Der 28. Mai 2005 war ein warmer Tag. Der Schweiß rann den Besuchern des letzten Heimspiels des 1.FC Union über die Stirn. Es waren gefühlte 50° C auf den Rängen und noch mal genauso viel auf dem Rasen. Das Punktspiel bildete den Abschluss der Regionalliga Meisterschaftssaison 2004 / 2005. Das Spiel endete, nach 0:2 - Pausenrückstand für den 1.FC Union, nach 90 Minuten noch mit 2:2. Innerhalb von 45 Minuten konnte das Team den deutlichen Rückstand noch in eine versöhnliche Punkteteilung wandeln. Wenn man das auf nüchternen Magen liest, geht man von einem schönen Saisonabschluss aus. Einem Spiel, welches das Ende bildete und wo auch noch das Wetter mitspielte.
Doch weit gefehlt – Das Spiel besuchten knapp 3.000 Zuschauer und dem vorausgegangen, war es einer der negativsten Spielzeiten, der zu diesem Zeitpunkt fast 38 -Jährigen Vereinsgeschichte. Denn inklusive diesem Spiel hatte der 1.FC Union nach 37 von 38 Spieltagen 24 Punkte gesammelt. 24 Punkte in 37 Meisterschaftsspielen! Man lag aussichtslos an dem Tabellenende, seit Monaten, weit abgeschlagen, ohne auch nur ein Fünkchen Hoffnung auf Linderung. Es war die erste Saison, die ich – mit Ausnahme eines Punktspiels – komplett im Stadion an der Alten Försterei verfolgt habe. Und rückblickend kann man nur sagen, dass sich der Niedergang nicht erst im Jahr 2005 manifestierte. Schon viel früher war abzusehen, dass die Mannschaft 2004 / 2005 den Anforderungen, die an sie gestellt worden waren, nicht gerecht werden konnte.
Begonnen hatte es mit dem Abstieg aus der 2. Bundesliga im Sommer 2004. Um die Lizenz, die zum Start in der Regionalliga Nord (heute eingleisige dritte Liga) erforderlich war, zu beantragen und letztendlich auch zu erhalten, war die Spendenaktion „Bluten für Union“ vonnöten. In dieser Aktion kämpften Sponsoren, Verantwortliche des Clubs, Fans / Mitglieder und Sympathisanten in Deutschland um die Hinterlegung einer Liquiditätsreserve von 1,461 Millionen Euro bis zum 9. Juni 2004 auf einem Treuhandkonto des DFB in Frankfurt am Main. Es war ein Zittern und Bibbern, welches wochenlang anhielt. Mittels vieler (z. T. auch skurriler) Aktionen wurde Geld zusammengetrieben. Im Fokus stand die Zusammenarbeit mit dem Blut- und Plasmaspendezentrum HAEMA. Das Unternehmen übernahm den logistischen Aufwand, um die Blutabnahme mit Aufwandsentschädigung für den 1.FC Union vorzunehmen bzw. realisieren zu können. Zwei Mal konnte jeder Fan bzw. Unterstützer des Clubs, mittels einer Blutspende dem 1.FC Union beim Erreichen der Lizenz unter die Arme greifen. Des Weiteren wurden T-Shirts der Kampagne mit Unterschriften unter anderem von Steffen Baumgart und Uwe Seeler versteigert. Außerdem konnte man per Bürgschaft und Darlehen den Verein auf unterschiedliche Weise unterstützen. Um eine Liste über die Aktionen und den aktualisierten Kontostand immer abrufbar zu halten, wurde die Seite „Bluten für Union.de“ ins Leben gerufen. Man produzierte auch Radiospots, um auf die dramatische Lage in Köpenick hinzuweisen. Es war also klar, dass der 1.FC Union um sein sportliches Überleben bangte, aber sich nicht seinem Schicksal hingeben wollte. Auch Dr. Michael Kölmel, der ohnehin schon Millionen investierte hatte, steuerte weiteres Geld bei, um Union Hilfestellung zu bieten. Doch es dauerte bis kurz vor Ultimo - Dann war es geschafft! Der Aufsichtsratsvorsitzende Dr. Antonio Hurtado zog ein positives Fazit, mahnte jedoch Vorsicht an, da die Unterlagen noch geprüft werden müssten. Aber seine Aussagen waren schon vor diesem Tag klar, so habe der Club „die Finanzen zusammengekratzt, wo es nur geht.“ Der unermüdliche Einsatz von allen, die sich als Kollektiv präsentierten, hatte sich gelohnt. Der Verein lebte noch und wurde nicht zum ersten Mal vor dem Kollaps bewahrt. Nun hatte man Planungssicherheit und leitete weitere relevante Schritte für die Zukunft ein. Jürgen Schlebrowski, bis Sommer 2004 Präsident, und der Schatzmeister Christian Guizetti traten (so der Verein) aus beruflichen Gründen zurück.
