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Michael und Linda waren sich ziemlich sicher - nicht sehr sicher, aber ziemlich - dass sie ein gutes Paar abgeben würden. Wenn sie sich trafen, konnten sie jedenfalls den Blick nicht voneinander abwenden.

Da gab es nur das große Problem, dass sie noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Für Außenstehende, wenn sie denn etwas davon mitbekommen hätten, wäre es zum Kopfschütteln gewesen: Jeden Samstag liefen sie sich um Punkt Vier Uhr dreiundzwanzig genau vor dem Parkeingang über den Weg: Sie kam vom Tennis, er von der entgegengesetzten Richtung, um seinen samstäglichen Spaziergang zu machen. Dabei ging Michael längst auf die Sekunde pünktlich aus dem Haus, um Linda ja nicht zu verpassen, und genauso flitzte Linda zu einer genau festgesetzten Uhrzeit jeden Samstag vom Platz und nahm außerdem den längeren Weg, um Michael treffen zu können.
Michael hatte dieses Jahr seinen sommerlichen Segelurlaub ausfallen lassen, damit Linda nicht dachte, er käme nicht mehr, und Linda lief auch bei Regen, bei Schnee und Sturm ihre Strecke.

Zunächst hatten sie einander nicht viel Beachtung geschenkt. In der anonymen Masse der Menschen sahen beide durch und durch durchschnittlich aus. Michael mit seiner eher kleinen Statur und dem sich bereits früh lichtenden Haar, Linda mit dem gesenkten Blick und dem aschblonden, kurzen Pferdeschwanz: Sie gingen in der Masse unter.

Doch nachdem sie sich ein paarmal über den Weg gelaufen waren, begannen sie sich - aus Gründen, die ihnen selber nicht ganz klar waren - füreinander zu interessieren, und nun war ihr allsamstägliches Treffen so etwas wie ein Ritual.

Es traute sich nur keiner, den ersten Schritt zu machen.

Für beide war es ein frustrierender Umstand, dass sie extrem schüchtern waren, wenn es darum ging, jemanden anzusprechen. Was hätten sie auch zueinander sagen sollen? Sie waren nunmal zwei Menschen, die doch nur "zufällig" jede Woche die gleiche Straße entlangliefen.

Als sich nach einigen Monaten noch immer nichts an diesem Zustand geändert hatte, war es für Michael und Linda leicht, sich Zweifel einzureden: Michael war zwar immer allein und befand sich nie in Gesellschaft von Kindern oder einer anderen Frau, aber wer sagte eigentlich, dass er keine Freundin hatte oder gar längst verheiratet war und Linda sich nur einbildete, er käme jeden Samstag hierher, um sie zu sehen?
Und da Linda niemals offen Interesse zeigte, war auch Michael irgendwann entmutigt. Eine Weile lang hatte er ernsthaft überlegt, ob er nicht einfach auch anfangen sollte, Tennis zu spielen, doch nachdem die Zweifel erst einmal Zeit genug gehabt hatten, um den wenigen Mut, den er besaß, zu zerstören, spielte auch das keine Rolle mehr.

Nein, dachten beide, so wie es war, war es wohl doch am besten: Sie sahen sich immer noch regelmäßig - wenn auch nur für einige Momente - und die Enttäuschung blieb ihnen erspart.

Und so ging es weiter und weiter, bis...


'Ja, zum Kuckuck und Himmelkreuzdonnerwetter nochmal, wer hat denn da wieder geschlampt?!', brüllte eine Stimme, 'Wer von euch Luschen ist für diesen Fall verantwortlich? Der wird sofort strafversetzt!'

Schweigen. Papiergeraschel, leises Murmeln, aber es wagte offensichtlich niemand etwas zu sagen.

'Dachte ich's mir doch', schnaufte die Stimme, 'jetzt will's natürlich mal wieder keiner gewesen sein! Mit was für Idioten arbeite ich eigentlich zusammen?! Wenn ich mich nicht irre, war für die beiden längst ein Wunder vorgesehen gewesen! Nun, ich sehe kein Wunder! Wo bleibt es?!'

