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Die Lüge war der Anfang,
die dem Erinnern entsprang.


© bei der Autorin




Meine Eltern waren bereits 5 Jahre geschieden, als mein Vater starb. Meine Mutter kümmerte es nicht, sie hatte in ihrem neuen Lebensgefährten ihre zweite, große Liebe gefunden. Sein Nachlass bestand nur aus Erinnerungen. Er hatte nachdem meine Mum ihn vor die Tür gesetzt hatte, weiterhin in Eltville zur Miete gewohnt und die Erinnerung an seine große Liebe, meine Mutter, nur mit Alkohol und davon ganz viel, ertragen. Ich habe ihn nicht bemitleidet. Ich konnte es nicht. Schließlich war er selbst schuld an seiner Misere. Mum hatte sich an einem ihrer seltenen Hausputztage seine PC Tastatur in seinem Arbeitszimmer vorgenommen. Mein Vater war außer Sichtweite auf dem Balkon und rauchte. Im Haus hatte sie es ihm verboten. Vielleicht war es Absicht gewesen, jedenfalls ob sie ihm jetzt hinterher geschnüffelt hatte oder nicht, fand sie den Mailverkehr mit seiner heimlichen Geliebten.
Mein Vater beteuerte erst ihr und dann jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, mir gegenüber, dass er sie immer geliebt habe. Ich erklärte ihm immer wieder, dass sie ihn wohl auch zurücknehmen würde, wenn er endlich zugeben würde, dass seine Affäre ein dummer Fehler gewesen war und nichts zu bedeuten hatte. Doch er beharrte darauf, dass er sie nicht wieder anlügen wolle.
Seinen dritten Herzinfarkt überlebte er nicht. Erst brach er meiner Mutter das Herz und nach seinem Tod machte er mich todunglücklich. Als hätte er sein Ende vorhergesehen, hatte er mir einen Brief mit der Post geschickt. Wie viel glücklicher wäre ich jetzt, hätte einer meiner unzuverlässigen Mitbewohner den Brief einfach verschlampt.
Mein Germanistikstudium war noch in vollem Gange und dank unserer WG, die mehr Zweckgemeinschaft war, konnte ich es mir wenigstens leisten, nicht mehr daheim bei meiner Mum zu wohnen. Das Foto, was in dem Umschlag steckte, sollte der Grund dafür sein, dass ich mein Studium später abbrechen sollte. Er hatte bloß ein paar Worte auf die Rückseite geschrieben. „Es wäre eine Lüge gewesen“. Auf dem Foto stand er vor einer alten Lokomotive und er hatte einen kleinen Reisekoffer bei sich. Mein Vater sah genauso aus, wie an dem Sonntag, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Traurig und wie ein alter, einsamer Mann. Dieses Foto war demnach nach der Trennung meiner Eltern entstanden.
Meine Mutter hatte seine Leidenschaft für alte Lokomotiven nie geteilt. Während ihrer Ehe war er oft allein nach Bochum ins Museum gefahren. Ich hatte selbst auch kein Interesse gehabt, ihn zu begleiten.
Drei Tage vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag und zwei Monate nach seinem Tod sowie unzähligen, geweinten Tränen fuhr ich dann doch ins Eisenbahnmuseum. Seine Andeutung verstand ich nicht, sie jagte mir sogar ein bisschen Angst ein, aber meine Neugierde war stärker.
Ich nahm an einer Führung teil und landete bei einer ehemaligen, preußischen P8. Der engagierte Angestellte erklärte, dass es sich hier um eine betriebsfähige Dampflok, Baujahr 1918 handele und sie für Museumszugfahrten genutzt würde. Die Führung war zu Ende und ich hielt dem ergrauten Mann das Foto unter die Nase. Zu meiner Verblüffung reagierte er völlig unerwartet. „Den Koffer da, hat ein Fahrgast vor etlichen Jahren irgendwo in der Lok gefunden und bei uns abgegeben. Ich erinnere mich deshalb so gut, weil gerade vor einer halben Stunde, ein junger Mann nach dem Koffer gefragt und ihn mitgenommen hat“, erzählte er.
„Na toll!“, dachte ich laut und erkundigte mich nach dem Aussehen des Mannes und ob er wisse, was denn der Inhalt des geheimnisvollen Koffers sei. „Eine Jeans, Pullover, Kleidung zum Wechseln eben. Da der junge Mann von dem Koffer wusste, glaubte ich, das ginge in Ordnung. Übrigens steht er dort drüben am Souvenirstand“, sagte er achselzuckend.