Am 1. Juli 2004 wurde durch den Aufsichtsrat Dirk Zingler als neuer Präsident berufen. „Nach langen Gesprächen und intensiven Beratungen“, so Aufsichtsratschef Dr. Hurtado, sei man zu dem Resultat gekommen, dass Dirk Zingler perfekt ins Anforderungsprofil passe. Dirk Zingler ist eng mit dem Verein verbunden und jubelte jahrelang von der Tribüne der Mannschaft zu. Es bestand und besteht eine enorme Identifikation mit dem Verein. Ihm zur Seite gestellt wurde als zweites Präsidiumsmitglied Oskar Kosche. Die Arbeit, unter anderem der Beiden, sollte erst später erkennbare Früchte tragen.
Innerhalb von einem Monat musste man nun ein Budget zusammenschustern, mit dem man die Saison bestreiten wollte. Etwa 1,2 Millionen Euro soll der Etat für die Profimannschaft in der Saison betragen haben. Entsprechend musste die Personalplanung gestaltet werden.
Die Neuverpflichtungen hießen: Robert Kretzschmar (Lichtenberg 47), Thomas Boden (1.FC Schweinfurt 05), Ryan Coiner (Arminia Bielefeld II), Frank Kaiser (Rot-Weiß Erfurt), Marco Sejna (RW Ahlen), Hajrudin Catic (RW Oberhausen), Ismael Bouzid (FC Metz), Benedetto Muzzicato (SV Werder Bremen II), Martin Hauswald (RW Essen, ausgeliehen an Preußen Münster bis Sommer 2004), Benjamin Koch (FC Schalke 04 II), Dominik Werling (Arminia Bielefeld II), Mirko Soltau (FC Augsburg), Matthias Straub (Sportfreunde Siegen), Benjamin Wingerter (FC Schalke 04 II), Hannes Wilking (SV Werder Bremen II). Hinzu kamen (auch ein bisschen aus der Not heraus geboren) Spieler aus den eigenen Reihen, die da waren: Roman Prokoph, Florian Müller (damals 17 Jahre jung), Felix Below, Florian Milatz und Dennis Rehausen.
Florian Müller sollte sich später als wahres Juwel erweisen. Aber bei allem Positiven gab es auch hier wieder zum Ende einen faden Beigeschmack, der seinen Vertrag betraf.
Auch ein neuer Cheftrainer stand auf der Liste und man holte für wenig Knete den jungen Frank Wormuth, der zuvor ein Jahr lang arbeitslos war und den man noch aus seiner Zeit beim SSV Reutlingen in der zweiten Bundesliga kannte.
Er war also der Mann, der in Abstimmung mit Holger Wortmann (Co-Trainer) und Lothar Hamann (Sportlicher Leiter), die Mannschaft zusammenstellte. Immer mit dem Damoklesschwert über sich, dass es finanzielle Schmerzensgrenzen gab, die verdammt eng gesteckt waren.
Zum Abschluss der Rettungsaktion für den 1.FC Union spielte am 11. Juli 2004 der FC Bayern München vor. Ohne Antrittsgage, um einen Teil zur Regionalligalizenz beizutragen. Es war der dritte Test des komplett neuen Ensembles unter dem Trainer Frank Wormuth, der mit Ausnahme von Jan Glinker, der in der Saison 2003 / 2004 seine ersten Zweitligaminuten bzw. Spiele absolvierte und Tom Persich, der ebenfalls den Gang in die Drittklassigkeit antrat, keine Spieler aus der Zweitligasaison begrüßen durfte. Viele haben das sinkende Schiff in alle Himmelsrichtungen verlassen.
Gegen Bayern München hielten sich die Jungs wacker und verloren mit 1:5. Den Ehrentreffer markierte Ryan Coiner in der letzten Minute. Zuschauer: Über 15.000 im Stadion an der Alten Försterei.
