkten wie in einer richtigen Uhr.
Die Zeiger hatten bis vor Kurzen noch ihre unsichtbare Bahn verfolgt. Nun steckten sie in einem Fächer aus Nadel und drehten sich langsam in verschiedene Richtungen.
Aus irgendeinem Grund sah die Uhr nun mehr aus wie... eine Uhr.
Sie Ligon sah unter seinen Armen hindurch mich an.
„Na los, wo ist denn nun deine Waffe?“
Ich wollte protestieren, sie wäre von einem verdammten Buch gefressen worden, aber die Worte blieben mir im Halse stecken.
Stattdessen griff ich in den Brunnen und hole aus den unersichtlichen Tiefen eine Nebelschwade hervor.
Zitternd lag sie mir in der Hand. Sie wand sich und ringelte sich um mein Handgelenk.
Dann wechselte sie die Farbe.
Aus einem eisig kalten Hellblau wurde ein schimmerndes Grün.
Plötzlich legte sie enorm an Gewicht zu und veränderte zudem ihre Beschaffenheit.
Plötzlich lag wieder das Zeigerschwert in meiner Hand.
Altvertraut und so leicht wie eine Nebelschwade.
Doch es hatte sich ein wenig verändert.
Statt den Gravuren, die vorher die gesamte Klinge geziert hatten, prangte nun ein Muster aus Löchern und Ritzen an dem Metall entlang.
Und an dem Griff kreisten langsam einige Zeiger. Minivarianten des Originalschwertes.
Ich schwang es einige Male und hielt es dann vor mein Gesicht.
Durch eines der Löcher sah ich Kira, wie sie ihr Zahnrad bewunderte. Es glich nun mehr einer Waffe. Es war feiner geworden, dünner und hatte dieselben Löcher und Ritzen wie mein Schwert. Außerdem kreisten auch an ihm einige Zeigerchen.
Ich sah zu Sir Ligon.
Und ich dachte nach.
Wir werden in den Krieg ziehen.
Für jemanden, den wir nicht kennen.
Für eine Welt zu kämpfen, die man nie gesehen hatte, das war scheinbar in Ordnung.
Doch wie es schien, sollten wir bald einige Erfahrungen mit solchen Dingen machen.
Es war nur eine kleine Ahnung.
Ich drehte mich um und erblickte eine Tür, die anders war als die anderen.
Die anderen tauchten auf, verschwanden und man konnte dabei zusehen, wie sie sich auflösten.
Doch diese hier war einfach da und versuchte so auszusehen, als wäre sie es die ganze Zeit über gewesen.
Die Tür hatte auch noch andere, neue Merkmale, die sie von den anderen unterschied.
Es waren kleine Kerben, die etwas zu formen schienen...
Einen Kreis.
Aus Löchern.
Sie waren nicht sehr tief, gerade tief genug, dass sie zu erkennen waren.
Sie waren auch nicht sonderlich groß.
Gerade groß genug für eine Münze.
Münze, dachte ich.
Münze?
Prompt erschien die Uhr neben mir.
Sie drehte sich langsam um und offenbarte ihre Rückseite.
Bisher hatte ich mir nie die Mühe gemacht, eine magische, schwebende Uhr umzudrehen, um zu sehen, was sie auf ihrem magischen Rücken verbergen mochte.
Diese beherbergte eine kleine schwarze Münze, die sich so unauffällig wie möglich zu verhalten versuchte, indem sie wirkte wie ein außergewöhnliches Zahnrad.
Entschlossen riss ich sie aus ihrer Verankerung, achtete nicht auf die Uhr, die störrisch weiterlief, ignorierend, dass ihr ein Teil fehlte, stopfte selbiges in die Tür und wartete.
Da war sie nun.
Eine schwarze Münze in einer weißen Tür.
Kira schrie auf, als sie sie Münze bemerkte.
„Du... Du warst auch im Garten!“, rief sie, „mit den Lilien!“
Ich nickte.
Kira.
Meine Schwester.
Sie war mit mir gestorben.
Zwei Mal schon.
Bei dem Autounfall.
Und sie hat auch den Raum mit dem blöden Buch im Tode verlassen.
Verlassen?
Wie waren wir da überhaupt raus gekommen?
Nein, entschied ich mich, nicht drüber nachdenken. In Geschichten ist es immer ein Wunder. Und hinterher sind die Hexen daran schuld. Denke nicht über etwas Unvorstellbares nach, denn das ergibt keinen Sinn.
Ich bedankte mich schnell bei meinem Gehirn und schaute dann zu, wie Kira selbst eine Uhr beschwor und ihr eine Münze entnahm.
„Wo hast du die Uhr her?“, fragte ich.
„Das gleiche könnte ich dich auch fragen“, antwortete sie keck.
Ich zuckte mit den Schultern. Doch innerlich jubelte ich vor Glück. Das war meine Schwester, wie ich sie kannte.
Kein albernes Lachen wegen dem sicheren Tod, komischen Illusionen oder sonst was. Und sie ließ es sich nicht einmal gefallen, dieselbe Uhr zu benutzen wie ich. Sie wollte unabhängig sein und nicht ängstlich.
Kira.
Gut. Kurze Zusammenfassung.
Zwei Plätze mit Münzen besetzt von -ich zählte schnell durch- zwölf.
Ich hatte nur eine Münze bekommen.
Kira scheinbar auch.
Zwölf.
Ob ich mit den Zahnrädern aus der Uhr vielleicht...
Die Frage erübrigte sich.
Eine Hand schoss an meinem Ohr vorbei und traf auf das Holz der Tür. Als sie sich wieder zurückzog, steckte eine dritte Münze in einer Kerbe.
Eine zweite und dritte Hand streckten sich vor, stützten sich auf meiner Schulter ab und befestigten Münzen Nummer vier und fünf.
Weitere Hände kamen nach vorn und legten ihre Münzen in die Tür.
Schon bald waren alle Vertiefungen gefüllt.
Ich drehte mich um.
Da waren sie alle.
Loge und Kasse, die Feuerzwei, Ameno, die Schirmträgerin, Mirko mit den Würfeln, Laura mit ihren Nadeln und May mit den Drähten. Dann waren da noch Karat, die mich zum ersten Male anlächelte, Claire und Ramade. Und Jika.
Wir waren zu zwölft und hinter uns löste sich eine Tür auf.
Und dann drehten wir uns um.
Alle zusammen.
Ich dachte nach und sagte etwas:
Ferne Welt, wir kommen um dich zu retten.
Nichts ist schlimmer, als der Gedanke, dass man weit entfernt irgendwo auf der Welt ist. Weit entfernt von seinem Zuhause.
Und dann öffnet man eine Tür.
Man öffnet eine Tür, um nach Hause zurückzukehren.
Entweder ist es eine echte Tür, oder eine andere, einfachere. Man kann die Augen schließen und sich vorstellen, alles sei nur ein Traum. Man kann sich in den Arm kneifen, um aufzuwachen, was allerdings auch auf einer Vermutung beruht, die wiederum ihren Ursprung in der Traumthese hat.
Und dann gibt es noch eine Möglichkeit. Eine, die komplett anders ist.
Man kann eine Tür öffnen, die gar keine ist.
Wie zum Beispiel eine weiße Tür…
Es ist der achte Tag. Es ist das achte Kapitel meines Lebens.
Es ist aber nur der Anfang.
Ich bemerkte, dass ich lag.
Vor meinem Gesicht türmten sich weiße Bettlakenhügel in unvorstellbare Höhen auf.
Also war es nur ein Traum.
Der Traum von der sagenhaften Reise in ein fremdes Reich. Die Rettung aus den Klauen der Leiterin, Sir Ligon, die hundert Türen in einem weißen Gang, mein Tod.
Ich lag also wieder in einem Bett im Waisenhaus.
Aber… da war etwas Seltsames.
Es war etwas, was nicht recht hierher gehörte.
Angestrengt suchten meine Augen nach dem etwas, das falsch war. Doch ein anderes Etwas versperrte mir meine Aussicht auf mein seltsames Etwas.
Ein steinerner Traumfänger baumelte von der Decke.
Da wurde mir klar, was nicht stimmte.
Der Traumfänger war nur ein seltsames Etwas.
Eine weiße Daunendecke in dem Waisenhaus, in dem ich groß geworden war? Niemals.
Und ein Traumfänger, der aus Stein war und an der Decke nach möglichen Opfern Ausschau hielt?
Ein Bücherregal? Mit Büchern, die Münzen fraßen?
Im Waisenhaus hatten wir Regale gehabt. Aber es waren alte, klapprige Eisengestelle, in denen Werkzeuge vor sich hin rosteten. Werkzeuge, die wir für beispielsweise für die Reparatur der Heizung benötigten, oder der Lampen im dritten Stock, die alle zwei Stunden ausfielen, weswegen den ganzen Tag nur Dunkelheit dort herrschte.
Dem dritten Stock war übrigens auch der untrügliche Gestank zugrunde gelegt, der wie eine grün-graue Decke den ganzen Tag auf den Teppichen und Steinfliesen der Flure lag.
Der dritte Stock war ein Reich für sich, wenn auch ein Reich, das eher die Hölle war für alle Teufel, in diesem Falle ein grauer Kater, der mit glühenden Augen und einem permanenten Knurren in der kleinen Katzenkehle sein Revier verteidigte und jeden anfiel, der es wagte, einen Fuß in seinen dritten Stock zu setzen.
Zum Glück hatte der Kater nicht den kompletten dritten Stock in Beschlag genommen, sondern nur einige hundert Meter des Hauptflures, was die Sache nicht sonderlich verbesserte.
Im Nachhinein sollte noch erwähnt werden, dass der Kater mit den gelben Augen für den Gestank verantwortlich war. Er war nämlich mit der nervigen Eigenschaft gesegnet, eine Katze zu sein. Eine Katze, die Mäuse fing, sie dann aber unter dem dicken Flokatiteppich versteckte, wo sie anfingen zu gammeln und zu faulen. Es war keine sonderlich interessante Aufgabe, den Gang zu säubern, wenn der Gestank überhandnahm. Zudem gehörte zum Mäuse-suchen-Spiel auch noch das Mäuse-entsorgen-Spiel, das der Kater mit einer Würde verteidigte, die den anderen Mitspielern tiefe Schnittwunden und Hautabschürfungen einbrachte, die nur noch um so mehr brannten, je mehr der fürchterliche Mief der verwesenden Mäuseleichen in das Blut gelangte und erheblichen Schaden in den Atemwegen anrichtete.
Der steinerne Traumfänger schaukelte ein wenig, als ich ihn anstieß.
Ich hob den Kopf und schwang mich aus dem Flauschberg.
Flauschberg...
Als ob jemand mit einem Schaf um sich geschlagen hätte.
Ich streckte mich und sah mich im Zimmer um.
Holzfußboden, dunkle Wände aus...Holz, das weiche Treibsandbett, eine Truhe, in der wahrscheinlich Kleider waren.
Und der steinerne Traumfänger.
Wer kam eigentlich auf die bescheuerte Idee, einen Traumfänger aus Stein an die Decke zu hängen?
Traumfänger.
Fangen Träume.
Ein Bild blitzte vor meinen Augen auf.
Wölfe. Wasser. Blaue Welten, Menschen, die mit ihnen gingen. Eine Stadt. Unter Wasser?
So plötzlich wie es kam, war es auch wieder verschwunden.
Doch dann ein anderes Bild.
Im Gegensatz zu dem mit den Wasserwölfen war es eher eine Erinnerung denn eine Vision.
Eine weiße Tür.
Sie hatte Vertiefungen, gerade groß genug für eine Münze. Oder mehr.
Da waren Hände. Sie setzten schwarze Münzen in weiße Löcher.
Dann eine offene Tür.
Ich habe etwas gesagt...
Da war die Idee auch schon wieder weg.
Aber eine Gewissheit blieb: Ich war nicht mehr auf der Erde.
Ich ging langsam zur Tür und öffnete sie.
Dann streckte ich den Kopf aus der Tür und sah hinaus auf den Gang.
Holzvertäfelung.
Nicht gerade einfallsreich, aber eindrucksvoll.
Mein Blick wanderte nach links: Gangende: Wand: Holz
Mein Blick wanderte nach rechts: Gang.
Und im Gang stand Kira.
Ich ging auf sie zu, sie drehte sich um und stellte sich neben mich.
Ohne Worte verstanden wir, was der andere zu sagen hatte.
Zweifel, an sich selbst, an den Ereignissen, an der Logik der Dinge.
Sicherheit, dass wir nicht mehr auf der Erde oder im weißen Haus waren, dass es Dinge außerhalb dieser Welt gab.
Fragen, ob wir wirklich zweimal gestorben waren, ob das alles wirklich passiert war.
Mut zum ersten Schritt, zum Erobern einer neuen Erkenntnis, zum Vorausgehen.
Interesse an den Geschehnissen und... an dieser Welt.
Welt.
Bisher hatte diese Welt nur Holz und Plüschbetten dargeboten, was vermutlich daraufhin wies, dass man auch in dieser Welt die Möglichkeiten der Bequemlichkeit und der Folterung in einem einzigen Gerät versteckt hatte: dem Bett.
Nun, vor uns lag eine Tür – aus Holz versteht sich. Und hinter uns... vermutlich noch mehr Holz.
Hinter der Tür lauerten entweder Monster-aus-dem-Kleiderschrank oder Kekse (Oder Holz).
Kira drückte die Tür auf uns wir sahen... rein gar nichts.
Das war interessant.
Normalerweise sieht man immer etwas. Ein leerer Raum ist auch etwas, genauso wie Dunkelheit oder Luft.
Doch hier war einfach gar nichts.
Ich schloss die Tür und machte sie in die andere Richtung wieder auf, ich zog.
Es funktionierte. Nicht sonderlich gut, immer hakt etwas, was auch immer man tut, aber letzten Endes klappt alles.
Die Tür war offen und dahinter war diesmal etwas.
Etwas... das man so nicht erwartet hätte.
Es war - wie sollte man es anders sagen?
Holz.
Treppe.
Eine Treppe aus Holz.
Nicht mehr und nicht weniger.
Sie knarrte laut, als wir nebeneinander herunterstiegen.
Und unten... war ein Tisch.
Er war gedeckt für drei Personen und eine saß bereits dort.
Eine kleine, alte Frau. Sie lächelte über den Rand ihrer kleinen Brille hinweg und bot uns mit einer Handbewegung einen Platz an.
Wir setzten uns und sie deutete großzügig auf das Essen.
Essen. Das gab es scheinbar auch in dieser Welt. So weit, so gut.
Nachdem wir die mit Käse und Wurstähnlichem Etwas belegten Brote verspeist hatten, versuchte die Frau etwas zu sagen.
Bewusst steht hier das Wort „versuchte“, wir verstanden rein gar nichts.
Es war ein Singsang aus interessanten Silben, goldenen Worten und leuchtenden Buchstaben, die, ohne den Umweg über die Ohren zu nehmen, direkt im Gehirn ihren Platz einnahmen und es sich dort erst mal richtig gemütlich machten. Vor meinem inneren Auge kräuselten sich die bunten Töne aus dem besonderen Raum, doch das hier war etwas ganz anderes.
Dann, plötzlich, sprach die Frau richtig.
Nein, falsch, die Frau sprach nicht richtig, wir konnten es nur verstehen.
Sie grinste, als sie unsere erstaunten Gesichter bemerkte.
„Keine Sorge“, meinte sie, „Es war nichts wichtiges. Ich habe lediglich ein altes Gedicht rezitiert, damit sich eure Ohren an die neue Welt gewöhnen können, in Ordnung?“
Sie hüstelte kurz und fuhr dann fort: „Aber nun scheint das ja passiert zu sein, nicht wahr? Sehr schön.
Also. Ihr beide seit Kumo und Kira? Nett, euch kennenzulernen. Ich bin Oma Honig.“
Über den Tisch hinweg reichte sie uns die Hand und nacheinander schüttelten wir sie, wobei zumindest ich peinlichst genau darauf achtete, ihr nichts zu brechen, sie sah wirklich sehr fragil aus.
Ich fragte: „und wer sind Sie genau? Nicht Oma Honig, sondern warum sind Sie hier? Ich meine...“
„Ich weiß ganz genau, was du meinst, Jungchen. Ich bin Oma Honig. Aber das ist nicht alles, das hast du sofort erkannt, nicht wahr? Ohh, dein Gesicht spricht Bände.
Aber zuerst zu mir.“ Sie richtete sich auf, was an ihrer Höhe nichts änderte.
„Ich bin die unglaubliche Oma Honig. Seit Langem bin ich für die Menschen in der Stadt eine Art... Wahrsagerin. Eine Zauberin, eine Hexe. Eine weise Frau.
Oh, und weise bin ich tatsächlich. Schon Jahrelang stehe ich den Bewohnern der Stadt mit Rat und Tat zur Seite.
Doch nicht nur das.
Über den Schicksalsspieler wisst ihr vermutlich nicht allzu viel. Hm.
Mal sehen, wie ich es erläutere, ohne dass euch danach schwindelig ist.
Ich bin eine Art... nein. Vielleicht so etwas wie... auch nicht.
Stellt euch mich einfach als Außenposten vor.
Den Rest von allem werdet ihr bald erfahren. Eigentlich schon einen großen Teil heute Nacht, wenn ich mich nicht irre.“
„Heute Nacht? Was soll das heißen?“
Erfreut hüpfte die Alte auf und ab, wobei ihr Haarknoten jede noch so kleine Bewegung um ein Vielfaches verstärkte.
„Uiuiui! Das werdet ihr dann schon noch sehen. Uiuiui! Heute Nacht, wartet nur! Und nun geht hoch, meine Lieben. Ihr solltet euch noch ein wenig ausruhen, bevor ihr mich heute Nacht... Uiuiui, fast hätte ich zu viel gesagt. Geht schlafen, Kumo und Kira, geht schlafen, ja? Es wird euch gut tun.“
Wieder sprang die alte Frau auf und ab, diesmal so schnell, dass ich fast befürchtete, sie würde sich selbst in den Boden hämmern. Eine Delle im Teppich schien meine Vermutung, die ich so halb im Scherz gedacht hatte, eher noch zu bestätigen, denn zu entkräften.
Wie ein Presslufthammer hüpfte die alte Dame die Treppe hoch, was dem Holz (!!) einiges an Geräuschen entlockte.
Nur wenige Augenblicke später lag ich wieder begraben unter scheinbar meterhohen Flauschdecken und Daunenkissen. Damit ich nur ja nicht fror.
Noch vor dem Davondämmern dachte ich: Nette Frau. Ein wenig quirlig, aber auch irgendwie nett.
Irgendetwas brachte mich dazu, mich von meinen wilden Träumen zu lösen, in denen geflügelte Wölfe um ihr Überleben kämpften, weil sie eine kleine schwarze Münze bewahren wollten, weil sie gegen grün glitzernde Uhren, gierige Bücher und einem Löwen, der einfach nicht die Klappe halten wollte, bestehen mussten.
Dunkelheit sickerte durch das Fenster, das mir nicht erst jetzt auffiel. Ich erinnerte mich lediglich daran, dass ich vielleicht schon früher hätte hinaussehen können.
Doch jetzt hielt mich irgendetwas davon ab.
Irgendetwas. Dasselbe etwas, das mich nun auch zur Tür zog.
Es war das tiefe Verlangen in mir drin, das mich dazu brachte, mich aller Vernunft zuwider nach draußen zu wagen.
Auf dem Gang begegnete mir Kira.
Sie lächelte mir nur ein wenig hilflos zu und machte einige Bewegungen, die an die unkontrollierten, steifen Zuckungen von Filmzombies erinnerten.
Zusammen gingen wir beide zur Tür, die Treppe hinunter und durch den Raum, in dem wir gegessen hatten.
An der Haustür stand Oma Honig. In jeder Hand hielt sie einen weißen Mantel. Sie selbst versank so sehr in ihrem, dass sie fast wie ein zerquetschtes Bettlaken-Gespenst wirkte.
Mit fahrigen Bewegungen streiften wir die Mäntel über und traten zu dritt nach draußen.
Die Luft war kalt.
Im Wind, der um die Falten der Mäntel strich, lag der Geruch der Nacht. Es war ein leichter, feiner Geruch von Regen.
Wir traten vollends auf die steinerne Straße, die sich mit endloser Dunkelheit in der Ferne verlor.
Oma Honig ging voraus, wir hinterher, tief eingehüllt in die weißen Kapuzenmäntel.
Nach einer Weile hob Oma Honig den gesenkten Kopf und sah in den kalten, schwarzen Himmel.
„Ah“, sagte sie, „Was für einen schönen Mond wir heute haben.“
Und wirklich: Eine gewaltige, weiße Scheibe stand am Himmel. Der Mond hier war riesig, beinahe gigantisch. Auf der Erde sah der Mond immer so klein aus, ein weißer Fleck am Firmament. Doch hier war er eine Größe, die so unscheinbar schön war, dass alle Dichter aller Welten sich hier bis zum endgültigen Versagen ihrer von Sehnsucht verkümmerten Herzen mit allen Mitteln ausgetobt hätten, wären sie in der Lage, etwas so wundervolles zu schaffen wie den weißen Mond von...
„...Virianda“, ergänzte Oma Honig flüsternd meine Gedanken. Hexe, dachte ich, Hexe. Ich sollte eigentlich nicht überrascht sein.
„Dies ist der Mond von Virianda. Einer von den Himmelskörpern, die in den Ästen des großen Baumes ihre Bahnen ziehen, vermutlich bis in alle Ewigkeiten.
Diese Welt ist flach, Kumo, flach wie eine Scheibe. In ihrer Mitte steht ein Baum, der so hoch ist, dass die Welt unter ihm klein ist wie eine Murmel. Der Baum existiert nicht wirklich, aber er hat sich so sehr in den Vorstellungen der Menschen nieder gelassen, dass er fast real ist.
In seinen Ästen hängen, wie gesagt, der Mond, die Sonne und die Sterne.
Und irgendwo auf der Welt befindet sich dieser Ort hier.“
Sie drehte sich zu uns um, woraufhin wir stehen bleiben mussten, um nicht in sie hinein zu rennen.
Sie hob die Arme in die Luft und am Rande meines Gesichtsfeldes blitzte ein Licht auf.
Es blitzte, flackerte und verdichtete sich dann zu einer Kerze, die ohne jeglichen Seile oder sichtbare Drähte in der Luft hing.
Eine weitere Kerze erschien, diesmal auf der anderen Straßenseite.
Weitere Blitze ließen noch mehr Kerzen entstehen und schon bald waren wir umringt von hunderten, wenn nicht tausenden Kerzen.
Große, dicke, kleine, dünne, aber alle waren weiß und leuchteten mit ruhiger, orange-gelber Flamme.
Oma Honig nahm die Hände wieder herunter, riss sie wieder in die Höhe und machte eine kompliziert anmutende Geste mit der Hand, die ihr eigentlich alle Knochen hätte brechen lassen sollen.
Plötzlich schossen die Kerzen in alle Richtungen davon, wie von Raketen betrieben.
Und jede einzelne Kerze hinterließ in der kalten Nachtluft eine schmale Spur aus Wachstropfen, die erst immer länger wurden, dann einen Doch bekamen und schließlich als neue Kerze das Licht der Welt erblickten.
Augenblicklich war das ganze Viertel von Kerzenschein erhellt.
Flackernd spiegelten sich die Flammen in den Hauswänden wieder.
Sie... spiegelten sich?
„Willkommen auf Virianda, Kumo und Kira, Willkommen in der tickenden Stadt!“, verkündete Oma Honig.
Tickende Stadt?
Und dann erkannte ich es:
Die Hauswände waren aus Metall.
Goldfarbenem Messing, silbernem Eisen und schimmerndem Aluminium.
Kupfer glänzte rötlich in den Fensterkreuzen.
Und überall waren Zahnräder.
Die ganze Stadt bestand aus Uhrwerken!
Uhrwerke!
Ein Bild schlich sich in meinen Kopf. Die tickende Stadt bei Tag.
Sonnenlicht in Messing und Eisen.
Ein Lichtspektakel mit Spiegeln und Glaswänden.
Seltsame Gefährte, ähnlich den Autos, tickten durch die Straßen, angetrieben von Aufziehmechanismen, wie bei Spielzeug.
Die Leute trieben Haustiere vor sich her, die unter anderem aus Uhren bestanden.
Die Häuser selbst waren Teil der Stadt. Nicht in dem Sinne, sondern in dem anderen. In dem...
„Festhalten!“, rief Oma Honig und riss mich aus meinem Traum, „Es ist Mitternacht!“
Instinktiv kauerten Kira und ich uns am Boden zusammen und harrten der Dinge, die da kamen.
Und sie kamen.
Ein Donnern lief durch die Stadt, die Häuser bebten, die Kerzen in der Luft erzitterten. Der Boden wackelte.
Ich sah, wie sich einige Kerzen plötzlich ganz woanders wiederfanden, an Fensterscheiben und Hauswänden klebten sie auf einmal. Selbst sie hatten Maßnahmen ergriffen.
Das Beben wurde stärker und wich einem Rattern, das rhythmisch wie ein Uhrwerk durch die Nacht rollte.
Ich sah, wie ein Haus umkippte.
Nein, korrigierte ich mich, das stimmte nicht. Es kippte nicht, es... wanderte.
Wie auf Schienen glitt der Koloss aus Stahl und Messing über die Steine auf die andere Seite der Straße. Andere Häuser machen es ihm gleich und wechselten erst untereinander, bald auch durcheinander ihre Plätze.
Häuser, die erst mir Stroh gedeckt waren, bekamen ein neues Dach oder neue Etagen dazu. Hochhäuser wurden zu Bungalows, prächtige Gebäude wurden armselige Hütten.
Aus einer geordneten Stadt wurde unter enormen Lärm ein Haufen davonlaufender Häuser.
Ein riesiges Geräusch bahnte sich den Weg über die Stadt.
Man sah sein Vorankommen an den Kerzen, die, nach und nach, eine nach der anderen, erloschen.
Und dann war es da.
Es schlug mit metaphorischen Flügeln um sich, goldene Schuppen sprangen und klirrten über den massigen Leib aus purer Vorstellungskraft. Es war ein gigantisches, volltönendes Schlagen einer Uhr.
Das Geräusch sprang über die Dächer, blies hunderte Kerzen in einem einigen Augenblick aus und strich mit scharfen Krallen über die Trommelfelle der Bewohner dieser Stadt.
Und das alles ohne einen Laut von sich zu geben.
Dieses Geräusch, dieses Ungetüm von einem Klang, es war nichts weiter als die pure Stille.
Eine erschreckend plötzliche Stille, geisterhaft und seltsam laut für... die Abwesenheit aller Geräusche.
Wie ein schwarzes, vierdimensionales Loch, das sich mitten in der Welt auftut und alles verschlingt, was auch nur im Entferntesten an einen Ton erinnert.
Doch dann verklang die Stille, die Geräusche kehrten zurück und das Ungetüm verschwand über die Giebel der Messinghäuser.
Ich sprang auf und betrachtete die Straße.
Alte Gaslaternen sandten ihr kleines Licht in die Nacht hinaus, goldfarbene Häuser knarrten die letzten Millimeterbruchstücke über die eisernen Schienen zu ihrem vorbestimmten Platz und ein Mond schien über der neuen tickenden Stadt, als würde es kein Morgen geben.
Oma Honig sah in den schwarzen Himmel und sagte: „Wisst ihr, die tickende Stadt ist eine einzige riesige Uhr. Jedes Mal um Mitternacht schieben sich alle neun Ziffernblätter übereinander und bilden nach einem komplizierten Muster eine neue Stadt. Niemand weiß, wozu es gut ist. Einige haben sogar versucht, es zu unterbinden. Sie sind gescheitert. Alle sind unter mysteriösen Umständen gestorben. Niemand weiß, was mit ihnen passiert ist; ihre Leichen wurden nie gefunden. Selbst ihre Erinnerungen oder selbige an sie sind so weit verblasst, dass man nicht einmal ihre toten Körper identifizieren könnte.“
Ich schwieg.
Langsam setzte ich mich wieder auf.
Eine... Stadt, die aus einer einzigen riesigen Uhr bestand. Und sie hatte statt Zeigern Ziffernblätter, die sich immer um zwölf Uhr drehten.
Ich dachte nach und kam zu dem Schluss, dass ich schon Seltsameres gesehen habe.
Ich erhob mich. Als ich Kira hoch helfen wollte, zögerte, bevor sie meine Hand entgegen nahm. Sie zitterte.
Nein, sie bebte am ganzen Körper.
Aber...
Ich ließ ihre Hand los und sah in die Schatten, wo Dunkelheit auf mögliches Licht wartete.
Doch, nein, die Finsternis zerrann langsam. Wurde flüssig wie Wasser und dehnte sich schneller aus als... Dinge, die sich eben schnell ausdehnen.
Wie wandernde Löcher rutschten Schatten auf uns zu.
Aus allen Ecken der Straße kam die Finsternis.
Hunderte, tausende, wenn nicht Milliarden schwarzer Punkte.
Schon bald waren wir umzingelt von etwa Daumennagelgroßen Flecken aus Schwärze.
In mir erwachte eine Erinnerung aus seligem Schlaf und schreckte aus ihren wohlig weichen Kissen des Vergessens auf, um ordentlich Chaos mit meinen Gefühlen anzurichten.
Die schwarzen Punkte reagierten seltsam auf meine Angst, die sich wie ein kleiner, silberner Ball in mir zusammenzog und nur darauf wartete, dass sie meine Bewegungen erst komplett stoppen, dann ohne Ausnahme auf Flucht ausrichten konnte.
Kurz blitzten in den Reihen aus Dunkelheit Gestalten auf. Gesichter wie verzerrte Masken, rote und blaue Haare, die im Wind wippten, scharfe Klauen, die Wolkenfetzen zerteilten und dann eintraten. In diese Dimension. In diese Welt, die wir beschützen sollten.
Wir, zwei Kinder!
In Geschichten sind es immer die Kinder, die die furchtbaren Monster besiegen, die Dunkelheit vertreiben, das Licht in eine finstere Welt zurück bringen und alles Böse aus der Dimension verbannen.
Jetzt waren es zwei Kinder, die hunderten schwarzen Punkten gegen über standen, die immer näher zusammenrückten.
Dunkle Flecken wurden dichter, bildeten Haufen, sammelten sich an einem Ort.
Aus den zweidimensionalen Schatten erhoben sich dreidimensionale Hügel, kleine Bergkuppen, nein, ganze Gebirge aus Schwärze.
Dunkelheit, die Abwesenheit von Licht, wurde zu einem Körper, jedoch zu dem Gegenteil vom Leben.
Violette Haare wallten als lange Mähne einen gebeugten Rücken herab, der mit Stacheln gespickt war.
Dürre Arme endeten in scharfen Klauen statt Händen, knarrende Kniegelenke neigten sich wie zwei riesige Pendel dem Boden entgegen.
Ehe ich mich versah, hatte sich das Ungetüm hingekniet und starrte uns an.
Augenhöhlen, so groß wie Bergseen und so leer wie Ramades Kopf sahen uns auf eine unheimliche, fast körperlich spürbare Weise an. Ein Maul mit spitzen, glänzenden Reißzähnen gähnte in einem Gesicht das wie eine Theatermaske knapp vor mir schwebte.
Bunte Symbole verschwanden in der violetten Haarpracht, die im sanften Wind verschwörerisch raschelte.
Aus den Augenwinkeln sah ich einen Schemen auf dem nächstbesten Dach. Einen menschlichen Schatten. Doch er stand einfach nur da, die Hände in den Taschen und wartete darauf, dass uns das Monster zerfleischen würde.
Das knarrende Ding kicherte erst leise, dann lauter, dann tönte ein schrilles Lachen durch die Nacht, ohne, dass sich Lippen bewegten oder sich eine Mine verzog.
Die kleine, silberne Angstkugel zitterte in meinem Herzen. Konnte Angst sich fürchten?
Meine Angst fürchtete sich, das stand fest. Und sie war stark. Eine unbezwingbare Angst, die ihre Ketten zu sprengen drohte, die ich ihr mit meiner Selbstbeherrschung angelegt hatte.
Dünne Ketten, sicher. Doch unglaublich haltbar.
Nur die Angst war zu stark.
Viel zu mächtig.
Das Monster richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Es war mehr als doppelt so hoch wie das höchste Haus in der Gegend und enthielt etwa soviel Metall wie die gesamte Stadt.
Metall. Es bestand aus Metall!
Wie konnte es jemand nur wagen, ein Monster aus Metall zu schicken, um uns zu erledigen?
Ich meine, DASS uns jemand loswerden wollte, war sicher. Wir waren geschickt worden, um die Welt von dem Bösen zu befreien, oder so. Und das passte irgendwem nicht. Aber wieso schickte er dann ein Monster aus Metall zu uns?
Und dann auch noch eines mit lila Haaren und einer Grinsefresse!
Der Miniball aus Angst kauerte sich zusammen, als die Ketten meiner Selbstbeherrschung stärker wurden, sie zerdrückten und einquetschten.
Plötzlich war da etwas Neues, Größeres.
Es verschlang meine Angst innerhalb einer Sekunde. Es war eine rote Kugel aus Wut.
Wut kochte in mir hoch, durchströmte meine Adern, gelangte in mein Hirn.
Und ich ließ mich fallen.
Ich fiel in Wut und etwas anderes, kleines. Ein kleiner goldener Würfel aus Überlebenswillen.
Das Ungetüm holte zum Schlag aus. Eine monströse Klaue erhob sich in den Himmel. Schnell sprang ich beiseite und dann krachte auch schon das Metall in das Pflaster aus grauen, schweren Steinen.
Mit einem Mal spürte ich Schwere in meiner Hand.
Ich wusste ohne hinzusehen, dass es das Zeigerschwert war.
Ich sah zu Kira und nickte ihr zu.
Es blitzte und in ihrer Hand erschien das Zahnrad.
Sie nickte zurück.
Dann liefen wir los.
Kira rannte zu den zwei gigantischen Beinen des Dinges.
Ich sprintete den dünnen Metallarm hinauf, das Schwert hinter mir her wie eine Fahne.
Es zog eine goldene Spur aus Glanz hinter sich her.
Als ich nach unten sah, erschien Kira dort.
Sie krallte sich in die violette Mähne und kletterte dran hoch wie an einer Liane. Das Zahnrad hatte sie auf dem Rücken festgeschnallt.
Zeitgleich kamen wir an der großen Maske des Scheusals an.
Kira von hinten, ich von vorne.
Blicklose Augen wandten sich mir zu, während scharfe Klauen nach Kira griffen.
Sie durchschnitten die Luft und... blieben hängen.
Kiras Zahnrad tauchte auf einmal in ihrer Hand auf, die weit ausgestreckt war.
Langsam lösten sich einige Finger von der gefährlichen Pranke und rutschten über die violetten Haare nach unten, wo sie scheppernd liegen blieben.
Kira stand auf dem flauschigen Kopf des Dinges und blickte verwundert auf das Zahnrad, das plötzlich sehr, sehr scharf war.
Doch diesen Moment nutzte das Ungetüm, um mit der anderen Hand nach ihr zu greifen.
