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Sarah war von fließendem Gold im Wind zitternder Blätter umgeben. Ihre Füße federten auf dem feuchten Boden. Die Luft war klar und rein, unschuldig wie der frühe Morgen. Ihre Gedanken streiften Schönes und Trauriges. Nachdenklich sah sie in den grauen Himmel auf. Eine frische Brise, die salzig schmeckte, erhellte Sarahs Gemüt. Überrascht hielt sie inne, erstaunt gerade diese Person zu treffen. Das Staunen wich bald dem Entsetzen. Der Moment der Fassungslosigkeit sollte nicht lange andauern.
Ein Hund bellte. Oberkommissar Bohse rieb sich am Kinn. Das tat er immer, wenn er ins Grübeln kam. Er fühlte kratzige Stoppeln, er hatte keine Zeit zum Rasieren verschwendet. Die Frau lag nur mit Jogginghose und Spagettitopp bekleidet auf dem vom nächtlichen Regen benetzten Boden im Park. Es war Herbst und zu frisch, sich in diesem Aufzug vor die Tür zu wagen. Obwohl er sich schlecht in das Opfer hineinversetzten konnte. Oberkommissar Bohse joggte nicht. Die Frau erhitzte der Sport, ihn die Erinnerung an seine Couch und ein kühles Bier. Welche Ironie, nicht weit im Gebüsch lag eine Joggingjacke, wie achtlos weggeworfen und das Tatwerkzeug, das ihr das Leben aus der Kehle gedrückt hatte, lag wärmend um ihren Hals. Ein weinroter Baumwollschal. Befremdlich wirkte die kleine Stickerei. Das sollte sich Piet mal anschauen.

Für Pathologe Piet Michelsen war sein Beruf eine Obsession. Er war süchtig danach und wenn er das Muster erst entdeckte, war der Rausch perfekt. Das Opfer war Mitte vierzig und kerngesund. Sie war stranguliert worden. Das Interessanteste an diesem Opfer war die Stickerei. Ein kleines Spinnennetz, gestickt mit einem weinroten Baumwollfaden. Piet hatte eine Probe an das Labor gegeben. Der Faden stammte von dem Schal um den Hals der toten Frau. Das wirklich Makabere an der Stickerei war nicht das, sondern die Stelle, an der sie sich befand. Stich um Stich hatte der oder die Täterin ihr Kunstwerk auf der Außenseite des Oberarms direkt in die Haut des Opfers gestochen. Ein blutiges Zeichen mit einer Symbolik, sicherlich.
Die Büroarbeit erledigten andere. Akten wälzen hatte Oberkommissar Bohse hinter sich gelassen.

Frauke Winkler hielt eine Zigarette in der Hand. Verhört zu werden, war für sie nichts Neues. Der Oberkommissar ihr gegenüber hatte eine äußerst ernste Miene aufgesetzt. „Ich darf doch, oder?“, flötete sie. „Gestehen Sie und Sie dürfen sich sogar allein in eine kleine warme Zelle zurückziehen“, bemerkte Oberkommissar Karl Bohse völlig unberührt. „Meine Schwester bedeute mir nichts. Würden Sie jemanden umbringen, der Ihnen egal ist?“, säuselte sie mit einem lasziven Augenaufschlag. Karl gab ihr Feuer und zündete sich selbst eine Zigarette an. Dann analysierte er weiter: „Anna Sturm hat Ihnen etwas bedeutet. Zumindest hatten sie eine Affäre mit ihr. Damals ist ihre Schwester für sie eingetreten.“ Frauke lachte leise und erklärte: „Anna war mir wichtig, bis sie die Affäre beendet hat und zu ihrem lächerlichen Ehemann zurück gekrochen ist. Vielleicht war er es? Sarah war wertlos und charakterlos. Nach dem Tod unserer Eltern hatte sie nur mich. Sie war eine Klette. Halten Sie mich für so naiv, zwei Jahre nach Annas Tod, meine Schwester umzubringen und der Tat dann auch noch meinen Stempel aufzudrücken? Den Schal kann jeder dort platziert haben. Ich hatte ihn irgendwann verloren. Ich war zur Tatzeit im Danceclub, das wird Monika Jürgens gerne aussagen.“
„Wir werden dem nachgehen. Sie trugen den Schal vor Gericht. Dumm für Sie, vor Beginn der mündlichen Verhandlung sind Film- und Fotoaufnahmen erlaubt. Sie haben Recht, der Schal könnte dazu benutzt worden sein, Sie mit dem neuen Mord in Verbindung zu bringen. Doch warum folgen wir nicht dem geraden, dem offensichtlichen Weg? Anna Sturm und ihrer Schwester überdrüssig, haben Sie die Schlinge zugezogen. Hans Sturm war auf einem Seminar und Sie nutzten die Gelegenheit. Ihre Schwester hatte zu Ihnen Vertrauen und Sie hatten leichtes Spiel. Bis dahin, könnte man das als Spekulation abtun. Wieder Glück für Sie, wäre da nicht das Netz. Wir haben den Faden mit dem Schal verglichen. Anna hatte auch eine solche Stickerei aus dunkelroter Baumwolle am Oberarm“, setzte Oberkommissar Bohse die Teile des Puzzles zusammen.
Frauke Winkler schluckte und feixte: „Meinen Glückwunsch. Sie hatten das Mordinstrument über zwei Jahre zum Greifen nahe und hatten doch die Augen geschlossen. Anna musste sterben. Ich konnte nicht ertragen, sie wieder in den Armen ihres Schwächlings von Ehemann zu wissen. Die Aussicht auf ein schnelles kurzes Aufflackern unserer Leidenschaft und der Genuss ehrlicher Zärtlichkeit, verlockten Anna. Wenn Sie dabei von einem Sexspielchen ausgehen, wissen Sie nichts von der Tiefe unserer Verbindung. Er verdiente es zu leiden, sie verdiente die Erlösung. Wegen meiner Schwester muss ich Sie leider enttäuschen. Viel Spaß bei der Suche.“
„Das werden wir den Richter entscheiden lassen“, kommentierte Karl Bohse ihr Geständnis kurz und kühl.
Sollte es das gewesen sein? Sein Vorgesetzter hatte ihm eine junge Kollegin aufgedrängt. Er sollte sich ihrer annehmen. Das war Auslegungssache. Karl schmunzelte.

