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Erster Teil

Genossen und Nichtgenossen sowie Freifrau Agnes

Der Bürgermeister hatte zu einer Öffentlichen Einwohnerversammlung eingeladen. Sie sei sehr wichtig, war angekündigt worden. Deshalb fanden sich Männer und Frauen sehr zahlreich im Großen Saal hinter der Dorfkneipe ein. Die Versammlung begann pünktlich 20 Uhr. Ein wichtiges Anliegen liege an, ein höherer Beschluss von oben, erklärte der Bürgermeister und blickte hinauf zur Saaldecke, an der noch der Papiermond vom letzten Faschingsball hing. Es sei an der Zeit, die neue Zeit auch in Würda einzuläuten.

Pastor Frommel verstand das als Wink. Am kommenden Sonntag würde er die Glocken zweimal läuten lassen, einmal für die gute alte Zeit und einmal für die neue, von der er nicht wusste, ob auch sie gut werde. Der Herrgott hatte sich diesbezüglich noch nicht geäußert. So musste sich Frommel vorläufig auf das verlassen, was Traugott Hampel, der Bürgermeister, sagte.

„Überall in Stadt und Land sind die Weichen gestellt“, verkündete der. „Wir sitzen alle in einem Zug, der uns in eine lichte, frohe Zukunft fährt. – Auch dich, Franz“, wurde Traugott laut, als er sah, dass der Angesprochene einschlafen wollte.

„Ich bin noch nie mit dem Zug gefahren“, rief Minna Mampel und klatschte freudig erregt in die Hände.

Einige lachten. Andere, die den Ernst der Stunde begriffen, blickten so wichtig drein, als hätten sie die Fahrkarte schon in der Tasche. Am Jackettrevers dieser Personen steckte das Parteiabzeichen der SED.

Von seinem Platz hinter dem Präsidiumstisch erhob sich ein Mann, schaute streng auf die vor ihm sitzende Masse und donnerte los: „Genossen, es ist unsere heilige Pflicht…“ –

Er wurde vom nebensitzenden Bürgermeister angestoßen, der ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Dann dröhnte er wieder: „Genossen und Nichtgenossen, es ist unsere Pflicht, …“ –

Pastor Frommel entfaltete enttäuscht die gefalteten die Hände.

„... auch unser Dorf in den Blickpunkt der Weltgeschichte zu rücken. Das sind wir uns und unseren Nachkommen schuldig. Deshalb hat mich die Kreisleitung der SED beauftragt“, der Brustkorb des Redners wölbte sich, „euch mitzuteilen, dass schnellstens eine Chronik über unseren Ort zu verfassen ist. Ich als Sekretär der Ortsparteigruppe meine, dass dieses Dorfgeschichtsbuch nicht mit der Stunde Null oder der Geburt Jesus Christus beginnen sollte, sondern mit dem Jahre 1945, als der Große Vaterländische Krieg siegreich beendet war.“

Der Redner verstummte und erwartete Beifall. Der erfolgte nicht, dafür aber die naive Frage eines Einwohners, ob es nicht so gewesen sei, dass die Russen den Krieg gewonnen hätten. Unser Vaterland hätte ihn doch verloren.

Willi Stoffel, der Ortsparteisekretär, schaute den Fragesteller tadelnd an. Es sei wohl noch nicht in sein schwaches Hirn gedrungen, dass nicht von den Russen, sondern von den Sowjets die Rede sein müsse und auch davon, dass die siegreiche Rote Armee dem Faschismus vernichtend aufs Haupt geschlagen hatte.

Die Wortwucht ließ den Belehrten auf dem Stuhl schrumpfen.

Fünfzehn Jahre nach Kriegsende müsste doch auch der größte Schafskopp begriffen haben, was sich bisher so alles entwickelt hat. Damit das auch künftig jeder schnallt, müssten die örtlichen Erfolge schriftlich festgehalten werden.

Eine schrille Stimme durchschnitt die Stille im Raum. Eine ältere Dame plärrte, dass es unerhört sei, erst mit dem Jahre 45 beginnen zu wollen. Davor hätte es das Dorf Würda auch schon gegeben, und in diesem hätten nicht nur Schafsköppe gelebt.

Die Köppe der Anwesenden drehten sich in Richtung der Erzürnten. Aha, dachte jeder, wieder die alte Meckerziege Freifrau von Hummelshausen. Aus der Sicht vieler Würdaer hätte die Betagte zu viele Hummeln im Kopf.

Als halbwüchsiges Mädchen war die Dame, damals noch Freifräulein und Tochter des Rittergutsbesitzers Wotan von Hummelshausen, beim Ausritt vom Pferd gefallen. Dieser Zwischenfall veranlasste den mächtigen Agrarier, Töchterchen Agnes von der Höheren Töchterschule zu nehmen. Gewisse geistige Überlastungen würden ihr Kopfschmerzen bereiten. Einige ganz gemeine Einwohner höhnten nach dem Krieg, Agnes sei so verblödet, dass sie den Anschluss an ihresgleichen verpasst hätte. Während einige Junker in den Westen geflohen seien, wäre sie hier geblieben. Agnes behauptete, sie könne Grund und Scholle nicht verlassen, auf der sie groß geworden sei und sie das Andenken an ihre verstorbenen Eltern binde. Sie wolle die Familientradition wahren und mit ihrem Hiersein bezeigen, dass sich bedeutende Geschlechter auch nicht von schlimmsten Stürmen hinwegfegen lassen. Ein mächtiger Stammbaum mit breiter Verästelung hätte bisher jedem Winde getrotzt. So fänden sich in ihrer Ahnenreihe auch Kommerzienräte.

Als sie dies an anderer Stelle schon einmal geäußert hatte, vor den Ohren Willi Stoffels nämlich, schmetterte der zurück: „Haha, Kommerzienräte! Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will!“ Dabei schaute er kraft seines proletarischen Bewusstseins zu den an der Wand hängenden Porträts von Marx, Engels, Lenin und Stalin, als müssten die jetzt aus dem Rahmen und ihm um den Hals fallen. Mit Unmut nahm er dabei wahr, dass an Lenins Nase ein dunkler Fleck haftete. Genauere Untersuchung ergab, dass es eingetrockneter Popel war, der schwerlich von Wladimir Iljitsch selbst stammen konnte. Irgendein klassenfeindliches Subjekt hatte ihn irgendwann in diese Richtung geschnippt.

Freifrau Agnes hatte für den gottlosen Ausspruch des Parteisekretärs nur ein verächtliches Schnaufen übrig. Nun aber, in der Einwohnerversammlung, war es an Stoffel zu schnaufen, weil er mit dem Einwurf dieses kapitalistischen Überbleibsels fertig werden musste.

