Es lebte einst ein Zwergenmädchen in einem kleinen Dorf, in dem nur Zwerge wohnten. Das Mädchen hieß Linda. Eigentlich war sie stets ein fröhliches Kind gewesen. Bis Linda in ein heiratsfähiges Alter kam, in dem normalerweise Zwergenmädchen mit Zwergenjungen ausgehen und Händchen halten. Eines Tages hatte sie sich nämlich wie so oft in ihrem lachsfarbenen Kleid mit der weißen Schürze auf den Weg gemacht, um im Wald Beeren und Pilze zu sammeln. Ihre Mutter tadelte sie zwar stets, wenn sie mit einem vollen Korb zurückgekehrte, dass sie nicht ohne ihre älteren Brüder, Gunthard und Hartwin, losziehen sollte, doch die Schelte konnte Linda nicht von ihren Ausflügen abhalten.
Der junge Prinz Erminold war bei der Jagd gewesen und auf einem prächtigen Schimmel an ihr vorbeigeritten. Aber er hatte sie nicht bemerkt, da sie sich flugs hinter einem Blaubeerstrauch versteckt hatte. Von diesem Moment an war Linda mit sich selbst unzufrieden. Sie jammerte, dass sie mit ein paar Zentimeter mehr ja zufrieden wäre und das stimmte ihren Vater übellaunig. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der große, starke Prinz mit den wunderschönen meerblauen Augen, an einem solch kleinen Mädchen, wie sie es war, Gefallen finden könnte. Traurig grübelte Linda von früh bis spät darüber nach, wann es soweit sein würde und Prinz Erminold eine große und hübsche Prinzessin zur Frau nehmen würde. Mit ihren braunen, zu einem Zopf geflochten, Haaren und ihrer kleinen Stupsnase fand sich Linda auch recht ansehnlich, wäre sie eben nicht als kleines Zwergenmädchen, sondern als eine reizende Prinzessin mit langen Beinen geboren worden. So reichte sie dem Prinzen nicht mal bis zur Brust. Lindas Brüder spotteten bloß, sie solle ihnen beim Holzhacken helfen, dann würden ihre Muskeln bestimmt wachsen. Wütend riss sich Linda ihre lachsfarbene Zipfelmütze vom Kopf und beinahe wäre diese im Kaminfeuer gelandet. Das war der Mutter nicht entgangen und sie schimpfte mit ihrer Tochter.
Am Abend lag Linda unglücklich in ihrem Bettchen und zählte Zipfelmützen. Bei der fünfhundertsten Zipfelmütze schreckte sie hoch. Sie schlief gerne bei offenem Fenster und jetzt saß auf der Fensterbank ein pechschwarzer Kater. Barsch fauchte der Kater Linda an: „Es ist nicht zum Aushalten mit dir! Deine trübseligen Gedanken kann man noch meilenweit entfernt hören. Weißt du denn nichts von dem Brunnen im Wald? Wer von seinem Wasser trinkt und reinen Herzens ist, der bekommt die Gestalt, die er sich wünscht. Also nimm deine kurzen Beine in die Hand, gewinne das Herz deines Prinzen mit den goldenen Locken für dich und schone meine kostbaren Nerven!“ Ärgerlich kratzte sich der Kater hinter dem linken Ohr und mit einem graziösen Sprung verschwand er in die Nacht hinaus. Linda tat wie ihr geheißen, zog ihre Mütze, das Kleid und die Schürze an, schlüpfte in ihre braunen Stiefelchen und stahl sich leise aus dem Haus. In dem dunklen Wald ängstigte Linda sich und sie schluchzte verzweifelt. Da tauchte plötzlich ein alter Uhu auf einem dicken Ast vor ihr auf und fragte sie, was sie nachts allein im Wald wolle. Sie erklärte ihm, dass sie die Hoffnung aufgegeben habe, den Brunnen mit seinem verzauberten Wasser zu finden und dass sie sich verlaufen habe. Der Uhu dachte kurz nach und bot ihr mitfühlend seine Hilfe an. Zusammen erreichten sie den Brunnen im Nu. Hastig trank Linda von seinem kühlen, klaren Wasser aus ihren kleinen Handflächen und wartete ungeduldig auf ihre Verwandlung. Die Minuten verstrichen unendlich langsam und sie beschloss entmutigt sich auf den weichen Waldboden zu setzen und sich an den Brunnen zu lehnen. Linda schaute müde und bekümmert zum Sternenhimmel auf. Der Uhu hockte auf einem Ast in der Nähe und es fiel im ebenfalls schwer, seine Augen offen zu halten. Schnell waren beide eingeschlafen.