„Der Faden stammt jeweils von Ihrem Schal. Was wollten Sie mit dem blutigen Spinnennetz ausdrücken?“, nahm Kommissarin Maria Kober die Verdächtige genauer unter die Lupe. Frauke Winkler stieß den Zigarettenqualm durch ihre Nasenlöcher aus. „Wo ist denn der Herr Oberkommissar eigentlich? Obwohl, Sie sind mir lieber. Tolles Haar, schlaue Augen und eine schlanke Figur. Wären die Umstände besser, wer weiß. Sie sind also noch nicht selbst dahinter gekommen? War Anna die Fliege, wer die Spinne? Wer hat sie eingefangen, dass sie sich im klebrigen Netz verfing und sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte? Oder hat sie gar das Netz aufgefangen? Sagen Sie es mir“, veralberte Frauke die Kommissarin und fixierte sie dabei.
Ein Kollege würde Maria begleiten. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Kommissarin Kober rieb sich ihre kalten Hände. Genervt schob sie zum ixten Mal eine lose Strähne ihres nussbraunen Haares hinters Ohr. Einerseits zeigte das Außenthermometer an der grauen Hauswand des eher unauffälligen Einfamilienhauses nur ein Grad plus an und andererseits gab es Grund zur Freude. Endlich bekam ihre Karriere einen Schubs in die richtige Richtung, vom letzten Kaff auf in die Großstadt. Hamburg bot nicht bloß genug Stoff für Seemannsgarn, sondern auch reichlich Material für zahlreiche Verbrechen. Als Tatort ihres ersten Falls hatte sie sich einmal die Reeperbahn ausgemalt. Mit abschätzendem Blick musterte sie Karl Bohse, seines Zeichens Oberkommissar und ihr Kollege. Sie war nicht so naiv gewesen, zu glauben, man würde sie schon machen lassen, doch als ihr Vorgesetzter, einem Team aus Erfahrung und frischen Blut angefangen hatte, war ihr ihres in den Adern gefroren. Sie schätzte Karl auf Anfang dreißig, kaum älter als sie, jedenfalls. Er war nicht besonders groß, noch auffällig attraktiv. Eher klein und stämmig. Das zurückgekämmte und –geschmierte Haar erinnerte an Elvis und bewirkte statt männlicher Ausstrahlung bei dem Oberkommissar das Gegenteil. Er hatte Maria mit einem uncharmanten „Moin, moin“ begrüßt. Sie hatte die Augen verrollt, konnte es sich nicht verkneifen.
Der Klingelton war dumpf und altmodisch. Ein Mann um die fünfzig mir gewaltigen Geheimratsecken erschien an der Tür. „Ja, bitte? Oh, wie kann ich helfen?“, fragte er hilfsbereit. „Guten Morgen Herr Sturm, wir sind von der Mordkommission. Ich bin Oberkommissar Bohse und das ist Kommissarin Kober. Dürfen wir reinkommen und Ihnen ein paar Fragen stellen?“, übernahm Karl, bewaffnet mit seiner Dienstmarke, das Wort.
Das hier war alles andere als die sündige Meile. Modellbauschiffe in Glasvitrinen und Möbel, die Maria sofort auf den Sperrmüll geworfen hätte. „Worum geht es? Haben sie den Fall meiner Anna, ich meine, meiner verstorbenen Frau, jetzt auf einmal wieder ausgegraben?“, erkundigte sich Herr Sturm plump.
Man mochte sie für oberflächlich halten, aber irgendetwas stank hier gewaltig. Maria rümpfte die Nase und Oberkommissar Bohse hakte nach: „Wenn Sie so wollen, Herr Sturm. Nur wundere ich mich, wie Sie darauf kommen. Es gab einen weiteren Mord, der in das Muster passt. Tod durch Strangulation. Sie belasteten damals eine gewisse Frau Frauke Winkler schwer, doch aus Mangel an Indizien, wie Ihnen ja bekannt sein dürfte, musste das Verfahren eingestellt werden. Nun, ist wieder ein Mord geschehen und der oder die Mörderin hat dasselbe Zeichen hinterlassen, wie bei ihrer Frau. Der Knackpunkt oder das Verwunderliche ist, bei dem neuen Opfer handelt es sich um Sarah Winkler, die ältere Schwester von Frauke Winkler.“
„Das ist sicher bedauerlich. Wie sollte ich Ihnen helfen können? Natürlich würde ich mich freuen, wenn Sie endlich Ihre Arbeit machen würden und die Mörderin meiner Anna für immer weggesperrt würde!“, kam die abfällige Antwort. „Dann war Ihre Freundlichkeit eben wohl geheuchelt. Sie scheinen den Tod Ihrer Frau noch lange nicht verwunden zu haben. Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt zu Frau Winkler oder ihrer Schwester?“, brachte sich Maria ein. Herr Sturm grinste schief und erwiderte gereizt: „Zwei Jahre ist es her und ich soll meine Anna vergessen haben, ja? Ich denke jede Sekunde an sie. Mit dieser Killerin und ihrer vermaledeiten Schwester habe ich nichts zu tun!“ „Sie kennen Sarah Winkler also? Und mögen Sie nicht besonders?“, prüfte Maria weiter. Karl runzelte die Stirn. „Da haben Sie Ihre Akten anscheinend nicht gründlich studiert, Frau Kommissarin. Diese Schlampe hat ihrer Schwester dieses verdammte Alibi gegeben!“, spottete Herr Sturm. „Passen Sie auf, was Sie sagen! Mir ist bekannt, dass Sarah Winkler bestätigte, dass sich ihre Schwester zur Tatzeit mit ihr im Elternhaus befand und somit Meilen entfernt war von Ihrem Haus. Im Übrigen, dürfen wir uns ein wenig umschauen? Wollen Sie den Durchsuchungsbefehl sehen?“, trumpfte Oberkommissar Bohse auf. Ärgerlich stand Maria auf und sah sich in dem modrigen Wohnzimmer um. Ihr Blick streifte Modelldampfer und Kreuzfahrtschiffe, Kataloge über Modellbau, Bildbände und Bücher mit Anleitungen über Modellbau, „Bau dir deinen Traum“, „Dein Schiff, deine AIDA“, „Sticken leicht gemacht“ und noch mehr Schiffe. Ein Buch erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie war neugierig. Da war ein Probeläppchen, auf dem aus dunkelrotem Faden ein unsauberes Stichmuster erkennbar war. Kommissarin Kober tütete es flink ein. Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen. „Ah, Sie interessieren sich für Modellbau?“, brummte Herr Sturm und zog sie barsch zurück. „Gut, dann haben wir für den Moment keine Fragen mehr. Außer einer. Könnten Sie uns noch beantworten, wo sie am Freitag, dem 16. Oktober um 23.00 Uhr waren?“, forschte Karl nach. „In meinem Bett. Und nein, dafür gibt es keine Zeugen“, entgegnete Sturm schroff und warf sie förmlich raus.