„Fräulein Agnes“, rief er und riss beim A den Mund so weit auf, als wollte er die Dame verspeisen, „es ist erwiesen, dass die Weltgeschichte bis 1945 eine einzige Ansammlung von Unterdrückung der werktätigen Bevölkerung war.“

Der führende Genosse erhielt wieder einen Stoß in die Seite, worauf hin er berichtigte: „Ein Volk war stark genug, die Ausbeuterbrut hinwegzufegen. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution von 1917 machte in der Sowjetunion Schluss mit den Herrschenden.“

Die Augen der sieben aufrechten Genossen mit dem Parteiabzeichen am Revers leuchteten. Bürgermeister Hampel setzte zum pflichtgemäßen Beifall an, der aber durch eine weitere dämliche Zwischenfrage gebremst wurde. Die Aussage des Genossen Parteisekretärs könne wohl nicht ganz stimmen, weil Stalin der Herrschende in der ruhmreichen Sowjetunion war.

Stoffel wirkte etwas verwirrt. Einerseits tat es ihm wohl, von ruhmreicher Sowjetunion aus dem Munde eines parteilosen Bürgers zu hören, andererseits missfiel ihm die Bloßstellung der einstigen Führungsrolle im Moskauer Kreml. „Du stellst historische Tatsachen auf den Kopf“, agitierte er ungehalten, „der Genosse Stalin war kein Herrschender, weil das Volk herrschte. Der von allen geliebte Josef Wissarionowitsch war nur der Führer, der Führer des mächtigsten Landes auf Erden, der unbezwingbaren Sowjetunion. – Merke dir das!“

Damit war der Ausrufer um einiges klüger und kehrte in seine dumpfe Versammlungsandächtigkeit zurück.

 

Adolf Hiller

„Nun aber endlich zur Sache!“ riss der Bürgermeister die Führungsrolle wieder an sich. Er befürchtete, dass sich um den Begriff des Führers ein weiteres ideologisches Wortgeplänkel entfachen könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit sogar, weil Adolf Hiller sein quadratisches Bärtchen unter der Nase mit Zeige- und Mittelfinger glatt strich. Ein Zeichen dafür, dass auch er das Wort ergreifen wolle. Nur das nicht, grauste es den Bürgermeister, der wusste, wie schwer diesem politischen Querulanten beizukommen war. Ideologisch war dieser Mensch unerträglich, weil er nur Blödsinn redete.

Während des Tausendjährigen Reiches war Hiller bei der Ortsgruppenleitung der NSDAP mit der Bitte vorstellig geworden, man möge seinen Familiennamen etwas ändern. Er wolle nun Hitler heißen, ebenso wie der Führer des Großdeutschen Reiches. Den passenden Vornamen besäße er ja bereits. Es müsse nur noch eine geringfügige Konsonantenänderung im Nachnamen vorgenommen werden. Was machte es schon aus, ein l durch ein t zu ersetzen. Nachdem sich Hiller einen Vortrag über sein schwachsinniges Anliegen und dessen mögliche Folgen hatte anhören müssen – gepaart mit der Bemerkung, dass da jeder Idiot kommen könne und Hitler heißen wolle -, wurde der falsche Adolf der Gestapo in Hola, der Kreisstadt, übergeben. Die nahm ihn freudig in Empfang und dann gehörig in die Mangel. Tags darauf war Hillers Aussehen sichtbar verändert. Der Anführer der Nazischläger höhnte, dass er nun nicht mehr den Wunsch hege, Hitler heißen zu wollen. Von dem arischen Aussehen des Führers sei bei ihm ohnehin nichts zu erkennen. Man hielt ihm einen Spiegel vors Gesicht, und Hiller erkannte die Richtigkeit der Aussage. Seine Augen waren jetzt zwar blau, aber die deformierte Nase verriet nichts von germanischer Herkunft. Weil unter der groben Behandlung auch sein Verstand gelitten hatte, wurde er einer Anstalt zugeführt, in der sich noch mehr Personen befanden, die behaupteten, Adolf Hitler zu sein.

Wie Hiller später erklärte, hätten sich unter seiner Führung wahre Patrioten zusammengefunden. Einer sei dabei gewesen, der hätte dauernd „Heil Moskau!“ gerufen und ein anderer „Nieder mit dem Wodka!“ Nur einen hätten sie wegen völliger Verblödung aus dem Kreis Gleichgesinnter ausgeschlossen, weil der immerzu geschrien hätte: „Ihr könnt mich und den Papst am Arsch lecken!“

Anfang April 1945 wurde Hiller samt Gesinnungsgenossen von der siegreich vorrückenden

Roten Armee befreit. Irgendeinem Towarisch in Offiziersuniform erklärte Hiller, wie grausam er von den Faschisten gefoltert worden war. Nachdem er von den erlittenen Qualen berichtet hatte, fiel er dem sowjetischen Unterbefehlshaber tränenüberströmt um den Hals. Weil der Geherzte ein Kulturoffizier war, dessen Herz mehr für den Dichter Goethe als für den Generalissimus Stalin schlug, empfahl er Hiller allsogleich an die Sowjetische Militäradministration weiter. Die stempelte das Empfehlungsschreiben mit Hammer und Sichel ab, und Adolf Hiller war von Stund an ein Verfolgter des Naziregimes. Mit dieser Legimitation mogelte er sich durch die Nachkriegszeit, die ihm täglich mehr Brot und Pflaumenmus gab als anderen Darbenden. Die Nazis hatten ihm zwar das t nicht gegönnt, in der Bezeichnung „Verfolgter“ war es ihm nun nützlicher.

Weil er sich als VdN-Mann (Verfolgter des Naziregimes) auch vor wissbegierigen Pionieren und FDJlern darzulegen hatte, begann er seine Ausführungen immer mit einem Zitat persönlicher Herkunft. Das war ihm während eines Trinkgelages in der Würdaer Kneipe eingefallen. Das sagte er den jungen Leuten jedoch nicht, und so wurde dieser alkoholgetränkte Satz zum vorwärtsweisenden Leitspruch für die, die ihn empfangen durften.

Er lautete: Die Nazis haben mir zwar die Fresse poliert, es siegt aber immer der, der nicht verliert!

Die jungen Menschen klopften nun selbst Sprüche, deren Gehalt aber noch haarsträubender war als der ihres lyrischen Vorbilds. Selbst Pastor Frommel wurde von dieser Sprüchemacherei inspiriert und dichtete für alle Feinde der neuen Ordnung den aufmunternden Satz: Als alle frommen Christen die Fahne Jesus Christus` hissten, da gab es keine Kommunisten!

 

August Trautloff

Bürgermeister Hampel, der spürte, dass ihm die Zügel aus der Hand zu gleiten drohten, griff fester zu und ergriff die kleine Handglocke, die vor ihm auf dem Tisch stand. Deren Geläut hatte ihn in Kindheitstagen zum Schweigen gebracht, wenn der Weihnachtsmann seine Ankunft einläutete. Warum sollte der schrille Glockenklang nicht auch das Volksgemurmel im Saal zum Verstummen bringen. Hampels heftiges Glockenschwingen zeigte nur mäßigen Erfolg. Minna Mampel und einige andere Weiber führten ihre Unterhaltung unbeirrt weiter. Hampel deshalb: „Wenn nicht sofort Ruhe eintritt, lasse ich den Saal räumen!“ In dieser Formulierung war er sehr geübt, denn bis kurz vor Kriegsende war er Laufbursche und Gerichtsdiener beim Gerichtspräsidenten Arnulf von Habestreit in Hola gewesen.