Diesmal komplette Stille.

'Habt ihr eine Ahnung, wie weit dieser Fall dem eigentlichen Zeitplan schon hinterherhinkt?! Das ist eine Katastrophe, sage ich euch! Ein Chaos! Das kann ja schon kaum mehr gutgehen! Man sollte euch alle rausschmeißen, denn offensichtlich könnt ihr nicht einmal Wunder mit relativ niedriger Schwierigkeitsstufe erledigen!!' Die Stimme überschlug sich fast vor Wut. 'Also? Was habt ihr dazu zu sagen? Oder besser: Kann irgendjemand von euch Versagern die Situation retten - am besten sofort - ja oder nein?!'

'Ich... ich glaube, ich hätte da einen E-Entwurf', stotterte plötzlich jemand zaghaft. 'Ich meine, es ist nur ein Entwurf, a-aber ich könnte natürlich versuchen...'

Die erste Stimme stöhnte genervt. 'Na, wählerisch können wir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sein', antwortete sie in resignierendem Tonfall. Die Wut war verpufft und hatte Hoffnungslosigkeit Platz gemacht. 'Wir müssen eben nehmen, was wir kriegen können. Na, zeigen Sie es mal her, Ihr Wunder.'




Und so kam es, dass die Routine, mit der Michael und Linda sich schon beinahe abgefunden hatten, eines schönen Samstags ein jähes Ende fand. Eigentlich hatte es so ausgesehen, als ob sie sich wieder nur einen kurzen Blick würden zuwerfen können, bevor sie aneinander vorbeigingen.
Aber diesmal veränderte etwas dieses Ritual.

Eigentlich war es nur ein vorbeifahrendes Auto. Und es war auch nicht wirklich das vorbeifahrende Auto, sondern die halbleere Bierdose, die kräftig herausgeschleudert worden war.

Und selbst das hätte nicht viel verändert, wäre besagte Bierdose nicht genau auf Michaels Kopf zugeflogen.

Lindas Augen weiteten sich, als Michael arglos weiter seiner Wege ging, während das als Wurfgeschoss missbrauchte Objekt von hinten herangeflogen kam. Zeit zum Denken war nicht; sie reagierte aus Reflex. Sie sprintete vorwärts - den Tennisschläger hatte sie zum Glück noch immer in der Hand - und einen Moment später segelte die Bierdose auf die Straße und rollte davon, bis sie auf einem Gullideckel liegen blieb.

Zurück blieben ein sprachloser Michael und eine Linda, die das Gesicht verzog, weil sie einige Tropfen Bier abbekommen hatte.

"W-Wow", sagte Michael schließlich zögernd, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. Er wagte ein Grinsen. "Du bist wohl nicht schlecht im Tennis, was?"

Linda lächelte nun ebenfalls. "Wenn du mich nicht so angestarrt hättest, hättest du selber bemerkt, was los ist - und hättest ausweichen können." Es war verblüffend, wie einfach es plötzlich war.

Michael wurde rot. Aber gut, wenn sie direkt sein konnte, dann konnte er das auch. "Ich schätze, das Geringste, was ich jetzt tun kann, ist, dich zum Abendessen einzuladen, was?"

Sein Gegenüber sah in skeptisch an, breitete dann die Arme aus und sah an sich herunter. Noch einmal verzog Linda das Gesicht. "Du gestattest, dass ich mich vorher umziehe?"


"Es ist seltsam", sagte Michael plötzlich einige Minuten später, während sie auf dem Weg zu Lindas Wohnung waren. "Wir haben vorher noch nie miteinander gesprochen - aber ich habe das Gefühl, als ob wir uns schon seit Monaten genauer kennen."

Linda nickte nachdenklich; sie wusste genau, was er meinte. "Ja, das Gefühl habe ich auch."


'Na bitte, geht doch.' Die Stimme klang zufrieden. 'Spät zwar, aber besser spät als nie. Es geht doch manchmal nichts über ein kleines Wunder, um daraus ein Großes entstehen zu lassen.'

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Tag der Veröffentlichung: 25.05.2009

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