Rasiermesser scharfe Klingen schrammten an ihr vorbei.
Kira stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel hinten über, in das Meer aus Violett.
Im letzten Moment fing sie sich jedoch und klammerte sich an eine Haarsträhne.
Das Monster schrie vor Wut und ging nun zur kompletten Offensive über.
Dummerweise stand ich im Weg.
Ich duckte mich unter einer vorbeirauschenden Klaue hinweg und trat noch einen Schritt von dem wackligen Arm auf die etwas festere Schulter des Dinges.
Dort zog ich mein Schwert und sah erneut zu Kira, die sich inzwischen an den Haaren hoch gehangelt hatte und nun auf der anderen Schulter stand.
Sie hielt eine Hand von sich gestreckt, das Zahnrad darin. Die andre Hand umklammerte ihre Schläfe.
Dunkles Blut sickerte durch ihre Finger.
Sie sah mich an. Verzweiflung in ihrem Blick strafte meine Wut mit Angst. Angst um Kira.
Ich schloss die Augen und seufzte.
Ich spürte die Veränderung in der Luft, als das Monster mit der verletzten Hand nach meinen Beinen schlug und wich rechtzeitig mit einem Sprung aus.
Als ich landete, sah ich Kira, die, eine Hand weit von sich gestreckt, die andere an ihrer Schläfe, die Augen schloss.
Auch ich ließ meine Augenlider herabfallen.
Die Luft um mich geriet in Bewegung.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich einen Sturm aus grünen Funken vor meinem Gesicht vorbeifliegen.
Ich lächelte.
Ich sprang.
Ich flog.
Langsam glitt ich durch die Luft, von einem Wirbel aus glitzernden Lichtern getragen.
Einige Meter von dem Ungetüm entfernt, hielt mein Gefährt an.
Und natürlich wusste ich, was ich zu tun hatte.
Ich ließ mich fallen und landete sanft auf dem Boden.
Der grüne Tornado tobte weiter um mich herum.
Kira erschien neben mir.
Ich ergriff ihre Hand und wir rasten los.
Auf das Monster zu.
Aus hundert Metern, die uns der Sturm gebracht hatte, wurden zehn Meter, ein Meter, dann waren wir bei dem Ding.
Im selben Augenblick vergrößerte sich die Entfernung wieder.
Ein Meter, Hundert Meter.
Plötzlich standen wir hinter dem Monstrum, das sich behäbig umdrehte.
Seine Kniegelenke knarrten. Die Klauen peitschten durch die Luft und schnitten eine Laterne in kleine Stücke.
Ein heulendes Lachen ertönte, als es sich niederkauerte und zum Schlag ausholte.
Ich kreuzte langsam die Arme vor meiner Brust. Dann schlug ich sie mit aller Kraft in einer vernichtenden Geste zur Seite.
In dem Moment explodierte der Sturm aus grünen Funken.
Myriaden grüner Lichter schwirrten durch die Luft.
Taumelten herum und sammelten sich um das Ungeheuer.
Langsam schien es zu begreifen, was passieren würde.
Die grünen Funken wurden immer schneller, verflüchtigten sich immer mehr und mehr, so dass nur noch ab und zu einige kleine Lichter aufblitzten.
Die gigantische Säule aus wirbelnden Funken zog sich immer enger zusammen.
Verzweifelt versuchte das Ding die eiserne Wand aus purem Licht zu durchbrechen, doch immer, wenn es die Funken berührte, hinterließen die Lichter kleine Kratzer und tiefe Furche im glänzenden Metall des Ungetüms.
Einige violette Haarbüschel segelten davon. Abgetrennt von Funken.
Gleichzeitig erhoben Kira und ich unsere Waffen.
Wie von selbst lösten sich meine Finger aus dem Griff des Zeigerschwertes und es segelte davon, Kiras Zahnrad im Schlepptau.
Die silberne Spur blieb in der Luft zurück.
Das Schwert wurde Teil des Sturmes und kreiste in der Säule synchron zu der rotierenden Scheibe, die Kiras Waffe nun darstellte.
Wieder versuchte das Ding einen Ausbruchsversuch, doch diesmal blieb es nicht nur bei einem Kratzer im Metall.
Die scharfen Klauen fielen klirrend zu Boden, als sie sich plötzlich einer gewissen Madame Schwerkraft gegenüber sahen, die just in dem Moment zur Geltung gekommen war, da der Rest des Armes in einer wirbelnden Masse aus Funken verschwand.
Das Monster schrie.
Der Laut gellte durch die Straßen und zwischen den Häusern hindurch.
Er ähnelte wohl einer monströsen Schlange, die sich mit enormer Geschwindigkeit durch die Gassen schlängelte.
Kreischend und um sich schlagend sank das Ding auf die knackenden Knie und fiel vornüber. Direkt in die tosenden Gewalten unseres Sturmes, wo auch der Rest des monströsen Körpers in feine Stücke geschnitten wurde.
Schließlich lag nur noch ein Haufen Metall in der Gegend herum, der langsam wieder zu flüssiger Dunkelheit wurde, die mit weniger Entschlossenheit in den Rissen und Spalte der Straße versickerte.
Der tosende Tornado verebbte langsam und verschwand schließlich ganz.
Ich sah Kira an, die hilflos lächelte.
Wir sahen uns um und mir fiel auf, dass die geheimnisvolle Silhouette verschwunden war.
Kira sagte ich nichts davon. Vermutlich hatte sie ihn eh schon gesehen.
Nach und nach erschienen einige Kerzen in der Luft, drehten sich allerdings noch ein wenig zögerlich hin und her.
Dann tauchte auch wieder Oma Honig auf. Sie hüpfte unruhig auf und ab.
Ehrlich gesagt, war mir gar nicht aufgefallen, dass sie weggelaufen war. Hatte sie, außer der Fähigkeit zur enormen Höhenüberwindung durch simples Springen noch andere Begabungen, von denen wir besser wissen sollten?
Ich entschied mich, und hoffte es eher, für nein.
Oma Honig landete und drehte sich um.
Ohne uns anzusehen meinte sie bedrückt: „Das ist ein Grund, warum nachts niemand mehr auf die Straßen geht.“
Ich fragte: „Aber was ist es? Ich meine, was war es?“
„Nein, nein. Es ist noch immer. Ihr habt es lediglich verjagt.“
„Das heißt, es wird wiederkommen?“
„Vermutlich. Und es wird sauer sein. Sehr sauer.“
„Und was ist es nun?“, hakte Kira ungeduldig nach.
„Wir nennen so etwas Finsterfleck. Dinge aus purer Dunkelheit, die vom Meister der Schatten ausgesandt wurden, um uns alle zu vernichten.“
Sie sprach die Worte „Meister der Schatten“ aus, wie andere Leute „Kakerlake“ oder „Schädling“ sagen.
„Wer ist dieser... Meister der Schatten?“
„Ich glaube, du hast etwas falsch verstanden. Ich sehe es dir an.
Du denkst, es gibt einen bösen Mann, der die Macht über die Finsterflecken nutzt, um die Weltherrschaft oder etwas ähnlich Idiotisches zu erlangen.
Ein Meister ist in dieser Welt ein besonderer Mensch, der die Macht über die Elemente nicht nur perfekt beherrscht, sondern auch so nutzen kann, dass sie ein Teil von ihm sind.
Sir Ligon hat mir erzählt, dass ihr gegen Karat gekämpft habt.
Du hast das Messer nicht gesehen, Kumo, oder?
Erst, als es sowieso schon zu spät war, hast du es bemerkt
Sie hatte es im Nebel versteckt. Sie hat den Nebel benutzt, um ihre Angriffe zu tarnen, zu verheimlichen.
Hättet ihr weiter gekämpft, hätte sie das gesamte Feld mit ihrem Nebel überzogen und euch darin umgebracht.
Sir Ligon berichtete mir auch von dem Kampf Ameno gegen Claire.
Ameno ist in der Wasserpfütze versunken, weil sie sich komplett ihrer Machtquelle hingegeben hat: dem Wasser in Form von Regen.
Sie hat ihr Element ganz und gar im Griff gehabt. Im Gegensatz zu Claire, die, so Sir Ligon, regelrecht in ihrer Wut eingefroren ist.
Bei Ramade ist das ein wenig schwieriger, da er kein echtes Element hat. Er ist ein normaler Mensch, wie zum Beispiel eure ehemalige Heimleiterin Fräulein Lurch. Grässliche Frau übrigens.
Doch Ramade hat die Fähigkeiten des Kugoloten in sich, wie auch immer das passiert ist, denn meiner Meinung nach ist er wirklich der falsche für so etwas.
Was Laura angeht, sie hat sich in den Schatten versteckt, die ihr Element sind. Ihre Nadeln waren aus Dunkelheit gefertigt und konnten daher überall auftauchen.
May hat etwas Ähnliches gemacht. Sie hat alles mit einem so dünnen Nebel überdeckt, dass man ihre Drähte nicht mehr sehen konnte. Auf diese Weise hat sie Mirko eingesponnen, der mit seinen Würfeln die Erde beherrschen kann.
Loge und Kasse. Sie konnten eigentlich nicht mit Feuer verbrannt werden, da ihr eigenes Element die Hitze, also Feuer, ist.
Und doch... da liegt das Problem.
Ihr Gegner, Jika, er ist der momentane Feuermeister. Seine Macht über die Flammen ist so groß, dass er sogar die der anderen kontrollieren kann, in der Lage ist, sie zu löschen, zu versiegeln oder gar zu vergrößern. Loge und Kasse sind nicht durch den Angriff Jikas gefallen. Sie wurden von ihren eigenen Flammen verbrannt.
Jeder Mensch hat etwas von mindestens einem Element in sich. Nur wenige sind so geschickt, es zu Tage zu befördern und zu entdecken. Und nur sehr wenige schaffen es, dieses Element zu bewegen. Die, die das können, wissen meist nicht davon, sondern leben ihr Leben weiter, ohne irgendwelche Dinge über sich und andere zu kennen. Ungefähr jeder zwanzigste, der seine Fähigkeiten gefunden hat, kann sie auch komplett nutzen.
Und nur einer aus jeder Elementarfamilie ist der Meister.
Und den haben wir nun mal als Feind. Den Schattenmeister. Zumindest den amtierenden. Ein Meister kann nicht sterben, außer durch die Hand eines anderen Meisters oder wenn er es will.
Wenn ein Meister stirbt, vergeht sein Element mit ihm. Würde also der Wassermeister sterben, würden alle Flüsse austrocknen, die Felder verdorren, kein Regen mehr fallen, die Menschen und alles Lebende zu Staub werden, denn mit dem Meister geht auch sein Element aus dieser Welt.
Diese Welt ist anders, Kumo und Kira. Diese Welt ist gefährlich.“
Ich schwieg.
Nach so einer beeindruckenden Rede konnte ich nichts andre tun als zu schweigen.
Kira schwieg ebenfalls, aber das war nicht weiter ungewöhnlich. Es würde mir mehr Angst machen, wenn sie so eine lange Triade verfasst hätte.
Oma Honig ging voran, wir hinterher.
Unsere Mäntel, die wir scheinbar verloren hatten, hingen nun lose über meinem Arm. Es wäre komisch gewesen, wenn wir sie angezogen hätten. Ich hätte mich vermutlich gefühlt wie ein Boxer nach einem entscheidenden Kampf, der, den Sieg in der Tasche, seinen Bademantel anzieht und aus dem Ring steigt.
Eine grässliche Vorstellung, wenn ich ehrlich war.
Noch während wir die Straße entlang zurück zum Haus von Oma Honig gingen (Der Weg war plötzlich viel kürzer durch die Mitternachtsverschiebung) überlegte ich.
Oma Honig hatte nur gesagt, dass die Finsterflecken EIN Grund waren, dass die Leute nicht mehr auf die Straßen gingen.
Doch was war der ANDERE Grund dafür?
Der Lärm überfüllter Straßen weckte mich am neuen Morgen.
Als ich zum ersten Mal seit meiner Ankunft in dieser Welt aus dem Fenster sah, beobachtete ich, wie der Ort, an dem wir des Nachts gegen ein an uns mehr oder weniger höchst interessiertes Monster angetreten waren, von einer Menschenmasse überschwemmt wurde wie von einem Schwarm tollwütiger Wespen mit Chili im Stachelbereich.
Hunderte Menschen rannten von einem Ort zum nächsten und versuchten von der Notunterkunft, in der sie die Nacht zugebracht hatte, zu ihrem Haus zu kommen, das dank der Mitternachtsverschiebung nun ganz wo anders stand.
Allgemeine Hektik führte dazu, dass Geschäftsleute ihre Chance nutzten, um frische Brötchen und heiße Getränke anzubieten, wobei letzteres an einem schönen Sommertag eher unangebracht war.
Die Sonne brach sich in dutzenden Kristallen, die auf den Dächern befestigt waren und schimmerte so als bunter Haufen aus Regenbogenfetzen an den metallisch glänzenden Wänden der Häuser.
Einige alte Menschen fütterten Tauben, die in allen Farben, und ja, in ALLEN Farben auf den Dächern, an Brunnen und Straßenecken hockten.
Ein weißes Exemplar dieser seltsamen Spezies versuchte gerade, mit einem Luftballon einen grünen Vogel zu verdreschen, der offenbar unerlaubterweise ein Stück Brot von einem älteren Herrn bekommen hatte, das ihm nicht zustand.
Einige Kinder spielten Fangen auf den gepflasterten Straßen und wichen dabei mehr oder minder geschickt den pferdelosen Karren aus, die sich mit einer Geschwindigkeit fortbewegten, die eher einem akustischen „Knattersurrtuthupblööp“ entsprach denn einem „Töff töff“ oder „brumm brumm“.
(An dieser Stelle eine Entschuldigung an alle, die mich nun für komplett blöd halten: Tut mir Leid, dass ich kreativ bin! So.)
Ich gähnte erst mal ausgiebig und streckte mich gehörig, was mir ein schmerzerfülltes Stöhnen abverlangte, denn meine Arme und Beine waren schwer wie Blei, oder was auch immer in dieser Welt das Schwerste war.
Nachdem ich mich fertig gemacht hatte und einigermaßen sicher in einen Spiegel blicken konnte, ohne dass mich das kalte Grauen vor meiner eigenen Frisur packte, ging ich nach unten, wo bereits Oma Honig und Kira mit dem Frühstück auf mich warteten.
Es gab Fett mit Speck und Eiern. Wobei die Eier nach langem Suchen in der Welt aus gebratenem Speck immer noch nicht aufgetaucht waren. Vermutlich waren sie in dem Fett ersoffen, und hatten es vorgezogen, sich einfach aufzulösen.
Danach gab es einen Kaffee, der einen nicht ganz uninteressanten Geschmack nach Schokolinsen hatte. Laut Oma Honig war es ein Getränk, das aus einer anderen Welt stamme, Livanda genannt, wo es von zwei Lehrern entwickelt wurde, die sich nicht einig über den Geschmack von Keksen werden konnten, woraufhin sie sich gegenseitig mit ihrem jeweiligen Lieblingsessen bewarfen, das sich in der Mitte traf und mit Hilfe eines rein zufällig dazwischen geratenen Feuerballs diese klebrig süße Masse aus Kaffee und Schokolade ergab.
Einen Namen gab es dafür nicht.
Vermutlich war das auch besser so. Wer weiß, was da nachher bei herausgekommen wäre?
Während ich so in den Kaffeerest in meiner Tasse starrte und überlegte, ob man die darin entstandenen Figuren eventuell deuten konnte, sagte Oma Honig: „Kumo und Kira.“
Wir blickten auf. Ich von meinem Kaffee, Kira vom Tisch, der scheinbar sehr interessant war.
„Ich habe euch gestern etwas über den Meister der Schatten erzählt. Über Meister allgemein.
Sie beherrschen ihr Element perfekt. Doch das ist nicht alles.“
was kommt jetzt?, dachte ich.
„Nehmen wir mal als Beispiel die derzeitige Eismeisterin. Fyr, heißt sie, glaube ich. Ein anderes Beispiel wäre Jika, der Feuermeister.
Würden die beiden jemals gegeneinander kämpfen während sie im Vollbesitz ihrer Kräfte sind, würde der Kampf endlos werden.
Ihr habt ja bereits gesehen, dass Jika die Flammen in den Körpern seiner Gegner anheizen kann, nicht wahr? Nun, einem Meister ist es sogar möglich, sein Element dem Gegner zu entziehen.
Also, selbst wenn Jika nicht Fyrs Flamme anheizen kann, da sie keine hat, so kann er doch alle Hitze aus ihrem Körper nehmen. In diesem Falle würde Fyr erfrieren und Jika würde gewinnen. Fyr würde jedoch gleichzeitig Jikas Kälte nehmen, so dass seine Flamme in seinem Inneren immer größer wird. Jika würde demnach verbrennen. Allerdings geht das nicht, weil beide Meister sind.
Die Besonderheit an Meistern ist, dass sie nicht verletzt werden können mit dem Element, das ihnen inne wohnt.
Sie können ihr eigenes Element entweder jemandem zufügen oder ihm entziehen.“
Sie sah uns erwartungsvoll an, als würde sie eine Reaktion erhoffen. Aber warum? Überrascht war ich nicht. So etwas ähnliches hatte ich mir schon gedacht.
Meister nehmen ihr eigenes Element und spielen damit herum, können es kontrollieren, sich aber nicht damit verletzen.
„Aber...“, setzte Oma Honig neu an, „Ich muss euch etwas sagen, was ihr noch nicht wissen könnt.“
HöraufmeineGedankenzulesen.HöraufmeineGedankenzulesen.HöraufmeineGedankenzulesen...
„Nun...“, begann Oma Honig ein weiteres Mal, „Es betrifft ebenfalls die Meister.
Sie sind... man kann sie nicht töten.“
Eine kleine Pause entstand.
Doch die winzige Unterbrechung wurde zu einer langen Stille. Nur die Wanduhr im Wohnzimmer tickte. Die Wanduhr und wahrscheinlich die ganze Stadt mit ihr.
Ich sprang auf
„NICHT TÖTEN?!“, platzte es aus mir heraus. „Wie sollen wir denn bitte den Meister der Schatten besiegen, wenn er unsterblich ist? Sollen wir ihn etwa ins Gefängnis sperren? Den Schlüssel wegwerfen? Hoffen, dass er seine Fehler einsieht?“, schrie ich.
Kira zuckt zusammen.
„Kumo... Du...“, versuchte Oma Honig mich zu beschwichtigen, doch ich war einfach viel zu wütend.
„NEIN! Ist euch allen eigentlich klar, dass wir nur ein Selbstmordkommando sind? Wir werden alle sterben!“ Ich wurde ein wenig leiser, doch ich beruhigte mich nicht.
Ich wirbelte herum und stürmte nach draußen. Die Tür knallte zu.
Rote Wut als kleinen Ball in mir. Klein, doch konzentriert.
Ich rannte die Straßen entlang, ohne darauf zu achten, wohin ich lief.
Häuser rauschten an mir vorbei. Fenster, in denen sich nichts spiegelte, Menschen, die wie verschwommene Flecke auf einer Kameralinse, nicht zu sehen waren, wenn man nicht wusste, dass sie da waren.
Sie bewegten sich nicht. Nicht für mich. Sie waren nur rote Bälle, die in der Luft hingen.
Plötzlich stand ich vor einer Wand.
Sackgasse.
Ich senkte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust.
Dann riss ich die Arme wieder auseinander und atmete aus.
Es schimmerte ein wenig grün unter meinen Füßen.
Dann wurde ich in die Luft geschleudert.
Elegant drehte ich mich, vollführte einen Salto und landete auf der Mauer.
Erstaunt sah ich nach unten und mir wurde ein wenig schwindelig. Es war doch höher, als gedacht.
Diesmal ging ich in die Knie und sprang einfach in die Höhe.
Staub wirbele auf, grüne Funken glitzerten darin, als ich wieder den Boden unter den Füßen verlor. Ich landete auf dem nächstbesten Dach.
Dunkelrote Schindeln lagen wie Schuppen übereinander und gaben meinen Füßen gerade genug Halt, um darauf stehen zu können.
Springen.
Fliegen.
Ich setzte mich hin.
Gedanken kreisten um mich wie Geier, die nur darauf warteten, dass der keuchende Mensch in der Wüste langsam starb.
Meine Gedanken jedoch warteten auf einen geeigneten Moment, m auf mich einzustürzen. Doch ich errichtete mutig einen Käfig um einen einzigen.
Halte ihn fest, Kumo.
Es war der Gedanke an den Tag, an dem Sir Ligon uns die Kardien erklärt hatte.
Jeder hatte eine Kardia, ein Element und eine Waffe.
Die Waffe ist eine Summe aus Element, Schicksal und Kardia.
Die Kardia ist das Herz der Person, ihr Schicksal und ihr Machtquelle. Das Element ist eine magisch veranlagte Waffe die der Besitzer nach Belieben kontrollieren könnte.
Sir Ligon hatte uns unsere Kardien gezeigt.
Er hatte allen ihr Element verraten. Nur uns nicht.
Also...
Aber es war doch so einfach.
Kira und ich. Wir waren wie Loge und Kasse. Nur, dass wir nicht die Flamme in uns brennen hatten, sondern den scharfen Sturm, der den Finsterfleck zerschnitten hat.
Damals, bei dem Kampf gegen Karat, da hatte ich doch auch die Luft benutzt. Oder bei dem Finsterfleck. Oder gerade eben.
Ich wusste, was mein Element war. Warum aber hatte Sir Ligon es uns nicht gesagt? War er sich nicht sicher gewesen?
Warum machte ich mir überhaupt darüber Gedanken?
Es war unwichtig. Wir würden sowieso alle sterben. Meister kann man nicht töten.
Ich ließ den Gedankenkäfig außer Acht und die Geier stürzten sich auf ihre wohlverdiente Beute: einen toten Menschen, der besiegt wurde von der sengenden Hitze.
Als die ersten Gedanken wieder in mein Bewusstsein eintauchten, bemerkte ich die Veränderungen in der Luft und sprang auf.
„Komm raus!“, rief ich und fügte sofort hinzu: „Wer auch immer da ist!“
Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit in der Ecke des Daches. Langsam trat die Person ins Licht der Sonne.
Ein grüner Kapuzenpullover, der viel zu groß war, helle, fast unmenschlich weiße Haare, die bis auf die Schultern reichten, und ein Lächeln auf den Lippen, wie es nur ein Mensch in allen Welten lächeln konnte: Kira.
Ich entspannte mich wieder.
Sie lächelte mich einige Zeit an, dann fragte sie, den Blick gen Himmel gerichtet: „Hast du die tickende Stadt bei Tag gesehen?“
Ich lachte.
Sie hatte mir vergeben, dass ich sie so angeschrien hatte. Das war nun mal Kira.
Dann nahm ich sie bei der Hand und zog sie mit mir.
Wir rannten über die Dächer und flogen nur so über die Mauern.
Unter unseren Füßen sausten die Dachpfannen dahin, Ziegel- und Strohdächer wechselten sich in einem interessanten Rhythmus mit Messingplatten und Kupferspitzen ab.
Eine unüberwindbare Kluft wurde zu einem Riss in unserem Weg, als wir darüber hinweg flogen, endlos lange Gebäude schrumpften zu kleinen Steinen auf der Straße, de wir folgten.
An einer Kuppel machen wir Halt und sahen uns um.
Wir waren wohl in einem reicheren Viertel der Stadt gelandet.
Statt Messing glänzte nun Gold im Licht der untergehenden Sonne und statt den einzelnen Kristallen auf den Dächern hingen komplizierte Gespinste aus Diamanten über den Straßen und von Giebeln herab wie Galaxien in einem rot schimmernden Weltall.
Weit in der Ferne, gar nicht mal so weit weg, flimmerte ein Gebäude zwischen den anderen. Es war im Gegenlicht der versinkenden Sonne nur als schwarze Silhouette zu sehen.
Ein Uhrturm.
An seiner Spitze ließen sich einige Wolken hängen und an seinem Fuße endete gerade ein wöchentlicher Markt mit einer Darbietung von seltsam gekleideten Menschen.
In dunkelblauen Gewändern drehten sie sich umeinander und durcheinander.
Einer jedoch, einer außer den Zuschauern nur, die sich um die improvisierte Bühne drängten, stand still zwischen zwei großen Wasserkübeln.
Er hielt eine Art große Gitarre in der Hand und spielte mit rasenden Fingern über neun Saiten.
Sitar. Ich wusste, dass es diese Art von Musikinstrumenten gab, doch war es wirklich die richtige Saitenanzahl?
Ein Plakat verkündete fast verzweifelt fröhlich, dass es ein unerwartetes Spektakel werden würde, für die ganze Familie, für die ganze Familie, für die ganze Familie und dass es eine Darbietung der besonderen Art der Geschichte dieser Welt werden würde.
Geschichtsunterricht?, dachte ich, Will der uns etwa die Geschichte von Virianda vortanzen?
Selbst von hier konnten wir zwei die Musik hören.
Es war eine schleppende, traurige Melodie die eine eigene Geschichte spann, uns zwar in einem jeden Menschenherzen, das die leidende Weise vernahm.
Die Sitar war das leitende Klangbild in dunklem Blau, doch von irgendwoher mischten sich andere Farben in die Melodie ein. Eine feine Geige, eine tiefe Trommel.
War es die Sitar die alle diese Töne erzeugte?
Plötzlich setzte die Musik einen kurzen Augenblick aus. Es war, als würde mein Herz mit einem Mal aufhören zu schlagen.
Doch dann, Gott sei Dank, oder auch nicht, begann die Melodie von vorne.
Aber sie war... anders.
Komplett anders als das erste Mal.
Ohne es zu merken, waren wir näher gekommen, standen auf dem Dach eines Hauses, das direkt an den großen Platz angrenzte.
Die Musik fing uns ein.
Dann begannen die beiden Wasserkübel zu zittern. Unmerklich, doch ich spürte es.
Ohne Vorwarnung schossen auf einmal zwei Wassersäulen in den Himmel, begleitet von einem widerhallenden Trommelschlag.
Kaum senkte der Sitarspieler seine Hände, sanken auch die Wassersäulen wieder in ihre Kübel zurück.
Ich rieb mir verblüfft die Augen.
Doch da taumelten auch schon die nächsten Töne durch die Luft.
Die Wasserkübel schaukelten, wackelten und...
explodierten schließlich in einem Regen aus fast schwarzem Wasser.
Die Tropfen blieben in der Luft hängen, als der Sitarspieler einen Ton in die Länge zog, der wie von einer Geige im Hintergrund begleitet wurde.
Danach folgte eine Kaskade aus Geräuschen, die sich in der Luft verwoben und verstrickten, bis es kein Entkommen mehr vor einem gewaltigen Meer aus Musik gab.
Die Tänzer wurden von einer Welle in die Höhe gehoben. Doch sie drehten sich weiter.
Wie Geister schwebten sie über dem Pflaster, schaukelten über das Meer und glitten in der Welle auf und ab.
Als ein Teil des großen Ganzen, wirbelten sie, untermalt von einer erschreckend lauten Taktfolge, immer wieder umeinander und schließlich ineinander.
Letzten Endes gab es nur noch einen Tänzer.
Sein Mantel zerfloss zu einer Schaumkrone und verschwand in dem Wasser, das um ihn tobte.
Der Tänzer machte eine Bewegung mit der Hand und ein Teil des Wassers schwappte als Brandung über die Steine.
Der andere Teil erhob sich und bildete Formen. Erst Schatten, dann richtige Figuren.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rauschten im Strom der Zeit die Realität entlang und manifestierte sich im Wasser.
Eine Schlacht.
Pferde galoppierten durch die Wellenausläufer, Krieger verließen ihre Boote und stürmten auf das Land.
Große Schiffe, mit weißen Segeln tauchten aus dem dunstigen Blau auf und kreisten drohend umeinander.
Mutige Soldaten wurden erstochen, starben noch im Fallen und begegneten der Brandung, die die Leichen davon spülte.
Einige hatten Glück und retteten sich durch überstürzte Flucht vor der einfallenden Gegenseite.
Silberne Brustpanzer wurden durchstoßen, Köpfe abgetrennt und die toten Körper überrannt.
Das Meer beseitigte die Leichen, Salzwasser spülte die Wunden aus und Tang verdeckte die Verletzungen.
Alles, Wasser, Menschen, Tiere, Schiffe, verschwanden in einem gewaltigen Sturm, der über den Markt fegte.
Im Fluss der Zeit verschwanden die Bilder.
War das die Geschichte dieser Welt?
Als die Wogen sich glätteten, sah ich einen Jungen an einem Schreibtisch sitzen. Er hatte sich über ein Blatt Papier gebeugt und schrieb etwas auf. Von Zeit zu Zeit strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Plötzlich ah er auf.
In seinen Augen spiegelte sich der runde Mond, der durchs Fenster schien.
Dann stand er auf und ging hinaus, das Blatt Papier mit der einen Hand fest umklammert, den Stift in der anderen.
Draußen leuchtete ihm der Mond den Weg.
Zwischen zwei Bäumen blieb er stehen und sah sich um.
Schließlich setzte er sich mir gekreuzten Beinen hin und schrieb weiter.
Um ihn herum veränderte sich die Welt.
Aus den beiden Bäumen wurden Riesenschlangen, die sich umeinander in die Höhe wanden und in den Wolken verschwanden.
Ohne aufzusehen schrieb der Junge weiter.
Die Schlangenhaut wurde wieder zu Stamm und Rinde, weit oben explodierte gerade ein Stück Holz in einer Wolke aus Blättern.
Nacheinander tauchten in den Ästen des Baumes Lichter auf.
Ein großes, ein kleineres und hunderte, tausende, wenn nicht unendlich viele winzige Lichtpunkte.
Ein Stück entfernt öffnete sich plötzlich die Erde. Ein Riss erschien und wurde immer breiter, bis er fast perfekt rund war. Wasser füllte die Senke aus.
Am Ufer des Sees erhob sich donnernd ein Schloss. Es schien aus dieser Perspektive aus dunkelgrünem Glas zu bestehen, so, wie es schimmerte und das letzte Licht des Mondes einfing.
Kleinere Bäume wuchsen mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in die Höhe. Zwar war es nur ein Bild aus Wasser, doch einige Zuschauer mussten zur Seite springen, als die Bäume aus der Erde geschossen kamen, von denen keiner, obwohl sie mehr als nur haushoch waren, auch nur annähernd so hoch wurde wie der erste Baum.
Geheimnisvolle Augen schauten in die Nacht, leuchtende Blumen neigten ihre Köpfe, glühende Wesen streiften durch das Unterholz, das leise raschelte.
Der Junge schrieb immer schneller.
Ein kleines Haus erhob sich in der Nähe einer Gartenlaube. Es schien so gegenteilig zu dem grünen Schloss, dass man immer nur eines von beiden gleichzeitig betrachten und akzeptieren konnte.
Die Gartenlaube wuchs mit Ranken zu, wurde überwuchert mit weißen Rosen und verschwand unter einem Kirschbaum, der sich in herbstlichen Farben daneben aus dem Boden befreite.
Der dritte Teil des Werkes war schließlich auch der letzte.
Eine ausladende Wiese, die sich fast bis zum Horizont erstreckte und umrahmt war von schemenhaften Bäumen.
Doch zwischen dem Gras waren keine normalen Blumen zu sehen. Nein, es waren schwarze Lilien, die so dunkel waren, dass man in ihren Blütenkelchen sie selbst sehen konnte.
Letzten Endes zitterten drei Schatten neben dem schreibenden Jungen.
Schnell manifestierten sie sich und wurden zu drei Personen.
Eine ging zum smaragdgrünen Schloss am See.
Eine zum Haus und der Laube mit den Kirschbäumen.
Und eine ging zur Lichtung mit den schwarzen Lilien.
Der Junge erhob sich und sah sich erneut um.
Dann ging auch er fort.
Das Wasser verschwand, die Bilder darin verblassten.
Nur ein kleiner Schatten blieb bis zuletzt.
Es war die Silhouette eines großen Turmes, auf dem zwei Kinder standen...
Rot tauchte die Sonne in die finstere Skyline der Stadt ein. Wie ein glühender Feuerball, der sie ja war, verbrannte sie den Himmel. Wolken loderten und das blaue Firmament wurde tiefrot in seinem leidvollen Schmerz.
Ich sah, wie goldene Häuser zu schwarzen Schatten wurden, hinterlegt in einem blutigen Feuer, in dem die Stunden starben, wie Sekunden in einer Sanduhr nach unten rieseln um nie wieder zurückzukehren.
Ich blickte hinüber zu Kira.
Dann sah ich nach unten in die Tiefe. Dort sammelten gerade die beiden Darsteller ihre Requisiten ein. Es waren nur zwei leere Töpfe, zwei blaue Roben und eine Sitar. Keine Spur von Wasser.
Irgendwann waren die beiden auch verschwunden und der Platz vor der Turmuhr leerte sich langsam.
Niemand kam auf den Gedanken, sich die große Uhr einmal genauer anzusehen. In diesem Falle hätte er zwei Kinder auf einem der vier Zifferblätter sitzen sehen, die gedankenverloren in den Sonnentod starrten.
Ich lehnte mich zurück und genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen, die uns die rote Kugel in ihren letzten Atemzügen spendete.
Auf der anderen Seite wurde gerade erst der Mond wiedergeboren. Der riesige Mond, der so wundervoll wie ein perfekt geschliffener Wassertropfen am Himmelsgewölbe hing.
Ich war so in meinen Gedanken mit den Lichtern beschäftigt, dass ich die Schatten gar nicht bemerkte, die sich über die Welt schoben und langsam alles bedeckten, was vorher das Licht regiert hatte.
Wieder eroberte die Dunkelheit die Welt.
Virianda.
Und wir sollten sie retten.
Aber wovor genau?
Und warum? Die Menschen schienen gar nichts davon zu bemerken, was hier vor sich ging.
Monster tauchten auf den Straßen auf, wenn es dunkel wurde und auf Mitternacht zuging. Doch das war auch schon alles.
Wir wurden angegriffen. Es wurde jemand geschickt, um uns zu töten. Man beschäftigte sich nicht persönlich mit uns. Wir wurden nicht ernst genommen.
Nun, eine Bedrohung waren wir wirklich nicht für jemanden, der nicht sterben kann.
„Sterben?“, fragte jemand, „Wer sagt, dass sie nicht sterben können?“
Der Jemand lachte leise.
Ich fuhr herum.
Vor mir stand eine hoch gewachsene Person. Sie trug einen schwarzen Mantel mit einer Kapuze, so dass man das Gesicht nicht sehen konnte.
„Meister können nicht sterben? Wer hat dir denn den Mist erzählt?“ Die Stimme war tief, hallte ein wenig, doch sie war irgendwie beruhigend.
„Was willst du damit sagen?“, fragte ich vorsichtig und fügte sogleich hinzu: „Wer bist du?“
„Wenn ich mich vorstellen darf...“
Die Person nah die Kapuze ab.
Darunter kam ein fein geschnittenes Gesicht zum Vorschein. Der Mund war zu einem spöttischen Lächeln verzogen.