Hampels Androhung hatte Erfolg. Nach und nach verfiel man in Schweigen. So die Masse wieder im Griff, tadelte Traugott dieselbe: „Es geht hier um eine Sache von höchster Wichtigkeit. Hier wird nicht um des Kaisers Bart gestritten!“

Kaum war das gesagt, schraubte sich ein runzliger Alter von seinem Sitz empor und plärrte mit altersschwachem Stimmchen: „Hoch lebe der Kaiser! Kaiser Wilhelm, er lebe hoch!“

Ein nachsichtiges Grinsen huschte über die Gesichter der Anwesenden. Der Schreihals mit dem hochgezwirbelten Bart war für seine senilen Kaiserrufe bekannt. August Trautloff, einer der Ältesten im Ort, war in besten Jugendjahren in den I. Weltkrieg gezogen, mit dem festen Vorsatz, dem Kaiser Paris zu erobern, damit der sich im „Moulin Rouge“ von den Kriegsanstrengungen ein wenig erhole. Wer einen Krieg gewinnen will, muss sich auch entspannen können. Das gehe am besten beim Genuss von Sinnesfreuden. Dieser seiner Strategie folgte August in den ersten Kriegsmonaten selbst sehr eifrig. Während seine Kameraden bemüht waren, dem Erbfeind jenseits des Schützengrabens das Lebenslicht auszublasen, trachtete der Meldegänger Trautloff danach, etwas Nützliches für die Völkerverständigung zu leisten. Dabei näherte er sich – so oft es möglich war – den Frauen Frankreichs. Die meisten von ihnen hatten allerdings wenig Verständnis für das Ansinnen des Deutschen mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart. August suchte die Verständigung zu weit unten und bekam sie deshalb weiter oben schmerzhaft quittiert. Wenn er mit verschiedenfarbiger Gesichtsblessur zu seiner Truppe zurückgekehrt war, wusste er mit kläglicher Miene zu jammern, wie er bei heftigstem Beschuss von einem Granattrichter in den anderen geschleudert worden wäre.

Die Soldaten äußerten kein Bedauern, dafür waren andere zuständig; sie hatten mit sich selbst zu tun. Das ärgerte August, weil er seine Kampfeinsätze auch gewürdigt wissen wollte. Wie er um Anerkennung und Beachtung auch buhlte, stellten seine Kameraden unzufrieden fest, dass manche Franzosen schlechte Schützen seien.

Da ergab sich eines schönen kugeldurchzirpten Maientages doch eine günstige Gelegenheit für August, seine Stärke zu beweisen. Vom Hauptmann der Kompanie war er wieder einmal in Richtung eines anderen Kampfabschnitts geschickt worden, mit dem Hinweis versehen, ja nicht vom Wege abzukommen. Traugott kicherte in sich hinein: Der Spieß glaubt wohl wirklich noch an den bösen Wolf!

Wie er sich als Meldegänger also in die Spur machte, den feindlichen Geschossen geschickt ausweichend, erblickte er plötzlich einige kleine Bauernhäuser, die sich dem Krieg bisher unbeschadet widersetzt hatten. Vorsichtig pirschte August näher und hörte aus einem nahe gelegenen Stall munteres Hühnergackern. Jede Vorsicht außer acht lassend – das Federvieh war ja unbewaffnet -, betrat er die Tierbehausung. Kaum drinnen, vergaß er vollends, dass draußen der Krieg tobte. Ein Strohnest war mit herrlich weißen Eiern gefüllt. Sofort durchschoss Traugott der Gedanke, dass mit diesen die Gunst seiner Kameraden leicht zu erringen sei. Ein kleiner Weidenkorb stand in der Nähe, und so requirierte der deutsche Soldat August Trautloff französische Eier. Wenig später ergriff die französische Bäuerin Madeleine Tussout eine Heugabel und schlug mit dieser auf den deutschen Eierkopp. Die Frau prügelte so heftig drein, dass August sich bald nicht mehr rührte. Verächtlich murmelte sie, natürlich französisch: „Seine Schuld, wenn er keinen Stahlhelm trägt.“

Als die deutschen Truppen nach glorreichem Vormarsch auch dieses Dörfchen erobert hatten, fanden sie den Meldegänger Trautloff in einer Stallecke sitzen und greinen, dass seine Eier kaputt seien. Der Sanitäter befand aber, dass Augusts Geschlechtsteil in Ordnung sei. Der wimmerte jedoch in einem fort seine Schadensmeldung.

Im Lazarett stellte man schließlich fest, dass August keinen Eierschaden, sondern einen gehörigen Dachschaden hatte. Man hängte ihm das Eiserne Kreuz II. Klasse um und schickte ihn zurück in die Heimat.

Bis zum heutigen Tage begriff der Dekorierte nicht, dass Kaiser Wilhelm den Krieg verloren hatte und sich bereits im Jenseits befand – oder in der Hölle, ganz nach Wertung seiner irdischen Leistungen.

 

Theodora Lieblich

Bürgermeister Hampel hatte den Glauben verloren, die Versammelten auf den einzigen Tagesordnungspunkt zu konzentrieren. Selbst Partei-Stoffel sah sich dazu außerstande. Wie ein rettender Engel, der durch das Deckenlüftungsgitter hereingeschwebt sein könnte, stand Theodora Lieblich auf einem Stuhl und breitete prophetisch ihre Arme aus. Die Männer wurden augenblicklich still, nur die Frauen nahmen sich etwas Zeit dazu. Herrmann Ackermann, der neben Theodora saß, stierte lüstern auf ihre wohlgeformte Beine. Gern hätte er mehr sehen wollen, doch seine nach oben wandernden Blicke wurden durch einen Klaps seiner Ehefrau wieder gesenkt.

Theodora ließ die Arme sinken und erhob ihre Stimme. „Liebe Freunde! Liebe Mitbürger! Aus welchem Grund haben wir uns hier und heute zusammengefunden? Um zu lärmen? Um unaufmerksam zu sein? – Nein! Wir sind hier versammelt, um darüber zu befinden, wie unseren Nachfahren bewusst gemacht werden kann, was gestern und heute, aber auch morgen in unserem Dorf an wichtigen Ereignissen geschah. Das wird zwar in keinem Geschichtsbuch stehen, so bedeutend sind wir nicht. Es muss aber in einer Dorfchronik stehen, damit von unseren kleinen Taten die lesen können, die uns nicht vergessen sollen. Wenn wir hier aber weiter wild durcheinanderschwätzen, dann wird unseren Nachkommen nicht die angenehmste Erinnerung an uns überliefert.“

Die Rednerin ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder. Sie wusste, dass die allgemeine Aufmerksamkeit nicht nur der Kraft ihrer Worte, sondern vor allem auch der Kraft ihrer Persönlichkeit zu verdanken war. Als Lehrerin und Leiterin der Gemeindebibliothek genoss sie das Ansehen aller im Dorf. Vor allem respektierte man ihr hohes Wissen, das ihr den Beinamen „die Gebildete“ eingebracht hatte. Schön von Angesicht und in den besten Lebensjahren war sie die heimlich Verehrte vieler Männer Würdas.