Zur frühen Morgenstunde begab sich Prinz Erminold wieder auf die Jagd. Er war sehr überrascht, am Brunnen auf eine schlummernde Prinzessin zu treffen. Die junge Frau trug ein zartes, rosafarbenes Kleid und passend dazu, elegante, rosafarbene Schuhe. Außerdem hatte sie ein zierliches, goldenes Krönchen in ihrem haselnussbraunen, zu einem langen Zopf geflochtenem, Haar. Die liebliche Prinzessin war nicht wach zu kriegen und so hob der Prinz Linda auf sein weißes Pferd und ritt mit ihr zu seinem Schloss.
Sie wachte in einem Bett, zugedeckt mit einer samtweichen Decke auf. Nachdem sie verstanden hatte, was mit ihr passiert war, aß sie gemeinsam mit Prinz Erminold zu Mittag. Später machten sie einen Spaziergang durch den herrlichen Schlossgarten. Obwohl sie sich gut unterhielten, beantworte Linda des Prinzen Fragen nach ihrem Elternhaus und dem Grund, warum er sie allein, schlecht behütet von einem tief schlafenden Uhu, im Wald vorgefunden hatte, nicht.
Die Tage vergingen und Linda und Prinz Erminold, der immer noch nicht wusste, wer die Prinzessin tatsächlich war, verliebten sich ineinander. Leider sollte das Glück der Liebenden nur von kurzer Dauer sein. Besuch hatte sich angekündigt. Prinzessin Hiltrud war eifersüchtig auf Linda und als sie ungestört waren, flüsterte sie ihr zu: „Du bist hässlich. Prinz Erminold wird sich für mich entscheiden! Verschwinde von hier!“ Linda weinte bittere Tränen und bat den Stallknecht, ihr ein Pferd zu satteln. Hastig trieb sie den Gaul, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte, an und erschöpft erreichten sie bei Anbruch der Dunkelheit den Brunnen im Wald.
Prinz Erminold, der ihr heimlich auf seinem Schimmel gefolgt war, stand hinter einer hohen Tanne und beobachtete Linda. Niedergeschlagen trank sie erneut von dem Zauberwasser und sank geschwächt zu Boden. Erminold rannte zu ihr hin und streichelte ihr besorgt über den Kopf. Hilfesuchend blickte er sich um. Abermals hockte der Uhu in einem Baum neben dem Brunnen und rief aufgeregt: „Gib ihr einen Kuss!“ Der Prinz küsste Linda vorsichtig auf die Lippen und aus der Prinzessin wurde wieder das Zwergenmädchen.
Linda schlug die Augen auf. Prinz Erminold war erleichtert und drückte seine Geliebte fest an sich. Überglücklich fassten sie sich an den Händen und schon bald darauf wurde Hochzeit gefeiert.
Dem strahlenden Bräutigam und der schönen Braut jubelte eine begeisterte Menge zu. Die Freude war riesig und die Leute staunten. Noch nie hatten sie eine Braut in einem weißen Kleid und weißen Rosen im Haar mit einer weißen Zipfelmütze auf dem Kopf gesehen.
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die das Träumen noch nicht verlernt haben