Dunkle Dredlocks waren in einem Zopf hinter dem Kopf zusammengebunden.
„...mein Name ist Jeman“, stellte er sich vor. Irgendwie war er mir sympathisch.
„Und was machst du hier oben? Jeman?“, hakte ich nach.
„Das gleiche“, lachte er, „könnte ich euch auch fragen.“
Er verschränkte die Arme vor der Brust.
„Genauer gesagt“, fuhr er fort, „Kann ich es euch sogar noch eher fragen als ihr mich.“
„Was willst du damit sagen?“
„Ganz einfach. Das hier ist unser Turm.“
„Unser Turm? Es gibt noch mehr von deiner Sorte?“
„Natürlich.“
„Wer bist du, Jeman?“, meldete sich Kira zu Worte.
Jemans Kopf drehte sich langsam zu Kira um. Das Grinsen wurde noch breiter. „Ah“, sagte er, „Du kannst auch sprechen?“
Wieder lachte er.
Er trat einen Schritt vor und setzte sich zu uns auf die Kante des Turmes, dessen Spitze die letzten Sonnenstrahlen festhielt, als ob er sich nicht davon trennen könnte.
„Mein Name ist Jeman. Aber ich kenne eure Namen noch nicht. Wie heißt ihr?“
„Ich bin Kumo und das ist Kira“, stellte ich uns vor. Eigentlich war ich nicht so vertrauensselig, doch irgendwie hatte Jeman eine beruhigende Ausstrahlung.
„Nett, euch kennen zu lernen.“ Seine Mine wurde ernst, als er sagte: „Doch nun zum Geschäftlichen. Wart ihr schon bei Oma Honig?“
„Ja. Ich glaube schon.“
„Was weißt du über sie?“, fragte Jeman.
„Sie ist...eine Art Außenposten. Sie meinte, dass sie den Schicksalsspieler in dieser Welt vertritt. Und dass sie uns aufgenommen hätte.“
Jeman nickte. „Gut. Ihr werdet bei Oma Honig bleiben. Ihr werdet bei ihr sein, bei ihr essen, schlafen uns ihr ein wenig im Haushalt helfen.“
„Was?“; rief ich entrüstet, „warum?“
„Weil sie eine alte Frau ist, auch wenn sie sich nicht immer so verhält.“
„Das meine ich nicht! Warum solltest du darüber bestimmen können?“
Jeman wandte den Blick ab.
„Wer glaubst du, war das auf dem Dach? Als ihr gegen den Finsterfleck angetreten seit stand ich auf dem Dach und habe euch beobachtet. Ich sollte nur als Absicherung fungieren, doch ich war so fasziniert von euch, dass ich aus meinem Versteck gekommen bin, um den Kampf mit anzusehen.“
„Warum hast du uns nicht geholfen? Wir hätten sterben können!“
„Ich hatte nur den Auftrag bekommen, euch zu beobachten. Mir wurde strikt verboten, euch zu helfen. Aber so, wie ihr gekämpft habt, hättet ihr nie verlieren können.“
„und was soll das nun wieder heißen?“
„Das soll heißen, dass ihr es geschafft habt.“
Jeman blickte erst in die Stadt hinunter und erhob sich dann langsam. Er zögerte kurz und trat einen Schritt vorwärts. Auf den Abgrund zu. Noch ein Schritt und er würde fallen.
„Was?“, fragte ich aufgeregt, „Was haben wir gefunden?“
„Uns“, lautete die Antwort.
Dann machte er noch einen Schritt nach vorn.
Jeman fiel nicht. Es war eher das, was passiert, wenn der Zauberer mit dem Zylinder eine schöne Dame fliegen lässt. Man sieht nichts, doch man weiß, dass etwas da ist, was sie hält.
Jeman deutete auf einen kleinen Kristall, der an der Kante des Zifferblattes angebracht war, auf dem wir saßen.
Von ihm aus führte in direkter Linie ein feiner, kaum sichtbarer Faden aus schimmerndem Material zu Jemans Füßen.
Jeman stand auf einem Seil!
„Jeder Kristall in dieser Stadt ist mit einem Seil verbunden, das an dem anderen Ende wieder mit einem Kristall befestigt ist.
Man muss ganz genau wissen, wo die Fäden entlang laufen, damit man sich darauf bewegen kann.“
Kira starrte auf den Faden. „Es ist wie mit den Funken, aus denen unser Sturm bestand, richtig?“
„Richtig“, bestätigte Jeman, „Euer Sturm war aus des Fragmenten eurer Kardia gemacht. Sie hat sich aufgelöst und euch gerettet. Diese Seile, auf denen ich momentan stehe sind aus denselben Funken gemacht, die die Kardia beinhaltet. Bei euch wird es genauso funktionieren.“
Er schwieg.
Jeman wartete auf etwas.
„Mann“, stöhnte er, „seit ihr schwer von Begriff. Das war eine Aufforderung! Kommt gefälligst hier rauf!“
Kira und ich wechselten einen Blick.
Doch dann zuckten wir gleichzeitig mit den Schultern und standen auf.
Ich trat zuerst vor.
Vorsichtig setzte ich den Fuß auf die Luft, die ein wenig grün schimmerte. Kristalle waren durch unsichtbare Seile miteinander verbunden? Nun, es passte zu dieser Welt.
Und wirklich, ich fühlte einen winzigen Widerstand. Gerade groß genug, um mich zu tragen.
Wie funktionierte das wohl? Wurde dafür wirklich die Kardia auseinandergerissen?
Ich verlagerte mein restliches Gewicht auf das vordere Bein. Plötzlich sackte ich in das Seil ein. Wie wild ruderte ich mit den Armen, als ich das Gleichgewicht verlor.
Und dann kippte die Welt um.
Aus den Augenwinkeln sah ich Kira schreien, doch es war kein Laut da.
Der Boden kam auf einmal immer näher, immer und immer näher. Steine, die auf mich zurasten.
Kurz, bevor ich den Boden berührte, spürte ich einen scharfen Schmerz an meinem Knöchel.
Einen Sekundenbruchteil später wurde ich zurück gerissen. Unter mir entfernten sich die Steine wieder von meinem Gesicht.
Dann drehte sich die Welt erneut, diesmal in die andere Richtung. Hastig krallte ich mich am Vorsprung fest, auf dem Kira noch immer stand und vor Schreck die Hände vor den Mund zusammengeschlagen hatte.
Mit einiger Anstrengung konnte ich die Arme auf den Vorsprung legen.
Unter mir gähnte der Abgrund.
Wild trat ich um mich, in der Hoffnung, ich könnte irgendwo an der glatten Wand des Turmes Halt finden.
Im Nachhinein glaube ich, dass ich, wenn ich den Mut und die Gelegenheit gehabt hätte, nach unten zu sehen, wohl ein bekanntes grünes Glitzern hätte sehen können.
Dann fanden meine Füße Halt auf etwas, das auch schon wenige Sekunden später nicht mehr da war.
Ich rappelte mich auf und schnellte in die Höhe, wohlweislich vom Abgrund fernbleibend.
„Was sollte das denn?“, rief ich händeringend.
„Hm?“, fragte Jeman, „Was meinst du?“
„Ich wäre fast abgestürzt! Das meine ich!“
„Oh, das? Du bist doch nicht verletzt, oder tot oder so etwas?“
„Neinnein, ich glaube nicht...“, stammelte ich nervös. Jemans Art, mit der Situation umzugehen, war etwas verwirrend.
„Und war es gefährlich?“, hakte er nach.
„Nun, eigentlich nicht. Ich glaube, das Seil hat mir das Leben gerettet.“
Hatte es das? Oder war es Jeman? Aber der hätte doch garantiert damit angegeben, oder?
„Weißt du Kumo“, begann Jeman, „Am Anfang hast du die ersten paar Tage, die du bei uns sein wirst, eine Art Versicherung, dass du nicht abstürzen wirst, solange du dich auf einem dieser Seile befindest.“
„Versicherung. Du willst mich doch wohl verarschen? Und du hast mir immer noch nicht gesagt, wer du eigentlich bist.“
Jeman seufzte und balancierte über das Seil wieder zu uns auf den Absatz der Turmuhr, wo er sich hinsetzte.
Sterne bedeckten nun das Firmament. Dunkler Stoff wurde durchbrochen von stecknadelkopfgroßen Lichtpunkten.
Und irgendwo in der Turmuhr, an der wir lehnten, ratterte ein neuer Mechanismus, der vorher noch nicht da gewesen war.
Es endete mit einem Surren wie von einem losgelassenen Zahnrad unter Strom.
Jeman sah in die Stadt hinunter. „Passt auf, ihr beiden.“
Ich sah mich um und bemerkte das riesige Zifferblatt in meinem Rücken. Die gewaltigen Zeiger standen fast übereinander auf der gusseisernen Zwölf.
„Die Mitternachtsverschiebung“, hauchte ich ehrfürchtig.
Aber... wenn die Verschiebung von neun Zeigerädern ausgelöst wurde, dann musste es auch einen Mittelpunkt geben. Und das war scheinbar die Turmuhr, auf der wir saßen.
Dann löste sich auch schon das Ungetüm aus Stille von der gigantischen Uhr. Kaum berührten die Zeiger einander, wurde ein monströses Geräusch geboren, das sich mit klirrenden Schuppen über die Dächer hangelte, die im Licht des Mondes so weiß waren wie Schneefelder.
Verträumt schaute ich auf die Stadt hinunter und wartete auf das Gepolter der Mitternachtsverschiebung.
Und wirklich.
Ganz außen, am Stadtrand, für uns fast hinter dem Horizont, lösten sich einige Häuser aus ihrem Stammplatz für den Tag und glitten auf einer unbekannten Bahn durch die Nacht.
Schon griff die Bewegung auf den zweiten Stadtteil über. Schon nach wenigen Sekunden war die ganze Stadt in Aufruhr.Wie ein Haufen aus riesigen, silbernen Fischen, tummelten sich die Häuser in ihrem seltsamen Tanz auf den Straßen.
Von hier oben hatte man einen fantastischen Ausblick über das Spektakel, das, soweit ich es beurteilen konnte, kein Muster zu haben schien. Außer, dass es immer um Mitternacht dazu kam, dass eine geheimnisvolle Macht alle Häuser verrückte.
Doch dann fiel mir etwas auf.
Es war eine himmlisch gemeine Mischung aus Erinnerung und Erkenntnis,
Oma Honig hatte in der letzten Nacht gesagt, es wären neun Zifferblätter, die die Häuser über die Stadt schoben. Natürlich, dort, wo die Bauten gestanden hatten, sah man kleine und große Zahnräder aufblitzen.
Dennoch... Es war falsch. Oma Honig hatte von NEUN Zifferblättern gesprochen. Ich konnte allerdings nur ACHT Kreise entdecken, die sich untereinander nicht vermischten.
Zwar rasten Häuser über Häuser, doch sie blieben innerhalb von acht Kreisen unter sich, so dass ein Haus vom Stadtrand niemals in die Nähe der Turmuhr gelangen konnte.
Vorsichtig machte ich Jeman darauf aufmerksam.
Der zögerte, bevor er antwortete. „Das ist... das ist das Geheimnis dieser Stadt.“
Geheimnis? Ach, mal was ganz was Neues!, dachte ich empört.
„Folgt mir“, winkte Jeman.
Er stand wieder auf und drehte sich um zur Uhr, so dass er gegen das große Zifferblatt sah. Dann hob er die Hand und klopfte an die gusseiserne Sechs.
Sofort zerfiel das Eisen zu Staub und offenbarte einen dunklen, perfekt quadratischen Gang. Auf dem Boden war ein langes Rechteck aus Mondlicht gemalt, das durch die Tür hinein fiel.
Es wurde ein wenig kühl, als wir eintraten. Hinter uns rumorte die Stadt im Griff der Mitternachtsverschiebung.
Hier herrschte ziemlich finstere Finsternis. Und der Geruch... Der Geruch war mir sehr vertraut. Ich hatte es, glaube ich, bereits erwähnt.
Maschinenöl. Schmiere.
Wir gingen einige Schritte auf einem metallenen Untergrund, der leise klirrte, als unsere Füße darüber liefen.
Wir sahen die Hand vor Augen nicht.
Wie schon mal beschrieben. Hände sind nicht sonderlich interessant. Es lohnt sich also nicht, sie im Dunkeln zu sehen, doch es wäre zumindest hilfreich gewesen. Es gäbe Gewissheit, dass die Dunkelheit NATÜRLICH war.
Dann ging das Licht an.
Es war... beeindruckend.
Ich hatte einen weißen Gang gesehen, war durch pure Finsternis in ein Haus mit tausend gefährlichen Türen gefallen, hatte einiges erlebt, doch das hier übertraf alles bisherige.
Man stelle sich einen Raum vor.
Nein, falsch.
Man stelle sich einen alten Wecker vor. Stellt ihn euch vor und vergrößert ihn dann auf die Ausmaße eines Hochhauses und noch ein Stück weiter.
Dann geht durch eine Tür hinein. Schiebt alle Zahnräder beiseite, bis nur noch ein einziges übrig bleibt, riesig wie eine Tanzfläche in einem königlichen Schloss, die frei im Raum hängt, nur gehalten von drei dicken Eisenketten.
Stellt euch auf dieses letzte Zahnrad und seht euch um.
Ihr seht einen Wecker von innen, eine gigantische Uhr.
An allen vier Wänden schimmern die Zifferblätter statt der Wand, beleuchtet vom Licht des großen Mondes über einer tickenden Stadt.
Hoch oben drehen sich langsam monströse Getriebe und Federn. Zahnräder, bemalt mit Monden, Sternen und Sonnen, drehen sich langsam über euch.
Ich stand dort und verstand die Welt nicht mehr.
Unter mir kreisten weitere Räder. Ketten rasselten in der Finsternis, in der sich die Wände verloren.
Und alles, was mit blieb, war die Gewissheit, dass ich nicht hier her gehörte.
Jetzt erst bemerkte ich einige Schemen, die am Rand des großen Zahnrades standen, uns in ihrer Mitte.
Etwa ein dutzend fremde Personen in schwarzen Mänteln beobachteten uns. Und sie erwarteten etwas.
Ich hasste es, wenn fremde Personen etwas von mir erwarten, wovon ich nicht weiß, was es ist.
Ich drehte mich um, um hinter mir zu sehen, ob jemand etwas tat.
Ich prallte zurück, als ich plötzlich vor einer großen Gestalt stand, die sich vor mir aufbaute und mit tiefer Stimme sagte: „Kumo und Kira. Ihr seid vom Schicksalsspieler auserwählt worden um dazu beizutragen, den Meister der Schatten aufzuhalten. Doch um an unserer Seite kämpfen zu können, müsst ihr drei Prüfungen bestehen.“
Skepsis legte sich über mein Gesicht, als die Gestalt verkündete: „Prüfung Nummer eins! Reaktion.“
Ich dachte gerade noch: Reaktion? Was zum...
Doch da spürte ich auch schon die kleinen Bewegungen der Luft. Schnell sprang ich zurück und landete drei Meter weiter elegant auf dem Boden.
Die Gestalt drehte sich zu den anderen um und sagte: „Prüfung eins! Reaktion. Bestanden!“
„Was sollte denn der Mist?“, schrie ich, „Seit ihr verrückt?“
Ein Kopf, der mit einer schwarzen Kapuze verhüllt war, zuckte zu mir herum. „Bist du normal?“, kam die Antwort.
Völlig verdattert stotterte ich: „Ich... ich glaube... ja.“
Langsam wandte sich die Kapuze wieder ab und rief: „Prüfung zwei! Stärke!“
Auf einmal rutschten hunderte schwarze Flecke über das Metall des Zahnrades.
Hunderte, tausende.
Und in ihren Reihen blitzten Gestalten auf. Gesichter wie Masken, Haare wie bunte Staubwedel.
Nicht schon wieder.
Die Finsterflecken rasten aufeinander zu und verbanden sich zu einer dunklen Stelle auf dem Boden. Sofort lag das Zeigerschwert in meiner Hand. Ich nahm mir vor, mal zu fragen, wo das Ding überhaupt her kam.
Dann schmolz die Gestalt rückwärts. Sie erhob sich aus dem Boden und fiel auf die knochigen Knie.
Wiedereinmal starrten mich zwei große, leere Augen an.
Doch dann war auf einmal gar nichts mehr.
Der Finsterfleck rührte sich nicht.
Was sollte das? Sollte das ein Scherz sein?
Als ob jemand meine Gedanken las, ignorierte das Biest die Naturgesetze mal gerade eben so und erhob sich auf zwei riesigen, klirrenden Schwingen in die Luft.
Zwischen den mechanischen Streben waren dünne Metallplatten gespannt, die als Flughäute dienten und das Viech oben hielten.
Kira berührte meine Schulter und deutete nach oben zu dem Etwas in der Luft, als ob sie mich auf etwas...
Das blöde Teil war auf einmal zweimal anwesend!
Ich ließ die Schultern sinken und sah Kira an. Auf ihrer Fingerspitze drehte sich das Zahnrad.
Sie hatte eine Hoffnung, dass wir überleben konnten.
Also konnte es ja wohl nicht so schwer sein, oder? Ich seufzte und hob mein Schwert gen blöde Mistviecher.
Schließlich nickte ich Kira zu und wir liefen los. Wie das letzte Mal.
Das letzte Mal.
Aber dieses Mal würden wir es gleich besser machen.
Ich schwang einmal meinen Zeiger und um mich herum brandete der Sturm aus grünen Funken auf.
Praktisch wenn etwas gutes passiert, ohne, dass man weiß, wie man es macht.
Auch Kira verschwand in einem Funkenregen.
Zusammen rauschten wir auf die Dinger zu.
Doch kurz, bevor wir es erreichten, verschwand es.
Wie abgeschossen fielen wir aus der Luft und kamen ein wenig unsanft auf dem Boden auf, der nebenbei bemerkt nicht gerade aus Kissenbergen bestand.
„Prüfung zwei! Stärke. Bestanden!“
Was?, dachte ich, wagte aber nicht, zu widersprechen. Man konnte immer hoffen, doch an sollte sich nie auf die Hoffnung verlassen.
Die schwarze Gestalt drehte sich zu mir um und ich erwartete fast eine Verbesserung des Ergebnisses, als sie uns zu flüsterte: „Stärke ist nicht nur körperlich wichtig. Dieser Test war für den Mut gedacht.“
Ich hätte es ahnen sollen. Mut statt Stärke. Nun, dies hier war eine andere Welt, warum also nicht?
Die Stimme wieder erhoben, erklang es nun: „Prüfung drei!“
Hm? Kein blöder, irreführender Prüfungsname? Keine weitere Ankündigung? Vielleicht ein Haken? Aber mir sollte es nur recht sein.
Eine der schwarzen Leute trat vor und nahm die Kapuze ab. Ein fein geschnittenes Gesicht kam darunter zum Vorschein. Schwarze Haare standen in alle Richtungen ab und wurden farblich ins Chaos gestürzt durch eine einzelne giftgrüne Strähne.
Ohne ein Wort zu sagen breitete er die Arme zu beiden Seiten aus und einen Moment herrschte Stille.
Dann plötzlich riss der Boden auf. Breite Spalten entstanden in dem gold- glänzenden Messing des Zahnrades auf dem wir standen und das nun in seine Einzelteile zerfiel. Um mich herum klafften mit einem Mal kreisförmige Löcher auf und trennten mich von Kira, die bis eben noch neben mir gestanden hatte.
Ich versuchte noch, das Gleichgewicht zu halten, doch da rauschten wir auch schon in die Tiefe.
Der Wind zerrte an meinen Haare und ließ meinen Kapuzenpulli flattern.
Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht, etwas hinderte mich daran.
Kira war plötzlich neben mir. Sie lachte.
Lachte wie damals, als wir durch die Dunkelheit gefallen waren. Wir waren nicht gestorben. Wir hatten ein neues Leben angefangen.
Und Kira kicherte.
Glockenhell klang das Lachen durch den Turm.
Doch mit dem Klang stimmte etwas nicht. Es hallte nicht, wie es das eigentlich in einem so leeren Raum hätte tun sollen.
Ich ruderte ein wenig mit den Armen, Kira tat es mir gleich und wir landeten in der Senkrechten, weiterhin auf dem Weg nach unten.
Doch dann lachte auch ich.
Es schien mir nicht nur richtig; ich versuchte wohl auch irgendwie die Angst zu vertreiben, die inzwischen seit den geflügelten Finsterflecken meine Beine zittern ließ.
Dann wandte ich mich nach oben, wo die dunklen Gestalten, die auf einer unsichtbaren Plattform zu stehen schienen, immer kleiner wurden.
„Ich wusste es!“, rief ich zu ihnen hinauf, „Es ist die dritte Prüfung! Es ist der Wille!“
Urplötzlich riss die Dunkelheit um uns herum auf und löste sich von der Realität ab wie eine verschimmelte Wurst die de ersten primitiven Lebensformen entwickelt und auf seltsamen Tentakeln über den Boden davon kriecht.
Ein Dutzend schwarz gekleidete Gestalten standen um uns herum, wir in der Mitte.
Na gut! Ein dutzend minus zwei.
Denn einer stand neben uns und durchbohrte uns mit unsichtbaren Augen. Der andere hatte die Arme halb sinken lassen und umklammerte nun mit beiden Händen seinen Kopf.
Die Gestalt in Schwarz neben uns sagte mit einer ein wenig zitternden Stimme: „Prüfung drei! Wille zum Leben. Bestanden!“
Der junge Mann mit der grünen Strähne ging ein bisschen taumelnd auf uns zu und gab uns die Hand.
„Wann habt ihr bemerkt, dass es nur eine Illusion ist?“, fragte er.
Bevor ich das Wort ergreifen konnte, begann Kira: „Illusionen sind lustig. Immer, wenn ich mit einer Illusion konfrontiert werde, muss ich anfangen zu lachen.“
„Mhm. Muss ich mir merken. Und du, Kumo?“
„Warum kennt hier eigentlich jeder unsere Namen?! Das nervt langsam!“, bemerkte ich nörgelnd.
Der Grünsträhnige seufzte. „Nun gut. Und du, unbekannter Junge mit schlechter Frisur, wann hast du es bemerkt?“
Er lachte laut. „Willkommen, Kumo, bei den Railrunnern.“
„Guten Morgen, Kumo!“, rief jemand.
Ich erwachte ein wenig benommen aus einem interessanten Traum, in dem Drachen und Kekse eine wichtige Rolle spielten. Den genauen Zusammenhang konnte ich jedoch nicht entschlüsseln, was vermutlich an dem Mitwirken der Drachen darin lag.
Ich öffnete die Augen vorsichtig und blinzelte ins Licht, das durch ein Fenster schien.
Das Fenster steckte in einer Holzwand, die Holzwand schloss an zwei weitere Holzwände an, die wiederum mit einer vierten Wand verbunden waren, in der eine Tür war, in der nun eine alte Frau stand und breit grinste. Sie hielt ein Tablett in der Hand und schien einen gewaltigen Drang nach Sport unterdrücken zu wollen.
Der Schokolinsenkaffee schwappte in der Tasse gefährlich hin und her und die Marmelade auf den geschmierten Broten vibrierte wie kleingehäckselter Pudding.
Oma Honig stellte rasch das Tablett ab und hüpfte zur Tür hinaus, mit dem freundlichen Hinweis, dass heute mein erster Tag sein.
Wie könnte ich das vergessen haben?
Mein erster Tag bei den Railrunnern.
Unser erster Tag bei den Railrunnern.
Der gestrige Tag war nur noch ein verschwommenes Bild in meiner Galerie der Erinnerungen. Ein überbelichtetes Foto in einem Katalog. Ob es in dieser Welt auch Fotoapparate gab?
Ich schwang die Beine aus dem Bett und brachte meine Frisur einigermaßen wieder in Ordnung.
Vermutlich tat Kira in diesem Moment genau das gleiche.
Dann setzte ich mich an den Holztisch und aß mein Frühstück.
Während ich die süßen Brote genoss, blickte ich wieder zum Fenster.
Es war aus Glas. Mit einem Holzrahmen.
An der Decke hing ein Metallgestell mit Kerzen. Ein kleiner Kronleuchter.
Etwas klopfte, als ich hinsah, an die Scheibe.
Ich rieb mir verwundert die Augen, bekam ein wenig Marmelade hinein und rieb sie mir noch einmal.
Dann ging ich zum Fenster und öffnete es.
Ein riesiges Lächeln strahlte mir entgegen.
Ich trat zur Seite, um den überraschenden Gast hinein zu bitten. Der ließ sich seine Chance nicht entgehen und hüpfte ins Zimmer.
Schnurstracks rutschte er über den Boden.
Verdattert fragte ich zögernd: „Verzeihung, Sir?“
Der Gast drehte sich um. „Hm?“
„Sind Sie wirklich...“
„Wohl noch nie einen Fisch mit Strohhut gesehen oder was ist los?“, kam die Antwort wie aus der Kanone geschossen.
Mein geschuppter Gast drehte sich wieder zur Tür um und sprang in die Höhe. Doch die Klinke war viel zu hoch angebracht, als dass er sie erreichen konnte.
Letzten Endes, nachdem ich dem Schauspiel einige Zeit lang zugesehen hatte, erbarmte ich mich seiner und öffnete ihm die Tür.
Mit ein wenig seltsam anmutenden Bewegungen stolperte und zuckelte der Fisch in den Gang hinaus.
Oder... das, was vorher mal der Gang war.
Entweder, ich hatte wirklich lange geschlafen, Oma Honig war kein Stück älter geworden und Marmelade existierte auch in der Zukunft, oder es waren Magie & Co am Werk.
Denn ich war mir sicher, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem ich eingeschlafen war, noch kein Meer vor meiner Tür war.
Und zwei Meter weiter stand, mitten auf dem Sand, die Tür zu Kiras Zimmer. Die Tür war einen Spalt weit geöffnet und offenbarte ein einzelnes Auge, das gerade einen Fisch mit Strohhut beobachtete, der sich an einer Palme zu schaffen machte.
Ich knallte die Tür zu und machte sie in die andere Richtung wieder auf.
Nun war der Gang wieder da.
Eine Tür weiter klackte es ebenfalls, als eine zweite Tür in Schloss fiel und wieder auf ging.
Kira und ich standen auf dem Gang und sahen uns an.
„Ich habe nichts gesehen, wenn du nichts gesehen hast“, löste ich schließlich das Rätsel auf.
Ich drehte mich um und ging die Treppe nach unten.
Jede zweite Stufe knarrte. Jeder dritte schien zusammenzubrechen und alle übrigen waren wie aus Eisen gemacht.
Wir passierten den Tisch, an dem ich Oma Honig zum ersten Mal hatte sitzen sehen. Nun war er leer bis auf eine weiße Vase, in der einige rote Rosen standen.
Die Tür.
Oma Honig wartete schon auf uns und reichte uns zwei dunkelgraue Mäntel.
„Hatten wir nicht letztes Mal andere Mäntel?“, fragte ich sie.
Plötzlich wurde ihr Blick so ganz anders als ich ihn kannte.
„Ihr seid nun Railrunner. Ihr könnt kein Weiß mehr tragen“, antwortete sie tonlos.
Ich versuchte, es zu überhören.
Dunkel war die Nacht, nur der Mond stand riesig am Himmel wie eine andere Welt, die mit dieser hier zusammenstoßen wollte.
Ich stieß mich von dem Seil ab und sprang auf ein naheliegendes Dach. Die Dachpfannen klirrten leise unter meinem Gewicht.
Ich sah auf und schaute in den Himmel. Dort ragte der Uhrturm aus dem Meer der Häuser wie ein einsamer Leuchtturm aus der Sturmflut.
Mein Blick fiel auf das kleine braune Päckchen in meinem Arm.
Ich musste lächeln.
Das war also die Aufgabe der Railrunner.
Ich sprang vom Dach und landete wieder auf einem Seil, das meinen Fall so gut es ging auffing.
Wie der Wind lief ich über die fest gespannten Ketten und Seile. Unter mir glitten die Straße dahin wie Schlangen auf heißem Stein.
Kein Mensch war zu sehen.
Sie hatten alle Angst.
Vor der Mitternachtsverschiebung.
Vor den Monster die sich in der Nacht in den Schatten tummelten, als wären sie ein Schwarm blutsaugender Motten.
Und vor etwas anderem.
Eine Vermutung in mir dachte daran, dass es vielleicht, aber auch nur eventuell, wenn es der Umstand zuließe, dass es absurderweise und völlig zufällig...
Die Vermutung kam ins Wanken, kippte um und ich mit ihr.
Hart schlug ich auf den Steinen auf.
Mein Hinterkopf prallte auf den Boden. Schwindel mischte sich mit der Übelkeit von drei Überschlägen, die ich mit Perfektion, doch ohne meine Zustimmung gemeistert hatte.
Natürlich hielt niemand ein Schild mit der Nummer zehn hoch, damit auch jeder mitbekam, was ich gerade vollbracht hatte.
Ich seufzte.
Konzentration Kumo, sagte ich mir und blickte nach oben, wo das Seil hing. Ein Glück, dass es nicht all zu hoch war.
Ein Schatten regte sich unter seines Gleichen.
Es war viel zu dramatisch.
Im Hintergrund konnte ich fast die Musik hören, die das drohende Unheil ankündigte.
Eine Gestalt löste sich aus der Finsternis und kam auf mich zu.
Doch... sie trug einen schwarzen Mantel. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass sie es nicht erst meinte.
Schwarz ist, zusammen mit Weiß, die auffälligste Farbe, wenn es um Tarnung geht. Grau ist gut, Grau ist unsichtbar bei Tag und Nacht.
Mehr aus Intuition denn aus Notwendigkeit fragte ich: „Wer ist da?“
Die Person nahm die Kapuze ab.
Mondlicht schien auf einen roten Haarschopf, der in zwei dicken Zöpfen auf beiden Seiten des Kopfes ab stand.
„Mein Name ist Yutaki, Zwerg“, meinte das Mädchen.
„Kumo“, korrigierte ich.
„Gesundheit, Zwerg.“
Ich sah auf meine innere Uhr. Vier Sekunden, nachdem ich sie kennen gelernt hatte, mochte ich sie nicht.
„Mein Name ist Kumo. Nenn mich nicht Zwerg“; sagte ich und fügte sogleich hinzu: „Was willst du hier?“ Es konnte nie schaden diese Frage zu stellen.
„Sei nicht so rotzfrech, Zwerg. Ich bin bei diesem Auftrag dein Partner.“
Ich korrigierte meine zuvor in Gedanken verkündeten Angaben ein wenig.
Zwanzig Sekunden und ich hasste sie schon.
„Partner?“, fragte ich, „Wieso Partner?“
„Ach komm schon, Zwerg. Das ist dein erster Auftrag. Außerdem ist es nicht erwünscht, wenn ein Mitglied alleine auf Mission geht. Wenn du einen anderen Partner möchtest“, sie beugte sich zu mir herunter, denn sie war knapp zwei Köpfe größer als ich, „Wenn du tauschen möchtest, dann heul dich doch bei deinem Jeman aus, du Zwerg.“
Sehnsüchtig blickte ich zum Himmel. Vielleicht hatte ich ja Glück und ein Amboss fiel vom Himmel herab und landete genau hier, einen Meter vor meinen Füße und rammte eine rothaarige Schreckschraube in den Boden.
„Nun komm schon, Zwerg. Ich will zur Mitternachtsverschiebung hier weg sein.“ Sie drehte sich um und ging.
Warum konnten Götter nur nicht einmal einen Fehler machen und etwas so richtig Schweres fallen lassen?
„Hast du nicht gehört, Zwerg?“
Nur einen kleinen Amboss.
„Hey, sieh mich an, wenn ich mit dir spreche!“
Ein Ambösschen?
„Komm gefälligst mit!“
Einen Felsen?
„Gleich werde ich wütend!“
Einen Ziegelstein?
„Himmel, was für eine Nacht. Komm gefälligst mit!“
Etwas packte mich am Arm und zerrte mich die Straße hinunter.
Rückwärts geschleift zu werden ist zwar nicht gerade die beste Fortbewegungsmittel, doch was ich nun sah, ließ mich stutzen.
Eine verspätete Taube in einem giftgrünen Federkleid, das in der Finsternis ein wenig leuchtete, hüpfte die Straße entlang.
Etwa auf der Mitte des Weges blieb sie stehen und suchte nach einigen Körnern von was auch immer. Keine Sekunde später quietschte es einmal sehr laut, als sich ein Kieselstein in den Rücken der Taube bohrte und sie dort am Boden festnagelte, wo zuvor noch Yutaki gestanden hatte.
Mist.
Einige Zeit später, fast drei Straßen seit der genagelten Taube, ließ mich Yutaki endlich los.
Sie blickte erst nach oben und dann nach unten auf den Boden.
Zu mir gewandt befahl sie: „Geh da hoch Zwerg. Ich mache das.“
In mir entstand der unwiderstehliche Drang, dem Befehl Folge zu leisten. Ich hasste mich dafür.
Zuerst wollte ich fragen, wohin genau, denn dort oben war nichts.
Doch nach einem zweiten Blick sah ich ein dünnes Seil schimmern. Es konnte fast als Faden bezeichnet werden.
Ich ging in die Knie und stieß mich vom Boden ab.
Mein grauer Mantel flatterte in der kalten Nachtluft, als ich landete.
Wieder klirrten einige Schindeln unter mir.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass Yutaki mir nach hüpfen würde. Doch sie blieb regungslos auf der Straße stehen.
Nun, den Auftrag konnte sie nicht alleine ausführen, denn das Päckchen befand sich weiterhin in meinem Besitz.
Aber was wollte sie dann da unten?
Plötzlich schienen die Schatten ein wenig dunkler. Nur ein bisschen.
Von meinem Beobachtungsposten aus konnte ich sehen, wie sich Yutakis Körper anspannte.
Die Schatten verdichteten sich sofort zu Finsterflecken.
Metall glänzte im Licht des Mondes. Scharfe Klauen klackerten. Augenblicklich spürte ich augenlose Blicke auf mir ruhen. Unheimlich.
Sie sahen mich an!
Ich senkte den Kopf und sah auf das Päckchen in meiner Hand.
Wollten sie das?
Wozu? Ich widerstand dem Drang, das Papier aufzureißen.
Und dennoch wollte ich wissen, was darin war, wohinter sie her waren.
Yutaki bemerkte die Blicke der Finsterflecken.
Sie wirbelte herum. Ihr Mantel beschrieb einen eleganten Halbkreis, der sich wie ein kleiner Sturm um sie drehte.
„Renn! Zwerg!“, schrie sie zu mir hoch.
Unfassbar, dass sie mich in einer derart gefährlichen Situation immer noch Zwerg nannte.
Gefährliche Situation?
Ich könnte einfach das Päckchen wegwerfen.
Aber dies hier war mein erster Auftrag. Ich durfte es nicht vermasseln.
Ich seufzte.
Dann schloss ich die Augen und drehte mich um.
Hinter mir hörte ich, wie sich tausende Kilos aus wahrscheinlich blutverschmierten Metallteilen in Bewegung setzten.