Sie war keine hier Geborene. Während der letzten Kriegswochen flüchtete sie von Ostpreußen nach Original-Preußen. Als aber auch dort die Endsiegkanonen die Luft zerrissen, wandte sie sich nach Süden und landete schließlich in dem weniger kriegsgeschüttelten Dorf Würda. Weil nach Kriegsende eine Rückkehr in die Heimat nicht möglich war, blieb sie hier und wollte es dauerhaft auch sein. Einen Mann, den sie mit ins Leben hätte nehmen können, hatte sie noch nicht gefunden. Sie suchte nach einem solchen auch nicht. Ihre einzige große Liebe galt den Büchern und Schülern. Die Mädchen bewunderten sie, weil sie sich immer chic machte und sich in ihren selbstgeschneiderten Kleidern von der Mode der Dorffrauen abhob. Die Jungen hegten ein ähnliches Gefühl wie die Männer des Ortes.

Theodora wusste um die heimliche Zuneigung „ihrer“ Jungen und nutzte diese geschickt als Motivationstrieb für bessere Lernleistungen. Selbst die Ehefrauen Würdas, die beim Blick auf ihre Ehemänner hätten argwöhnen müssen, sahen dazu keine Veranlassung. Fräulein Lieblich hatte sich nämlich in ihrer Kulturbesessenheit zur Urheberin einer Kulturgruppe gemacht, deren wichtigster Bestandteil ein Chor war, dem neben einigen Männer viele Frauen angehörten. Was gab es Schöneres für Würdas Chor, als Mittwoch Abends zu üben und sich an bestimmten Wochenenden am Beifall der Zuhörer zu erfreuen.

Theodora Lieblich, deren Eltern bald nach Kriegsende verstorben waren, hatte nun eine neue Familie gefunden, eine weitaus größere. Das machte, dass sie Würda nicht mehr verlassen wollte und sich ein Leben andernorts nicht vorstellen konnte. Verständlich also, weshalb die im Saal Versammelten den Worten der schönen Lehrerin andächtig lauschten. Aber nicht stummes Schweigen wollte sie erreichen, sondern eine Mitteilungsbereitschaft, die nützlich für das neue Buch der Gemeinde Würda sein könnte.

Der Bürgermeister warf ihr dankbare Blicke zu; für den Moment schien die Situation gerettet. Und in der Tat, ein lebhafter Gedankenaustausch entfachte sich. Als gäbe es das Präsidium da vorn und seine Besatzung dahinter nicht, so dirigierte die Lieblich den Kommunikationsaustausch. Schließlich war das Wichtigste dann festgehalten, nämlich, wer die Chronik schreiben sollte. Einzig und allein war Theodora dafür benannt, die aber entschieden ablehnte. Als es deshalb im Saal zu grummeln begann, stellte sie sich erneut auf den Stuhl und fragte die Menge, ob sich im Falle ihres Einverständnisses jemand finden würde, die Kulturgruppe zu leiten. Es sei nämlich gar nicht einfach, auf zwei Hochzeiten zu tanzen.

Franz Apel, der wohl ausgeschlafen hatte, fragte seinen Nebenmann verdutzt: „Die will wohl endlich heiraten?“

Weil sie halbe Sachen nicht liebe, sondern etwas richtig oder gar nicht mache, müsse das zu einer einzigen Entscheidung für sie führen: Entweder Chronik oder Chor!

„Chor! Chor!“ riefen die Frauen.

„Chor! Chor!“ riefen die Männer, durch Rippenstöße ihrer Frauen dazu ermuntert.

So rief man also in einem gewaltigen Chor: „Chor! Chor!“

Als der Lärm verebbt war, herrschte wieder Ratlosigkeit. Wer sollte das Dorf-Buch denn nun schreiben? Jeder schaute zu Boden, als müsse er angestrengt darüber nachdenken. Tatsächlich glaubte man, durch diese Haltung unentdeckt zu bleiben. Schon ein Blick zum Nachbarn hätte den veranlassen können zu rufen: „Hier, der Paul!“ oder „Klare Sache, die Klara!“

Mit dem Schreiben hatten sie es alle nicht sonderlich. Na ja, hin und wieder mal eine Geburtstagskarte oder die Unterschrift hinter die geleistete Spende für die Volkssolidarität, das war schon drin. Aber so in richtigen Sätzen mit richtiger Rechtschreibung und in richtig sauberer Schrift – nee, das war tausendmal schwerer als die schwerste Arbeit auf dem Feld oder im Stall. Also brav den Kopf nach unten halten und nicht aufsehen.

`Da habe ich ja was angerichtet`, murmelte Theodora. Sie gehörte zu denen, die den Kopf erhoben hielt, gleich dem Bürgermeister und dem Pfarrer. Achselzuckend blickte sie zu Traugott Hampel, der das Achselzucken höflich erwiderte. Willi Stoffel blätterte angestrengt in der broschürten Ausgabe des 'Kommunistischen Manifests', um anzudeuten, dass er auf politischer Ebene wichtigere Dinge zu bewältigen habe. Es schien, als wäre man da angelangt, wo man begonnen hatte. Kreisverkehr in Würda.

 

Rita und ich

Hätte sich der Bürgermeister gründlicher umgesehen, wäre ihm aufgefallen, dass auch ich erhobenen Hauptes saß – nicht inmitten der Menge, auch nicht im Präsidium, sondern vier Meter ab von diesem an einem kleinen, wackeligen Tischchen. Diesen Platz hatte ich während öffentlicher Einwohnerversammlungen immer einzunehmen, weil ich hier die Versammlungsabläufe oder andere Vorgänge zu protokollieren hatte. Mir war diese entlegene Arbeitsstelle zugewiesen, damit ich nicht in Versuchung käme, an eine höhere Bestimmung meiner Person zu glauben. Ich war schließlich und endlich nichts weiter als der Gemeindesekretär, verantwortlich für allen Krimskrams, mit dem Traugott Hampel sich nicht befassen wollte. So nebensächlich der Schriftkram für ihn, so nebensächlich war auch ich.

Wer war ich denn schon? Sekretär des Bürgermeisters. Ein Amt, das einem Fräulein besser zu Gesicht und Figur gestanden hätte. Mir konnte man nicht unter den Rock greifen, geschweige denn an eine wohlgeformte Brust. Ich war also keine attraktive Vorzimmerdame, sondern ein Schreiberling des Bürgermeisters. Dass der sich nicht nach einem schöneren Geschlecht umgesehen hatte, war dem drohenden Einfluss seiner Gattin geschuldet. Selbige duldete keine Zweite neben sich. Außerdem war es ihr wichtig, mit Frau Bürgermeister angesprochen zu werden. Beim Einsteigen in den Linienbus hatte man ihr devot den Vortritt zu lassen. Beim Aussteigen ebenso, was ihr einmal einen Knöchelbruch einbrachte, weil jemand von hinten nachgeholfen hatte.