Noch im Programmheft zum Bayern-Spiel sprach Wormuth davon, dass er das Wort „Abstieg“ einmal erwähnt und dann „gleich wieder gestrichen“ habe. Als es darum ging, ob die Zusammenstellung der Mannschaft gelungen sei, gab sich der Coach sichtlich bedeckt:
„Ich musste die Vereinsparameter des finanziellen Rahmens (…) einhalten. Deshalb waren mir bei gewissen Spielern die Hände gebunden. Also haben wir Durchschnittsgehälter errechnet und die Akteure entsprechend angesprochen. (…) aus finanziellen Gründen sind einige abgesprungen.“ Außerdem gab er zu, die Stärke der Mannschaft erst nach den ersten Meisterschaftsspielen genau taxieren zu können. Dem Verein, der offiziell einen Platz im gesicherten Mittelfeld ausgegeben hat, wollte Wormuth nicht auf Anhieb beipflichten. „Was am Ende rauskommt, hängt (…) oft mit Glück zusammen“, so der neue Übungsleiter.
Alleine dieses Interview ließ einen ein wenig zweifelnd zurück.
Dirk Zingler, der frisch berufene Präsident, legte sein ganzes Vertrauen in Wormuth. Er hatte bei der Trainingsansprache des neuen Trainers, die Gier bzw. den Hunger auf Siege bei den Spielern sehen können und glaubte daran, dass die Mannschaft noch viel Spaß machen werde.
Kurz vor dem Start der Meisterschaft verlor der 1.FC Union sein letztes Testspiel gegen den klassentieferen Oberligisten SV Babelsberg mit 0:1 (mit dem man sich in Zukunft wieder öfter treffen würde – Auf Augenhöhe) und das nicht unverdient.
Am 1. August 2004 wurde das sanierte Olympiastadion mit dem Spiel von Hertha BSC II (Aufsteiger in die Regionalliga Nord) eingeweiht. Am Ende stand es 1:1. Der kleinste Spieler auf dem Feld, Martin Hauswald, brachte Union per Kopfball in Front, bevor Hertha BSC nach 93 Minuten erst den Ausgleich besorgen konnte.
Am Abend des 6. August hieß der Gegner im Stadion an der Alten Försterei Wuppertaler SV. Und Union brannte beim 4:2 ein Offensivefeuerwerk ab, welches allerdings mit einigen Schönheitsfehlern versehen war. Die Abwehr wackelte ein ums andere Mal bedenklich und in der Schlussminute liefen zwei Unioner (Coiner und Prokoph) alleine aufs WSV-Tor zu, aber konnten den Ball nur neben den Pfosten hoppeln lassen. Über 6.000 Zuschauer feierten ihre Helden.
Es war, so darf ich berichten, eine unglaubliche Akustik, die ich bis dahin von Union-Spielen so nicht kannte. Das Umfeld war nach diesem Start euphorisiert, weil ein Offensivspektakel geboten wurde, welches die Defensivaussetzer übertünchte.
Schon Mitte August, beim zweiten Auswärtsauftritt unterlag man Holstein Kiel 0:2 und hoffte nach einer nicht unverdienten Niederlage gegen das mit vielen Spielern, die Union in der Sommerpause gerade erst verließen gespickte Team, auf einen Sieg im Heimspiel gegen die Reserve des 1.FC Köln.
75 Minuten lag mühten sich die Spieler ab. Sie kämpften, ackerten und bearbeiteten den Gegner. Allerdings schien es dieses Mal der Mannschaft, die gegen Wuppertal so frenetisch bejubelt wurde, nicht so leicht und mit Spielwitz von der Hand zu gehen. Die Spieler wirkten verkrampft und es deutete sich ein 0:0 Unentschieden an. Bis, ja bis Martin Hauswald in der 75. Minute goldrichtig gestartet war und 30 Meter mit dem Ball zurücklegte. Er spielte den Torwart lässig aus und schob das Spielgerät zur Führung ein. Nun schien das Spiel ein Abziehbild des Wuppertal-Kicks zu werden. Auf einmal klappte alles, was die Jungs anpackten. Vier Minuten später war es Ryan Coiner, der an der Strafraumgrenze dem prächtig mitgelaufenen Muzzicato den Ball in den Lauf spielt. Dieser vollendet eiskalt zum 2:0. Es war so, so schön gespielt, wenn Ihr das hättet sehen können. Wieder brauchte es nur fünf Minuten, bis es wieder im Tor der Kölner klingelte. Hauswald flankte auf den startenden Coiner. Dieser nahm den Ball mit dem Kopf mit und schirmte ihn mustergültig mit seinem Körper ab. Dann eine schnelle Drehung und fast gleichzeitig der Schuss ins Glück. Es war wieder mal so ein typisches Union-Spiel. Doch das Gegentor in der 90. Minute durch Thomas Bröker ließ böses erahnen, vor allem bei der Figur von Torwart Sjena, der hilflos auf der Linie verharrte und unentschlossen wirkte.
