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Es war einmal vor sehr langer Zeit, da wünschte sich der kluge, aber strenge König von Dahoriabon nichts sehnlicher, als seinem Sohn den Thron überlassen zu können. Er war alt und wusste, dass ein starker Herrscher eine liebende Frau an seiner Seite braucht. Des Königs Frau und Mutter seines einzigen Kindes war schon vor Jahren verstorben und er wollte für seinen Sohn schlicht das Beste.
Aus allen an Dahoriabon grenzenden Königreichen hatte Wamarod Portraits von jungen, hübschen und klugen Prinzessinnen gesandt bekommen. Die Schönheit der Prinzessin Gjavren von Sikadean hatte ihn direkt verzaubert und die Sanftmut in den Augen der Prinzessin Yemirne von Filbiren berührte sein Herz. Als den König die frohe Kunde erreichte, schickte er sofort seine Boten aus, den beiden Prinzessinnen und deren Familien eine Einladung zu einem prunkvollen Fest in seinem Palast zu überbringen. Der Tag kam und es wurden die köstlichsten Speisen und der edelste Wein aufgetischt. Wundervolle Klänge wurden auf Flöten und Harfen gespielt und die besten orientalischen Tänzerinnen weit und breit zogen die Blicke auf sich. Von Prinzessin Gjavren ging eine dunkle Aura aus, aber das bemerkte niemand außer der liebenswürdigen Prinzessin Yemirne. Gjavrens Gesicht war von einer schwarzen Lockenmähne umrahmt, ihre Haut war weiß und ihre Lippen waren vom Rot praller Sauerkirschen. Prinz Wamarod vergötterte sie vom ersten Augenblick an. Yemirnes strohblondes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, der ihr bis zum Po reichte und ihre Wangen schimmerten rosig. Doch sie verstand es nicht, sich so geschickt in Szene zu setzen, wie Gjavren. Diese trug ein figurbetontes, strahlend weißes Seidenkleid und ein rubinrotes Überkleid aus feinstem Brokat und Wolldamast. Handgearbeitete Stickereien mit goldenem Faden und funkelnde Pailletten zierten das Gewand und glänzende Goldplättchen wirkten wie ein prächtiges Collier.
Yemirne war eher unscheinbar und schüchtern. Ihr cremeweißes Unterkleid und das hellblaue Überkleid mit zarter Silberspitze passten zu ihrem bescheidenen und braven Wesen.
Der Prinz war Feuer und Flamme und entschied sich vom Fleck weg für Gjavren. Die Tänzerin Iplira näherte sich Wamarod mit fließenden Schritten und sinnlichen Bewegungen. Plötzlich stolperte sie. Sie griff nach ihrem verknacksten Fuß und richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Yemirne entging Gjavrens hochmütiges Grinsen und ein merkwürdiges Blitzen in ihren grünen Augen nicht. Elegant erhob sich Yemirne und stützte Iplira. Diese schenkte ihr dankbar ein Lächeln und wisperte: „Ihr seid zu gütig, Prinzessin.“
Schon am nächsten Morgen verkündete der König die anstehende Hochzeit von Prinz Wamarod und Prinzessin Gjavren. Eine Woche später kamen die Menschen von überall her zu der Vermählungsfeier angereist und überhäuften das angehende Ehepaar mit Geschenken. Ein Mann mit Haut wie dunkle Schokolade brachte einen bunt gefiederten Vogel mit. „Prinzessin, ich habe eine weite und beschwerliche Reise auf mich genommen, um Euch dieses besondere Federvieh zu schenken. Der Vogel kann sprechen. Seht her.“, behauptete er stolz. Doch der Vogel wollte seinen krummen Schnabel nicht öffnen und blieb stumm. Gjavren zog ihr perfektes Näschen kraus und erlaubte dem Vogel widerwillig auf einem Arm Platz nehmen. Sie wurde dabei argwöhnisch von Prinzessin Yemirne beobachtet. Nach einer Weile entschuldigte sich Gjavren, sie wolle sich kurz frisch machen.