Stellt sich die Frage, warum ich keinen ordentlichen Beruf erlernt hatte. Auf dem besten Wege dahin war ich bereits, denn ich besuchte die Höhere Bildungsanstalt, die EOS (Erweiterte Oberschule), dem Niveau eines Gymnasiums entsprechend. Meine Eltern wollten aus mir einen Studierten machen. Als ich schließlich nach großen Mühen die 11. Klasse erreicht hatte, waren meine letzten Kraftreserven verbraucht. Ich stellte fest, dass mein Kopf zu klein war, in ihm das gebotene Wissen unterzubringen. Als ich mehr und mehr an Gehirnverengung litt, sah ich mich nach einer gesünderen Betätigung an der Schule um. Dabei fiel mir auf, dass der Umgang mit den Mädchen dieser Bildungseinrichtung erquicklicher war.

Weil ich mich seit meiner Kindheit auch mit dem Dichten von Gedichten befasste, wuchs in mir urplötzlich der Wunsch, eine Liebeslyrik zu verfassen. Dieser Drang, zunehmend zur Seelenqual werdend, war durch ein Mädchen von besonderer Schönheit verursacht worden. Sie hatte in mir eine Glut wilder Leidenschaften entfacht. In Liebe zu ihr verzehrte ich mich fast. Um dieses kannibalische Gefühl etwas zu lindern, ließ ich sie nicht aus den Augen, so oft ich sie sehen konnte. Dass ich ihr mein Herz zu Füßen warf, sah sie anfänglich nicht. Sie hätte es sicherlich auch verächtlich zur Seite gestoßen. Sie war schön wie Greta Garbo, hatte den Wohlklang der Stimme Zarah Leanders und den stolzen Gang von Marlene Dietrich. Diese Eigenschaften machten sie unnahbar. Das bewirkte, dass sie nicht wahrnahm, wie ich mich in Liebespein krümmte. Ich folgte ihr auf Schritt und Tritt, nicht aber in die Mädchentoilette. Einige Male setzte ich zum Überholen an, um mich dann mit empfangsbereiten Armen vor sie hinzustellen und zu hauchen: „Ich liebe dich!“ Im letzten Moment gebrach es mir aber an Mut, und so wandelte ich nur wieder in ihrem Schatten.

In meinen nächtlichen Träumen wuchs ich über mich selbst hinaus. Ich wurde zum verwegenen Ritter, der Rita, so hieß sie, aus der bestialischen Umklammerung eines bösen Drachen zu befreien. Der Drachen sah so aus wie Helmut Hagedorn, ein Mitschüler, der ihr mit Erfolg den Hof auf dem Schulhof machte. Ich begriff das nicht. Hatte meine Angebetete denn Tomaten auf den Augen, dass sie nicht wahrnahm, wie Helmut öfter popelte? Auch furzte er ungeniert und rauchte auf dem Klo. Mich belastete der Gedanke, dass Schön-Rita von diesen Unmanieren vielleicht nicht wusste. Wie gern hätte ich diesem Unhold auf die Finger geklopft und Rita dabei zugerufen: „Nimm mich! Ich pople, furze und rauche nicht! Ich bin rein von diesen Lastern!“

Doch ach, Träume sind Schäume! Und weil ich es nicht länger aushielt, schrieb ich das bereits erwähnte Liebesgedicht, dessen Wortlaut ich hier wiedergebe, damit verstanden wird, warum ich dem Pegasus so ungestüm in die Weichen trat.

Kussrezept

Man nehme ein Mädchen in den Arm,

man halte es sicher, man halte es warm.

Dann streiche man übers Köpfchen von ihr,

man tue es sanft und nicht wie ein Stier.

Ist sie nun geschmeidig wie Kuchenteig,

dann gehe man ran und sei nicht zu feig.

Drückt sie die Augenlider verzückt nach unten,

dann hat man das rechte Maß gefunden.

Man gehe beim ersten Mal nicht zu weit,

das hat schon so manches Pärchen entzweit.

Geht das Gefühl noch Monate mit,

freut man sich dann – und ist zu dritt.

Diesen lyrischen Erguss steckte ich ihr heimlich in die Brotbüchse, die auf einer Schulhofbank lag. Natürlich hatte ich es vermieden, meinen Namen unter die Verse zu setzen. Ich wollte zunächst die Wirkung abwarten. Und die war verblüffend. Als Rita die Büchse öffnete und ihr eine Stulle entnahm, fiel ihr auch das Zettelchen in die Hände. Sie las, und ihr blieb der Bissen im Halse stecken. Ihr Gesicht verfärbte sich, und ich fürchtete, sie würde ersticken. Hilfreich wollte ich zu ihr eilen, aber da stand schon Helmut Hagedorn an ihrer Seite. Als der ihr besorgt auf den Rücken klatschte, klatschte sie ihm ins Gesicht. Dann folgte ein wahres Trommelfeuer an Faustschlägen und hysterischen Wortausbrüchen. Von diesen verstand ich immer nur Bruchstücke wie „Du elender Mistkerl! – Du Hurenbock! – Willst mir ein Kind andrehen!“

Frohen Sinnes sah ich, wie Helmut geprügelt, beschimpft und gedemütigt von dannen zog – nicht wissend, warum ihm so geschehen war. Mein Herz wollte vor Freude aus der Brust hüpfen, denn nun konnte ich die frei gewordene Stelle an Ritas Seite besetzen Der günstige Augenblick gab mir nun auch den Mut, mich ihr ohne Umschweife zu nähern. Ich sei zufälliger Beobachter dieser Auseinandersetzung gewesen und wolle nur wissen, ob ich dem Hagedorn auch eins aufs Maul geben solle, weil der ein ganz fieser Lüstling sei.

Diese entschlossene Mannhaftigkeit rührte die Schöne zutiefst, und sie fiel mir innig um den Hals, als wären wir schon verlobt. Während sie ohn Unterlass schluchzte, jubelte ich innerlich.

Nachdem meine linke Schulter durchnässt war, senkte Rita ihr Köpfchen auf die rechte Schulter. Schließlich hatte sie die Tränendrüsen leergeheult und gab mir zu verstehen, dass ich sie nach Hause begleiten solle. Sie fürchte sich vor dem Ungeheuer Hagedorn, der mit einem schaurigen Gedicht ihre reine Mädchenseele verunreinigen wollte. Ich dachte an den Traumdrachen und auch daran, dass Träume manchmal doch in Erfüllung gehen.

Alles Folgende kann ich kurz fassen. Aus dieser angebahnten Freundschaft wurde Liebe. Wir liebten uns nicht nur vom Gefühl her, sondern auch in ihrem Bett. Der Umgang mit Rita nahm mich so in Anspruch, dass ich zu geistiger Tätigkeit nicht mehr imstande war. Als mein Abschlusszeugnis der 11. Klasse weit hinter meinen Erwartungen lag , zogen mich meine Eltern vom weiteren Bildungsgang zurück. Ich war sehr erleichtert – meine Lehrer auch.