Klirren und Rasseln stieg hinter mir auf.
Ich sah es, wie man in einem schwarzen Raum eine weiße Katze findet.
Interessant. Luft übertrug Geräusche. Luft. Mein Element.
Ein roter Schein, ein helles Geräusch als Farbe, glomm schwach, flackerte und erlosch wieder.
Dann lief ich los.
Unter meinen Füßen glitzerte es ein wenig grünlich, doch das interessierte mich nicht.
Ich lief durch die Stadt.
Ich lief auf ihren Dächern.
Ich lief an Schornsteinen vorbei, über Dächer und Seile.
Ich lachte.
Doch mein Lachen verschwand, als vor mir auf einmal eine Gestalt auftauchte. Unheilvoll schimmerten gigantische Löcher statt Augen in der fast weißen Maske. Ein riesiges Grinsen ließ zwei Reihen aus messerscharfen Zähnen sehen.
Dann fiel das Ungeheuer vorn über.
Ich wusste, was nun kam.
Es würde nach mir greifen, ich würde ausweichen.
Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage nach dem „Warum“.
Es war doch ein mächtiges Monster.
Warum verbeugte es sich vor einem wie mir? Einem normalen Menschen?
Ich überdachte den Satz noch einmal und strich schließlich das mit dem Normal aus dem Satzgefüge.
Plötzlich veränderte sich der Ausdruck auf dem steinernen Gesicht des Wesens. Aus einer ungerührten Mine wurde eine noch härtere Visage.
Nicht, dass es möglich gewesen wäre, einer Maske echte Emotionen zu geben, aber in dieser Welt war es scheinbar normal, dass Dinge nicht normal waren. Man denke nur mal an Fische und Tauben.
Das Grinsen blieb, doch der gigantische Finsterfleck blickte nach unten. An sich selbst herunter.
Ich folgte dem Blick.
Warum war es mir nicht vorher aufgefallen?
Ich hörte, wie hinter mir dutzende kleinerer Finsterflecken anhielten.
Wenn man es schaffen würde, eine Schlange in einen Kaugummiautomaten zu quetschen, es zu überleben, dass man sie beinahe drei mal so lang zog und sie in Öl tauchte, sie anzündete und mit einem mehr oder weniger professionellen Knoten um die Taille eines Monsters aus Metall schlingen könnte, dann hätte man ungefähr das Bild, was sich mir soeben bot.
Vor mir türmte sich ein haushohes Ungetüm auf, das gerade verzweifelt an einem rot glühenden Seil zerrte, das sich immer enger um die Hüfte des Finsterflecks zog.
Drei oder viermal schlang sich der Strick um das Metall.
Und er brannte. Weiß und rot flackernde Flammen tanzten über die schlangen ähnliche Fessel und brannten sich in das Kupfer, das inzwischen anfing, sich in hellen Tropfen zu verdünnisieren.
Der Finsterfleck schrie. Er kreischte, bäumte sich auf.
Ich sah, wie höllische Schmerzen als dünne Flammenzungen sich über die stählerne Brust einen Weg nach oben bahnten.
Verzweiflung in augenlosen Augenhöhlen.
Schmerz in harten Stimmbändern.
Angst in zitternden Klauen.
Mitleid in...meinem Herzen?
Ich legte vorsichtig die rechte Hand auf meine linke Brust.
Mitleid?
Mit einem Monster, das mich umbringen wollte?
Absurd.
Und doch...
In meiner Rechten erschien das Zeigerschwert. Das plötzliche Gewicht auf meinem Brustkorb ließ mich ein wenig taumeln. Seit wann war es so schwer?
Ich richtete mich wieder auf und sah noch einmal in die dunklen Augenhöhlen.
Ja, Mitleid.
Das Zeigerschwert wurde ein wenig leichter.
Ich sah mich um und bemerkte die restlichen Finsterflecken, die sich an einem Schornstein zusammendrängten.
Dann übermannte mich mein Herz.
Ich machte einen Satz auf den Finsterfleck zu und trennte ihm mit einem sauberen Schnitt den Kopf von den Schultern.
Es floss kein Blut, kein Öl oder etwas ähnlich ekeliges.
Das metallene Haupt kullerte über das Dach davon. Violette Haare schwangen wie eine Schärpe im Rhythmus der Bewegung mit, als sich das Monster langsam in Dunkelheit auflöste.
Der Körper schaukelte vor und zurück und kippte schließlich um.
Hinter dem monströsen Rücken kam eine Person zum Vorschein. Sie trug eine schwarze Kutte und hielt ein Seil in der Hand, das noch einige letzte Funken spuckte.
Yutaki ließ die Peitsche sinken.
Sie starrte mich böse an. Ihr Blick war jedoch nur wie ein Höllenfeuer.
Der angstvolle Schrei des Finsterflecks hatte mir die Kälte aus den Gliedern getrieben. Es war eine ganze Hölle gewesen.
Sie schüttelte traurig den Kopf.
„Du musst noch viel lernen, Zwerg. Es sind gefühllose Monster. Sie haben kein Herz, kein Nervensystem, kein Gehirn“, meinte sie herablassend. „Glaub mir, entweder du bist für die oder für uns. Töte sie nicht, weil sie dir leid tun. Töte sie, weil du sie hasst.“
Sie machte eine Pause.
Ich hielt den Kopf gesenkt.
Es hatte mir Leid getan.
Es.
Es war kein Es. Es war lebendig. Ich wusste es.
Yutaki drehte sich von mir ab. „Komm, Zwerg. Wir müssen noch etwas abgeben.“
Ich hörte sie etwas murmeln von wegen „Zwerg... Beleidigung....unter meinem Niveau...alberne Spielchen...“
Zusammen gingen wir langsam über die Seile.
Im Schritttempo war es viel schwieriger, das Gleichgewicht zu halten.
Einige Zeit gingen wir so.
Unter uns wanderten Laternen vorbei.
Niemand war auf den Straßen.
Doch einmal hörte ich ein Fenster zuschlagen. Als ich genauer hinhörte, vernahm ich leises Geflüster. Heisere Stimmen wisperten hinter verschlossenen Türen. Die Menschen hatten Angst vor den Finsterflecken.
Angst vor der Dunkelheit.
Sie verbarrikadierten sich des Nachts in ihren Häusern, machten Kerzen und Lampen an, um nur ja keine Schatten von draußen herein zu lassen.
Und während die Bevölkerung dieser Stadt langsam in die alltägliche Flucht rutschte, bereiteten sich die Railrunner auf einen Angriff auf den Schattenmeister vor.
Einen letzten, vernichtenden Angriff auf den Ursprung alles Schlechten.
Und wir würden dabei sein.
Ich prallte fast gegen Yutaki, als diese plötzlich stehen blieb. Zum Glück standen wir derzeit auf einem Dachfirst. Auf einem Seil hätte ich vermutlich das Gleichgewicht ein wenig verloren.
Sie deutete auf ein kleines Haus, das im Zuge der letzten Mitternachtsverschiebung zwischen zwei großen Häusern eingeklemmt war.
Es hatte ein schiefes Dach und auch die Wände waren nur in einer verrückten Parallelwelt einigermaßen gerade.
Kleine runde Fenster leuchteten wie blinzelnde Augen in die Nacht hinaus. Hinter den Vorhängen regte sich ein Schatten.
Unser Ziel.
Vorsichtig sprangen wir auf die Straße. Das Paket klapperte.
Seltsam.
In der ganzen Zeit, in der ich es besaß, hatte es nie auch nur ein Knistern von Papier von sich gegeben.
Es war, als wollte es zu dem Haus. Zu seinem Bewohner.
Die Tür war wie das Haus. Klein, geduckt, fast unsichtbar in der Fassade.
Ich wollte gerade anklopfen, da sprang die Pforte auch schon auf.
Dahinter wartete ein kurzer Gang.
Weicher Teppich wogte wie ein kleines Meer unter meinen Füßen. Wie Gischt segelten einige Staubkörner durch die Luft und landeten auf meiner Schulter.
Am Ende des Ganges war eine Tür. Sie war ebenso winzig wie das Eingangsportälchen.
Doch im Gegensatz zu ihr ging sie nicht einfach auf. Sie blieb zu, selbst als ich klopfte. Schließlich wurde sie auf geschoben von einem Zwerg.
Kein Gartenzwerg, Gott bewahre. Auch kein Zwerg mit einer Streitaxt, einem Schwert oder gar einer Kettensäge.
Dies hier war einfach nur ein kleiner Mensch.
Auch wenn...
Er sah irgendwie aus wie ein altes Buch.
Ich konnte nicht genau sagen, warum, doch seine Haut schien wie Pergament, seine Kleidung wie Leder und sein Bart wie ein langes Lesezeichen.
Er schob sich an uns vorbei und betrat neben uns den Gang, in dem wir standen.
Mit einer Handbewegung bedeutete er uns, ihm zu folgen.
Er führte uns zu einer Tür.
Meinem Orientierungssinn nach war es die Eingangstür, doch als er sie aufstieß, war ich überwältigt.
Überwältigt von... Dingen.
Sie glänzten golden, silbern und kupfern, sie surrten, klapperten, rasselten und es roch nach Schmieröl.
Ein Schwarm aus mechanischen Insekten schwirrte über unseren Köpfen dahin, während ein metallener Kolibri gerade ein wenig Wasser aus einer kleinen Schüssel trank.
Über dicke Rohre und dünne Kanülen, die wie Wurzeln aussahen, krabbelten Käfer, Ameisen und Raupen. Ein jedes Tier hatte ein kleines Zahnrad auf dem Rücken, das sich beständig drehte. Es war vermutlich die Quelle ihrer Energie.
Wir folgten dem Zwerg zu einer Werkbank, wichen einigen Spinnen aus, die unter Einsatz aller acht Beine an interessanten Drahtgestellen arbeiteten.
Der Mann schnippte einen bronzenen Schmetterling von seiner Arbeitsfläche und setzte sich auf einen wackligen Stuhl.
Dann sah er uns lange an.
Ich verstand erst, was er von mir wollte, als sein Blick direkt auf das Päckchen fiel, das ich, wie einen Anker im Sturm, immer noch umklammert hielt.
Zögernd hielt ich es ihm hin.
Faltige Hände griffen danach.
Das Packpapier knisterte aufgeregt.
Mit fahrigen Fingern strich der Mann über das Päckchen. Schließlich sah er uns wieder an. Mit dumpfer Stimme, als hätte er lange nicht gesprochen, meinte er: „Willkommen. Du bist Yutaki. Ach, bist du gewachsen.“
Yutakis Blick war eisig.
„Aber du...“, er deutete auf mich, „dich kenne ich noch nicht. Wer bist du, mein Freund?“
„Ich bin Kumo“, antwortete ich hastig.
„Ah, Kumo. Und weiter?“, hakte der Mann nach.
„Nichts weiter. Ich bin Kumo. Ich habe keinen Nachnamen.“
Ich hatte mir nie darüber Gedanken gemacht, dass ich keinen Nachnamen hatte. Aber jetzt fühlte ich mich irgendwie fehl am Platz.
„Sehr schön. Kein Nachname. Ein echter Railer also.“
Wie? Railrunner hatten keine Nachnamen? Gut zu wissen.
„Ach, wie unhöflich von mir. Ich bin Bomdergrat.“
Gewissenhaft versuchte ich, den seltsamen Namen zu formulieren, doch bevor ich noch einmal nachfragen konnte, unterbrach mich Bomder...Bomder...Bomdergaga...Wie auch immer!
„Du kannst mich Bom nennen, Kumo.“
Er wandte sich dem Paket zu, das inzwischen auf der Arbeitsplatte lag.
„Dann wollen wir mal sehen, was ihr mir mitgebracht habt.“
Yutaki winkte ab. „Nur das Übliche.“
Bom zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ach ja? Dann warte du doch bitte in der Küche auf mich. Meinetwegen kannst du ein Stück Kuchen haben, aber lass mir was übrig, ja? Auf dem Tisch steht auch noch die Teigschüssel. Ich weiß doch, wie sehr du es liebst, den Löffel ab zu lecken.“
Ich hätte nicht gerade erwartet, dass Yutaki freudig in die Hände klatschen würde, doch das empörte „Ich will aber keinen Kuchen!“ kam dann doch überraschend. Dennoch verschwand sie durch eine andere Tür aus dem Raum.
„Nun sind wir beide also allein“, verkündete Bom.
Er faltete die Hände und kauerte sich ein wenig tiefer in seinen Stuhl.
Er wedelte ein wenig mit der Hand und sofort brachten zwei mechanische Affen einen zweiten Stuhl, auf den ich mich mit Vergnügen setzte.
Bom klatschte einmal, zweimal und blickte mich dann an.
„Kumo“, sagte er.
„Hm?“
„Zeig mir deine Kardia, wenn du das kannst.“
In meinem Kopf entstand das geistige Abbild eines alten Weckers. Gedankliche Veränderungen fügten mehr Zeiger hinzu und nahmen die Verdeckung ab.
Ein grünes Glitzern schwebte in der Luft und materialisierte sich zu meiner Kardia.
Neun Zeiger, neun Zahnräder, Nadeln und ein Metallreifen.
Bewundernd blickte Bom auf die Uhr in der Luft.
„Sehr schön. Wundervolle Arbeit. Ich sehe, dass in deiner Kardia das Element Zeit wohnt.“
Zeit?
„Verzeihung?“, meldete ich mich im Sinne einiger gedanklicher Knoten, „Mein Element ist der Wind.“
Einen Moment lang sah Bom verwirrt aus. Doch dann nickte er hastig. „Jaja, tut mir Leid.“
Einige Augenblicke des Schweigens folgten, in denen ich ihn genau beobachtete. Doch keine Regung in seinem Gesicht verriet etwas.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass du aus dem Waisenhaus stammst?“
„Ja, ich denke schon.
„Lass mich raten...“, er blickte erneut auf meine Uhr, „Fräulein Lurch?“
„Ja“, antwortete ich verdutzt, „woher wissen Sie das?“
„Du kannst mich ruhig duzen, wenn du willst.“
„Woher weißt du, dass ich im Waisenhaus Fräulein Lurch als Leiterin ertragen musste?“
Bom deutete auf einige Zahnräder in meiner Kardia.
„Hier und hier. Schau mal.“
Er berührte ein Zahnrad. Ohne Vorwarnung schoss es aus der Kardia und blieb eine Handbreit von mir entfernt in der Luft stecken.
Auf dem Gold spiegelte sich ein Bild.
Es war jedoch nicht mein Gesicht, das mir entgegenblickte.
Es war... das Gesicht von Fräulein Lurch.
Und es bewegte sich.
Die Rosine schritt durch einen Raum mit Tischen. An den Tischen waren Stühle. Und an einem Tisch saßen fünf Personen.
Zwei hatten schwarze Westen über roten Shirts an.
Einer trug eine braune Jacke.
Und zwei hatten grüne Kapuzenpullover an. Weiße Haare schaukelten in einer wilden Frisur.
Kira und ich.
Dann waren die anderen Ramade, Loge und Kasse.
Das hier war kein Bild.
Es war nicht mal ein Fenster zu einer anderen Welt.
Es war vielmehr eine Erinnerung. Eine Erinnerung an den Tag, an dem es für mich und meine Schwester ein neues Leben gab.
Das Zahnrad zwillte wieder zurück wie ein Gummiband.
Ein anderes nahm seinen Platz ein.
Es zeigte Spiegelungen.
Rote Wolken. Schwarzer Himmel. Ein Buch...
Ich schlug die Hände vor die Augen. „Nein“, schrie ich, „ich will das nicht sehen! Ich will nicht sehen, wie ich sterbe!“
Bom lehnte sich zurück und beugte sich wieder vor.
Vorsichtig drehte er meine Kardia um.
Als er die kleine schwarze Münze sah, erstarrte er.
„Also doch“, seufzte er. „Sir Ligon hatte mir schon erzählt, dass es eine Gruppe geschafft haben soll.“
„Was geschafft?“, fragte ich nach, die Augen weiterhin verschlossen.
„Kumo, weißt du, woher die schwarzen Münzen kommen?“
Ich gab meine Augen frei und verzog den Mund. „Mamamünze und Papamünze?“
„Sei nicht albern.“
„Gut.“
„Sei wenigstens ein wenig ernster.“
„In Ordnung.“
„Nun denn... Woher hast du deine Münze?“
„Ich habe sie aus einer Blume. Einer Lilie.“
„Wo war diese Lilie?“
„In einem Garten. Da war auch eine alte Frau.“
„Und dieser Garten. Wie bist du dort hinein gekommen?“
„Ich bin... gestorben. Die Finsterflecken haben mich umgebracht.“
Die Erinnerung tat weh. Sie brannte, schmerzte, zerfraß meine Gedanken.
„Du bist gestorben, Kumo. Und du warst im Tod. Die meisten Menschen haben eine andere Vorstellung vom Tod. Eine lodernde Hölle oder ein Wolkenberg mit tausend Jungfrauen, ein unendliche Labyrinth oder einfach nur Schwärze.
Du bist gestorben Kumo, und du bist im Jenseits gelandet.
Hier, in dieser Welt gibt es keine Hölle, keinen Himmel, kein Labyrinth.
Hier, in dieser Welt gibt es den Schattengarten.“
„Das war... Da war etwas“, verzweifelt versuchte ich mich, zu erinnern, doch der Gedanke rutschte mir immer wieder aus meinen Fingern. Schließlich bekam ich ihn doch zu fassen.
„Jemand hat den Garten erschaffen. Er ist in drei Teile unterteilt. Ein Schloss an einem See, ein Haus inmitten von Kirschbäumen und die Lilienwiese.“
„Richtig. Woher weißt du das?“
„Ich habe es von einem Sitarspieler gehört.“
„Mhm... Aber es stimmt.
Noch mal. Kumo, du bist gestorben.“
„Ich weiß. Sogar schon drei Mal.“
„Drei Mal?“
„Das erste Mal bei einem Autounfall. Das zweite Mal in der Schwärze auf dem Weg zum Haus. Ich habe in neues Leben begonnen und bin erneut gestorben, als die Finsterflecken mich getötet haben.“
Bom drehte wieder meine Kardia. „Aber du hast nur eine Münze“, stellte er fest.
„Ja und?“, ich zuckte mit den Schultern.
„Jedes Mal“, antwortete Bom, „wenn ein Mensch hier stirbt, erscheint eine schwarze Münze. Wenn der Verstorbene sie im Schattengarten erhält, dann darf er in Frieden ruhen. Andernfalls muss er wieder zurück auf die Welt und als Geist weiter...leben.“
„Aber ich...“
„Aber du bist nur einmal gestorben. Einmal HIER. Nur von hier aus kann man den Schattengarten betreten. Nur aus dieser Welt. In anderen Welten würde der Tote sofort in die Vergessenheit geschickt oder aber wiedergeboren. Aber du bist nun mal wieder da, obwohl du auf der Erde gestorben bist. Und dann bist du auch noch hier gestorben, aber du bist weder tot, noch ein Geist, soweit ich das beurteilen kann.“
„Wie ist das möglich?“
„Ich weiß es nicht“, stellte Bom fest.
„Du weißt es nicht?“, fragte ich überrascht.
„Kumo, weißt du, was die Aufgabe der Railrunner ist?“
Ich dachte einen Moment lang nach und meinte dann: „Die Railrunner sind aus irgend einem Grund nachts unterwegs und liefern Dinge aus. Sie sind in dem Sinne Laufburschen, Postboten oder so was.“
Bom nickte. „Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Weißt du, warum die Menschen sich nachts verstecken?“
„Sie fürchten die Mitternachtsverschiebung. Die ist wirklich unheimlich.“
„Und sonst noch?“
„Die Finsterflecken. Die töten alles, was ihnen in den Weg kommt. Selbst wenn...“ Ich unterbrach mich. Ich würde ihm nicht von meinem Gefühlsausbruch erzählen.
„Mitternachtsverschiebung. Finsterflecken“, meinte Bom. Er klopfte auf das Päckchen, das immer noch ungeöffnet auf der Arbeitsplatte lag.
„Weißt du, was hier drin ist?“
„Nein“ antwortete ich.
„Willst du es wissen?“
Ich schwieg.
Ohne mich zu beachten, zog Bom das Papier von der Schachtel.
Ich hatte mit einer schnöden Pappkiste gerechnet.
Doch das, was nun unter dem braunen Papier zum Vorschein kam, war eine Schatulle.
Sie war dunkelrot mit schwarzen Intarsien.
Bom klopfte auf den Deckel und das Kästchen klappte auf.
Darin lag...
lagen...
waren...
ein dutzend schwarze Münzen.
Meine Gedanken rasten.
Wenn immer dann schwarze Münzen auftauchten, wenn Leute starben...
Wenn die Leute erst ihr Seelenheil erfahren konnten, wenn sie ihre Münze erhalten hatten...
Wenn hier ein dutzend Münzen lagen...
„Genau.“
Aber das war doch...
„Die Menschen verstecken sich nicht vor der Mitternachtsverschiebung, und nicht nur vor den Finsterflecken. Sie verstecken sich vor dir, Kumo.
Vor euch, den Railrunnern.“
Eine Wolke zog vorbei.
Es war eine weiße Wolke. Nicht so riesig wie die Gewitterwolken, nicht so dunkel wie die Regenwolken und nicht so flauschig wie die Federwolken.
Aber es war eine weiße Wolke.
Sie erzählte demjenigen eine Geschichte, der ihr lauschte, ihr zuhörte. Man sah die Wolke an und hörte die Geschichte.
Tief im Herzen leuchteten wunderschöne Bilder auf.
Einst war die Wolke eine schwere Regenwolke gewesen und hatte der trockenen Wüste farbenfrohes Leben gebracht.
Einmal war die Wolke eine machtvolle Gewitterwolke gewesen und hatte mit einem einzigen, vernichtenden Schlag einen Jahrhunderte alten Baum gespalten.
Irgendwann war die Wolke auch eine Federwolke gewesen und war über einer grünen Wiese dahingetrieben, mit den weißen Schafen auf dem grünen Meer als ihr Spiegelbild.
Doch nun war sie nur noch klein, unwichtig und beobachtete nur noch die Welt unter ihr...
Ich saß auf dem Absatz des Uhrturmes, auf dem ich Jeman begegnet war.
Oben am blauen Himmel trieben keine ernsthaft beachtenswerten Wolken, nur ein kleines, weißes Wölkchen zerfaserte soeben an der Spitze des großen Turmes.
Ich musste an den gestrigen Tag denken und sofort stieg in mir ein winziger, roter Ball aus Wut auf.
Die Railrunner brachten Menschen um, um an die Münzen zu kommen, die bei ihrem Tod erschaffen wurden.
Das war grausam.
Ich erinnerte mich auch an einen Tag davor. Oma Honig hatte uns an der Tür erwartet. Sie hatte ein wenig traurig ausgesehen.
Und...
„Ihr seid nun Railrunner. Ihr könnt kein Weiß mehr tragen“, sagte jemand.
Ich drehte mich um und sah Kira, die mit dramatisch wehenden Haaren hinter mir stand.
„Das hat Oma Honig doch gesagt, oder nicht?“, lächelte Kira.
Sie setzt sich zu mir auf die Kante.
Unter uns gähnte der Abgrund. Darin liefen die Straßen entlang, Auf denen hunderte bunte Personen herum eilten und irgendetwas ganz doll wichtiges zu erledigen hatten, bevor die Nacht kam, mit ihren Ungeheuern und Monstern...
„Weißt du, woher die schwarzen Münzen kommen, Kira?“, fragte ich meine Schwester.
„Ja. Jeman hat es mir erklärt.“ Sie zögerte. „Aber weißt du, was sie mit den Münzen machen?“
Ich antwortete nicht. Woher hätte ich es wissen sollen?
„Schade. Ich dachte du wüsstest es. Jeman möchte uns übrigens sehen, Vermutlich will er es uns beiden erklären. Ich glaube, er weiß, dass du sauer bist.“
Ich war nicht sauer. Ich war enttäuscht.
Eine Zeit lang schwiegen wir uns an.
Doch dann nahm wieder Kira das Wort in die Hand.
„Kumo?“, fragte sie mich, „Weißt du, was dein Name bedeutet?“
Sie sah nach oben zum Himmel, wo die letzten Überreste der weißen Wolke gerade an einer goldenen Spitze zerrissen wurden.
Bevor Kira auf ihre eigene Frage antworten konnte, zersprang hinter uns auf einmal die eiserne Sechs und Jeman trat aus dem Zifferblatt in das Sonnenlicht des anbrechenden Abends.
Er winkte mit der Hand.
„Guten Abend ihr Zwei“, begrüßte er uns freudig. „Kumo, Kira ich habe eine gute Neuigkeit. Da Kumo bei seiner ersten Mission nicht versagt hat und Yutaki auch noch am Leben gelassen hat, so schwer das vermutlich war, werdet ihr beide heute Nacht zusammen auf Mission gehen.“
Ich überlegte ein wenig. Mit 'Ihr beide' konnte jeden und mich meinen. Sogar Yutaki.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, warf Jeman sofort „Natürlich Du und Kira.“ zwischen sie.
Ich nickte. „In Ordnung. Was sollen wir tun?“
Jeman lächelte verschlagen. „Ihr beide werdet die große Bücherei besuchen und dort ein Buch abholen. Und da ihr beide ja so viele Fragen habt, werdet ihr es auch genauestens lesen, klar?“
Er sah abwechselnd Kira und mich an. „Jetzt schaut mich nicht so blöd an. Ihr sollt doch nur ein Buch lesen und es wenn möglich auch noch mitbringen. Reihenfolge egal. Und lasst euch Zeit“
Jeman wandte sich schon ab zum Gehen, als ihm noch etwas einfiel. Er drehte sich noch einmal um und ergänzte: „Unten auf dem Uhrturmplatz wartet Ryota. Nehmt ihn mit. Viel Glück.“
Damit verschwand er wieder hinter der eisernen Sechs.
Als wir sicher sein konnten, dass Jeman uns nicht mehr hören konnte, sagte Kira: „Müssen wir diesen Ryota wirklich mitnehmen?“
„Da Jeman uns nicht gesagt hat, wo diese große Bibliothek ist, müssen wir das wohl. Ich hoffe, der weiß es zumindest.“
Ich seufzte. „Lass uns aufbrechen, Kira.“
Sie nickte und wir standen auf.
Vorsichtig sah ich nach unten. Goldenes Licht kletterte über die Straßen. Es wurde verfolgt von den schwarzen Schatten des letzten Momentes eines Tages.
Am violetten Himmel zeigten sich die ersten Sterne. Der riesige Mond stieg schon am anderen Ende der Welt über den Horizont.
Und wir sprangen vom Turm.
Mit wehenden Haaren sausten wir in die Tiefe.
Doch statt wie ein Superheld auf dem Boden aufzuschlagen, einen tiefen Krater zu hinterlassen und dramatisch unversehrt aus dem Rauch zu steigen, landeten wir ganz sanft auf dem Pflaster.
Sofort schob sich die Nacht über uns wie eine dünne Decke aus Schwärze.
Und dann standen wir da und wussten nicht, was wir tun sollten. Weit und breit war niemand zu sehen. Alle Menschen waren in ihren Häusern, zitterten hinter verschlossenen Fenstern und Türen.
Sie hatten Angst vor uns. Aber wer konnte es ihnen verübeln? Wir waren Mörder!
„Nein.“
Das Wort kam aus dem Nichts. Niemand hatte es gesagt. Nur hatte ich es gehört und das war...
Ich hätte fast gesagt 'seltsam', aber diese Welt war so verrückt, dass man wirklich nichts als 'seltsam' bezeichnen konnte, es sei denn, man war noch nie hier gewesen worden sein tun oder so.
Aber das 'Nein' störte irgendwie.
Es war so plötzlich aufgetaucht, als hätte jemand meinen Gedanken gelauscht und dann darauf geantwortet.
In diesem Falle wäre ein 'Nein' inakzeptabel.
Beschreiben wir das folgende einmal aus der Sicht eines Unwissenden.
Zwei Kinder in schwarzen Mänteln stehen auf einem leeren Platz, der seltsamerweise wie leer gefegt ist und schauen nach oben.
Neben ihnen ragt eine Turmuhr auf, die unheimlich im Mondlicht schimmert, denn ihre Zifferblätter sind aus Glas gefertigt.
Plötzlich steht neben den beiden Kindern ein hoch gewachsener Mann in demselben schwarzen Mantel und versucht herauszufinden, was die beiden da oben zu gucken haben.
Die Zwei schrecken zurück, fangen sich jedoch wieder und gehen in die Angriffshaltung über. Ein leicht grünliches Schimmern verfliegt und einer von den beiden hält einen großen Uhrzeiger, der andere ein Zahnrad in der Hand...
Soweit die Beobachtungen eines Unwissenden.
Als die Person die Kapuze abnahm, entspannte ich mich wieder und ließ mein Zeigerschwert los, das sich augenblicklich in Luft auflöste. Ich blickte zu Kira und schüttelte leicht den Kopf. Sofort verschwand das Zahnrad aus ihren Händen.
„Mein Name ist Ryota“, stellte sich der Neuankömmling vor, „Ihr braucht keine Angst zu haben.“
„Ah“, machte ich, „Dann bist du also unser Begleiter.“
Ryota zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen.“
„Weißt du, wo die Bibliothek ist? Wir haben dort etwas zu erledigen.“
„Was denn?“
„Das geht dich nichts an.“
„Na, solange ich nichts machen muss.“
„Und? Kannst du uns zur Bibliothek bringen?“
„Ja, ich denke schon.“ Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite. „Welchen Weg wollt ihr nehmen?“
„Wie meinst du das?“
„Es gibt drei Wege.
Zuerst wäre da der altbekannte Weg durch die Straßen. Ein interessantes Labyrinth aus Häusern und Gassen.
Dann wäre natürlich der Weg über die Seile. Wir sind schließlich Railrunner.
Oder der Weg durch die Kanalisation.
Es ist eure Entscheidung. Mir ist das gleich.“
Ein kurzer Blick zu Kira genügte. „Wir nehmen den Weg über die Seile.“
Ryota lächelte. „Und warum, wenn ich fragen darf?“
Ich zögerte. „Wir...“
Ryotas Kopf ruckte herum. Sein Gesicht verzog sich ein wenig.
„Wir bekommen Besuch.“
Als hätten sie nur darauf gewartet, rasten auf einmal drei dunkle Punkte über den Boden. Doch so schnell sie gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden.
Wie seltsam.
Normalerweise waren die Finsterflecken doch hinter uns her wie Fliegen hinter Marmelade.
Ryota sah ihnen hinterher. „Interessant. Scheinbar hat etwas anderes ihre Aufmerksamkeit mehr verdient.“
Sollte ich jetzt beleidigt sein?
Sollte ich nicht.
Ryota sprang und landete elegant auf einem Seil. Sein schwarzer Mantel flatterte ein wenig, aber nur ein bisschen.
Ich ging in die Knie und stieß mich vom steinernen Boden ab. Doch statt auf dem Seil kam ich auf dem Dach auf.
Ich richtete ich auf und machte einen Schritt in Richtung Seil.
Doch plötzlich bemerkte ich etwas aus dem Augenwinkel.
Erschrocken sprang ich zur Seite. Mit wehendem Mantel landete Kira dicht neben mir.
Ryota beobachtete uns interessiert.
„Ihr müsst als Einheit zusammenarbeiten, klar?“, erklärte er schließlich, „Sonst könnt ihr gleich vom Turm springen.“
Ich sah ihn wütend an.
Ein kurzer Moment der Stille folgte, bevor...
„Ausweichen!“, schrie er auf einmal.
Plötzlich schoss ein greller Schmerz durch meinen rechten Arm. Meine Hand schnellte zu der Stelle, wo ich den Ursprung des Schmerzes vermutete. Warmes Blut sickerte durch meine Finger.
Kira sah mich erschrocken an.
„Geht schon“, meinte ich.
Dann sah ich den Finsterfleck. Ein schwarzer Schemen gegen einen riesigen, leuchtend weißen Mond. Nur die blitzenden Klauen waren in dem unförmigen Schatten erkennbar.
Von einer Sekunde auf die andere verschwand er.
Meine Augen suchten verzweifelt nach unserem Gegner.
„Hinter dir!“, hörte ich auf einmal Kira rufen.
Ich wirbelte herum und stand ihm gegenüber. Nur Zentimeter trennten mein Gesicht von der schrecklichen Maske.
Ich sah in unendlich tiefschwarze Löcher, erblickte Zähne, so scharf wie Rasiermesser.
Der Finsterfleck nahm einen Finger zum Mund. Mit einer metallenen Zunge leckte er das Blut ab, das in rubinroten Perlen von der Klaue rann.
Mein Blut.
Der giftgrüne Haarschopf schaukelte im Wind, der durch die Nacht wehte.
Mit einem Satz verschwand das Metallungeheuer.
Warum? Es hätte mich töten können!
Es spielte mit uns, darum
Der Finsterfleck wusste ganz genau, dass er nur gewinnen konnte.
Am Rande meines Gesichtsfeldes blitzte es grünlich.
Schneller, als dass es das menschliche Auge sehen könnte, flog Kiras Zahnrad auf das Biest zu.
Ein sirrendes, goldenes Rad.
Mit tödlicher Präzision geworfen.
Doch der Finsterfleck wich einfach aus.
Er war schneller als der Wind.
Schneller als wir.
Ich versuchte, mein Schwert zu beschwören. Es blitzte einmal grün und das war es dann auch schon.
Meine Verletzung machte mir zu schaffen. Ich spürte, wie meine Kraft aus mir heraus zu fließen schien.
Ein plötzlicher Lufthauch ließ mich erstarren. Ein verklingendes Kichern ganz nah an meinem Ohr wie eine nervige, klirrende Fliege.
Vorsichtig drehte ich mich um. Neben mir sank, langsam wie eine Feder, eine schneeweiße Haarsträhne zu Boden.
Ein weiterer Luftzug schnitt mir eine zweite Strähne ab.
Das Vieh war verdammt schnell.
Meine Gedanken wirbelten um einen eisernen Käfig, in dem die letzte Selbstbeherrschung saß, die ich noch hatte.
Wie konnte man etwas treffen, das zu schnell war, um es zu sehen, etwas, das einfach auswich, selbst wenn man alles gab?
Mit einer fließenden Bewegung kam der Finsterfleck hinter Kira zum stehen.
Langsam legte er seine scharfen Klauen um ihren Hals.
Er kicherte wieder. Die schwarzen Augenhöhlen strahlten Erwartung aus.
Er spielte.
Und er wusste, dass er uns überlegen war.
Kiras Augen waren geschlossen. Sie hatte das Kinn gehoben, um den messerscharfen Klingen zu entgehen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wohlgemerkt.
Verlorenes Spiel.
Doch ich konnte selbst von hier aus erkennen, wie sich ihre Augen unter den zusammengepressten Lidern hin und her bewegten.
Auf einmal senkte sie den Kopf ruckartig.
Mit Schwung ließ sie sich nach vorne über fallen und streckte gleichzeitig den Arm nach hinten aus.
Kurz bevor ihre Hand den Finsterfleck erreicht hatte, erschien das Zahnrad zwischen ihren Fingern.