Mit dem Blick seinem ausgestreckten Arm folgend, fiel mir ein Mann auf, den ich auch ohne bestimmten Grund angesprochen hätte. Er war geschätzt Anfang dreißig, verdammt sexy und seine grau-grünen Augen strahlten mich an, als ich mich ihm vorstellte. Ich erfuhr seinen Namen und im Gegenzug klärte ich ihn über das Foto und den Koffer auf. Dass mein Vater gestorben war, bekümmerte ihn sehr. Die Lungenkrankheit seiner Mutter sei schlimmer geworden und die Ärzte könnten nicht sagen, wie lange sie noch zu leben habe. Sie habe ihn gebeten, den Koffer, den sie seinerzeit hier gefunden und abgegeben hätte, zu holen. Es verwunderte mich zwar, warum sie plötzlich Interesse an einem Koffer, der ihr nicht gehörte und den sie eigentlich längst vergessen haben sollte, hatte, doch das Knistern zwischen Ben und mir, ließ diese und alle schwermütigen Gedanken schnell verstummen. Mit seinem Auto fuhren wir ins Planetarium. Zu meiner Teenagerzeit hatte meine Mutter mich gewarnt, mit Fremden mitzugehen. Hätte ich auch in diesem Fall lieber lassen sollen.
Jedenfalls waren wir uns so sympathisch, dass ich am nächsten Morgen in seinem Bett in seiner Wohnung aufwachte.
Wieder in meiner WG waren erst der Koffer und bald Ben aus den Augen, aus dem Sinn. Er war eine schöne Ablenkung gewesen, mehr nicht. Mehr hätte er nicht für mich sein sollen! Durch die Trauer um meinen Vater war ich nachlässig gewesen, es war mir einfach passiert. Jahrelang hatte ich die Pille stets diszipliniert geschluckt und ich wusste nicht wie ich die Nachricht verdauen, geschweige denn, wie ich mit Folgen fertig werden, sollte.
Meine Mutter bot mir ihre Hilfe an und je runder mein Bauch wurde, desto besser fühlte es sich an, selbst Mutter zu werden. Trotz des Zuredens meiner Mutter, rief ich Ben nicht an.
Er tat es. Ich war im siebten Monat und er stotterte, dass er in der Gesäßtasche der Jeans, die in dem Koffer gewesen war, ein Foto gefunden hätte. Das Bild würde eine ehemalige preußische P8 und eine junge Frau und einen jungen Mann zeigen, die sich küssten. Die Frau war seine Mutter. Ben hatte sie sofort mit dem Foto konfrontiert und unter Tränen hatte sie ihm gestanden, dass es sich bei dem Mann um seinen Vater handelte, obwohl sie Ben gegenüber behauptet hatte, nicht zu wissen, wer sein Erzeuger war.
Ich bin im neunten Monat schwanger und ich bete täglich zu Gott, dass mein Kind gesund sein möge. Gerne würde ich „unser“ sagen. Bens grau-grüne Augen halten mich davon ab. Mein Vater hatte seine Freundin und ihren gemeinsamen, sieben Jahre alten Sohn, von einem Tag auf den anderen verlassen.
Ungefähr sechs Jahre später, war er aus heiterem Himmel mit einem kleinen Koffer wieder bei ihr aufgetaucht. Er war mit einer anderen verheiratet und mit dieser Frau hatte er eine Tochter. Bevor er zurück zu seiner neuen Familie fuhr, besuchten sie gemeinsam das Eisenbahnmuseum. Mein Vater vergaß den Koffer und sie gab ihn im Museum ab. Sie erhoffte sich, dass es damit einen weiteren Grund für ihn gab, wieder zu kommen. Und weil er Lokomotiven liebte. Er kam, aber der Koffer blieb, wo er war. Bens Mutter begann eine Affäre mit meinem Vater. Womöglich um etwas von dem Glück zu spüren, welches längst der Vergangenheit angehörte. Mich an meinen Vater zu erinnern, bricht mir das Herz. Mir wird übel. Er kann nichts für den Zufall, dass Ben und ich uns begegneten. Er ist auch nicht schuld, dass ich von meinem Halbbruder ein Kind erwarte. Ich liebe Ben nicht. Ich hasse meinen Vater. Mum meint, dass ich ihm vergeben müsse, dann würde es mir besser gehen.
Die Toilettenspülung wirkt seltsam beruhigend auf mich. Meine Mutter, die mir die Haare aus dem Gesicht gehalten hat, schaut mich besorgt an. Ich bin in mein Elternhaus zurückgekehrt.
Die Erinnerung an die grau-grünen Augen meines Vaters quält mich. Es ist eine Lüge, als ich antworte, ich könne ihm irgendwann verzeihen.

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Texte: Copyright bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2011

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Mein Beitrag zum 26. BookRix Wortspiel

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