Mit diesem schmählichen Abgang von der EOS entfernte sich auch Rita von mir, denn sie meinte, dass sie mit einem Schwachkopf keinen gemeinsamen Lebensweg beschreiten könne. Schließlich käme es auch dazu, dass die gemeinsam gezeugten Kinder bekloppt seien.

Meine Abschiedshaltung glich der des Helmut Hagedorn. Nur hatte ich meinen Kopf noch tiefer zwischen die Schultern gezogen.

 

Ortsparteisekretär Willi Stoffel vis-à-vis

Die im Saal Versammelten erweckten den Eindruck, als schliefen sie bereits. Weil es deshalb nichts zu protokollieren gab, kehrte ich zu meinen Erinnerungen zurück.

Die Trennung von der Schule bedrückte mich nicht so sehr wie die von Rita. Ich wurde das Gefühl nicht los, ein Versager auf allen Gebieten zu sein. Deshalb war ich nicht zu bewegen, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Ich fürchtete weitere Blamagen. Weil meine besorgten Eltern mich nicht aufrichten konnten, wandten sie sich hilfesuchend an Bürgermeister Traugott Hampel. Der wollte edel, hilfreich und gut sein und bot an, mich als persönlichen Sekretär in seine Dienste zu nehmen. Er vermute bei mir eine geringe Restintelligenz, die ausreichend sei, Gemeindeschriftkram zu erledigen. In einer höheren Entwicklungsstufe könnte ich dann zum Gemeindeboten aufsteigen, der wichtige Mitteilungen des Bürgermeisters im Dorf ausruft. Das würde mein Selbstbewusstsein stärken und mich nach und nach vergessen zu lassen, dass ich eigentlich eine verkrachte Existenz sei.

So geriet ich in die Hände des Bürgermeisters. Der ließ mich alle Arbeiten tätigen, die ihm zuwider waren. Vorrangig waren es solche, die sich mit Schriftverkehr befassten und den dazugehörigen umständlichen Amtsdeutsch-Formulierungen. Gewürzt wurde diese Amtsschimmelprosa durch überflüssige Floskeln zur Weitsicht der Partei, zur unverbrüchlichen Freundschaft mit dem Sowjetvolk oder zur Sieghaftigkeit des Sozialismus.

Auch im Gemeindeamt hatte ich meinen gesonderten Platz – ich saß im Vorzimmer des Chefs. Das war gleichzeitig der Durchgangsraum für diejenigen, die bei ihm vorsprechen wollten. Ich besaß somit auch die Funktion einer Einlassdame, denn nicht wenige, die an mir vorbeistrebten, hielten vorher inne, um sich nach dem Gemütszustand Hampels zu erkundigen. Es geschah auch des öfteren, dass Einwohner bereits bei mir wichtige Auskünfte einholten. Wenn sie mit diesen mehr als zufrieden waren, dann setzten sie sich zu mir, um zwanglos zu plaudern. So wurde ich zu einer Art Vertrauensperson, der man sich auch in privatesten Angelegenheiten anvertraute. Bald war ich über alles informiert, was sich unter Würdas Dächern zwischen Bett- und Tischkante abspielte.

An meinem kleinen bescheidenen Schreibtisch, der links neben der Eingangstür des Vorzimmers stand, erhöhte sich mein Bildungsstand gewaltig. Bald wähnte ich mich klüger als ein EOS-Abiturient. Helmut Hagedorn, der mich in meinem Wirkungsbereich einmal aufsuchte, äußerte abfällig, dass ich doch nur ein Schreibstubenhengst sei. Daraufhin wieherte ich laut, und er flüchtete, sich den rechten Zeigefinger an die Stirn haltend.

Das Vorzimmer besetzte noch eine Person. Schräg gegenüber von meinem Platz hatte Willi Stoffel seinen Schreibtisch stehen, ein pompöses antiquares Stück, aus dem Gutshause derer von Hummelshausen stammend. Hinter diesem verschnörkelten Junkermöbel bereitete der Parteisekretär die ideologische Beeinflussung der Ortsbevölkerung vor. Manchmal war er jedoch nicht zugegen. Dann trieb er sich wieder auf irgendeiner Parteikonferenz herum. Auch in diesen Zeiten seiner Abwesenheit war er mir allgegenwärtig, denn an der Wand hinter seinem Schreibtisch prangten zwei aufdringliche Losungen. Die erste: Überholen ohne einzuholen! Gleich daneben grinste der gerahmte Ulbricht aus seinem Spitzbart. Die zweite: Der Kapitalismus steht kurz vor dem Abgrund – wir sind einen Schritt weiter! Auch neben dieser Schlagzeile hing ein Bild. Es zeigte irgendein Gebirgsmassiv der Alpen mit der Unterschrift Alpenglühen.

Als ein Ortsgenosse es einmal wagte, Zweifel am Platz dieses Ölgemäldes zu äußern, fuhr Stoffel ihn an, dass es veranschauliche, wie tief das zum Absterben verurteilte kapitalistische System fallen werde.

Weil es ihm an weiteren Losungen fehlte, hatte er die Bildergalerie vervollständigt. Direkt über der Eingangstür hingen vier gerahmte Köpfe mit unterschiedlich langen Bärten. Jeder kannte sie: Marx, Egels, Lenin, Stalin. Ende der 50er Jahre holte Stoffel den vierten von der Wand. Als ich das zum ersten Mal wahrnahm, sang ich vor mich hin: „Zehn kleine Negerlein …“

Stoffel zürnte, ich solle meine defätistischen Anspielungen unterlassen. Zu Adolfs Zeiten wäre ich dafür vor den Volksgerichtshof gekommen. Er räusperte sich: Nur zum Vergleich, damit ich spüre, wie human jetzt mit Menschen umgegangen werde, die eine Lippe riskieren. Weil ich Stoffels Laune wieder in Ordnung bringen wollte, sagte ich ihm, dass ich größte Bewunderung für seine politisch-ideologische Wortführung empfinde.

So zufrieden mit mir war Genosse Stoffel aber nicht immer. Es wurmte ihn, dass er mich noch nicht von der Notwendigkeit der SED-Mitgliedschaft überzeugt hatte. Seit Wochen und Monaten bastelte er an meiner Bewusstseinsänderung ohne jeden Erfolg. Der Grund hierfür lag weniger in meiner eigenen Meinungsbildung als vielmehr in der sturen Absicht meiner jüngst erworbenen Schwiegermutter. Gemeinsam mit ihrer Tochter drang sie in mich, diesem Kommunistenverein die kalte Schulter zu zeigen. Die bessere Lösung wäre, wenn ich der NDPD (National Demokratischen Partei Deutschlands) beiträte. Diese Partei würde mir nicht nur wohltuenden Gesinnungsfrieden geben, sondern auch – dabei funkelte sie mich unmissverständlich an – hinreichend häuslichen Frieden.