Woher konnte sie so etwas?
Die goldenen Zähne schnitten tief in den Brustpanzer.
Wütend zischend stolperte das Metallungeheuer rückwärts. Es taumelte kurz, fing sich jedoch wieder.
Der Finsterfleck schrie. Ein greller, nervenerschütternder Schrei.
Ein Gedanke löste sich aus dem dichten Gewirr.
Sie hat es wütend gemacht, dachte ich.
Jetzt wird es seine besten Karten spielen.
Kira rannte zu mir.
Dem Finsterfleck verging das schelmische Grinsen. Die tödlich spöttische Grimasse wurde zu einer Visage des Zorns.
Die Augen verengten sich und der Mund mit den unglaublich scharfen Zähnen wurde noch ein wenig breiter.
Mit einem spitzen Zischen sprintete das Ding nach vorn, auf uns zu.
Es wurde immer schneller.
Ich konnte gerade noch so meinen Arm heben. Der Hieb hätte mich sonst umgebracht.
So prangte nur eine breite Wunde in meinem linken Unterarm.
Meine Hand fuhr an meine Seite. Wieder rotes Blut. Schimmernd schwarz in der Nacht.
Die Wunde blutete immer noch.
Kira war es nicht besser ergangen.
An ihrer Wange uns ihren Armen waren dieselben Schnitte zu sehen, die das Biest auch mir zugefügt hatte. Nur waren sie wesentlich zahlreicher, doch nicht so tief.
Es spielte nicht mehr mit uns.
Der Finsterfleck wollte uns jetzt zu Tode quälen.
Mir wurde schwarz vor Augen. Wie ein dunkler Schleier senkte sich die nahende Ohnmacht über die Welt.Triumphierendes Schreien hinter uns.
Nein, redete ich mir ein, ich darf nicht aufgeben.
Gib nicht auf. Nicht aufgeben!
Doch ich konnte einfach nicht mehr.
Meine Beine wurde schwach. Ich sank auf die Knie.
Um mich herum drehte sich alles.
Und wie ein Seidenumhang in einem Wirbelsturm zog sich die Ohnmacht immer mehr zusammen.
Plötzlich war da etwas anderes.
Irgendwo in einer anderen Welt, einer anderen Dimension, man könnte sogar sagen, einer anderen Zeit, sitzt jemand auf einem Klappstuhl an einem Tisch.
Die Person sagt etwas.
„Ich sagte doch, dass wir uns wiedersehen, Kumo.“
Mit geschickten Fingern setzt sie eine neue Figur auf das Schachbrett. Sie ist silbern.
Zwei goldene Figuren liegen daneben.
Eine weiße ein wenig weiter weg.
Doch die neue Figur kommt mir irgendwie bekannt vor...
Ich wandte meine letzte Kraft auf, um mich umzudrehen.
Ryota stand dort. Statt der Sitar hielt er auf einmal eine Flöte in der Hand.
Langsam setzte er sie an die Lippen und begann zu spielen.
Der erste Ton, den die silberne Flöte von sich gab. Wie eine Welle aus Licht rollte er über uns hinweg.
Der zweite Ton.
Er schlug ein wie ein hundertfacher Akkord.
Ich konnte das Vergessen spüren.
Das Vergessen.
Vergessen.
Ich vergaß meine Schmerzen.
Ich vergaß die Wunden, das Blut.
Alles, was blieb war das Wissen, dass es etwas zu erledigen gab.
Der dritte Ton.
Etwas blitzte grün. Ich brauchte gar nicht hinzusehen. Ich spürte auch so, wie das Metall des Zeigerschwertes in meiner Hand lag.
Was für ein beruhigendes Gefühl, dachte ich, noch vor wenigen Wochen hätte ich es lieber weggeworfen. Jetzt brauche ich es.
Dann folgten die Klänge wie prasselnder Regen.
Jeder Ton eine eigene kleine Komposition.
Mit einem unübersehbaren Hass ging der Finsterfleck wieder auf uns los.
Doch diesmal hatte ich eine Waffe. Und ich genoss es!
Ich... genoss... es?
Mit von Zorn verzerrtem Gesicht raste das Vieh auf uns zu.
Die Luft um uns herum schien wie dicke Suppe.
Honig gleich tropfte das Licht über die Dächer.
Ich wich aus.
Das Ding rannte weiter auf Kira zu. Zischend schlug es nach ihr.
Silbern blitzten die Klauen, golden das Zahnrad.
Der Finsterfleck stolperte, rollte ab und blieb liegen.
Als er sich wieder aufrappelte, prangte ein zweiter, noch tieferer Schnitt in seinem Brustpanzer.
Noch mehr Töne quollen aus Ryotas Flöte.
Es war noch nicht vorbei.
Das Spiel ging weiter!
Wieder stürmte der Finsterfleck auf mich zu.
Doch ich wich wieder aus.
Ein komplett verlangsamter Moment folgte.
Ich hatte genug Zeit, um mein Schwert in den Rücken des metallenen Kriegers zu rammen.
Dann blieb die Zeit vollends stehen.
Ich konnte mich nicht bewegen. Mich nicht rühren.
In den Augen des Finsterflecks zeigte sich Angst.
Angst?
Plötzlich war da wieder das Mitleid.
Aber es war doch ein Monster, das uns umbringen wollte! Wie konnte ich Mitleid mit etwas haben, das mich auslöschen wollte?
Und doch...
Die Zeit lief weiter.
Wie ein in die Länge gezogenes Gummiband zwillte sie wieder zurück.
Ich stand weiterhin auf dem Dach. Neben mir der Finsterfleck.
Ich zog mein Zeigerschwert aus dem Metallkörper.
Mist, dachte ich.
Klappernd brach der Finsterfleck zusammen.
Regungslos blieb er auf dem Boden liegen.
Die giftgrünen Haare schaukelten im Wind.
Mist, dachte ich erneut.
Diese Runde hatte ich immerhin gewonnen. Oder verloren?
Ryota ließ die Flöte sinken. Die Töne verklangen.
Erinnern.
An Blut, Fleisch, Schmerzen.
Und an die Schwäche.
Doch kurz, bevor sich meine Gedanken in Dunkelheit retteten, sah ich ein letztes Mal zu Ryota, der sich über den Finsterfleck beugte und ihm die Hand auf die Brust legte. Zu mir gewandt sagte er: „Du musst dich entscheiden, Kumo. Bevor es zu spät ist.“
Dann verschwand mein Bewusstsein und nahm sich ein wenig Urlaub.
Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Wackelpudding gefüllt.
Alles drehte sich um mich.
Aber... Schwindel war das nicht.
Ich überlegte angestrengt.
Mit der Zeit kamen meine anderen Sinne wieder. Der Geruch zuerst. Es roch nach Schmieröl. Billiges Zeug.
Dann konnte ich den Himmel sehen. Tiefstes Schwarz. Es war also Nacht.
Danach fühlte ich den Boden. Hart, rau. Lag ich etwa immer noch auf dem Dach?
Schließlich schmeckte ich Metall. Metall? Nein, das war Blut. Ich verzog das Gesicht. Ach ja, ich war ja verletzt worden.
Zuletzt kam das Gehör wieder.
Schreie.
Ich sprang auf.
Urplötzlich schossen mir die Schmerzen wie Pfeile durch den Körper. Bunte Kreise tanzten vor meinen Augen.
Ich schüttelte den Kopf und sah mich um.
Ryota stand Rücken an Rücken mit Kira. Er hatte seine Flöte bereit, sie ihre Zahnräder.
Ich blinzelte und erblickte den Rest der Szene.
Ich wünschte mir sofort, wieder in Ohnmacht zu fallen.
Hunderte Finsterflecken umringten uns.
Mit rasselnden Klauen und glänzenden Metallkörpern.
Kichernd, zischend und alle waren sie darauf aus, uns zu töten.
Prompt ging ich in die Angriffshaltung über und beschwor mein Zeigerschwert.
Das Metall in meiner Hand gab mir Sicherheit und Mut.
Ich konnte es schaffen, wenn ich wollte.
Aber...
Wollte ich es wirklich?
Wollte ich sie wirklich töten?
Ich begegnete Ryotas Blick. Er sah mich ernst an. „Kumo. Hast du dich entschieden?“
Vollkommen hilflos fragte ich: „Was denn? Wofür soll ich mich denn entscheiden?“
„Entscheide dich!“, schrie Ryota.
In mir brodelte es. Was sollte ich tun?
Kira sah mich ebenfalls an. „Kumo? Ich habe mich bereits entschieden. Ich werde sie bekämpfen, wenn es nötig ist. Und jetzt ist es nötig!“
Ich rang mit den Händen. Sah auf mein Schwert.
Ryota fuhr mich an: „Kumo! Jetzt reiß dich zusammen! Du kannst hinterher entscheiden, wenn du willst, jetzt brauchen wir dich!“
Nachher entscheiden?
Aber dann könnte alles zu spät sein!
Ich konnte doch nicht...
Oder konnte ich doch?
Ich...
ich...
„In Ordnung“, flüsterte ich leise, „Ich werde mich hinterher entscheiden.“
Ryota entspannte sich ein wenig. . „Dann kann es ja losgehen.“ Er hob die silberne Flöte und setzte sie an die Lippen. Dann zögerte er. „Kumo, Kira?
Ich werde jetzt richtig spielen. Während ich spiele, werde ich unangreifbar sein. Doch ich kann mich auch nicht von der Stelle bewegen. Das heißt, dass ihr alles machen müsst. Ich kann euch nur unterstützen, so gut ich kann, klar? Und wenn ihr ausfallt, kann ich nichts mehr tun.
Also liegt unser dreier Schicksal in euren Händen.“ Er grinste.“Viel Spaß.“
Damit hob er die Flöte wieder und blies hinein.
Der erste Ton schwappte wie Wasser über das Dach.
Um Ryota herum erschien ein leuchtender Kreis, dessen Mittelpunkt er war.
Ich drehte mich zu der Front aus Finsterflecken um. Sie alle hatten giftig grüne Haare.
Schnell und sadistisch, diese Biester.
Schnell. Aber wir konnten schneller sein, wenn es sein musste.
Aber wir hatten doch schon solche Schwierigkeiten mit einem einzigen gehabt. Was sollten wir gegen hunderte von den Dingern ausrichten?
Der zweite Ton war wie der rollende Donner.
Und wirklich huschten ein paar Blitze durch die Gegend und entluden sich an den Metallpanzern der Finsterflecken.
Ich sah Kira an. Sie wirkte entschlossen. Wie konnte sie nur so einfach töten?
Dann wandte sich Kira zu mir um. Sie lächelte mich an.
„Wir schaffen das schon“, meinte sie.
Und damit drehte sie sich wieder zu unseren Gegnern.
Ich holte tief Luft. Es musste wohl sein.
Gleichzeitig schrien wir „Los!“ und rannten nach vorn.
der dritte Ton schlug ein wie ein mächtiger Blitz.
Wie elektrisiert kribbelte es in mir. Ich fühlte die Energie, die uns ein einziger Ton gab.
Nach einigen Schritten erreichten wir die Finsterflecken, die nun ihrerseits anfingen, zu rennen.
Doch im Gegensatz zu uns wurden sie immer schneller.
Der vierte Ton war wie prasselnder Regen.
Warum waren die alle so schnell?
Wieso konnte sich die Zeit nicht wieder so schön verlangsamen? Dann wäre das alle viel einfacher.
Der fünfte Ton ging nieder wie ein sanftes Tuch, das sich einer
Schneeflocke gleich über die Landschaft legte.
Dann folgten die Klänge wieder so schnell aufeinander, dass man sie kaum noch voneinander unterscheiden konnte.
Wir trafen aufeinander.
Zahnrad und Schwert auf Klauen.
Ich tauchte unter einer scharfen Klinge hindurch und bohrte meine Waffe in eine Metallbrust. Es gab kaum Widerstand.
Scheinbar konnten sie nicht so gut reagieren, wenn sie in einer derartigen Masse auf uns einstürmten.
Ich schlug nach einer grinsenden Maske, die mir den Weg versperrte und zerschnitt sie mit einem Streich.
Klirrend fiel der Kopf zu Boden.
Drei Finsterflecken sprangen auf mich zu, doch ich wich aus.
Leider war ich nicht schnell genug. Sie stürzten sich auf mich und begruben mich unter ihren schweren Körpern.
Keuchend bemerkte ich, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte.
Plötzlich fing der oberste der drei an zu zischen und holte mit einer Klaue aus, um nach meinem Gesicht zu schlagen.
Doch gerade, als die metallene Hand mir den Schädel zertrümmern wollte, flog eine goldene Scheibe vorbei. Sie berührte kaum den Arm, der mich töten wollte. Trotzdem verschob sich das Messing und die Hand schepperte auf den Boden.
Eine weitere sirrende Scheibe schnitt den Rest des Körpers in zwei Hälften.
Die beiden anderen Finsterflecken, die auf mir lagen, ließen von mir ab und sprangen auf.
Ich nutzte die Gelegenheit, um ihnen von hinten mein Zeigerschwert in den Rücken zu rammen.
Sie fielen nach vorne und gaben mir den Blick frei auf Kira, die wie ein Wirbelwind unter ihren Feinden wütete.
Erstaunt sah ich zu, wie sie in einer einzigen eleganten Bewegung mehrere Brustpanzer aufschnitt und die dazugehörigen Körper einfach beiseite stieß.
Kiras weiße Haare flatterten im Wind ihrer Bewegungen. Kiras Zahnrad schien an mehreren Stellen gleichzeitig zu sein.
Oder war es das auch?
Überrascht stellte ich fest, dass Kira wirklich mit drei Zahnrädern gleichzeitig kämpfte.
Erstaunlich.
Ich streckte aus reinem Instinkt den Arm aus. Ein Finsterfleck konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, verlor die Bodenhaftung und rannte geradewegs in meine Klinge.
Mitleid türmte sich wieder in mir auf.
Aber ich hatte mich dazu entschlossen, die endgültige Entscheidung vorerst zu verschieben.
Das Mitleid verzog sich wieder in eine Ecke meines Herzens.
Ich drehte ich wieder um und sah mich weiteren Feinden gegenüber.
Während ich herumwirbelte und es Kira gleich zu machen gedachte, überlegte ich, ob es richtig war.
War es richtig, die Entscheidung zu verschieben?
Was, wenn es auf einmal zu spät war?
Ich ging in die Hocke und trat einem Finsterfleck die Beine weg.
Was, wenn bald alles viel zu schnell gehen würde?
Mit kreisender Klinge stand ich wieder auf.
Nein, es war richtig.
Ich rammte einem Finsterfleck das Zeigerschwert so stark in die Brust, dass es auf der anderen Seite wieder austrat. Mit Schwung zog ich die Klinge zur Seite und schnitt den Körper zur Hälfte auf.
Zahnräder prasselten zu Boden.
Keine Lebewesen, sondern Maschinen. Sie waren zum Töten da.
Verdammt.
Ich nahm eines der kleinen Zahnräder in die Hand und betrachtete es.
Golden schimmerten Lichter darin. Die Spiegelbilder der Sterne.
Ich sah wieder zu Kira.
Sie stand nicht weit von mir entfernt.
Gerade ein paar Meter.
Mit wenigen Schritten war ich bei ihr und betrachtete sie genauer. Keuchend stand sie vornübergebeugt und stützte sich auf ihre Knie. Die Zahnräder waren verschwunden. Ihr Gesicht war von Kratzern und kleinen Wunden nur so übersät.
Vermutlich sah ich nicht besser aus.
Ich legte ihr die Hand auf die Schulter.
Sie sah auf. „Da sind noch mehr.“
„Ich weiß. Aber du hältst nicht mehr lange durch.“
„Was sollen wir machen? Alleine schaffst du das nicht.“
„Wir können das versuchen, was wir das eine Mal gemacht haben, als wir gegen das große Ding gekämpft haben“, schlug ich vor.
„Aber... Wie haben wir das gemacht?“
Ich versuchte krampfhaft, mich daran zu erinnern, doch irgendwie...
„Wir wussten, was wir zu tun haben. Aber wir wussten nicht, was wir taten.“
Kira sah mich verständnislos an. „Was?“
„Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.“
Kira blickte zu Boden. Dann sagte sie vorsichtig: „Stell dir vor, es wären mehr. Ich muss ich erst mal ausruhen.“
Sie schloss die Augen und sank zu Boden.
Dumpf schlug ihr Körper auf.
Ich geriet in Panik.
Ich stand noch etwa drei Dutzend von diesen Dingern gegenüber und meine einzige Unterstützung war gerade eingeschlafen.
Damit war sie nicht nur nutzlos, sondern auch noch hilflos.
Ich hatte Angst um sie.
Wenn Ryota doch nur etwas tun könnte, überlegte ich.
Doch der stand nur in seinem komischen Kreis und spielte Flöte.
Das half Kira nicht weiter.
Also musste ich sie beschützen.
Stell dir vor es wären mehr.
Mehr was?
Ryota hörte auf zu spielen. Der Kreis um ihn verblasste. Langsam setzte er die Flöte ab.
Sofort stürmten zwei der Finsterflecken auf ihn zu, doch er beachtete sie gar nicht. Er tat einfach nur einen Schritt zur Seite.
Dann hob er das Kinn und rief mir zu: „Hey, Kumo! Alles hängt jetzt von dir ab. Ich kann dich nur unterstützen! Also, viel Glück.“
Er holte tief Luft und blies wieder in die silberne Flöte.
Doch der Ton, der nun über das Schlachtfeld auf dem Dach rollte, war komplett anders als die vorigen.
Ich hörte, wie er von den Finsterflecken abprallte. Die Klänge glitten einfach an ihnen ab. Und sie drangen tief in mich ein.
Die Musik füllte mich komplett aus, ich spürte, wie sie sich einem Feuer gleich durch meine Adern schlich, wie warmes Wasser durch die Knochen floss und wie sie sich als dünne Schicht um meine Gedanken legte.
Endlich, dachte ich, endlich.
Ich konnte es endlich beenden.
Ich wusste, was zu tun war.
Die glasklare Musik schlug einen anderen Klang an.
Ich begann zu lächeln. Warum war es vorhin nicht so einfach gewesen?
Einfach angreifen, mehr nicht.
Ich schnippte mit den Fingern und ließ das Zeigerschwert erscheinen.
Sage nicht: 'Glaube an dich, Kumo.'
Behaupte nicht: 'Tief in deinem Herzen weißt du die Antwort.'
Und sprich niemals die Worte: 'Die Hoffnung stirbt zuletzt.'
Ich wusste, was ich zu tun hatte, aber ich glaubte nicht daran, ich wusste es. Und nicht in meinem Herzen. Ich wusste es in meinem Hirn, es lag klar vor meinem inneren Auge.
Und die Hoffnung war gerade erst von den Toten auferstanden.
Mich konnte nichts mehr aufhalten.
Dramatisch streckte ich mein Schwert der Übermacht an Feinden entgegen.
Die Augen der Finsterflecken verengten sich ein wenig.
Ohne Vorwarnung stürmte ich nach vorne.
Jetzt war ich endlich mal am Zug.
Ich erreichte den ersten Feind.
Wie Kira warf ich mein Schwert nach vorn.
Es schoss rotierend auf den ersten Finsterfleck zu und bohrte sich ihm zwischen die Augen.
Schreiend klappte er zusammen und rührte sich nicht mehr.
Ich rannte an ihm vorbei und riss mein Schwert aus dem metallenen Schädel.
Wie der Wind huschte ich zwischen den Ungeheuern hindurch.
Es klapperte und klimperte, als einzelne Teile der Metallkörper zu Boden fielen.
Sie schrien vor Schmerz.
Waren sie doch Lebewesen?
Nein, nicht darüber nachdenken, einfach machen.
Ich schwang mein Schwert im Kreis und schlug nach einem Finsterfleck. Doch der duckte sich unter meinem Hieb hindurch.
Ich erwischte lediglich einige giftig grüne Haarspitzen.
Plötzlich schoss der grelle Schmerz eines Treffers durch meine Brust.
Verdammt.
Sofort reagierte Mein Körper damit, meine Hand auf die Wunde zu pressen. So konnte ich nicht mehr mit voller Kraft kämpfen.
Doch Ryota ließ eine Note über mich fließen, die es in sich hatte. Innerhalb eines Atemzuges verschwand die Wunde. Nicht einmal das Blut hatte Zeit, aus meinem Körper heraus eine Reise anzutreten. Erstaunlich. Hoffentlich war dasselbe auch mit Kiras zahlreichen Wunden passiert.
Ich sah wieder auf und versuchte einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Es waren nur noch vier Finsterflecken übrig.
Das dürfte doch eigentlich kein Problem sein, oder?
Mit einem Mal sah ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung.
Ich wirbelte herum.
Das erste, worauf mein Blick fiel, war ein weißer Mantel. Eine schwarze Hose schuf einen interessanten Kontrast.
Das Gesicht der Person war hart, aber nicht unsympathisch.
Das linke Auge wurde von einer weißblonden Haarsträhne verdeckt, das rechte blitzte mich freundlich an.
„Soll ich dir helfen?“, fragte die Person.
So nett er auch aussah, ich war ein wenig beleidigt. „Das schaffe ich schon selbst.“
„Sehe ich. Du bist Kumo, habe ich recht?“
Meine Beleidigung wandelte sich zu Misstrauen. „Woher weißt du das?“
„Ach, man hört so dies und das...“, sein Blick wanderte zu den Finsterflecken, „Kann ich dir nicht vielleicht doch zumindest einen abnehmen? Ich habe schon so lange nicht mehr richtig gekämpft.“ Er sah wieder mich an, „Bitte?“
Ich zuckte mit den Schultern und trat zur Seite. Sollte er das doch machen.
Der Unbekannte rieb sich freudig die Hände. „Dann wollen wir doch mal.“
Doch er zögerte. Kurz drehte er sich noch einmal zu mir um und fragte: „Wie geht es Kira?“
„Sie ist in Sicherheit“, sagte ich, „Vorerst.“
„Schön. Sehr gut.“ Der junge Mann in dem weißen Mantel wandte sich wieder den Finsterflecken zu.
„Sieh gut zu Kumo, dann lernst du noch was.“
Er hob seine rechte Hand. Etwa auf Höhe seiner Schulter.
Es war ein simples Fingerschnippen.
Doch es löste etwas in der Welt aus, wie es noch nie passiert sein konnte.
Plötzlich spürte ich, wie sich die riesigen Räder der Uhr drehten, die diese Stadt antrieben. Ich sah, wie sich gigantische Pendel träge durch die Luft schoben.
Ich hörte, wie Kometen durch das All schossen, die Menschen in ihren Häusern leise atmeten.
Ich fühlte Erde unter meinen Fingern, Sand, Wasser, Holz und Moos.
Doch all das war nichts weiter als ein Rettungsversuch, den mein Gehirn unternahm, um nicht vollends zu zerbrechen.
Das, was wirklich passierte, war noch viel unglaublicher.
Ich sah, wie sich die Sterne drehten wie auf einer gigantischen Himmelskuppel. Ich konnte regelrecht beobachten, wie sich die Wolken, die über das Firmament rasten, langsam rot färbten.
Viel zu schnell sprang die Sonne über den Horizont, rannte den Himmel entlang und fiel auf der anderen Seite wieder von der Welt.
Der Mond tat es ihr gleich. Er huschte einer sehr runden, sportlichen Maus gleich der Sonne hinterher.
Er wurde immer schneller.
Dann kam wieder die Sonne. Dann der Mond, die Sonne, der Mond und wieder die Sonne. Immer schneller kreisten die Gestirne umeinander, bis sie nur noch als helle Linie über der Welt standen.
Alles war in ein gleißendes Licht getaucht.
Die Schatten waren nur noch andeutungsweise in den letzten Ecken der Welt zusammengepresst.
Plötzlich verdichtete sich das Licht am Himmel zu einer einzigen, schmalen Spur, die so hell wie hundert Sonnen war.
Der schwarze Himmel um sie herum wurde noch schwärzer als zuvor, als ihm alles Licht entzogen wurde.
Von einer Sekunde auf die nächste schoss die dünne Lichtspur vom Himmel und bohrte sich in die Erde, wo sie in einer blendenden Explosion all das Licht wieder entließ.
Die Finsterflecken wurden durchbohrt von Licht, der reinen, weißen Helligkeit.
Die Überreste der Metallbiester wurden im Lichtersturm davon geweht.
Mit offenem Mund starrte ich den Neuankömmling an.
Was zum Teufel war das?
Ryota ließ die letzten Töne erklingen und senkte dann die Flöte.
Seine Mine war ernst.
Er blickte zu den letzten Aschenhäufchen, das, was von den Finsterflecken übrig geblieben war.
Was für eine Kraft. Und ich dachte, Kira und ich wären stark mit unserem Funkensturm. Dabei wussten wir noch nicht einmal, wie wir es gemacht hatten.
Verdammt.
Sollte ich jetzt eifersüchtig sein oder interessiert?
Eine Zeit lang sahen sich die beiden an. Ryota und der Unbekannte.
Und wer war er?
Er hatte die Finsterflecken umgebracht. Einfach so. Mit einem Fingerschnippen!
Ich klappte meinen Mund zu. War vermutlich besser so.
Und sofort fiel mir die Kinnlade wieder herunter.
Ryota und der Unbekannte lachten!
Warum lachten sie?!
Das war so gemein.
„Was ist los?“, fragte ich leicht genervt.
Die beiden drehten sich zu mir um. Ryota stieß den Unbekannten in die Seite. „Sag du es ihm.“
„Du hast es ihm noch nicht gesagt?“
„Sollte ich? Ist doch meine Sache, ob ich es ihm sage oder nicht, oder?“
„Ich glaube schon...“
„Aber du hast Recht, mein Freund. Ich sollte es ihm sagen... Kumo? Ist irgendetwas mit dir?“
Mein Fuß klopfte ungeduldig auf das die Schindeln. Nein, nur nicht. Es ist rein gar nichts. Redet nur weiter, als wäre ich nicht da.
„Und?“, fragte der Neue erneut, „sagst du es ihm?“
„Na gut...“
„Geht doch. Aber könntest du mich erst mal vorstellen? Ich habe so das Gefühl dass Kumo mich inzwischen nicht mehr besonders mag.“
Wie kommt der denn da drauf?
Ryota räusperte sich. „Eh... Kumo, das ist Chris...“
„Chris Gloom“, ergänzte Chris Gloom.
„Chris, das ist Kumo“, meinte Ryota.
„Kumo“, wiederholte Chris, „Und weiter?“
„Nichts weiter“, nörgelte ich, „ich bin einfach nur Kumo.“
„Ah, ein echter Railrunner also“, seufzte Chris, „Wir waren auch mal Railrunner.“
Was hatten immer alle mit den Nachnamen? Wer brauchte so etwas?
Warte...
Ich ließ den letzten Satz noch einmal Revue passieren.
WIR waren auch mal Railrunner?
„Was heißt 'Wir'?“, hakte ich nach, „Ryota ist doch immer noch einer. Oder habe ich etwas verpasst?“
Chris fuhr sich mit einer Hand durch die blonden Haare. Dann holte er tief Luft und stieß sie wieder aus.
„Mist“, sagte er.
„Was ist jetzt wieder?“, wollte ich wissen.
Niemand sagte etwas. Alles war ruhig.
„Wer bist du, Chris Gloom?“
Ryota seufzte. „Na super, Chris, jetzt müssen wir es ihm sagen.“
„Ja, schon klar, ist mal wieder mein Fehler. Also gut...
Kumo? Was weißt du über der Schicksalsspieler?“
Ich wusste einiges. Aber noch lange nicht alles.
Ich wusste, dass der Schicksalsspieler eine Art Gott war, der nur dem Schicksal selbst unterstellt war. Er schickte Leute in die entlegensten Ecken der Welten, um sie wie Spielfiguren gegen alle die einzusetzen, die sich dem Schicksal entgegenstellten.
„Nichts“, antwortete ich stattdessen.
„Na, auch gut. Zumindest... Du hast sicherlich von den Meistern erfahren, hm?“
Da begriff ich.
Mist verdammter. Wieso hatte ich das nicht eher gesehen?
Der weiße Mantel, die gelben Haare.
Der Name 'Gloom'.
Der vernichtende Angriff, der die Finsterflecken einfach aus gepustet hatte.
„Du... Du...“, stotterte ich, „Du bist der... Meister des Lichts.“
Der Meister des Lichts sah ziemlich ratlos aus. „Ja. So in Etwa.“
„Also bist du auch...“
„Der Schattenmeister ist mein Zwillingsbruder“, presste Chris hervor, „Sein Name ist Opac Gloom.“
„Ihr seid Zwillinge...“, hauchte ich.
„Hey!“, der Lichtmeister schüttelte den Kopf, „Ich bin nicht sonderlich stolz darauf, klar?“
„Ja, schon klar...“
„Oh ja“, Ich konnte förmlich sehen, wie Chris ein Licht aufging, nur um dem unglaublichen Humor des Universums Genüge zu tun, „Da war ja noch etwas“, meinte er und sah Ryota an.
Seine Augen verengten sich.
„Du wolltest Kumo doch noch etwa sagen, oder, mein Freund?“
Ryota murrte: „Ach verdammt.“
„Dann mache ich das eben“, entschied Chris, „Ryota, dieser Ryota hier, der da!“, erschlug auf seinen Freund ein, „Der ist auch ein Meister.“
Mein Gehirn verabschiedete sich für einige Sekunden, die jedoch vollkommen reichten, um mich schwanken zu lassen.
„Ryota ist ein Meister“, murmelte ich.
„Tja“, machte Ryota, „Ich bin der Meister der Musik und der Geräusche. Ohne mich könnten wir uns nicht unterhalten.“ Er lächelte schief.
„Jeman hat uns nicht ohne Grund zusammen auf Mission geschickt, Kumo. Zwar wusste auch er nicht, dass plötzlich so viele Finsterflecken auftauchen, doch er hat geahnt, dass es schwieriger werden würde.“
„Und da schickt er uns gleich mit einem Meister los?“
Ryota grinste. „Wärst du lieber mit Yutaki losgezogen?“
Eine kleine Phase der Übelkeit kitzelte meinen Gaumen.
„Aber wieso... Du bist doch der Meister der Musik? Du hättest uns helfen können!“
Ryota sah ein wenig betreten aus. „Da liegt das Problem, Kumo. Ich bin der Meister der Musik. Hast du schon mal gesehen, dass Musik jemanden umgebracht hat?
Ich könnte einen so hohen Ton erzeugen, dass den Menschen die Trommelfelle platzen.
Ich kann einen Ton so tief machen, dass ihr Gehirn anfängt zu zittern.
Ich kann alle Geräusche verändern, dass ihnen nicht mehr klar ist, wo ich bin, dass sie hoffen, träumen, sich schämen oder zu Tode ängstigen.
Ich kann Melodien spielen, die so schön oder so traurig sind, dass ihnen das Herz stehen bleibt.
Aber was bringt mir das alles bei Maschinen? Sie haben keine Trommelfelle, keine Gehirne, keine Herzen. Sie empfinden nichts. Ich kann nur so viele Töne hintereinander spielen, dass die Luft so dicht wird, dass sie sie nicht mehr durchdringen können.
Du hast es vermutlich als silbernen Kreis gesehen.
Doch zu mehr bin ich gegen solche Gegner nicht fähig.“
Innerlich musste ich ihm Recht geben.
„Aber ich habe euch zumindest musikalisch unterstützt. Was nicht heißen soll, dass ich den passenden Soundtrack geliefert habe. Ich habe lediglich die richtigen Töne erzeugt, um euch zu schützen, zu stärken und die Finsterflecken zu verlangsamen.“
„Aha“, machte ich, „So ist das also. Sonderlich gut hat es aber nicht funktioniert.“
Ich hob den Kopf ein wenig an und wandte mich an Chris: „Und warum hast du sie mit Licht besiegen können?“
Verwirrt sah er mich an. „Wie jetzt?“
„Es ist doch nur Licht. Wie kann das etwas gegen diese Finsterflecken ausrichten?“
„Wiederhole deinen Satz doch noch einmal. Und hör mal genau hin, was du da sagst.“
Langsam ging ich noch einmal alle Wörter durch.
Erst Wort für Wort und dann Silbe für Silbe.
Plötzlich stockte ich.
Resignation befiel mich wie ein ekeliger, schwarzer Käfer.
„Es sind FINSTERflecken“, murmelte ich.
Chris strahlte förmlich voll Stolz.
Noch so ein unglaublicher Universalwitz.
„So“, meinte Ryota. „Nachdem das geklärt wurde, ein anderes Thema: unsere Mission.“
„Ui! Eine Mission! So etwas habe ich ewig nicht mehr gemacht! Darf ich mit kommen?“, Chris klatschte aufgeregt in die Hände,
Ryota lachte. „Meinetwegen. Kumo? Was meinst du?“
„Wenn es denn sein muss“, murrte ich.
Ich verchränkte die Arme und wollte gerade sagen: „Aber ihr müsst Kira noch fragen“, da wurde mir auch schon bewusst, was eigentlich mit Kira los war.
Ich wirbelte herum und lief mit einigen schnellen Schritten auf meine Schwester zu.
Sie lag weiterhin lang ausgestreckt auf dem Boden.
Ihr Gesicht, ihre Unterarme, ihre ganze Haut war von Kratzern und Schnittwunden übersät. Überall zeigte sich blutiges Rot.
Doch Ryotas Musik schien ihre Wirkung getan zu haben. Ich konnte schon fast dabei zusehen, wie sich die kleinen Wunden schlossen.
Ich seufzte. Gut, dass Ryota gespielt hatte.
Und auch gut, dass Chris aufgetaucht war.
Inzwischen war ich mir nicht mal mehr so sicher, ob ich es denn auch wirklich ohne ihn geschafft hätte.
Ich war doch schon ziemlich... müde.
Meine Gedanken schliefen ein wie Zahnräder in Sirup.
Das letzte, was ich hörte, waren Chris und Ryota.
„Macht der so was öfter? Einfach zwischendurch einschlafen?“
„Kann sein, weiß ich nicht.“
„Müssen wir die zwei jetzt tragen?“
„Scheint fast so. Naja.“
„Oder sollten wir sie zurücklassen?“
„nein, das wäre unfair.“
„Also ich finde ja...“
„Kann sein, dass wir die zwei noch mal brauchen. Nehmen wir sie lieber mit.“
„In Ordnung.“
„Nimmst du Kira? Dann nehme ich Kumo.“
„Na Gut.“
Dann war ich auch schon dahingedämmert.
Das erste, was ich sah, war ein Haus.
Ich lag auf dem Boden, also musste es anders herum richtig sein.
Ich rappelte mich auf und das Haus nahm eine einigermaßen physikalisch korrekte Position ein.
Mehr oder weniger. Als es auf dem Kopf stand, hatte es besser ausgesehen.
Ich schaute mich um und sah Chris und Ryota ein wenig entfernt stehen. Sie keuchten.
Neben mir saß Kira mit verschränkten Beinen und kicherte.