Dieser 3:1-Sieg markierte das Ende, so merkwürdig es klingen mag. Eine Mannschaft, die in den ersten vier Spieltagen von 12 möglichen Punkten 7 sammelte und somit sogar Kontakt zu den Spitzenplätzen hielt, brach in der Folge rigoros ein. Defizite waren bereits vorher auszumachen, sicher. Vor allem durch die schon aufgeführten Umstände, wie der finanzielle Rahmen bei der Zusammenstellung. Dass der Aderlass allerdings so eine Ausdehnung erfahren würde war wohl von den wenigsten vorhersehbar gewesen.
Nach diesem 15. August 2004 kannte die Tendenz nur noch eine Richtung: Nach unten und zwar steil. Sechs spielte in Folge wurden verloren (VfL Osnabrück (Auswärts), HSV II (Heim), FC St. Pauli (A), Fortuna Düsseldorf (A), SC Paderborn (H) und Arminia Bielefeld II (A). Am 25. September 2004 war die Amtszeit von Frank Wormuth beendet. Er wurde auf Grund von Erfolglosigkeit entlassen und eine vereinsinterne Lösung präsentiert. Werner „Pico“ Voigt, der bis dahin die Verbandsliga Mannschaft von Union äußerst erfolgreich betreute, sollte den Karren aus dem Dreck ziehen. Man vermisste bei Wormuth den Biss, vielleicht auch ein Stückchen autoritären Führungsstil.
Mit Voigt hatte man einen Trainer befördert, dem der Ruf des harten Hundes vorauseilte.
Schon zu diesem Zeitpunkt kristallisierten sich die Spieler heraus, die ihren Kollegen innerhalb der Mannschaft etwas voraushatten. Der blutjunge Florian Müller, Ismaäl Bouzid und Ryan Coiner hoben sich vom Rest das Teams deutlich ab. Gerade auf dem mit 17 Jahren jungen Müller ruhten die Hoffnungen; einer der Spieler, die so eben ihre ersten Gehversuche im Männerbereich absolvierten, sollte die Kohlen aus dem Feuer holen.
Auch die Zuschauerzahlen im Stadion an der Alten Försterei litten und das nach nur anderthalb Monaten unter der Durststrecke der Mannschaft. Die knapp 6.200, die noch gegen den Wuppertaler SV (6.8.2004) das Stadion an der Alten Försterei füllten, schmolzen auf 4.195 gegen den HSV II (29.8.2004) bzw. 4.252 gegen den SC Paderborn (18.9.2004). Ich als Fan sprühte zwar nicht vor Zuversicht, hatte aber die Hoffnung, dass das Team die Kurve bekommt – unter Wormuth.
Nun bereitete „Pico“ Voigt die Mannschaft auf das Heimspiel gegen Borussia Dortmund II vor, damit es nicht die siebente Niederlage in Folge setzte.
Die Bilanz bis zu diesem Trainerwechsel, der wohl aus der Panik und dem Bauch heraus getroffen wurde, war also katastrophal: 10 Spiele und die Ausbeute waren ganze sieben Zähler. Wormuth selbst vermutete man Fan eigentlich auch gegen die zweite Garde des BVB auf er Bank, jedoch berichteten die Gazetten in der Woche nach dem Auswärtsspiel in Bielefeld von der beschlossenen Entlassung.
Mir persönlich tat es für den Trainer ein bisschen leid, da viele ungünstige äußere Umstände dazu geführt haben, dass die Mannschaft so und nur so zusammengestellt werden konnte, wie es Wormuth bereits im Sommer anführte. Ich hätte ihn gerne ein paar Wochen länger als Verantwortlicher an der Seitenlinie gesehen. Die Niederlagenserie im Spätsommer / Herbst 2004 hatte mir (wie auch der restlichen Anhängerschaft) sehr zugesetzt. Sie hatte allerdings nicht dazu geführt, dass die Mannschaft ausgepfiffen oder mit anderem was das Fan-Repertoire sonst hergab bedacht wurde. Vor allem am guten Start im August zehrte ich noch recht lange. Der Wille war erkennbar. Auch nach dieser schwarzen Serie. Doch konnten die Spieler, wenn sie so auf dem Feld standen, ihre Enttäuschung und die angeknackste Psyche, nicht verstecken.
Obwohl die Lage schon im September ein wenig aussichtslos erschien, lasteten auf Voigts Schultern trotzdem noch zarte Erwartungen.
Texte: Zitate mit freundlicher Genehmigung der Union-PROGRAMMierer.
EISERN UNION!
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für den Verein, dessen Virus ich im Jahr 2003 erlegen bin und bis heute in mir trage.