Blitzschnell packte sie Yemirne von hinten an der Schulter und zog sie in eine dunkle Ecke des Saals. „Wage es nicht, dich zwischen mich und den Thron zu drängen!“, zischte sie, „ich bin in Wirklichkeit die Tochter eines mächtigen schwarzen Magiers. Die echte Prinzessin Gjavren ist bei ihrer Geburt gestorben und ich bin an ihre Stelle getreten. Ich lasse dir die Wahl, in welches Tier soll ich dich verhexen?“ Starr vor Schreck würgte Yemirne einen dicken Kloß hinunter, dann stotterte sie am ganzen Leib zitternd: „Bitte! Verschone mich! Wenn du mich dennoch quälen möchtest, verwandele mich in diesen armen stummen Vogel.“ Gjavren lachte laut auf. Ein böses und grausames Lachen. Schlagartig wurde es Yemirne schwarz vor Augen und als sie sie wieder vorsichtig öffnete, steckte ihre Seele nicht mehr in ihrem schlanken Frauenkörper sondern in dem hellrot gefiederten Körper des Vogels. Nervös schlug sie mit ihren Flügeln und wild blitzten blaue und gelbe Federn auf. Andere glühten blutrot. Ehe sie sich versah, saß sie in einem goldenen Käfig. Gehässig fauchte Gjavren Yemirne an: „So, jetzt stelle ich dich in diese staubige Kammer dort drüben. Da kannst du schön darüber nachdenken, wie dumm es war, sich mit mir anzulegen!“
Die Nacht brach herein. Der Mond löste die Sonne ab und Gjavren war dabei den Prinzen Wamarod zu verführen. Und das, obwohl die eigentliche Hochzeitsnacht schon am nächsten Tag nach der Trauung vollzogen werden sollte. Rasch streifte Gjavren ihre Schuhe ab und schälte sich langsam aus ihrem Oberkleid heraus. Wamarod löste behände die dünnen Bänder ihres Unterkleides. Dieses verrutschte ein wenig und er entdeckte ein schwarzes Muttermal auf ihrer linken Schulter, welches mit etwas Fantasie an eine schwarze Rose mit einem spitzen Dorn erinnerte. Der wuchtige Samtvorhang war nicht ganz zugezogen und ein Stern leuchtete durch das Fenster hinein. Auch Yemirne in ihrem dunklen Gefängnis konnte ihn durch einen winzigen Spalt erkennen. Auf einmal zwinkerte ihr der Stern zu und sprach mit sanfter Stimme: „Prinzessin, Hilfe naht. Habt Vertrauen!“ Verwirrt dachte Yemirne, dass ihr Augen und Ohren einen Streich gespielt hätten. Jemand rüttelte an der Tür und streckte eine Hand nach dem Käfig aus. Iplira lächelte Yemirne freundlich an und befreite sie. Natürlich konnte Iplira nicht wissen, wen sie gerade wirklich gerettet hatte, aber es fühlte sich richtig an. Yemirne wurde von ihrem reinen Herzen geleitet und weil dir Tür zu Wamarods Räumen nur angelehnt war, flog sie genau in dem Moment in dessen Schlafgemach, als Gjavren die letzten Hüllen fallen ließ. Yemirne landete auf ihrem Kopf und krallte sich in ein paar lockigen Haarsträhnen fest. Sie krächzte laut „Hexe! Hexe!“
Gjavren packte Yemirne grob und schrie: „Wamarod, bestrafe jenes böse Geschöpf für diese Ungeheuerlichkeit! Sofort!“ Der Prinz hatte seine Hose noch an und griff mit einem seltsam entrückten Gesichtsausdruck nach seinem Säbel. Er schwang ihn bedrohlich vor Yemirnes Schnabel hin und her. Sie zappelte in Todesangst und Gjavren drückte ihr beinahe alle Luft aus dem Leib. „Schlag dem Vogel den Kopf ab!“, befahl Gjavren. Grimmig holte Wamarod mit dem Säbel aus. „Jetzt ist es aus mit dir! Er gehört mir“, flüsterte Gjavren hasserfüllt. Die Zeit schien still zu stehen und eine winzige Flaumfeder löste sich und reizte Wamarods Nase. Der Prinz nieste und sank rücklings zu Boden. Gjavren setzte dazu an, dem Papagei den Hals umzudrehen. Im letzten Moment wurde sie von einem grellen Licht geblendet. Der Stern, der Yemirne zuvor ermutigt hatte, stand in der Gestalt eines blonden Jünglings vor ihr und sprach: „Gjavren, Tochter eines schwarzen Magiers, lass von der Prinzessin ab. Trotz deiner Niederträchtigkeit habe ich Erbarmen mit dir. Niemand wird sich mehr an dich und deine Taten erinnern. Du wirst an meiner Seite ein Stern sein. Ein Stern, der erst leuchten darf, wenn du den Menschen deine Liebe schenkst und ihnen Gutes tust.“ Zärtlich strich der Jüngling Yemirne über das bebende Federkleid und sie fand sich sogleich in ihrem eigenen Körper wieder. Ihr Zopf hatte sich gelöst und ihr langes Haar glich einem seidigen Schleier. Der Zauber war von Wamarod genommen und er erwachte. Liebevoll schloss der Prinz Yemirne in seine starken Arme. Sie versanken in einem langen und innigen Kuss. Yemirne weinte Freudentränen und bereits am nächsten Tag feierten die beiden und ganz Dahoriabon mit ihnen eine Liebesheirat.
Während Dahoriabon und seine Bewohner längst in Vergessenheit geraten sind, kann man noch heute gelegentlich des Nachts am Himmel neben einem besonders hellen Stern einen mickrigen, vielleicht sogar zornig wirkenden, stumpfen Stern erspähen.

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Texte: Copyright bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2010

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