„Das...“, hustete Chris, „Das...ist nicht... lustig!“
„Genau!“, röchelte Ryota hinterher, „Ihr beide seid schwer.“
Chris holte tief Luft und richtete sich auf. „Na kommt, ihr Zwei.“
Ryota hielt sich mit de Hand den Rücken und stöhnte. „Können wir uns nicht noch ein bisschen ausruhen?“
Chris lachte. „Es wird bald hell, mein Lieber. Und was wärt ihr für Railrunner, wenn ihr nicht die Nacht nutzen könnt?“
„Verdammt...“, meinte Ryota und schüttelte den Kopf.
Kira sprang auf und fasste mich bei der Hand. „Lasst uns reingehen.“
„Ist das hier die Bibliothek?“, fragte ich misstrauisch.
„Jaja“, meinte Ryota“, geht schon mal rein, wir kommen gleich nach.“
Die Tür quietschte. Wie könnte es auch anders sein?
Vor uns breitete sich ein kurzer Gang aus.
Rechts war ein kleiner Schalter, fast wie eine Kasse.
An den Wänden hingen kostbare Bilder, gerahmt in goldene Fassungen.
Am Ende des Flures wartete eine weitere Tür.
Ich versuchte sie aufzustoßen.
„Abgeschlossen“, murmelte ich.
„Lass mich mal“, meinte Kira und schob mich beiseite.
Sie beschwor eine Miniversion ihres Zahnrades und ließ es auf ihrem Finger tanzen. Dann berührte sie mit dem Finger das Schlüsselloch und erlaubte dem Zahnrad einen kurzen Abstecher in die unbekannten Gefilde der Bibliothek.
Ich hörte es kurz klicken und die Tür sprang auf.
„Wo hast du denn das gelernt?“, fragte ich verwundert.
„Während du mit dieser... Yutaki auf Mission warst, habe ich mich mal mit Jeman unterhalten. Er hat es mir gezeigt.
Er meinte auch, dass du etwas ähnliches auf dieser Mission lernen würdest.“
Sie sprach es nicht aus, aber ich wusste genau, dass sie auch die Sache mit den drei Zahnrädern meinte.
Ich wüsste wirklich zu gerne, wie sie das gemacht hatte.
Ich stieß die Tür mit einer Hand auf.
Sie quietschte nicht. Das hier war schließlich eine...
Mir verschlug es die Sprache und die Gedanken gleich mit dazu.
Die Bücherei war...
ungewöhnlich.
Selbstverständlich gab es Bücher, keine Frage.
Doch sie lebten.
Ich sprang über ein Buch hinweg, das nach mir schnappte und schlug ein anderes davon, das mir gerade die Haare ausreißen wollte.
Kira hatte indes mit einem gestreiften Buch zu kämpfen. Es hatte lange Zähne und war ziemlich groß. Es ließ ein Fauchen ertönen, das wie trockenes Papier klang.
Doch Kira ließ einmal ihr Zahnrad aufblitzen und schlug es mit aller Kraft auf dem Buchdeckel.
Das Buch klappte beleidigt zu und floh in die Finsternis unter einem Tisch.
Lächelnd fragte Kira: „Und welches Buch suchen wir genau?“
Ratlosigkeit machte sich in mir breit.
„Ich habe keine Ahnung“, musste ich gestehen.
„Na super. Und wie sollen wir es dann finden?“
„Ich schätze, wir such einfach so lange, bis uns eines ins Auge fällt.“ Ich zuckte mit den Schultern.
Keine zwei Sekunden, nachdem ich diesen, im Nachhinein überaus törichten, Satz ausgesprochen hatte, wurde ich von den Füßen gerissen und an die nächste Wand gepresst.
Um mich tretend riss ich das Buch aus meinem Gesicht und hielt es auf Armlänge von mir.
Es war klein, blau und es hatte mich mit seinen winzigen Zähnchen gebissen!
Besorgt meinte Kira: „Du hast Tinte im Gesicht.“
Ich wischte mir mit der freien Hand über die Stirn.
„Verdammt“, sagte ich, „Was war das denn?“
Kira bückte sich und las den Titel auf dem blauen Einband. „'Abhandelung über die Logike dess Universumms'“,zitierte sie, „Und ich glaube, es mag dich.“
„Es hat mich gebissen“, protestierte ich, „Da wird es mich wohl kaum mögen, oder? Und dann diese Rechtschreibung.“
Das Buch wand sich in meinem Griff, doch ich hielt es lieber fest. Wer wusste schon, wozu es noch in der Lage war? Beißen war da vermutlich noch das geringste Übel.
Kira hob die Hand und begann die kleine Abhandlung am Rücken zu kraulen.
Das Buch begann leise zu schnurren und gab sein Gegenwehr auf.
„Wie süß...“, flüsterte Kira.
Ich beobachtete währenddessen die Umgebung.
Plötzlich schimmerte etwas zwischen den anderen Büchern hindurch.
Ich warf Kira die kleine Abhandlung mit den Worten „halt das Ding mal“ zu und rannte los.
Ich tauchte unter einem Schwarm Schmetterlingsbücher hindurch und wich einem vorbeifliegenden 'Lehrplan zum Flugzeugbau' aus.
Den Bildband über die einhundert berühmtesten Selbstmörder konnte ich gerade noch so weg schubsen, bevor er sich mir vor die Füße werfen konnte.
Nur der Abenteuerroman über einen vegetarischen Kannibalen hielt mich ein wenig auf, indem er einen kleinen Stepptanz um mich herum aufführte.
Eine Miniaturausgabe des 'Gesamten Weltatlasses', gerade so groß wie mein kleiner Finger, nistete sich dreist in meinen Haaren ein.
Ich bog noch um eine Pyramide aus Archäologiewerken und stand auf einmal einem ganz anderen Wesen gegenüber.
Raschelnd schwang es durch die Reihen der Bücher. Seine Bewegungen ähnelten denen eines an einer Schnur befestigten Stück Papiers.
Doch es sah mehr aus wie ein... Umhang. Ja, ein papierner Mantel. Tausende Buchstaben drängten sich auf den Seiten, so dass das Wesen fast schwarz aussah.
Es bewegte sich von links nach rechts und wieder zurück wie eine Schlange, die ihr Opfer hypnotisierte, bevor sie es fraß. Nur mit dem markanten Unterschied, dass es zwei Meter über dem Boden schwebte.
Mit von den tausenden Regalen widerhallenden Schritten kam Kira neben mir zum stehen.
Sie wedelte mit der kleinen Abhandlung vor meinem Gesicht herum. „Sag mal, was fällt dir eigentlich ein, einfach so abzuhauen? Und wo starrst du so gebannt... oh.“
Kira stockte in ihrem unerwartet langen Redefluss.
Ich blinzelte.
Nur kurz.
Doch sofort stand das Wesen vor uns.
Ich hüstelte einmal und das Wesen wich zurück. Hatte es Angst? Aber doch nicht vor mir, oder?
„Entschuldigung, Sir?“, fragte jemand.
Ich zuckte zusammen. Kira!
„Könnten Sie uns vielleicht helfen?“
Das Wesen kam einen Schritt näher. Irgendwie wirkte es größer als gerade eben noch.
Rauch wallte um den Saum des leeren Mantels, zog Fäden und verlor sich in der Finsternis zwischen den Büchern.
Eisiger Nebel löste sich von der Kapuze, ungefähr dort, wo man den Mund vermuten könnte.
„Was begehrt Ihr?“, hauchte das Wesen. Die Stimme war tief. So dunkel und hohl wie eine Gruft, doch so frostig, dass sie selbst die Hölle hätte einfrieren können.
Kira straffte sich. „Wir suchen ein Buch.“
Das Wesen flüsterte verwirrt: „Aber hier gibt es doch genug Bücher?“
„Wir brauchen ein bestimmtes.“
„Ach?“ Nur dieses eine Wort war der Startschuss für eine weitere Wolke, die sich mit einem nicht unerheblichem Tempo auf uns zu bewegte.
Der Nebel gefror auf meiner Haut. Ich konnte die winzigen Eiskristalle spüren. Jeden einzelnen. Dann die Wassertropfen, als das Eis wieder schmolz.
„Ja, wir wissen nur nicht, welches“, überlegte Kira laut.
„Oh, wie schade“, hauchte es unschuldig. „Meine Bibliothek steht euch offen. Bleibt, solange ihr wollt. Doch es gibt Regeln hier. Bitte beachtet sie.“
„Regeln?“, fragte ich misstrauisch. „Was sind das für Regeln?“
„Es sind Verhaltensregeln. Bitte beachtet sie. Sie stehen hier, in diesem Buch.“
Das Wesen schwang den Ärmel. Ein dickes Buch flog herbei. Es hatte große, graue Flügel, die beständig die Luft durchpflügten.
„Die Regeln stehen am Anfang des Buches.“
Ich beobachtete das Buch ein wenig. Es war schlicht, nur grau, die Flügel ebenso. Vor uns blieb es in der Luft hängen. Die Schwingen schlugen langsamen, doch weiterhin regelmäßig.
„Bitte, seht euch um. Ich habe noch etwas zu erledigen.“
Damit schwang das Wesen herum und verschwand in dem Labyrinth aus Regalen.
Kira und ich tauschten einen kurzen Blick und schlugen dann zusammen das Buch auf.
Der Deckel war nicht sonderlich schwer. Die Seiten waren dick, aus wertvollem Papier, das beinahe Karton ähnelte.
Ich begann, laut zu lesen. Die Schrift war mir zwar unbekannt, doch egal, welchen Buchstaben ich ansah, er veränderte sich unter meinem Blick zu den mir vertrauten Zeichen.
„Diese Bibliothek ist Eigentum des königlichen Hauses von Virianda. Der König selbst trägt die Verantwortung über das Gebäude, besitzt jedoch keinerlei Rechte an dem Inhalt der Bibliothek der tickenden Stadt.
Alle Bücher und Schriften sind Eigentum ihrer selbst, es steht ihnen frei, zu gehen, wohin sie wollen.
Als Herr der Bibliothek wird nach Wahl einer der Wächter eingesetzt, die dem Meister des Schicksals unterstehen oder ein beliebiger Meister, der vom Meister des Schicksals als würdig empfunden wird.
Allen Bürgern und Bewohnern dieser Welt ist es erlaubt, die Bibliothek nach Belieben zu betreten und zu verlassen.
Es ist ihnen jedoch verboten, ein Buch gewaltsam aus der Bibliothek zu entfernen.
Feuer ist in der Bibliothek untersagt. Wasser ebenfalls.
Die Türen und Fenster sind geschlossen zu halten.
Je nach Alter und Zustanddes Besuchers der Bibliothek ist es ihm erlaubt, unterschiedliche Räumlichkeiten zu besuchen.
Im folgenden werden diese Bereiche aufgeführt.
Oberster Bereich: ohne Altersfreigabe.
Gewölbehallen: ohne Altersfreigabe.
Eisengrotte: Nur für Wesen, die nach ihren Gesetzen als erfahren eingestuft werden.
Silberhalle: Nur für Wesen, die nach ihren Gesetzen als weise eingestuft werden.
Goldhalle: Nur für Wesen, die nach den Gesetzen der Bibliothek als weise eingestuft werden.
Diamanthalle: Nur für Wesen, die nach den Gesetzen der Bibliothek als rein eingestuft werden.
Zwielichthalle: Nur für Wesen, die nach den Gesetzen der Bibliothek als echt eingestuft werden.
Vorhalle: Nur für Wesen, die als magisch begabt gelten.
Ganghalle: Nur für Wesen, die als geschickt gelten.
Haupthalle: Nur für Wesen, die mindestens als Herrscher eingestuft werden.
Bibliothek der Schatten: Nur für Meister zulässig.
Bibliothek des Lichtes: Nur für Meister zulässig.
Bibliothek der Sterne: Nur für befugte Wesen, die da wären: Meister, Wächter, Masken, Memoiren und alle Untergebenen einschließlich des Schicksals, ausschließlich dem Vierten.
Nachfolgend werden die Ahndunsmaßnahmen erläutert.
Bei Verletzung eines Buches: Tod.
Bei Entführung eines Buches: Tod.
Bei Betreten verbotener Zonen: keine Maßnahmen. Der Tod erklärt sich von selbst.
Letzte Aktualisierung der Regeln der Bibliothek der tickenden Stadt: siehe Kalendarium der Welten im Jahre der weinenden Wolken.
Alle Angaben sind ohne Gewähr.“
Ich stutzte.
Was für ein Text.
Diese Regeln waren... interessant. Unübersichtlich, ja, aber erstaunlich.
Ich war bisher davon ausgegangen, dass es nur eine Ebene gab.
Die Bezeichnungen der anderen Ebenen kam mir zwar ein wenig seltsam vor, doch es war einfacher, einfach nicht darüber nachzudenken.
Dann jedoch kam mir ein anderer Gedanke.
Wer ein Buch gewaltsam aus der Bibliothek entfernte, wurde mit dem Tod bestraft.
Was, wenn das Buch nicht mitkommen wollte? Oder nicht zuließ, dass wir es lasen?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es ein schönes Gefühl war, auseinandergerissen zu werden, dass jemand in einem herum wühlt, jeden Millimeter genauestens inspiziert und betrachtet.
Kira fuhr sich durch die Haare.
„Na super“, sagte sie, „jetzt müssen wir ein Buch fragen, ob es mitkommen will.“
Ich sah mich um. „Welches Buch suchen wir eigentlich?“
Kira blickte mich ratlos an. „Wir könnten doch den von vorhin fragen, vielleicht kann er uns doch helfen.“
„Aber er sagte doch...“
„Wir haben ihm ja auch noch nicht gesagt, dass wir von Jeman geschickt wurden, oder?“
„Und wo ist er?“
„Was weiß ich?“
Kira holte tief Luft. Ich schlug ihr gerade noch rechtzeitig die Hand auf den Mund, bevor sie los schreien konnte.
„Er ist schon da“, meinte ich beruhigend.
Ein papierner Umhang schwebte durch die Luft auf uns zu.
Er hielt sich die Ärmel an die Kapuze. Ob er sich die Ohren zuhalten wollte?
„Das ist ja nicht zum Aushalten. Müsst ihr unbedingt so laut sein?“
„Wie meinen Sie das?“
„Seit Jahren herrscht in diesem Haus nichts als Stille. Und dann kommt ihr! Aber nun zu eurem Anliegen. Was möchtet ihr?“
Er ließ die Hände/ Ärmel sinken.
„Wir wurden von Jeman geschickt“, begann Kira, „um ein Buch abzuholen.“
„Und ihr wollt von mir, dass ich euch helfe.“
„Richtig.“
„Werdet ihr dann wieder verschwinden?“
„Ja. Wenn wir das Buch haben, gehen wir wieder.“
„Wenn ihr das...“, das Wesen zitterte vor Wut und wurde noch schwärzer. „Wenn ihr es habt? Wie könnt ihr es wagen?!“
„Wenn es mit uns kommt!“, warf ich ein.
Das Wesen beruhigte sich sichtlich wieder. „Das ist etwas anderes.“
„Werden Sie uns helfen?“
„in diesem Falle...nein. Es ist mir nicht erlaubt, mich in die Geschäfte der Railrunner einzumischen.“
„Was? Aber ich dachte...“, sagte ich.
„Ich weiß, welches Buch ihr sucht“,unterbrach mich das Wesen, „Ich darf euch nicht verraten, wo es ist, aber ich kann euch einen Hinweis geben. Es ist ein Buch ohne Staben, ein Werk ohne Worte, eine Schrift ohne Zeichen. Ihr müsst die Bücher fragen. Sie werden euch vielleicht helfen. Hofft einfach.“
Hoffen? Nicht schon wieder! Die Hoffnung ist ein Vogel, der tot vom Himmel fällt, sobald es ihm zu dunkel wird!
Während das Wesen davon schwebte, dachte ich über das nach, was es gesagt hatte.
Ein Buch ohne Staben?
Ein Werk ohne Worte?
Und eine Schrift ohne Zeichen?
Fragt die Bücher. Das erschien mir noch am logischsten.
Ich drehte mich zu Kira um und nahm ihr die kleine, grammatikalisch falsche Abhandlung aus der Hand.
Sie wehrte sich kein bisschen, sondern zitterte nur leicht.
Ich hielt sie dicht vor mein Gesicht und -ich kam mir komisch dabei vor- redete damit.
„Wenn du uns zeigst, wie wir an das Buch kommen, das wir suchen, darfst du mit kommen, ja?“
In Kiras Mine zeigte sich gesunde Skepsis. Ich redete mit einem Buch, was war daran seltsam?
Die kleine Abhandlung jedoch vibrierte leicht, begann sich zu schütteln und befreite sich aus meinem Griff.
Sofort stieg sie in die Höhe und begann auf das große graue Regelbuch einzuschlagen. Immer und immer wieder flog es mit dem Einband dagegen, bis sich der riesige Band davon trollte.
Tapferes kleines Kerlchen, unsere Abhandlung.
Kaum hatte ich soeben genanntes gedacht, krachte mir die kleine Abhandlung gegen den Kopf und taumelte durch die Gänge hinter mir davon.
„Ou... was sollte das denn?“, knurrte ich benommen. Ich hielt mir die Hand vor die schmerzende Stirn. Kira blickte mich ein wenig besorgt an.
„Ich glaube, es mag dich mehr als anders herum, hm?“, lächelte sie.
„Scheint fast so. Wo ist das kleine Ding hin?“
Kira sah sich um und lief los. „Komm mit! Ich glaube, ich habe es gefunden!“, rief sie über die Schulter hinweg.
Ich seufzte und rannte ihr hinterher. Die Regale flogen an mir vorbei.
Wie ein Wald, dachte ich.
Über mir flog ein Schwarm Kinderbücher lang. Kleine, bunte Bildchen auf den Einbänden.
Sie wurden verfolgt von einer schmalen, schwarzen Albtraum-Lektüre. Es war eine von der Art, wie sie nur mit der Kennzeichnung FSK 18 und dem Hinweis, dass man sie nur tagsüber lesen sollte, ausgekleidet waren.
Beinahe wäre ich gegen einen Stapel Bücher gerannt, die ein wenig verzweifelt versuchten, einen Turm zu bilden. Zu welchem Zweck auch immer.
Ich wich ihnen geschickt aus und setzte meine Kira -Verfolgung fort.
Bald schon veränderte sich die Umgebung. Wurzeln, so schwarz wie die Tiefen den Alls durchzogen die Regale, in denen die Bücher friedlich schlummerten. Pechschwarze Lianen bohrten sich durch die Zusammenkünfte unschuldiger Leseclubs.
Finstere Äste ragten aus den Ritzen zwischen den Werken hervor.
Immer weniger war von den Regalen zu sehen.
Stattdessen wurde alles schwarz.
Schwarze Wurzeln, schwarze Stämme von dürren Bäumen, schwarze Pflanzen, die wie Blumen aussahen.
Ich geriet ins Stolpern, fing mich wieder und hielt an.
Ein schwarzes Buch strich über den Boden hinweg, kaum sichtbar auf der schwarzen Erde. Es verschwand unter einem schwarzen Wurzelgewebe, von wo aus es mich bösartig anzischte, dann aber tiefer in die Höhle zwischen dem Schwarz verschwand.
Ich ging einige Schritte. Vor mit immer noch Kira, auch sie war langsamer geworden. Mit ihrem grünen Kapuzenpullover fiel sie in der dunklen Umgebung richtig auf. Sogar ihre Haare leuchteten weiß. Vermutlich sah ich nicht unauffälliger aus als sie.
Der Boden war von schwarzem Gras bedeckt, das mich irgendwie unruhig machte. Es sah so seltsam aus, als würde es mich beißen, wenn ich darauf träte.
Selbst die Bäume reckten ihre hölzernen Fingern nach mir, als wollten sie mich erwürgen.
Ich fühlte mich beobachtet.
Ein schauriges Gefühl im Nacken, als ob...
Angeekelt schnippte ich eine schwarze Raupe davon, die mir gerade den Rücken hinunter kriechen wollte.
Vor mir stampfte Kira gerade ein ähnliches, doch fetteres Exemplar in den Boden.
Mit verzogenem Gesicht streifte sie ihren Turnschuh an einer nahen Wurzel ab.
„Uäh, Wie ekelig!“, sagte sie und schüttelte sich. Dann sah sie auf den Boden. Genauer gesagt, an die Stelle neben meinem Fuß.
Ich sah an mir herunter und sprang zurück.
Eine Hand, schwarz wie alles hier, griff ins Gras und klammerte sich daran fest. Die Finger der Hand waren so dürr, dass es sich, solange es eine menschliche Hand war, sich nur noch um Knochen handeln konnte.
Die schwarze Klaue zerrte an dem Grasbüschel. Plötzlich öffnete das Büschel die Augen und begann zu schreien.
Ein schriller Schrei, welterschütternd, so grell, dass sich der Umweg über die Ohren erübrigte und der Schrei gleich sein Zerstörungswerk an meiner Haut begann.
Eine Gänsehaut war gar kein Ausdruck. Hätte sie es gekonnt, hätte sich meine Haut aufgerollt.
Ich presste mir die Hände auf die Ohren. Doch es half nichts.
Das Grasbüschel schrie weiter.
Es ertrug Schmerzen, die jenseits aller Grenzen lagen.
Die schwarze Klaue ließ nicht locker. Sie zog und zerrte.
Ich hielt es nicht mehr aus.
Mit einem Fingerschnippen beschwor ich mein Zeigerschwert. Mit der Spitze der Klinge stach ich auf die Hand ein, die sich krümmte und wand, doch schließlich losließ und in der Erde abtauchte.
Das Gras hörte auf zu schreien.
Erleichtert nahm ich die verbleibende Hand von meinem Ohr.
Kira kam näher. Ich bückte mich zu dem Grasbüschel hinunter.
„Kannst du sprechen?“, fragte ich es.
Das Gras blinzelte mit zwei großen, violetten Augen.
Es öffnete seinen winzigen Mund und meinte mit einer dürren Stimme: „Nein, ich glaube nicht, schu.“
Ich atmete erleichtert auf. „Das ist ja schön, ich dachte schon, ich wäre komplett...“
Ich starrte das Gras an. „Ähem“, machte es, „Du wolltest etwas sagen?“
„Du redest“, stellte ich geistreich fest.
„Ich glaube nicht, schu“, antwortete es.
„Aber dein... Mund bewegt sich und es kommen Wörter heraus“, hielt ich dagegen.
Gras, das behauptete, nicht reden zu können, dachte ich. Was kam noch? Ein Apfel, der dachte, er wäre ein Wurm?
„Wörter?“, fragte das Gras, „Wörter sind relativ, schu?“
„Wie meinst du das?“
„Wörter. Denk mal über das Wort nach, schu. Schmeckt es nicht herrlich?“
Neben dem verwirrenden Gras öffnete ein zweites Büschel die Augen. „Nein, nein“, lachte es, „Überlege doch mal, schu, das sind Menschen!“
„Hast Recht“, stimmte ihm Gras Nummer eins verlegen zu.
Gras Nummer zwei grinste überlegen.
Ich sah die beiden Büschel entgeistert an.
Die zwei wandten sich uns zu. „Willkommen erst einmal“, meinte Gras Nummer eins. Gras Nummer zwei fragte: „Wisst ihr überhaupt, wo ihr seid? Schu.“
„Nein“, gab ich zu.
„Ihr seid in den tiefsten Tiefen der Bibliothek der Schatten, schu.“
„Die was?!“, rief ich, „In dem Buch mit den Regeln steht doch, dass die nur für Meister erlaubt ist! Und wir sind keine Meister.“
Die Gräser sahen sich an.
Nummer eins sagte: „Schu?“
Nummer zwei sagte, zu uns gewandt: „Wir kennen das Buch nicht, von dem du da redest, aber 'erlaubt' ist das falsche Wort dafür.
'Geeignet' passt besser, schu.“
Geeignet, nicht geeignet...
„Das hieße ja... Wir könnten hier sterben?“, fragte ich.
Gras Nummer zwei schüttelte den Kopf. Oder zumindest das, was man für einen Kopf halten konnte. Es sah aus, als würde es gleich aus der schwarzen Erde geschüttelt werden.
Ich schöpfte neue Hoffnung.
Vielleicht könnten wir das hier ja doch schaffen.
Gras Nummer eins sagte: „Ihr WERDET sterben, schu.“
Blöde Hoffnung.
Ich sank ein wenig zusammen.
Kira kniete sich vor das Gras.
„Ähm... kann ich euch was fragen?“
„Nur zu, schu.“
„Wisst ihr vielleicht, wo wir ein Buch ohne Staben finden?“
Das Gras machte große Augen. Noch größere, wohlgemerkt und sein Mund öffnete sich, was vermutlich bedeutete, dass die Kinnlade herunterfiel.
Ich legte den Kopf schief. „Heißt das 'Ja' oder 'Nein'?“
Auf einmal schallte ein tausendfaches „Schu!“ durch die Bäume.
Ich blickte mich um und sah in sehr viele erstaunte violette Grasaugen.
„Ja! Schu!“, sangen sie im Chor, „Wie wissen, wo das Buch ohne Staben ist, Schu!“
Ich hob eine Augenbraue. „Ach?“
„Es ist in dem Hier, es ist in dem Jetzt! Es wartet bei Vier, Es ist noch verletzt!“
Irgendwas fehlte an dem Lied, das wusste ich.
„Schu!“, riefen sie wieder im Chor.
Ah, das war es.
Trotzdem half es nicht weiter.
Ich sah zu Kira. Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich an das Gras Nummer eins. „Könntet ihr das vielleicht übersetzen?“, fragte sie vorsichtig.
„Na klar, schu!“, rief Gras Nummer eins aus. „Geht den Weg weiter. Das Buch ist in diesem Teil der Bibliothek versteckt.
Sucht einfach ein wenig, schu. Dann findet ihr es garantiert.“
„Was meintet ihr mit 'Es wartet bei Vier' und 'Es ist noch verletzt'?“, fragte ich misstrauisch.
Hunderte von Gräsern wechselten bedeutungsvolle Blicke. Wie auf ein stummes Kommando schlossen sie alle auf einmal die Augen und schwiegen.
Plötzlich sahen sie wieder aus wie ganz normales Gras. Mal abgesehen davon, dass es schwarz war.
„Hey!“, rief ich, „Ihr könnt doch nicht einfach so abschalten!“
Ich sprang auf und verschränkte die Arme vor dem Körper.
„Dann eben nicht“.
Ich drehte mich um und ging in die hoffentlich richtige Richtung davon.
Kira stapfte hinter mir her.
Resigniert nahm ich ein kleines „Schu?“ zur Kenntnis, regierte aber nicht darauf.
Wir gingen dicht neben einander.
Zwei Kinder in einem schrecklichen Wald, in dem das Gras wirklich beißen konnte und schwarze Hände aus dem Boden kommen und was sonst noch alles.
Eigentlich war es verrückt, etwas derartiges zu glauben. Es war absurd, sich vorzustellen, wir wären wirklich auf dem Weg durch einen Wald, um ein magisches Buch von einer mysteriösen Vier zu holen. Grotesk. Idiotisch. Leider Real.
Etwas raschelte zwischen schwarzen Blättern.
Ich fuhr herum und konnte mich gerade noch ducken, bevor sich die kleine Abhandlung an meinen Hals werfen konnte.
Stattdessen traf sie einen schwarzen Baum, von dem sie torkelnd abprallte.
Unwillkürlich musste ich grinsen. Geschah dem kleinen Ding recht.
Doch was war das?
Es schwebte in der Luft vor meiner Nase. Deshalb konnte ich es eingehend betrachten.
Die kleine Abhandlung zitterte. Ich konnte fast das Papier gegeneinander reiben hören.
Was konnte ein Buch so verängstigen, dass es floh und derart zitterte?
Ich fing es aus der Luft und hielt es fest.
Doch entgegen meiner Erwartungen wehrte es sich nicht. Im Gegenteil. Ich hatte eher das Gefühl, es wollte zu mir.
Es wollte, dass ich es beschütze!
Ich sah über die Schulter in die Richtung, aus der das Buch gekommen war.
„Was ist denn mit dir los?“, flüsterte ich beruhigend.
Die kleine Abhandlung schwang sich in die Luft.
Mit dramatischer Pose klappte sie auf und offenbarte ihre weißen Seiten.
Ich las ruhig vor, was dort stand.
„Finsterfleck, der. Künstlich vom Meister der Schatten geschaffenes Wesen aus Metall, das zum...“
Die Abhandlung knallte ihren Deckel zu.
Finsterflecken also.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich einen grünen Lichtblitz, als Kira ihr Zahnrad beschwor.
Da stürmte auch schon der erste Finsterfleck durch das Unterholz auf uns zu.
Seine weißen Haare leuchteten zwischen dem Schwarz hervor. Seine Maske grinste mich an. Dunkle Augenhöhlen schienen wie ausgestochen vor den schwarzen Bäumen.
Ich rannte los. Nur wenige Meter trennten mich von meinem Feind.
Doch der bewegte sich nicht. Er stand einfach nur da.
Ich holt aus und schwang mein Schwert durch die Luft.
Es traf auf keinen Widerstand.
Eine Sekunde Ewigkeit verging, in der ich beobachtete, wie die Klinge meines Zeigerschwertes durch den Brustpanzer des Finsterflecks glitt.
Kein Widerstand. Überhaupt nicht.
Ich sprang zurück. Dort, wo ich den Finsterfleck getroffen hatte, zerfaserte er ein wenig.
Wie Nebelschwaden fielen die zwei Teile des Metallbiestes wieder zusammen und verbanden sich, als wäre nichts passiert.
Zwei weitere weißhaarige Finsterflecken gesellten sich zu ihrem Kollegen.
Ich wich zurück.
Kira trat vor.
Sie holte aus und warf ihr Zahnrad. Ein goldener Kreis sauste auf die drei Finsterflecken zu.
Auf der Hälfte der Bahn jedoch teilte sich das Zahnrad auf.
Es war, als verschöben sich die Realitäten, bis dass drei sirrende Scheiben auf die Finsterflecken zurasten.
Die sich nicht rührten.
Sie hatten es auch nicht nötig, denn wie mein Schwert glitten auch Kiras Zahnräder durch die Feinde hindurch.
Ich starrte die Finsterflecken an. Ohne sie anzusehen, meinte ich zu Kira: „So wird das nichts. Wir müssen hier weg.“
„Aber unser Auftrag?“, fragte Kira. Sie schnippte mit den Fingern und die Zahnräder, die sich in einen schwarzen Baum gebohrt hatten, verschwanden.
„Wir kommen später wieder. Am besten mit Ryota und Chris.“
„Gut“, nickte Kira.
„Aber erst müssen wir hier raus.“
„Was ist mit denen?“ fragte Kira und deutete auf die Finsterflecken.
„Wenn ich 'Jetzt' sage, dann renn los“, meinte ich.
Die Finsterflecken duckten sich. Mein Kopf ruckte herum. Ich wirbelte um meine eigene Achse und rief „Renn!“
Kira stieß einen Schrei aus und rannte los.
Wir wussten nicht, wohin wir rannten, wir wussten nur, dass wir weg mussten. Weg von diesen Monstern.
Schwarze Wurzeln huschten an uns vorbei, schwarze Bäume, schwarzes Gras, das uns zu ignorieren versuchte.
Wir rannten, als wäre der Teufel hinter uns her. Was er ja eigentlich auch war.
Ich sprang über eine dicke Wurzel, landete auf der anderen Seite und rannte weiter.
Ein stechender Schmerz schoss durch mein Bein.
Verdammt.
Ich wurde langsamer. Die Luft brannte in meinen Lungen, schien mir die Kehle aufzuschlitzen.
Doch ich rannte weiter.
Vor mir stolperte Kira. Sie kam ins Taumeln und fiel hin.
Sie rutschte ein wenig über den schwarzen Boden und blieb liegen.
Panisch rannte ich. Ich zerrte sie wieder in die Höhe, schrie sie an.
Ich sah zurück.
Hinter uns brachen die Finsterflecken durch die Bäume.
Leere Augenhöhlen.
Scharfe Krallen.
Ein siegessicheres Grinsen voller scharfer Zähne.
Es sah komplett falsch aus.
Wie sie sich gegen das Holz warfen und auf der anderen Seite wieder herauskamen. Nichts weiter als Nebel, der durch die Materie glitt.
Unaufhaltsam kamen sie näher.
Kira blinzelte mich an.
Ich schüttelte sie. Sie schien zu begreifen.
Wir mussten fort von hier!
Sie riss sich von mir los, packte meinen Arm und zerrte mich mit sich.
Wir rannten wieder.
Wir wichen Bäumen aus, duckten uns unter Ästen hindurch.
Wir schlugen Haken zwischen den Bäumen, rannten mal hierhin mal dorthin.
Doch wann immer wir uns umsahen, waren die Finsterflecken ein Stückchen näher gerückt. Sie liefen einfach durch alles hindurch, während wie darum herum mussten.
Plötzlich veränderte sich die Umgebung.
Statt Schwärze schauten nun Regale durch die Bäume hindurch.
Bücher schliefen darin.
Schon einen Moment später zeigten sich nur noch einzelne Ranken zwischen den Buchrücken.
Endlich.
Vor uns lag ein langer Gang.
So weit wir sehen konnten, nur eine gerade Strecke.
Keine Hindernisse.
Ich spürte, wie Hoffnung in mir aufkeimte.
Ich störte mich nicht daran; sollte sie doch, wenn sie zertreten wurde, war es zumindest nicht meine Schuld.
Ich nahm Kira in Rennen bei der Hand.
Meine Schritte wurden ausholender, länger.
Ich spürte, wie grüne Funken unter meinen Füßen glitzerten.
Schneller.
Die Finsterflecken zischten wütend.
Viel schneller!
Die Finsterflecken sprangen an den Regalen hoch, krallten ihre Klauen in die Rücken der Bücher und stießen sich ab.
So sprangen sie von Regal zu Regal.
Wir mussten schneller werden.
Grüne Funken, grüne Funken!
Ich lief ein wenig schneller.
Aber es war nicht genug.
Die Finsterflecken kamen immer näher.
Einer stieß sich von einem Regal ab. Eine Wolke aus herausgerissenen Seiten folgte ihm, als er sich auf uns stürzte.
Übermütiges Zischen.
Kichern.
Lachen.
Nein!
Hatte das blöde Gras doch Recht gehabt!
Ich sprang nach vorn. Wieder sprühten grüne Funken unter meinen Füßen. Einige von ihnen setzten sich in den Haaren des Finsterflecks ab.
Vor Schmerz schreiend fiel das Metallungeheuer hin.
Einer weg.
Durch den Sprung beschleunigt, sprinteten wir weiter.
Am Rande meines Gesichtsfeldes bemerkte ich einen Schatten.
Ich wandte den Kopf.
Doch der Schatten blieb ein Schatten.
Er glitt als schwarzes Papier über die Rücken der Bücher.
Glühende Augen fixierten mich.
„halt“, wisperte der Wächter der Bibliothek.
Ich wurde langsamer und hielt an.
Einer der zwei Finsterflecken sprang über uns hinweg und landete auf der anderen Seite.
Umzingelt.
Kein Entkommen.
Ich sah mich um.
Das Wesen aus Papier schwebte neben uns.