„Frau Jürgens hat das Alibi von Frauke Winkler bekräftigt. Sie hat ihre Schwester nicht umgebracht. Wir haben in Ihrem Haus einen Stofffetzen mit einer Stickprobe gefunden. Was sagen Sie dazu, Herr Sturm?“, verhörte Oberkommissar Karl Bohse den Verdächtigen mit nicht zu leugnender Genugtuung in der Stimme. „Sie waren ja nicht fähig, diese Schlampe einzubuchten! Da musste ich eben ein bisschen nachhelfen!“, ereiferte sich Sturm. „Das nenne ich ein Geständnis. Ihre Trauer war längst zu Hass geworden. In Ihrem Rachedurst war ein Menschenleben kaum mehr als Mittel zum Zweck. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Ob Ihre Frau in ihrer Ehe glücklich war, steht mir nicht zu, zu beurteilen. Sie haben ein Netz gesponnen und sind daran kleben geblieben“, schloss Oberkommissar Bohse die Ermittlungen ab.

Sie haben Ihren ersten Fall hier, im echten Leben gelöst. Respekt, Frau Kollegin!“, lobte Karl. Maria Klober plusterte sich auf und entschied, dass ihr Kollege an sich ganz in Ordnung sei. Ihr gemeinsamer Vorgesetzter räusperte sich und erklärte die Akte für geschlossen: „Das Labor hat bestätigt, dass der Faden auf dem Stofffetzen, den Sie bei Herrn Sturm gefunden haben, mit der Baumwolle des Schals von Frauke Winkler identisch ist. Oberkommissar Bohse, Sie haben gute Arbeit geleistet. Sturm wollte die Mörderin seiner Frau hinter schwedischen Gardinen sehen. Nun könnten Sie Nachbarn werden. Und Kommissarin Klober, willkommen an Bord!“

Impressum

Texte: © Text Nadine Ueding, Cover Quelle: www.bilderkiste.de
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zu "Der Mörder geht ins Netz 2009"

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