Was sollte ich tun? Ich liebte meine Frau und sie mich. Schwiegermutter liebte ich nicht und sie mich ebenso wenig. Um des erwähnten lieben Friedens willens ließ ich beide Frauen im Glauben, ich sei dem Gedankengut der NDPD sehr zugetan, doch müsse in mir der endgültige Entschluss noch reifen. So reifte ich also spärlich und wurde deshalb zum Spielball ideologischer Gewalten. Spielball ist weniger treffend, mehr schon Magdeburger Halbkugeln.

Willi Stoffel brachte als ideologisches Argument vor, dass die NDPD die verkrüppelte Version der NSDAP sei. Als ich das Schwiegermutter hinterbrachte, hätte sie mich beinahe in die Abgründe des Junggesellendaseins zurückgejagt. Mich rettete nur die eiligste Willensbekundung, nun doch der NDPD beizutreten. Wie freuten sich die Parteifreunde über den jugendlichen Zuwachs.

Überhaupt nicht erfreut war Willi Stoffel, der beklagte, dass ich schutzloses Opfer der braunen Horde geworden sei. Irgendwann würde ich es bitter bereuen, der einzig wahren Partei die kalte Schulter gezeigt zu haben. Wenn es nach ihm ginge, würde er alle Splitterparteien der DDR zum Teufel jagen und nur der SED die einzige Machtfülle gestatten. Plötzlich frohlockte er, mich schadenfroh ansehend, dass die Splittergruppen ohnehin nichts zu sagen hätten.

Weil ich ihm nicht in die Fänge geraten war, fiel Willi nun über all die anderen Leute her, die durchs Vorzimmer gingen. Ich gewann den Eindruck, dass dieser Raum zum Politbüro mutierte. Zwei Beispiele hierfür:

Als eines glatten Wintertages Emma Zunke vor dem Gemeindeamt ausgerutscht war und sich vergeblich bemühte, ihren umfangreichen Körper in die Senkrechte zu bekommen, half ihr dabei der zufällig herbeigekommene Willi Stoffel. Nach ihrer geglückten Auferstehung schleppte er Emma ins Vorzimmer und ließ sie dort auf einen Stuhl plumpsen. Statt sich um ihr weiteres Wohlbefinden zu bemühen, fragte er, ob sie aus Dankbarkeit bereit wäre, Kandidat der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu werden. Emma, für ihre derbe Wortwahl bekannt, raunzte: „Ich bin doch uffen Arsch jefalln und nich uffen Kopp!“

Willi merkte, dass mit bloßer Fragestellung der parteilosen Masse nicht beizukommen war. Er sann auf eine andere List. Eines schönen Frühlingstages lagen auf seinem Schreibtisch viele rote Luftballons in schlaffem Zustand. Wer vorbei ging, durfte sich bedienen, ohne von Stoffel belästigt zu werden. Als noch am gleichen Tage der Vorrat aufgebraucht war, zog Stoffel, begleitet von einem hinterhältigen Grinsen, einen letzten Ballon aus der Schublade. Als er diesen aufgeblasen hatte, prangte auf der Gummihaut in großen weißen Lettern: Juchhe, Juchhe, ich geh in die SED!

Stoffel musste in den nächsten Tagen erstaunt feststellen, dass sich in seine Werbeliste niemand einschrieb. Als er am nächstfolgenden Wochenende im Konsum nach Schnitzelfleisch anstand, entnahm er der Unterhaltung zweier Frauen, dass es in seiner Parteizentrale etwas sehr Nützliches umsonst gegeben habe: Rote Kondome mit weißer Aufschrift.

 

Schwiegermutter, Ehefrau und ich

Ich schaute zum Präsidiumstisch und sah, dass Stoffel immer noch im Kommunistischen Manifest blätterte. Auch die Menge verharrte noch in Schweigen. Entschlossen riss ich meinen rechten Arm empor und schnippte mit Daumen und Zeigefinger. Ich wollte auf mich aufmerksam machen und den alle befreienden Satz rufen: „Ich will die Ortschronik schreiben!“

Traugott Hampel nahm mit Missfallen wahr, wie ich mich in eine Diskussion einmischen wollte, die gar keine war. Mit barscher Handbewegung brachte er mich zum Schweigen, noch ehe ich ein Wort gesagt hatte. Eingeschüchtert ließ ich meinen Arm sinken. Mir wurde die Verhaltensregel bewusst, die er mir am ersten Tage meines Bürodienstes eingebläut hatte. Ein Sekretär ist nicht nur zu größter Verschwiegenheit im Amt verpflichtet, sondern hat auch den Mund zu halten, wenn die Bevölkerung das Wort hat. Ich sei eine neutrale Person und müsse mich deshalb aus allen öffentlichen Angelegenheiten heraushalten.

Mich überkam wieder die Erkenntnis, dass ich aus Hampels Sicht kein Lebewesen bin, sondern nur ein Werkzeug in seiner Gewalt. Vielleicht spielte beim ihm auch die Überheblichkeit gegenüber Flüchtlingen und Umsiedlern eine Rolle, die er immer wieder dann an den Tag legte, wenn er sich in die Gunst der alteingesessenen Würdaer bringen wollte. Im Verlauf weiterer Nachkriegsjahre verpufften seine diesbezüglichen Anstrengungen, denn auch in dieses Dorf war anderes Blut eingeflossen bzw. hatte sich mit dem vorhandenen vermischt. Solcher Mix vollzog sich auch zwischen mir und meiner Frau.

Ich war mit meinen Eltern von weit her gekommen – aus dem Riesengebirge. Bestimmt wären wir dort geblieben, wenn es nicht zur dritten Völkerwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen wäre. Nun waren wir hier und froh, ein neues Zuhause gefunden zu haben. Wir jammerten nicht, wir bettelten nicht, wir schämten uns auch nicht, an den Arsch der Welt geraten zu sein. Wir beeilten uns, schnell gute Freunde und verständnisvolle Menschen zu finden. Das gelang uns recht mühelos.

Mir war Würda in den zurückliegenden Jahren so sehr ans Herz gewachsen, dass es mich drängte, über dieses Dorf und seine unverwechselbaren Menschen ein Buch zu schreiben. Ich wusste nur nicht, welchen Anfang es nehmen sollte. Aller Anfang ist schwer. Auch in der Schriftstellerei.