Doch es beachtete uns nicht.
Es hatte nur noch Augen für die Finsterflecken.
„ihr habt die Regeln gebrochen“, flüsterte es.
Die Worte, so leise sie auch waren, hallten durch die Bibliothek.
Die Finsterflecken sahen verständnislos den Papiermantel an.
Ich blickte zurück.
In die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Die Finsterflecken hatten einige Bücher aus den Regalen gerissen mit ihren Klettermanövern.
Einige torkelten benommen durch die Luft.
Ein paar von ihnen lagen inmitten ihrer herausgerissenen Seiten.
Manche bluteten schwarze Tintenflecke auf ihre Einbände.
Sie krochen stöhnend auf dem Boden herum, mit gebrochenem Rücken und zerschnittenen Seiten.
Andere, die es besser getroffen hatte, schliefen auf dem Boden weiter oder lagen im Koma.
Das Wesen sah sich den Schaden an.
„Ihr habt“, hauchte es, „die Bücher verletzt.“
Die hohle Stimme zitterte. „Ich bin der Wächter dieser Bibliothek. Ich habe euch hineingelassen. Doch ihr werdet dieses Gebäude nicht wieder lebend verlassen.“
Der Papiermantel drehte sich.
„Kumo, Kira. Geht“, meinte er langsam.
Der Finsterfleck, der uns den Weg versperrte, sprang auf uns zu, doch wir duckten uns und rannten los.
Am Ende des Ganges schimmerte schon das Licht des Bibliothekenvorraumes.
Hinter uns hörten wir noch das lauteste Wort des Wächters, die wir jemals gehört hatten:
„Unverzeihlich!“
Wir hechteten durch die Tür, an dem Schalter vorbei.
Dann umfing uns das Licht der aufgehenden Sonne.
Das Ende der Nacht.
Das Rascheln von Papier folgte uns.
Rascheln wie von im Wind gebeugten Bäumen.
Rascheln...
Rauschen...
Tosen...
Donnern...
Schreien.
Es war ein schöner Morgen.
Ich beobachtete, wie die Sonne einem riesigen, roten Feuerball gleich über den Himmel schlich, sich an den Wolken entlang hangelte und vorsichtig die Abwesenheit der Schatten bewahrte.
Wir standen vor der Bibliothek, während das Leben in der Stadt wieder auferstand.
Es begann ganz leise, ein alter Mann huschte auf schwebenden Rollschuhen über das Kopfsteinpflaster und löschte die Laternen, die in der Nacht gebrannt hatten. Er war ein wenig verwundert, als einige der kleinen Lämpchen schon aus waren. Noch verwirrter schien er, als er kleine, verbrannte Papierschnipsel in den verbleibenden Kerzenflammen fand.
Dann schob eine breite Frau mit einer grünen Schürze einen großen Holzkarren über die Straße und begann, die überaus preiswerten und köstlich schmeckenden und überhaupt unglaublich frischen Waren zu verkaufen, die sie darin transportierte. Ich vermute, es handelte sich um Obst.
Nach und nach kamen nun auch die normalen Bürger aus ihren Häusern. Hundertfach hallte das Klicken von zurückgeschobenen Riegeln durch die Stadt, als die Türen nacheinander erst einen Spalt breit, dann halb und schließlich komplett geöffnet wurden.
Schon rannten die ersten Kinder zwischen den Häusern her, versuchten einander zu fangen und balgten lautstark in den Hinterhöfen.
Wir setzten uns langsam in Bewegung, in Richtung Uhrturm. Wir hatten ja noch Jeman Bericht zu erstatten.
Wir hatten vorsichtshalber unsere Mäntel ausgezogen, um nicht sofort als Railrunner identifiziert zu werden.
Man hatte Angst vor uns.
Wir bewahrten die Stadt vor Finsterflecken, retteten die Bürger der tickenden Stadt vor ihnen, und brachten sie dann um.
Das waren Railrunner.
Leute, die auf Seilen über den Häusern der Stadt herumturnten und mit seltsamen Waffen kämpften.
Nachts lagen Leute im Bett.
Sie konnten nicht schlafen, hatten Angst vor den Träumen, die sie erwarteten.
Dann hörten sie, wie in der Dunkelheit jemand schrie, lauthals, aus vollem Herzen. Und auch wenn es noch so schmerzvoll klang, auch wenn es die Stimme des Geliebten war, der eigenen Tochter, des Vaters, man versteckte sich unter der Bettdecke und gab sich den schrecklichsten Träumen hin, damit man nicht mit anhören musste, wie das eigene Fleisch und Blut kaltblütig ermordet wurde durch die Railrunner.
Ich blieb stehen.
Schwarze Münzen. Railrunner brachten Leute um, um an ihre Münzen zu kommen.
Diese schwarzen Münzen, die immer dann entstehen, wenn ein Mensch stirbt.
Man erhält sie als Fahrkarte in das Reich der Toten, als Lohn für die ewige Ruhe.
Was passierte mit den Menschen, den armen Seelen, die nicht in das jenseitige Reich eintreten konnten, weil ihnen eine schwarze Münze fehlte, die sie doch so nötig hatten?
Wanderten sie als ruhelose Geister durch die Welt?
Stahlen sie die Münzen anderer, um selbst Ruhe zu finden?
Oder... war das der Grund, warum die Railrunner die Münzen brauchten? Waren sie solche Seelen? Wollte sie die ewige Ruhe, indem sie anderen ihr Seelenglück wegnahmen?
Aber waren waren Kira und ich dann Railrunner?
Wir hatten doch Münzen, wir waren gestorben, wieder auferstanden, hatten aber unsere Münzen behalten.
Die anderen waren schon weiter gegangen.
Ich stand allein in der Menge, wie ein Fels im Meer, umgeben vom Trubel der Stadt, der eine komplett eigene Richtung anstrebte.
Wie in einem Sog ließ ich mich von der Masse ziehen, ließ mich treiben und hing meinen Gedanken hinterher.
Wenn es doch das Ziel der Railrunner war, die schwarzen Münzen zu sammeln, warum schickten sie uns dann auf so blödsinnige Missionen?
Bringt dieses Päckchen zu Bromberg... Bommerlunder... Bom.
Verwahrte er die Münzen?
Und da war ja auch noch die Sache mir der Bibliothek.
Sucht und findet ein Buch und...
hoppla.
Da war ja noch was.
Wir hatten unseren Auftrag nicht ausgeführt und das Buch mitgebracht. Außerdem war es jetzt hell und die Leute und so weiter...
Aber wenn die Railrunner es benutzten, um damit den Menschen zu schaden, dann war es wohl besser, das Ding erst mal zu vergessen.
Und dann war da auch noch die Frage nach den Finsterflecken. Ich hatte mehrmals gesehen, dass sie Schmerzen empfanden, als würden sie leben. Aber konnte ein lebendes Wesen Menschen schaden, nur um der Freude willen?
Hatten sie ein Ziel, diese Metallbiester? Und wenn ja, welches?
Ich riss mich zusammen und rammte die Hacken in den Boden.
Zufälligerweise erwischte ich einen Fuß, der einem Mann gehörte, der irgendwie...
Ich duckte mich unter dem Hieb hinweg, so dass der Schlag den nächsten in der Menge traf.
Noch während der wütende Mann verärgert hinter mir her schimpfte, schlich ich durch die Menschenmasse und murmelte leise Entschuldigungen.
Hinter mir brandete auch schon der Tumult einer Massenkeilerei auf, als sich der Getroffene seiner Umgebung besann und sich an dem Mann zu rächen versuchte, der rückwärts stolperte, zwei Frauen die Körbe herunter riss, die sie auf dem Kopf trugen, deren Inhalt sich über die Straße ergoss, auf dem ein dritter Mann ausrutschte, in die Schlägerei der beiden ersten geriet und... äh.
Ab da verlor ich irgendwie den Überblick.
Als ich am Rande der Menschenmasse angekommen war, hatte mich der Tumult beinahe eingeholt.
Ich stand außerhalb und fuhr mir durch die Haare, als mich jemand am Arm packte und in eine dunkle Seitengasse zerrte.
Ich konnte nicht mehr schnell genug denken und knickte mit den Beinen ein.
Ich fiel hintenüber. Der Druck an meinem Arm ließ nach. Ich kam auf dem Boden auf und kniff die Augen zusammen. Mist, dachte ich, Mist. Warum kann nicht mal ein Tag normal sein?
Ich schüttelte den Kopf, so dass meine weißen Haare flogen.
Ein wenig benommen rappelte ich mich auf und sah mich um.
Eine dunkle, schmale Gasse, nicht mal zwei Meter breit, eingerahmt von hohen, steinernen Mauern, durchsetzt mit Kupfer.
Einige kaputte Uhren lagen auf dem Boden, Zahnräder und Riemen gammelten vor sich hin.
Sie klingelten, als ich mit dem Fuß dagegen stieß.
Oder... ich hatte mich doch gar nicht bewegt?
Aber...
Da besann ich mich auf den eigentlichen Grund meines Aufenthaltes.
Ich wirbelte herum und starrte die Person an, die mich so rüde in die Schatten gezogen hatte, sie hatte mir den Rücken zugewandt.
Eine hochgewachsene Gestalt in einem schwarzen Mantel. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Leise raschelte der schwarze Stoff.
Was sollte ich tun? Ihn angreifen? Aber das wäre genau das, was ein Mörder tun würde. Jemanden angreifen, obwohl er nichts getan hat. Was hat diese Person mir getan? Mich am Arm gegriffen und in eine Gasse gezerrt. Mehr nicht.
Jetzt stand diese Person da im Eingang und versperrte mir den Weg auf die Straße.
Die andere Richtung endete in einer Sackgasse.
Ich war gefangen. Und doch...
Hier war es so ruhig.
Die kalten Wände schienen zu atmen.
Ich presste mich fest an die Steine.
Mein Kopf war klar wie Wasser. Die Empfindungen schlugen Blasen darin und ich sah sie vor meinem inneren Auge aufsteigen. Schillernde Gefühle.
Dort war das Gefühl der kalten Wand in meinem Rücken, dort die Angst. Das Gefühl, dass die Welt zu atmen schien, das Gefühl, dass etwas passieren würde.
Ich beobachtete noch weiter die Person im Eingang. Sie schien sich überhaupt nicht zu bewegen.
Inzwischen kam es mir sogar ein wenig so vor, als würde sie nicht existieren. Fast so, als würde sie immer mehr verblassen, bis nur noch ein verschwommener Schemen übrig war.
Plötzlich wirbelte der Schwarzbemantelte herum und stürmte auf mich zu.
Erschrocken beschwor ich mein Zeigerschwert, doch der Fremde streifte es mit einem Finger und es verschwand wieder. Entsetzt starrte ich auf meine leere Hand, als die Person die Hände zu Fäusten ballte, ausholte...
Und daneben schlug.
Zwei Fäuste bohrten sich dicht neben meinem Kopf in das Gemäuer und gruben sich tief in die Steine.
Unter dem Mantel des Fremden, der sich aus der schnellen Bewegung heraus über mich legte, schien es um einige Grad kälter zu werden.
In derselben Sekunde, in der der Stoff des schwarzen Mantels sich über mir ausbreitete, donnerte auf einmal ein gewaltiges Geräusch durch die Hauptstraße außerhalb der Gasse.
Eine Explosion!
Ich spürte, wie Steinbrocken gegen den Mantel prallten, sich wie winzige Pistolenkugeln gegen den Stoff auflehnten und den Kampf um die Übermacht verloren.
Dann spürte ich, wie ich wieder am Arm gepackt und in die Höhe gerissen wurde. Unter mir wurde die winzige Gasse noch enger, als wir durch den schmalen Spalt zwischen den Dächern schlüpften.
Ich sah gerade noch, wie sich die Wände der umliegenden Häuser zur Seite neigten, bevor sie in sich zusammenfielen wie ein Gebilde aus Streichhölzern.
Wir landeten einige Häuser weiter auf einem Dach.
Wieder raschelte der Stoff des schwarzen Mantels, als der Fremde neben mir landete.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und eine männliche Stimme flüsterte dicht an meinem Ohr: „Ich will dir helfen, Kumo.“
Ich schluckte. „Wer bist du?“
Die Stimme klang tief, doch irgendwie hatte sie einen seltsamen Unterton, als wäre der Sprecher nicht vollkommen er selbst, was auch immer das heißen mag.
„Mein Name tut nichts zur Sache.“
Wieso, um Gottes Willen, hatte ich mir das gedacht?
„Willst du die Finsterflecken bekämpfen?“
Mir stockte der Atem.
Was?
„Nun?“
Ich... Ich...
„Jetzt. Entscheide dich jetzt“, forderte die Stimme.
„Ich...“, begann ich, „Ich... ich... ich weiß es nicht.“
Ich fühlte, wie der Mann ein Stück zurück wich.
„Darum bin ich hier. Ich will dir deinen Kampf mit dir selbst ein wenig erleichtern.“
„Meinen Kampf mit mir selbst? Wie willst du mir denn schon helfen?“, fragte ich verächtlich.
Ein Fehler, wie mir schon sofort darauf klar wurde.
Der Mann in dem schwarzen Mantel zog sich die Kapuze noch ein wenig tiefer ins Gesicht.
Doch ich konnte ihn lächeln sehen.
„Pass auf!“, meinte er.
Der Mantel begann zu flattern. Ein Sturm kam auf, aus heiterem Himmel wurde eine tosende Masse aus schwarzen Wolken, aus Sonnenschein Wind.
Ich hielt mir den Arm vor das Gesicht, um mich zu schützen.
Es brachte nicht wirklich etwas.
Der Sturm zerrte an meinem Körper, zog mich in die andere Richtung, drückte mich in Richtung Dachkante.
Ich taumelte, kniete mich hin. Ich konnte doch nicht einfach so vom Dach fallen!
Ich blickte über meinen Ärmel zu dem Fremden hinüber, der in der Mitte des Sturmes stand und lächelte.
Dann hob er ein wenig den Kopf und sah mich an.
Diese Augen...
Diese kalten Augen. Und doch waren sie so tief wie...
Ich sah wieder das Lächeln. Ein Grinsen, es entblößte Reihen voll weißer Zähne. So scharf wie...
Plötzlich riss sich das Bild vom Körper des Fremden los und schoss auf mich zu.
Eine grinsende Maske aus purer Bösartigkeit. Schwarze Augen wie Seen, Zähne wie Rasierklingen.
Ich duckte mich und spürte den Luftzug, als es über mich hinweg raste.
Doch dann...
Waren meine Gedanken klar wie Wasser.
Die Empfindungen schlugen Blasen darin und ich sah sie vor meinem inneren Auge aufsteigen. Schillernde Gefühle.
Dort war das Gefühl der kalten Wand in meinem Rücken, dort die Angst. Das Gefühl, dass die Welt zu atmen schien, das Gefühl, dass etwas passieren würde.
Ich beobachtete noch weiter die Person im Eingang. Sie schien sich überhaupt nicht...
Was war passiert?
War das nicht...
Ich stand wieder in der Gasse. Der Mann versperrte mir den Weg.
Dann kam die Explosion.
Ich duckte mich unter seinem Schlag hinweg, tauchte unter seinen Armen hindurch und rannte auf die Straße. Hinter mir hörte ich ihn lachen.
Vor mir jedoch war etwas weitaus schlimmeres.
Ich roch es – das Blut. Ich hörte das Wimmern.
Meine Augen weiteten sich, als ich es sah.
Hunderte von Menschen. Alle lagen auf dem Boden. Blutüberströmt.
Ich sah, wie sich zwei Männer krümmten, die sich vorher noch geprügelt hatten, wie eine alte Dame in den Schlamm weinte.
Wie sich langsam unter einem kleinen Kind die Blutlache immer weiter ausbreitete...
Und mitten drin stand ein Finsterfleck.
Ich schauderte, als ich seine Augen sah, die Zähne, die Klauen, die roten Haare.
Er kicherte.
Dieses Monster kicherte. Es hatte all die Leute umgebracht - und kicherte!
Ich zitterte, ballte die Fäuste.
Der Finsterfleck hatte mich entdeckt und kam jetzt auf mich zu.
Langsam.
Die metallenen Füße klickten über den blutverschmierten Boden.
Es knirschte, als der Finsterfleck auf eine der Leichen trat. Knochen brachen knirschend. Blut floss aus längst verstorbenen Körpern wie aus zerquetschten Früchten.
Und der Finsterfleck kicherte.
In der Stille, die sich wie ein Totentuch über die Szenerie ausgebreitet hatte, klang es wie das Tosen der Weltenmeere.
Er kam immer näher.
Der Fremde im schwarzen Mantel stellte sich neben mich.
Leise flüsterte er mir ins Ohr: „Weißt du, was Finsterflecken sind? Weißt du, woraus sie bestehen?“
Ich sagte nichts.
Jede Bewegung meines Körpers hätte zu einem unkontrollierten Ausbruch an Wut geführt.
Der Finsterfleck kicherte. Es klang wie heißes Metall.
Ich musste würgen. Der Gestank des Blutes war zu viel für mich.
„Finsterflecken... sind Räuber. Sieh mal, Kumo“, flüsterte der Fremde.
Einer der am Boden herum liegenden Körper bewegte sich ein wenig. Es war ein junger Mann. Ich hatte ihn bisher für tot gehalten. Doch nun hustete er, keuchte, versuchte sich aufzusetzen.
Der Finsterfleck fuhr herum. Er leckte sich die Lippen.
Mit einer schnellen Bewegung schwang er herum und stand auf einmal still.
Einer jener zeitlosen Momente folgte, in denen die Welt den Menschen zeigen möchte, was sie sehen sollen.
Ich sah nicht den Blick des Mannes. Zum Glück.
Ich konnte nicht erkennen, wie sein Gesicht aussah. Und ich war froh darüber.
Der Mann brach zusammen. Er hustete ein letztes Mal. Und dann wusste ich, dass er tot war.
In seinem Rücken steckte ein langes Messer.
Der Finsterfleck näherte sich dem toten Körper und zog mit einem Ruck das Messer heraus.
Ich wollte die Augen schließen, doch ich konnte nicht.
Ich musste einfach hinsehen.
Ich... konnte doch nicht anders.
Plötzlich begann etwas zu glitzern.
Etwas schimmerte in dem blutverschmierten Körper und bahnte sich einen Weg nach draußen.
Und stieg auf.
Es befreite sich von dem Blut, das einfach herabtropfte, stieg immer höher und höher.
Wie ein kleiner Stern.
So wundervoll, so hell.
Doch wenn man an seinen Ursprung dachte... Ich musste wieder würgen.
Der Finsterfleck griff nach dem Funkelding.
Metallene Krallen schlossen sich darum.
Das Licht erlosch.
Der Finsterfleck hob die entsprechende Hand zum Mund.
Langsam öffnete er die Klauen und verschlang das Funkelding.
Aber es leuchtete nicht mehr.
Nicht mehr, seit die grässliche Hand des Finsterflecks es berührt hatte.
Der Finsterfleck kicherte wieder.
Er lachte.
Er lachte laut und blechern, lachte sich fast einige Zahnräder aus dem Leib.
Dann, ohne Vorwarnung, holte er aus und stach in den Körper des Mannes. Und noch einmal.
Immer wieder und wieder stach er auf die Leiche ein.
Meine Knie wurden weich.
Was für ein Monster...
Ich ächzte.
„Na?“, flüsterte der Fremde im schwarzen Mantel, „Wie leicht fällt dir die Entscheidung nun?“
Mit einiger Selbstüberwindung presste ich hervor: „Bist... du dafür... verantwortlich?“
Der Fremde zögerte etwas zu lange für meinen Geschmack.
„Nein“, meinte er dann, „Ich nicht. Sondern euer größter Feind.“
Der Meister der Schatten, schoss es mir durch den Kopf.
Ich sank auf die Knie, als der Finsterfleck auf den Schädel der Leiche eindrosch.
„Was willst du nun tun, Kumo?“, flüsterte er wieder.
„Ich... habe mich entschieden“, meinte ich und versuchte dabei, so entschlossen wie möglich zu klingen.
Ich riss mich zusammen und stand auf.
Dann zwinkerte ich einmal, zweimal, schüttelte den Kopf.
Ein unheimliches Gefühl, zu wissen, was man tun muss.
Dieses Biest hatte Menschen getötet, die ihm nichts getan hatten.
Der Finsterfleck ließ von dem Mann ab.
Langsam wandte er sich um zu seinem nächsten Opfer.
Ich erblickte ein kleines Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt.
Es lebte noch.
Stumm kauerte es zwischen den Leichen.
Der Finsterfleck holte mit dem langen Messer aus.
Ich rannte los.
Die Welt um mich herum verschwamm vor meinen Augen.
Ich sah nicht, wie ich durch Leichen lief.
Ich hörte nicht, wie meine Füße in Blutlachen traten, spürte nicht, hörte nicht.
Ich versank in mir selbst.
Und doch konnte ich mich sehen, wie ich dort herum rannte. Ich sah es wie jemand anderes es sehen würde.
Ein Schutzmechanismus des Körpers. Die Seele, das eigene Selbst verschwindet, der Geist bleibt und treibt den Körper voran.
Ich sah mich mit den Fingern schnippen und fühlte wieder das vertraute Metall des Zeigerschwertes in meiner Hand.
Das Gewicht gab mir Halt zwischen der abartigen Tiefe der Bewusstlosigkeit und dem starken Verlangen, niederzusinken neben den Leichen und einfach... zu sterben?
Nein.
Das war nicht richtig.
Ich musste... aufwachen?
Meine Klinge schwang in einem sirrenden Halbkreis.
Für einen Augenblick huschten schwarze Blitze über meine Augen.
Und für diesen einen Moment schien mich der Finsterfleck anzulächeln.
Das blutverschmierte Messer flog in einem hohen Bogen davon.
Der Kopf des Metallbiestes fiel scheppernd zu Boden.
Ich hatte meine Entscheidung getroffen.
Der Körper kippte nach hinten über und zersprang auf dem Boden in tausende Splitter, als wäre der Finsterfleck aus Glas gewesen.
Die Splitter flogen in alle Richtungen, verharrten einen Moment und rasten zurück.
Sie sammelten sich in einem Punkt und verdichteten sich zu...
einem kleinen Stern.
Hatte ich gerade befreit, was auch immer der Finsterfleck da aufgefressen hatte?
Doch... das Funkelding verdoppelte sich.
Und verdreifachte sich.
Und dann waren es auf einmal so viele,,,
Dass ihr Leuchten erlosch.
Knapp zwei Dutzend schwarze Münzen fielen scheppernd zu Boden.
An diesem Tag ging ich schweigend zum Uhrturm zurück, legte die kleine Abhandlung und exakt einundzwanzig schwarze Münzen in die Hände eines sehr verblüfften Jemans und wanderte nachts zurück in die Stadt, um besser zu werden.
„Was ist passiert?“, gähnte ich. Kira stand an meinem Bett.
Ich streckte mich und schwang die Beine herum.
„Hm“, machte Kira. „Du hast knapp zwei Wochen geschlafen.“
„Huch? Warum denn das?“, fragte ich, nicht sonderlich überrascht.
„Nun, nachdem es eine Explosion gab, kamst du mit einer Menge schwarzer Münzen zurück zum Uhrturm und bist sofort wieder verschwunden. Dann bist du vier Tage nicht aufgetaucht.
Aber so, wie du aussiehst, hast du gekämpft?“
Ich rappelte mich auf und trat an einen Spiegel.
Weiße Haare. Grüner Kapuzenpulli.
Aber...
Meine Haare waren dunkelrot von getrocknetem Blut. Mein Pulli übersät von dunklen Flecken. Mein Gesicht voll von Schrammen, Kratzern und kleineren Wunden.
„Du kommst gleich nach unten und isst mit uns, Kumo.“
Das war eindeutig eine Feststellung.
Ich nickte. „Ich komme gleich.“
Kira verließ den Raum. Ich seufzte, wusch mein Gesicht in einer Wasserschüssel und bedachte das Wasser darin mit einem langem Blick.
Ich wusste nicht genau warum.
Dann öffnete ich das Fenster, ließ den Fisch herein und beobachtete, wie er durch die Tür wieder hinaus ging.
Nun gut. Ich hatte zwei Wochen geschlafen. War das lang? Ich hatte schon mal von einem Mädchen gehört, das einhundert Jahre in einem mit Rosen zugewachsenen Schloss geschlafen hat. Dann kam ein Prinz und ist an ihren aus dem Fenster hängenden Haaren heraufgeklettert und... dann wird die Sache kompliziert. Auf jeden Fall ist das Mädchen hinterher an einem Zwerg erstickt. Glaube ich.
Die Tür schlug hinter dem Fisch zu.
Ich ging hinterher.
Schon seltsam, dass ich es als selbstverständlich hinnahm, dass ein Fisch durchs Fenster kam.
Aber dies hier war nicht die Erde. Und ganz sicher konnte ich mir nicht sein. Es wäre zum Beispiel möglich, dass in jedem Haus so ein Fisch ab und zu vorbeikommt.
Ich ging nach unten. Das Frühstück wartete schon auf mich.
Oma Honig plapperte einfach drauf los. Ich hörte gar nicht hin. Nur einmal fiel mein Name. Aber nur in Zusammenhang mit einem deutlichen Hinweis darauf, dass ich gefälligst nicht so lange schlafen solle.
Und einmal, als Kira mich direkt ansprach. „Jeman hat gesagt, dass er uns beide mal sprechen möchte.“
Also mussten wir zum Uhrturm.
Ich widerstand der Versuchung, den Mantel mitzunehmen. Am helllichten Tag gab es immer Leute, die nach oben sahen und die Wolken bewunderten. Aber sie würden vermutlich davonrennen, wenn sie stattdessen einen Railrunner sehen würden.
Dabei waren wir es doch gar nicht, die die Leute umbrachten.
Wir waren eher eine Art von Polizei. Oder Superhelden, die die Leute beschützten, ohne, dass die es merkten.
Wir schlenderten durch die Stadt. Rennende Leute fallen viel zu sehr auf. Einigen Pferdekarren mussten wir ausweichen, das war aber auch alles.
Wir hörten die Musik, noch bevor wir ihn sahen.
Auf dem Vorplatz vom Uhrturm stand, zwischen zwei Wasserkübeln, Ryota und spielte Flöte.
Neben ihm lächelte Chris den Leuten zu. Wollten die Beiden etwa eine Vorstellung...
Neugierig traten wir näher.
Ryota hatte uns gesagt, dass er, als Musiker, nur die Fähigkeiten der anderen verstärken kann. Letztes Mal musste also jemand dabei gewesen sein, der das Wasser kontrollierte.
Aber jetzt war da nur Chris. Und der hatte nur Macht über das Licht. Außerdem war es fast Mittag, die Sonne stand hoch am Himmel und...
zu spät.
Die ersten echten Töne rollten über die Menschenmenge, die sich interessiert um die beiden geschart hatte. Neben mir hörte ich jemanden flüstern: „Wartet's nur ab, Gleich bekommt ihr Magie zu sehen, das tut ihr. Das habt ihr in eurem Leben noch nie geseh'n.“
Ich musste grinsen. Ich hatte schon so einiges gesehen. Der Großteil davon war magisch. Der kleinere Teil normal.
Chris holte tief Luft. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Plötzlich legte sich Dunkelheit über die Menschenmenge. Einige Kinder begannen zu weinen. Ihre Mütter beruhigten sie wispernd.
Chris richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
Dann hob er eine Hand und hauchte vorsichtig gegen seine Finger.
Ich sah, wie sich tausende Funken von seinen Fingerspitzen lösten wie davon gewehte Blütenblätter. Sie taumelten durch die Luft und tanzten durcheinander.
Er vollführte eine ausschweifende Bewegung mit den Armen. Sofort begannen die Funken, sich in einem Kreis anzuordnen.
Ryotas Musik wurde langsamer, träger, beinahe schien es so, als würde der Flötenspieler einschlafen.
Doch dann sprangen die Funken auseinander, Ryotas Töne sausten mir um die Ohren und Chris' Lichtspektakel verlegte sich einige Meter höher.
Unter Begleitung von schnellen, dumpfen Klängen, spielten die Funken ein eigenes Spiel.
Sie bildeten grobe Umrisse einer Blütenknospe, die sich langsam öffnete. Einige Lichter stoben daraus hervor und gingen als feiner Regen auf das faszinierte Publikum nieder.
Plötzlich donnerte Ryota mehrere Noten so tief in die Welt hinaus, dass ich den Boden zittern spüren konnte.
Kleine Steinbrocken hüpften auf und ab. Und mit jedem Schlag stach ein gleißend heller Blitz aus der Knospe hervor.
Auf einmal tauchte ein Fratzengesicht auf. Es erinnerte entfernt an einen Clown. Mit leeren Augenhöhlen. Er öffnete langsam den Mund und verschlang die Knospe, bevor sie sich entfalten konnte.
Ich sah, wie eine helles Bild des Uhrturms auf spektakuläre Weise zersprang, wie eine Ansammlung von Häusern in Flammen aufging, als die Turmuhr zwölf schlug. Ich sah ein glitzerndes Buch, zwölf Personen in langen Mänteln, wieder eine Uhr, eine Tür …
und letztendlich explodierte alles in einem bunten Funkenregen.
Ich rieb mir erstaunt die Augen.
Um mich herum klatschte die Menge tosenden Beifall, währende sich die Dunkelheit langsam auflöste.
Chris und Ryota verbeugten sich.
Wir wandten uns ab und sahen uns kurz um. Niemand beobachtete uns. Mit einem eleganten Satz sprangen wie auf das nächstbeste Dach und liefen die Seile hoch zum Ziffernblatt.
Durch die eiserne sechs betraten wir das Hauptquartier der Railrunner. Jeman sah von seinem Schreibtisch auf.
„Kumo und Kira?“ Er nickte, als würde er die Frage selbst beantworten. „Hier ist euer Auftrag für heute. Neuerdings muss ich alle Aufträge schriftlich erteilen.“
Er überreichte uns ein Blatt Papier.
Ich las langsam. Kira sah mir über die Schulter.
„Ihr habt richtig gelesen“, meinte Jeman. „Ihr habt heute frei.“
Wir wanderten durch die Stadt. Jeder von uns hatte eine Waffel in der Hand.
Ein freier Tag? Interessant.
Nachdem ich vier Tage durchgemacht hatte, um die Finsterflecken zu besiegen, hatte ich zwei Wochen geschlafen. Und jetzt auch noch ein freier Tag.
Naja. Mich sollte es nicht stören.
Ich schnappte einige Gesprächsfetzen auf. „Wieder sicher... Monster sind weg... keine Toten... ruhige Nächte...Äpfel werden teurer...“
Scheinbar waren seit einigen Nächten keine Finsterflecken mehr unterwegs. Das war doch gut, oder?
Ich drehte die Sache hin und her, aber ich konnte keinen Haken entdecken. Außer, dass die Äpfel teurer wurden.
Aber das war ja nicht mein Problem.
Ich biss in meine Waffel. Es schmeckte komisch. Ich roch daran und kam zu dem Schluss, dass vermutlich nicht an Alkohol gespart worden war. Welcher Idiot machte überhaupt Alkohol in eine Waffel?
Ich verwarf den Gedanken.
Langsam schlenderten wie zum Hafenviertel.
Scheinbar war dies hier eine Stadt am Meer, dachte ich und lag falsch.
Die tickende Stadt war eine zentral gelegene Stadt. Lediglich ein breiter Fluss führte von hier weg. Dazu noch einige Trampelpfade und ein Handelsweg. Naja.
Wir beobachteten eine knappe halbe Stunde, wie die Schiffe ankamen, ihre Frachten verloren und wieder abfuhren.
Dann gingen wir weiter.
Scheinbar fand in der Innenstadt ein Jahrmarkt statt.
Viele bunte Buden standen am Straßenrand, einige Karren fuhren dazwischen her.
Und überall waren Kinder. Fast konnte man glauben, die gesamte jüngere Bevölkerungsschicht hätte eine Armee aus nörgelnden, kleinen, bettelnden Dreikäsehochs gegründet.
Plötzlich prallte einer gegen mein Bein. Eine Alkoholwaffel fiel auf den Boden und ein leicht taumelndes Kleinkind begann zu schluchzen.
Eine erschöpfte Mutter entschuldigte sich hastig bei mir.
Das Kind weinte. Ich beugte mich herab und strich dem Kleinen durch die Haare. Freundlich bot ich ihm meine inzwischen dritte Waffel an. Schluchzend und schniefend nahm das Kind sie und bedankte sich strahlend.
Die Mutter sah mich an.
Und ich bemerkte ihren Gesichtsausdruck. Ein gewaltiger Bluterguss ließ ihre Stirn blau und grün schimmern. Ein dicker Verband lag um den Rest des Kopfes. Ein wenig Blut war durchgesickert.
Diese Mutter hatte schwere Verletzungen erlitten.
Doch diese Art, wie sie mich ansah...
Traurige Augen.
Wirkliche Trauer. Und dann war da etwas anderes.
Erkennen. Sie erkannte mich!
Und dann Entsetzen.
Ihre Augen mit den dunklen Ringen weiteten sich. Die Pupillen wurden ganz klein.
Ihr Mund öffnete sich und...
sie schrie.
Schrill und laut.
Mit den beschützenden Instinkten, die eine Bärenmutter einen Wolf töten lassen, riss sie ihr Kind von mir weg, schlug ihm die Waffel aus der Hand und rannte mit ihm davon.
Die Leute sahen sich um.
Alle starrten mich an.
Und sie alle schienen mich zu beachten. Nicht nur zu sehen. Sie beachteten mich.
Und sie erkannten mich!
Dem ersten Schrei folgten weitere.
„Mörder! Mörder!“, schallte es durch die Straßen.
„Sie kommen jetzt auch tagsüber!“
„Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen!“
„Ja! Ja! Er hat meinen Mann ermordet!“
„Und das Mädchen! Sie stecken unter einer Decke mit den Metallbiestern!“
Die Unruhe, der Streit, die Wut und die Angst. Alles verschmolz zu einer Melodie.
Es war eine grausame, unheimliche Sinfonie, die auf Knochen gespielt wurde.
Ihr voraus rannten die Schreie der Vergessenen, derer, die diese Musik gehört hatten, derer, gegen die sie sich richtete.
Diese Musik veranlasste Menschenmassen dazu, sich mit Heugabeln und Küchenmessern zu bewaffnen und alles in Reichweite zu töten, was auch nur annähernd schuldig aussah.
Und in diesem Falle waren wir es.
Wir hatten die Leute umgebracht, weil das Volk uns dabei gesehen hatte, wie wir neben den Leichen standen. Bei Nacht und Nebel.
Wir waren blutüberströmt und hatten eine magische Waffe.
Welchen anderen Schluss könnte man sonst daraus ziehen?
Und wir konnten nicht weg.
Überall waren Menschen.
Wir waren umzingelt von Feinden, denen wir nichts tun durften.
Rein theoretisch hätten wir sie alle töten können. Mit nur einem Streich.
Aber dann hätten sie einen Grund!
Und dann wären wir Mörder.
Ich kniff die Augen zusammen.
Und es hätte so ein schöner Tag werden können.
Doch auf einmal...
Die Leute begannen wieder zu schreien.
Ich blinzelte vorsichtig.
Die Menschen, die uns bedroht hatten, standen in einem Kreis um uns herum. Ein Kreis, der sich immer mehr weitete.
Leises Wispern schlich durch die Menge.
Ich drehte mich um.
Und hinter mir, vor mir, was auch immer, ragte eine Gestalt auf. Sie trug einen schwarzen Mantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Kira stiße mich an. „Kennst du den?“
Die Person verneigte sich.
Vor mir? Vor Kira?
Als sie sich wieder aufrichtete, war die Person auch schon wieder verschwunden.
Als wäre er nie dagewesen, dachte ich.
Um uns herum zerstreute sich die Menschenmasse wieder.
Völlig verblüfft beobachtete ich, wie die Mutter mit ihrem Kind davon ging, als wäre überhaupt nichts geschehen.
Und genauso verhielten sich auch die anderen.
Eine Marktdame schob ihren Karren an uns vorbei, einige Dreikäsehochs schrien und die Väter taumelten besoffen durch den Rest.
Wir sahen uns eine ganze Weile an, Kira und ich. Aber selbst mit dieser stillen Konversation konnten wir keine Lösung finden.
Auf einmal stand Chris hinter uns und strahlte über das ganze Gesicht.
Nicht, dass er das nicht immer tat, und auch als Lichtmeister...
Grinsend hielt er mir eine Waffel hin.
„Hier, Kleiner“, meinte er.
„Ich bin nicht 'Kleiner'“, widersprach ich, „und ich glaube, ich bin schon besoffen genug. Danke.“
Mir war wirklich ein wenig schwindelig.
Chris zuckte mit den Schultern und winkte uns, mitzukommen.
Langsam machten wir uns auf den Weg in Richtung Hafen.
„Sonnenuntergang“, meinte Chris, als er in den Himmel blickte.
Der Himmel war wundervoll rot.
Das andere Ufer schimmerte in stimmungsvollen Goldtönen, als die Wärme des Tages in den Fluss sickerte und ihn mit tausenden Diamanten schmückte, die wie Fische auf der Wasseroberfläche tanzten.
Die Nacht brach herein.
Ich hatte die Knie an den Oberkörper gezogen und dachte nach.
Kira lag lang ausgestreckt im Gras und schlummerte in die Wolken hinein. Chris hingegen hockte neben uns und schnippte Funken in den Fluss, die wie halbtote Libellen über das Wasser zuckten und wie unter Todeskrämpfen hin und her schossen, bis sie schlielich einfach verglühten.
„Chris?“, fragte ich.
„Hm?“, machte er und warf einen weiteren Funken.
„Kann ich dich mal was fragen?“ Wie ein kaputtes Glühwürmchen geisterte der Funken über das silberne Band.
„Meinetwegen“, meinte er, als das Lichtlein verlosch.
„Du bist doch der Lichtmeister, oder?“
Chris schnippte mit den Fingern und eine Wolke aus Sternen stob davon wie eine kleine Silvesterrakete. „Ja, ich denke schon.“
„Wenn du der Lichtmeister bist, warum kämpfst du nicht einfach gegen den Schattenmeister?“
„Wie meinst du das?“ Chris drehte den Kopf.
„Das Licht gewinnt doch immer, oder? Ich meine, du könntest ihn einfach angreifen, ihn töten und...“
„Meister kann man nicht töten. Hast du das nicht gewusst?“
„Aber du bist doch auch ein Meister und...“
„ich weiß, schon klar, ich bin Licht und mein böser Zwillingsbruder ist Schatten. Wir sollen einander solange bekämpfen, bis einer von uns aufgibt, ja?“ Chris sprang auf.
„Ich meinte eigentlich...“, begann ich, aber Chris unterbrach mich.
„Wir sollen uns einen Kampf liefern, bis wir umfallen. Aber weißt du was?!“, schrie Chris, „weißt du überhaupt, was damals passiert ist?! Weißt du das? Warst du dabei?“
Ich zuckte zusammen.
„Mein verdammter Bruder, dieser Verräter hat unseren Pakt gebrochen! Wir hatten einen Vertrag, und er hat ihn missachtet, der Mistkerl!“
Ich sah, wie die Nacht ein wenig zurückwich. Um Chris herum verdorrte das Gras, als er fest mit dem Fuß aufstampfte.
„Ich habe versucht ihn aufzuhalten, diesem Teufel! Aber was macht der?! Er hintergeht mich und macht sich mit seinem Teil davon!“
Das Gras ging in Flammen auf.
Chris lief auf und ab, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Verraten hat er mich. VERRATEN!“
Er schlug die Luft zur Seite.
Was im Nachhinein zwei Auswirkungen hatte:
Zum einen bekam ich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend, denn, wie ich von Jeman erfahren hatte, sind alle, die ein gewisses Maß an magischem Potenzial besitzen, ein Teil desselbigen. Ich gehörte gewissermaßen zum Wind. Und diese heftige Bewegungen verursachte einiges an Unordnung.
Zum anderen... verpuffte Chris.
Es war nicht anders zu beschreiben.
Man konnte es nur so sagen. Andernfalls gäbe es Missverständnisse.
Chris verschwand plötzlich und ließ nur ein wenig Luft zurück, die sich in extrem kurzer Zeit extrem zusammenzog, als mitten drin was fehlte und ein paar bunte Funken, die umhertanzten wie Sternschnuppen.
Ich zog die Augenbrauen hoch. Nun, er war ein Meister.
Kira kicherte. „Das sah lustig aus. Ein wenig wie ein Zaubertrick.“
Hm, sie hatte irgendwie recht.
Es sah wirklich aus, als wäre alles ein Trick. Es war viel zu offensichtlich Magie.
Der Fremde von heute Mittag war eindeutig besser verschwunden. Und vor ein paar Wochen der auch.
Ob es ein und derselbe war?
Kira und ich standen auf.
Ich sah zu der Sonne, die sich noch ein paar letzte Blicke in die Welt gönnte, bevor sie losließ und herunterfiel.
Das war in vielerlei Hinsicht richtig. Diese Welt war eine Scheibe, so flach wie ein Pfannkuchen und laut einer der Waldreligionen dieser Zivilisation war die Sonne eigentlich ein großer Käfer, der über die Himmelskuppel krabbelte und auf der anderen Seite wieder runterfiel, um von unten im Osten wieder hoch zu kommen.
Hinter sich her zog er übrigens eine Kugel voller leuchtender Eier. Vermutlich sollten sie den Mond darstellen.
Als wir wieder zurück zu Oma Honig schlenderten, hatte der Mondeierkugelapparat gerade ein Loch.
Dieser freie Tag war... interessant gewesen.
Chris und sein Zwilling hatten anscheinend einen Vertrag geschlossen. Letzterer hatte ihn gebrochen und Chris war sauer.
Eigentlich... verständlich.
Ich überlegte.
Und wer war der seltsame Fremde, der uns vor dem wütenden Mob gerettet hatte? Und was zum Teufel hatte er überhaupt getan?
Ich nahm mir für den nächsten Tag vor, Jeman mal ein wenig zu nerven.
„Woher soll ich das wissen?“, meinte Jeman schulterzuckend, „frag ihn doch.“
Jeman war derzeit wirklich mächtig genervt.
„Chris?“, hakte ich nach.
„Wen denn sonst? Vielleicht seinen Bruder?!“ Jeman lachte. Ich sank ein wenig in meinen Stuhl. Hatte ich es übertrieben? Aber...
„Und was ist mit dem seltsamen Typen?“
„Was soll mit dem sein?“
„Weißt du zufällig, wer er ist?“
„Nein. Sollte ich?“
Ich hob die Augenbrauen. „Ich dachte, du wärest so eine Art Anführer der Railrunner. Und du wüsstest, was hier in der Stadt vor sich geht?“
Jeman schien ein wenig gekränkt.
„Sag nicht 'Anführer'. Das klingt so, als wären wir eine Bande Jugendlicher, die nachts durch die Straßen zieht und wahllos Morde begeht. Und die Stadt hat mir noch längst nicht alle ihre Geheimnisse anvertraut, Kumo.“
Ich stand auf.
Nun gut. Dann eben nicht, dachte ich.
„Kumo“, meinte Jeman nachdenklich, „setz dich wieder hin.“
Ich gehorchte und ließ mich wieder auf dern Stuhl fallen.
„Dir liegt doch noch etwas auf dem Herzen, oder?“
„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete ich. Vielleicht ein wenig zu schnell.
„Denk mal nach.“
Meine Gedanken dachten gerade im Chor ein lautes 'Nein!'. Jeman war einfach so... besitzergreifend, dass es einem schwer fiel, ihm zu gehorchen. Trotzdem schien es jeder zu tun. Dabei war er gerade mal achtzehn oder neunzehn Jahre alt.
„Warum ich?“, rutschte es mir heraus.
„Aha. Da haben wir es doch. 'Warum ich?' Eine gute Frage, Kumo. Aber was meinst du genau?“
„Warum bin ich hier? Ich meine... Warum habe gerade ich dieses... Kardiagedings?“
Ich wedelte mit der Hand und ein kleiner Luftstoß wirbelte durch das Zimmer, begleitet von einigen giftgrünen Funken.
Jeman holte tief Luft und stieß sie wieder aus.
„Kumo. Dir ist doch 'Schicksal' ein Begriff? Scheint so. Niemand kann sich seinem Schicksal entziehen.
Nun, auf dieser Welt und diesem Universum ist das Schicksal kein Zustand, der die Zeit und den Raum von Menschen bestimmt, sondern eine Person, die sozusagen den obersten Gott repräsentiert.
Und damit weiß ich schon ziemlich viel, obwohl niemand das Schicksal kennt.
Diese Welt wurde irgendwann einmal von jemandem erschaffen, der gerade Langeweile hatte. Bei den Göttern ist so etwas nicht unüblich.
Und zur gleichen Zeit ist das Schicksal entstanden.
In vielen anderen Welten wird jeder Mensch mit einem eigenen Schicksal geboren. Hier nicht.
Das Schicksal hat einen Plan. Und um den zu vervollständigen, ihn gegen beispielsweise diverse Meister oder Götter durchzusetzen, braucht das Schicksal Kämpfer.
Das Schicksal selbst ist kaum in der Lage, etwas alleine zu machen, ohne, dass es auffällt.
Dafür hat es den Schicksalsspieler. Er koordiniert eine Armee aus Leuten, die den Plan des Schicksals durchsetzen.
Und einer dieser Kämpfer bist du, Kumo.
Du wurdest auserwählt, um dem Schicksal zu helfen, den absoluten Plan in die Tat umzusetzen.
In diesem Fall ist es Frieden, den man nur erreichen kann, wenn der Meister der Schatten, der Kontolleur dieser Grässlichkeiten, Mörder und Verräter, endlich außer Gefecht gesetzt ist.
Und warum gerade du?
Das ist einfach. Aber es wäre unklug von mir, dir das jetzt zu sagen.“
Ich blinzelte.
„Ich glaube, ich habe verstanden“, meinte ich.
„Nein!“, Jeman sprang auf. „Hast du nicht! Das ist es ja gerade!“
„Dann erklär es mir doch! Was soll das mit dem Vertrag? Wer ist der komische Typ, warum gerade ich und vor allen Dingen...“
Jeman brachte mich mit einer Geste zum Schweigen.
Außer uns beiden war noch jemand im Raum...
Wir drehten uns synchron um und sahen durch ein Fenster nach draußen.
Durch das große Ziffernblatt sah die Welt bunter, verschwommener aus, doch es ließ sich ganz eindeutig eine Gestalt ausmachen, die auf dem Sims vor der Uhr stand.
Ich sprintete zum Fenster.
Noch während ich lief, verrutschte die Realität und aus Jemans Büro wurde wieder das Innere des Uhrturmes: Bodenlose Tiefe, gefüllt mit Zahnrädern.
Ich stieß das kleine Fenster auf, das in der gigantischen Uhr eingelassen war und sah hinaus.
Eine Gestalt in einem schwarzen Mantel verbeugte sich vor mir und verschwand um die Ecke des Uhrturms.
Ich stieß mich vom Fensterrahmen ab und hechtete zum Eingang der Turmuhr. Als ich durch die eiserne Sechs stolperte, stockte mir der Atem.
Neben mir tauchte Jeman auf. Er keuchte.
„Gute Güte!“
Ich konnte meine Augen nicht von dem Anblick abwenden, nicht einmal, als Kira neben mir auftauchte.
„Großer Gott!“, flüsterte sie. Und ich war mir nicht sicher, ob der damit nichts zu tun hatte.
Die tickende Stadt... brandte. Lichterloh.
Rote Flammen schlugen aus metallenen Dächern, fraßen sich langsam in die Eingeweide der Häuser.
Menschen rannten schreiend durcheinander.
Kinder fielen, wurden niedergetreten.
Leute starben in den Feuern, wurden bei lebendigem Leibe verbrannt.
Alte Menschen, Großväter und Großmütter, humpelten die Straßen entlang, ihre Enkel auf dem Rücken, so schnell es ging.
Ein Haus brach zusammen, dann noch eins, glühende Funken stoben auf.
Stichflammen rasten zum Himmel empor, kleine Glutbrocken kullerten über Metall, Holz und Stroh.
Ich sah, wie sich Metall unter der Hitze verbog, ganze Straßenzüge weiß glühten und mit tödlicher Präzision flüssiges Metall verschossen.
Zahnräder zerliefen auf dem Pflaster, zäh wie Honig, doch so schnell wie eine Sturmwelle breitete sich die gleißend helle Stadt aus.
Das Metall schrie, kreischte, als eine Kirche in sich zusammenfiel, der Priester auf die Knie fiel. Er versuchte, das Metall mit bloßen Händen zu retten, den Geist seines Gottes zu bewahren. Doch die Kirche verbrannte ihn.
Ein Herrenhaus explodierte. Mägde hechteten mit Wassertöpfen hin und her.
Das war kein normales Feuer.
Ich sah genauer hin.
Tanzten die Funken dort hinten nicht vielleicht ein wenig zu regelmäßig?
Bewegte sich das Feuer nicht viel zu schnell?
Zog der Rauch nicht in die falsche Richtung?
Und waren die Flammenzungen, die auf den Uhrturm zuschossen, etwa Zufall?
Nein. Nichts davon war Zufall.
Alles war geplant.
Die Häuser, die genau in die falsche Richtung kippten, um noch mehr Leute unter sich zu begraben, die Brandherde, die sich auf die Lagerhäuser konzentrierten, die Flammenwände, die kreischenden Menschen die Fluchtwege abschnitten.
Und alles hatte nur ein Ziel.
Den Uhrturm.
Wie feurige Schlangen krochen die Flammen an den Wänden hoch. Sie kringelten sich um die Verzierungen, schlichen über Wasserspeier und Dachrinnen. Sie hielten sich nicht damit auf, Fensterbögen zu verbrennen, sie wanden sich zielstrebig nach oben, auf die Spitze des Turmes zu.
Ein, zwei Flammen huschten an mir vorbei, gen Himmel. Sie schossen zwischen uns hindurch und liefen einfach weiter.
Oben angelangt, zitterten sie ein wenig zögerlich, bis sie sich schließlich mit einem Ruck von der goldenen Spitze abstießen und als gigantischer Feuerball die Wolken durchbohrten.
Wie eine zweite, womöglich tausendfach stärkere Sonne, dehnte sich die Kugel aus, verzog sich. Ihre Konturen verschwammen, sie wurde immer flacher, bog sich und zeigte auf einmal Risse, Löcher und...
Ich prallte zurück und wäre fast vom Turm gefallen.
Eine Maske. Eine Finsterfleckmaske.
Große Augen. Sie leuchteten strahlend weiß.
Ein monströses Maul. Spitze Zähne glühten, grinsten uns an.
Die Haare flatterten wie eine große Kerzenflamme, so harmlos wie ein Vulkanausbruch.
Dann öffnete sich das Maul und schloss sich wieder, bevor die Worte zu uns hinunter dröhnten.
„Lasst uns spielen!“, schrie die Maske. Sie kicherte schrill.
„Ich beginne!“
Der Himmel wurde rot. Wirbelnde Wolken kreisten um die riesige Fratze.
Plötzlich schlugen die Flammen aus den Häusern höher, die Glut rannte schneller, die Funken tanzten wilder.
Jeman rief durch den tosenden Lärm: „Ryota! Du übernimmst mit Loge und Kasse den Smaragddistrikt, Ring Eins bis Sieben, der zehnte Abteilungsleiter wird euch begleiten!
Yutaki, Nou, ihr geht in die Rubinrunden, Ring Fünf bis Sieben!
Jack, Mortimer, ihr führt die dritte Abteilung an, Kristallstraßen, Eins bis Sieben!
Miranza, schnapp dir Marc, Pluton und Sierra und übernimm mit der ersten Abteilung die Diamantschlösser, Eins bis Drei!
Ich bleibe hier bei Ring acht! Und los!“
Mit den letzten Worten sprangen dutzende Railrunner in denselben grau-weißen Kapuzenmänteln in die Nacht, die taghell von tausenden Flammen war.
Jeman wollte sich gerade umdrehen, als ich mich an ihn wandte: „Und wir? Was sollen wir machen?“
Jeman fuhr herum. Er starrte mich an. „Ihr? Ihr geht. Rennt um euer Leben.“
„Was?“, ich war entsetzt.
„Das hier ist nichts für euch, Kumo, Kira. Ihr seid besser dran, wenn ihr flieht.“
Ich ballte die Fäuste. „Aber...“
„Nichts aber! Ihr geht.“
„ Aber wir können helfen! Wir sind stärker, als wir aussehen!“ Meine Gedanken fuhren wieder Achterbahn, alles drehte sich.
Jeman wirbelte um die eigene Achse.
Plötzlich hielt er ein Schwert in der Hand. Er stach nach meinem Kopf doch ich wich aus.
Mit einer Drehung hieb er in Richtung meiner Beine, aber ich sprang in die Höhe. Doch darauf hatte er gewartet und schlug mir mit der flachen Hand gegen die Brust.
Normalerweise wäre so ein Schlag nichts gewesen. Doch dies hier war Jeman, der Leiter der Railrunner.
Uns so schickte mich der Schlag einige Meter nach hinten.
Ich kippte, schwankte und fiel hinten über.
Doch anstatt auf dem Boden aufzuprallen, fiel ich weiter.
Was sollte das?, dachte ich, noch während ich fiel. Er meinte es anscheinend tatsächlich ernst.
Als letztes hörte ich noch, wie jemand zu Jeman sagte: „Guten Abend, Jeman. Ich bin wieder da. Was ist hier los?“
Ich drehte mich in der Luft, so dass ich einen Sturz in ein kontrolliertes Fallen verwandelte.
Meine Hände öffneten sich von alleine, ich streckte die Arme nach vorn aus und atmete aus.
Ich landete sanft auf meinen Füßen.
Kira kam neben mir auf. Nur sah es bei ihr auch noch elegant aus.
Über uns schrie die feurige Maske: „Nein! Neinneinnein! Ihr dürft nicht fliehen! Das ist gegen die Regeln!“
Das Haus neben uns ging in Flammen auf.
Schatten tanzten in den Feuern.
Zischend traten zwei Finsterflecken heraus. Sie hatten weiße Haare. Solchen waren wir schon einmal begegnet. Ich erinnerte mich.
Die Bibliothek der Schatten.
Das Haus brach zusammen. Ein dritter Finsterfleck erhob sich aus den Trümmern uns leckte sich die Zähne.
Ich ging in Angriffsstellung. „Jetzt sind wir am Zug“ flüsterte ich. Es waren nur drei. Und seit der Bibliothek der Schatten waren wir besser geworden.
Ich schnippte mit den Fingern. Kaltes Metall lag in meiner Hand. So vertraut.
Der Finsterfleck links stürmte los. Ein hämisches Grinsen rannte mir entgegen. Scharfe Klauen schlugen nach mir.
Doch ich duckte mich und schnitt dem Finsterfleck quer über den Brustpanzer.
Kira rief mir etwas zu. Ich konnte gerade noch dem Hieb des zweiten Finsterflecks ausweichen, doch der dritte erwischte mich mit voller Wucht. Warmes Blut lief mir über die Hand.
Ich konnte nicht einmal spüren, wo er mich getroffen hatte.
Aus den Augenwinkeln sah ich Kiras Zahnrad kommen. Wie ein sirrender Kreis sauste es durch die Luft und trennte dem Finsterfleck sauber den Kopf ab. Es flog einen Bogen und kam wieder zu ihr zurück. Kira fing es mit einer Hand auf.
Der dritte Finsterfleck zischte böse.
Die grell leuchtende Maske am Himmel grinste. „Runde eins. Beendet!“
Der Finsterfleck verblasste.
„Runde zwei. Ich bin am Zug!“
Die Luft flimmerte. Ich blinzelte.
Wir waren erledigt.
Hunderte Finsterflecken standen uns gegenüber. Hunderte, Tausende. Eine ganze Armee aus weißhaarigen Metallbiestern.
Kira zog an meinem Ärmel.
„Ich glaube, Jeman hatte Recht“, meinte sie leise.
Vereinzeltes Zischen aus den hinteren Reihen.
„Und was ist mit den Menschen hier? Sie brauchen uns!“
„Kumo!“ Kira riss wieder an meinem Arm.
Ich dachte nach. Die Menschen hier...
„Geh, Kumo“, meinte eine vertraute Stimme neben mir, „Wir schaffen das schon alleine.“
Ich drehte mich um. „Chris“, murmelte ich.
„Keine Sorge ich werde das meinem Bruder heimzahlen.“
Ich blickte zu Kira. Sie nickte hastig.
Ich wandte mich von der Finsterfleckarmee ab.
„Na gut. Ich vertraue dir, Chris“, meinte ich. Er lächelte mich an.
„Dann geht. Und seht nicht zurück.“
„Warum sollen wir nicht...“
Chris stöhnte. „Das ist nun mal so.“
Ich konnte nicht mehr antworten, denn Kira riss mich schon mit sich.
Und so flohen wir.
Wir rannten durch die tickende Stadt.
Tick... Tack... Krack!
Die Häuser brachen eins nach dem anderen zusammen. Es schien uns zu verfolgen.
Und... Jeman war am Uhrturm alleine zurückgeblieben.
Nun, fast alleine. Chris würde ihm ja helfen.
Hoffte ich.
Ein Haus fiel wie ein erschossener Soldat auf der falschen Seite des Schlachtfeldes. Zahnräder flogen in alle Richtungen davon und gingen als prasselnder Regen auf uns nieder.
Eine alte Frau schrie um Hilfe.
Ich drehte mich abrupt um. Sie steckte mit ihrem Bein unter einem schweren Holzbalken fest.
Die typische Situation aus einer dieser „Geschichten“.
Alte Frau, Holzbalken und mein ehrenhafter Wille, der die Überhand über den Selbsterhaltungstrieb gewann.
Wie ich mich dafür hasste.
Ich lief mit schnellen Schritten zu ihr. Sie hatte aufgehört zu schreien und sah mich an. Tränen glitzerten in ihren Augen.
Dann begann sie zu schluchzen.
„Renn!“, rief sie. „Renn, Um Gottes Willen renn!“
„Aber...“, wollte ich protestieren, doch sie schluchzte mitten in meinen Satz.
„Renn, Kumo!“
Ich ließ den Arm der Frau vor Schreck los. Woher kannte sie meinen Namen?
„Hör auf eine alte Frau und renn gefälligst!“
Ich zögerte.
Leider ein wenig zu lange. Ich bereute es.
Ein goldener Blitz raste von rechts heran und schoss an uns vorbei.
Einige grüne Haarsträhnen flatterten im Wind.
Der Körper der Frau erschlaffte.
Tiefe Risse begannen auf ihrem Gesicht zu klaffen.
Mit einem leisen Röcheln begann sie zu verblassen.
Der Finsterfleck beugte sich über sie und fing die schwarze Münze auf.
Ich drehte mich um und rannte.
Verdammt.
Ich wurde schneller.
Hinter mir bewegte sich die Luft viel zu rasant.
Hitze rollt mir entgegen, als sich eine Gruppe Finsterflecken verfestigte. Ein weiteres Haus stürzte in sich zusammen.
Scheinbar war es das Rathaus dieses Stadtteiles.
Eine Wand aus massivem Kupfer krachte auf das Kopfsteinpflaster.
Flüssiges Metall schob sich über die Straße.
Ein Mann versuchte verzweifelt, die zähe Masse zu löschen, doch das Wasser verdampfte über dem Metall, als wäre ein Eiswürfel aus dem Weltall gefallen und in einem Lavasee gelandet.
Um mich herum starben Menschen.
Frauen, Kinder, alte Leute...
Die anderen versuchten, zu helfen, wo sie konnten.
Aber irgendwie war alles vergebens, auf die eine oder auf die andere Weise.
Ich duckte mich unter einem vorbeifliegenden Buch hinweg, das aus der nahen Bibliothek floh. Der Wächter der Bibliothek schrie.
Ich sah ihn als dunkle Gestalt in den Feuern, wie er die Bücher wachrüttelte. Die meisten waren bereits davongerannt, geflogen oder gekrochen.
Und die Stadt brannte weiter.
Sie brannte, und es würde kein Morgen geben, wenn kein Wunder geschah.
Wunder.
Magische Vorkommnisse in Märchen.
Märchen.
Irreale Geschichten, in denen immer alles gut wird.
Geschichten.
Die Gegenwart war eine Geschichte.
Nein, mehr ein Traum.
Oder noch schlimmer.
Es war die eisig kalte Realität.
Ich rannte weiter, Kira an meiner Seite.
Aus einer Seitengasse brach eine Gruppe von Finsterflecken auf die Hauptstraße. Ich rannte schneller.
Verzweifelte Männer versuchten, die Metallbiester mit langen Stöcken und Mistgabeln aufzuhalten. Es fehlten nur noch die Fackeln.
Aber die Stadt brannte wie eine einzige, riesige Kerze.
Als wäre die Hölle direkt auf die Erde gekommen.
Schreie.
Ein Haus zerfiel zu Asche. Es ging alles viel zu schnell. Der graue Staub wehte davon, legte sich in Lungen ab, Menschen bekamen keine Luft mehr, erstickten elendig.
Wir rannten weiter.
Immer weiter.
Immer schneller.
Nur weg von dieser Stadt.
Jeman wollte uns nicht. Chris hatte irgendwas anderes vor. Ryota...
Ich sprang über einen entwurzelten Baum. Seine Blätter waren Zahnräder, sein Stamm ein dickes Kupferrohr.
Alles glühte in der Hitze weiß.
Plötzlich schob sich eine Flammenwand in unseren Weg. Es war, als würden uns zwei riesige Flügeltüren vor der Nase zugeknallt.
Ich sah mich um. Doch die umliegenden Häuser standen in Flammen, es gab keine Chance, über die Dächer zu entkommen.
Ich bemerkte, wie einige der fast unsichtbaren Seile rissen, auf denen die Railrunner sonst liefen. Also auch da war der Weg versperrt.
Hinter uns rückte eine weitere kleine Armee Finsterflecken heran.
Wir waren gefangen.
Oder...
„Kira!“, rief ich meiner Schwester zu, „Kannst du diese Dinger ein wenig in Schach halten? Ich versuche etwas.“
Kira blinzelte einmal. Zweimal. Dann lächelte sie und nickte. „Klar“, meinte sie.
Sie schnippte mit den Fingern und ließ drei Zahnräder erscheinen. Grüne Funken stoben davon.
Grüne Funken.
Ich setzte mich auf den Boden, meine Arme um die angewinkelten Beine geschlungen und den Kopf in den Knien vergraben.
Ruhe, ich brauchte Ruhe.
Ich musste nachdenken.
Während um mich herum die Stadt tobte, saß ich auf der Straße und dachte nach. Eigentlich war es komplett falsch.
Aber...
Ich erinnerte mich an Jeman, er hatte mir erzählt, was eine Kardia war.
Das eigene Herz.
Wenn es stark genug ist, erhält man die Gabe, es als Kardia außerhalb des Körpers zu befestigen.
Und begabte Menschen konnten das eigene Herz auflösen, für kurze Zeit. Aus diesen Funken konnte man eine Waffe formen.
Jeder Mensch hatte einen Charakter, der die Kardia beeinflusste. Die Kardia bestimmte das Element. Und die Waffe war dann das Ergebnis aus Charakter, Element, Training und... dem Herzen.
Ich schloss die Augen.
Ich brauchte mehr Ruhe.
Stille.
Konzentration!
Ich sah tief in mich hinein.
Dunkelheit. Schwärze bis in alle Ewigkeit.
Nur einige giftgrüne Funken tanzten in der Finsternis.
Ich fing einen auf.
Er war warm. Es kribbelte auf meiner Haut. Und ein wenig kühl war es auch. Warm und kalt.
Faszinierend.
Aber...
Ich brauchte noch mehr Ruhe. Noch mehr Stille...
Jemand schrie.
Kira!
Ich riss die Augen auf.
Wo war Kira?!
Da, da war sie. Sie kauerte auf dem Boden. Verzweiflung machte sich in mir breit wie ein Wassertropfen auf einer Glasscheibe.
Kira!
Ich stolperte zu ihr.
Sie zitterte. „Kumo“, flüsterte sie. „Ich kann nicht mehr.“
Dann sah ich mich um.
Meine Augen weiteten sich.
Zwanzig, dreißig Finsterflecke lagen reglos am Boden, zertrümmert, zerschnitten oder komplett zerbrochen.
Weitere drei Dutzend von diesen Monstern hämmerten auf etwas ein. Ich konnte deutlich die Umrisse eines Zahnrades erkennen, das gläsern durchscheinend in der Luft schwebte.
Immer, wenn ein Hieb das Zahnrad traf, blitzte es golden auf, die Umrisse verschwammen für einen kurzen Augenblick und es erzitterte.
Weitere Zahnräder drehten sich darum herum.
Das waren dieselben Zahnräder wie im Haus, als wir gegen Karat angetreten waren.
Ein Schutzschild.
Doch er bekam Risse.
Die Zahnräder wackelten bedrohlich. Kira keuchte.
Schlag um Schlag ging auf den Schild nieder.
Bis die Risse größer wurden.
„Schon gut, Kira. Ich mache weiter.“ Ich lehnte sie an eine einigermaßen stabil aussehende Hauswand und drehte mich zu den Finsterflecken um.
Der Schild zerbrach und Kira seufzte erleichtert.
Das war dann wohl die Sache mit der Zeitbegrenzung.
Niemand hält es sonderlich lange ohne Herz aus.
Aber jetzt war ich dran.
Und ich brauchte... Ruhe.
Mein Herz.
Ich schnippte mit den Fingern. Das warme Metall meines Zeigerschwertes beruhigte mich.
Ich schwang es einige Male.
Leicht wie eine Feder.
„Mein Zug!“, schrie ich in den Himmel.
Für einen Augenblick verschwamm die Welt.
Aber...
Jemand hielt mich zurück. Ich spürte ganz deutlich die Hand auf meiner Schulter.
War Kira etwa so schnell wieder aufgewacht?
Ich drehte mich um.
Vor mir ragte eine schwarze Gestalt auf.
Kapuzenmantel.
„Kumo“, stellte der Fremde fest. „Du solltest hier verschwinden.“
„Aber...“, machte ich.
„Kumo.“ Die Stimme klang vorwurfsvoll.
„Wer bist du?“, fragte ich. Der Fremde starrte mich an.
Doch anstatt zu antworten, sagte er: „Kennst du das Geheimnis der blühenden Uhr, Kumo?“
„Ich... Was?“ Blühende... Uhr? „Was soll das sein?“
Der Fremde seufzte.
„Geh und sucht...“, begann der schwarz Gewandete, doch einer der Finsterflecken unterbrach ihn.
Er raste heran und stürzte sich auf den Fremden. Doch noch bevor das Metallungetüm ihn erreichen konnte, zerplatzte es.
Es war wie eine Seifenblase, die in der Luft herumgondelte und schließlich einfach ihre eigene Existenz ausradierte.
Es gab ein leises Poff.
Ich beobachtete, wie die letzten paar Partikel des Finsterflecks in Brand gerieten und zu Asche zerfielen.
Der Unbekannte hatte sich nicht einmal umgedreht.
Ein weiterer Finsterfleck verpuffte.
Poff.
Der Verbleibende sah sich panisch um und rannte in eine Seitengasse davon.
Er war gerade um die Ecke, als... Poff.
Ich blinzelte.
Der Unbekannte hüstelte einmal kurz.
Obwohl er mich direkt ansah, konnte ich nichts von seinem Gesicht erkennen.
Lediglich einige schemenhafte Andeutungen eines Kopfes.
„Kumo. Nimm das. Lies es später.“
Er reichte mir etwas, das aussah wie...
Ich sprang zurück, als mir die kleine Abhandlung gegen den Kopf flog.
Es war die Abhandlung, die mit den grässlichen Fehlern.
Aber nun war ihr Einband tiefschwarz, silberne Lettern glitzerten als Titel.
„Danke“, meinte ich. Vielleicht ein wenig sarkastisch.
Ich nahm Kira auf meinen Rücken und trat auf die Flammenwand zu.
Wie von Zauberhand öffnete sich die undurchdringlich heiße Mauer, als wäre sie nur ein Theatervorhang.
Logisch, eigentlich. Warum sollten sich lebendige Flammen auch nicht einfach so beiseite schieben lassen?
Ich hätte wirklich gerne gewusst, wie er das gemacht hatte.
In der Ferne schimmerten schon die Stadttore.
Ich begann zu rennen.
Die grünen Funken stoben unter meinen Füßen.
Aber selbst der Wind brachte mir nichts, in einer Stadt, in der das Feuer herrschte. Yutaki hätte hier, ich mochte es nicht denken, die besten Chancen.
Die Hitze ließ die Luft verbrennen. So ging das nicht. Zusätzlich kam noch Kiras Gewicht hinzu.
Und dann erhoben sich auf einmal die gigantischen Tore der tickenden Stadt vor uns.
Eine Straßenlaterne verbog sich und glitt langsam zu Boden wie eine schwarze Schlange mit Ballonkopf. Einfach geschmolzen.
Es gab keine Mauern, die die tickende Stadt schützten.
Lediglich einige Stützbalken glommen vor sich hin.
Bei näherem Hinsehen jedoch war es nicht das Feuer, das sie glühen ließ.
Sie spuckten von sich aus kleine dünne Linien aus goldgelben Funken.
Geschützt durch eine Kardia.
Die tickende Stadt war eine Festung.
Gewesen.
Jetzt war sie ein brennender Haufen Metall, umschlossen von einer Funkenmauer.
Hinter uns hörte ich Finsterflecken.
Ein schrilles Kichern kündigte sie an.
Ich sah mich panisch um.
Da, eine Tür im Tor. Ein kleiner Durchgang mitten in dem riesigen Eingangstor, ein winziger Hoffnungsschimmer.
Ich rannte darauf zu.
Texte: Alle Rechte am Text liegen bei mir. Wirklich alle.
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch...
Demjenigen, der versteht, was ich damit meine