Mitten hinein in diese umherirrenden Überlegungen platzte die öffentliche Einwohnerversammlung, die meinem Ansinnen eine gerade Richtung hätte geben können. Da aber war Bürgermeister Traugott Hampel, der alles, was ich in meiner Vorstellung aufgebaut hatte, mit einer einzigen Handbewegung zum Einsturz brachte. Mich überkam die gleiche Niedergeschlagenheit, die ich nach der Trennung von Rita empfunden hatte. Weil ich diesen Gemütszustand nur schlecht vor meiner Frau verbergen konnte, musste ich mich ihr schließlich anvertrauen. Sie meinte kurz und bündig: „Kümmere dich lieber um mich und meine Mutter!“

Damit war mir wieder ins Bewusstsein gerückt, dass sie ein Kind und ihre Mutter einen Enkelsohn wünschten. Mit einer Enkeltochter hätte sie sich auch zufrieden gegeben, aber ja nicht beide auf einmal, drohte sie. Weil ich fürchtete, Schwiegermutter würde uns in den nächsten Nächten belauschen, hielt ich mich von geschlechtlicher Vereinigung fern. Meine Gattin führte diese Enthaltsamkeit auf meinen depressiven Gemütszustand zurück. Sie konnte nicht begreifen, warum ich ein Buch schreiben wolle. Dieses Vorhaben sei ein Hirngespinst und letztlich eine brotlose Kunst. Nützlicher wäre, wenn ich nach Feierabend Geschirr abwasche, Staub wische oder im Garten umgrabe. Solche Tätigkeiten zeichneten einen treusorgenden Ehemann aus. Um ihre Vorstellungen noch eindringlicher zu machen, übergab sie für weitere Worte an ihre Mutter. Die zog vielleicht vom Leder. Mich überkam das Gefühl, vor kurzem aus einer Besserungsanstalt entlassen zu sein und nun die Grundbegriffe zivilisierten Zusammenlebens erlernen zu müssen. Als sie sich jedoch der Aussagegrenze näherte, ich sei doch nur ein Zugelaufener und hätte hier gnädigst Unterkunft gefunden, da platzte mir der Kragen. Ich brüllte, dass ich dann ja die Freiheit besäße, dieses Haus sofort zu verlassen.

Meine Lautstärke veranlasste zunächst die Katze, dem Haus zu entfliehen. Die war kaum draußen, da sanken Schwiegermutter und Ehefrau ängstlich auf die Küchenbank. Furchtsam saßen sie aneinandergepresst. Sicherheitshalber schob meine Gattin das lange Brotmesser vom Küchentisch.

Ich war nun voll im Eifer und spürte, wie all die seelischen Belastungen der letzten Tage von mir fielen wie welkes Herbstlaub von den Bäumen. Weil ich mich so siegverheißend im Vormarsch befand, feuerte ich noch ein letztes Geschoss ab. Wenn niemandem mehr an meiner Person gelegen sei, dann könnte ich mich auch aus der NDPD verabschieden. Das war zuviel! Schwiegermutter erstarrte zur Salzsäule, und meine Gattin schaute verwirrt.

In dieser Haltung ließ ich beide Frauen zurück und folgte der Katze. Kaum hatte ich die Hoftür erreicht, da wurde ich von hinten umklammert. Schwiegermutter und Gattin zerrten an mir, als müssten sie mich vor weiteren verderblichen Schritten bewahren. Als ich mich im Wohnzimmer wiederfand, umfächelten mich freundliche Töne. Binnen weniger Minuten war meine Ehe wieder gekittet. Schwiegermutter gab sich lammfromm und bewirtete mich mit Kaffee und Kuchen, der eigentlich für andere Zwecke bestimmt war. Auch meine Frau zeigte sich in ausgesuchter Liebenswürdigkeit und träufelte mir Milch und Zucker in den Kaffee. Die Katze, die an diesem Friedensschluss teilhaben wollte, zwängte sich durch den Türspalt ins Zimmer und strich schmusend um meine Füße.

Für mich wurde in dieser gezähmten Situation das Goethewort dominierend: …Amboss oder Hammer sein. Ein Hammer wollte ich fortan sein. Das hier am Kaffeetisch zu sagen, vermied ich jedoch, weil Schwiegermutter mich sonst gebeten hätte, das Handwerkszeug aus dem Geräteschuppen zu holen. Im Haus gab es immer etwas zu reparieren.

Als ich den letzten Kuchenkrümel vom Teller gestippt hatte, gab ich zu verstehen, dass es meine unumstößliche Absicht sei (das Wort Wunsch tilgte ich), ein Buch über Würda zu schreiben. Nichts könne mich mehr davon abhalten. Und wenn mir alles gut gelinge, dann würde man von guten und weniger guten Menschen lesen können. Als Gemeindesekretär hätte ich so Manches erfahren.

Schwiegermutters Haltung veränderte sich ein weiters Mal. Wie beiläufig wischte sie mir ein Stäubchen vom Ärmel und säuselte, dass ich sicherlich auch das Wetzen böser Zungen vernommen hätte. Diesem Geräusch dürfte ich keinesfalls trauen. Es sei für mich auch gar nicht einfach, tatsächliche Hintergründe zu entdecken, weil ich doch erst einige Jährchen nach dem Krieg hier sesshaft geworden sei.

`Nachtigall, ick hör dir trapsen`! dachte ich sofort. Ich wollte die Gunst der Stunde zwar nicht ausnutzen, aber nutzen und sagte deshalb: „Die Spreu vom Weizen wird sich schon trennen lassen.“

Weil ich nun als Geheimnisträger galt, wurde ich während der nächsten Tage beargwöhnt, jedoch mit einer Liebenswürdigkeit, die einen Labilen leichtsinnig und schwach gemacht hätte. Mich beugt ihr nicht, war mein Entschluss. Goethes Hammer hielt ich fest umfasst, auch des Nachts, wenn meine Frau mit all ihrem Charme versuchte, mich wehrlos zu machen.

Die scheinbare Zwangssituation schien für beide Frauen immer fataler zu werden, denn sie machten alle möglichen verbalen Verrenkungen, um mich zu einer Äußerung zu bewegen. Schwiegermutter gab sich dabei am eifrigsten und zirpte: „Wäre es nicht möglich …“ oder „Es könnte doch sein …“ -

Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als am Schwarzen Brett - der öffentlichen Mitteilungsfläche für Gemeindenachrichten - zu lesen war, dass nach der ergebnislosen Einwohnerversammlung auch eine geschlossene Sitzung der Gemeindevertretung keine Einigung darüber erzielt hätte, wer die Ortschronik schreiben soll. Das sei jammerschade, weil unser Dorf nun dazu verdammt sei, irgendwann einmal in Vergessenheit zu geraten.

Als Schwiegermutter diesen Text gelesen hatte, meinte sie, dass das gar nicht tragisch sei, weil unser Ort ohnehin nicht sehr bedeutungsvoll sei. Dabei blickte sie mich fragend an, und ich antwortete entschlossen: „Nun denn, ans Werk! Dem Dorf muss Bedeutung gegeben werden!“

Im Grunde genommen war mir klar, dass ich eine gründliche Chronik nicht schreiben könnte, weil mir lokalhistorische Fakten nicht zur Verfügung standen. Die Schreibtischgespräche an meinem Arbeitsplatz konnten kaum dazu beitragen, ein gewichtiges Geschichtswerk über Würda zu erstellen. So bemächtigte sich meiner der Entschluss, die Finger vom Schreiben einer Ortschronik zu lassen. Was soll`s, sagte ich mir, Chroniken sind ohnehin nur fades, trockenes Geschreibsel. Von solchem hatte ich im Amt täglich zur Genüge. Ich wollte endlich einmal Freude am Formulieren haben, mein Geist sollte fröhlich von Einfall zu Einfall hüpfen und Würda in einem Buch verewigen, das auch solche Leser in heitere Stimmung versetzt, die selbst an Sonnentagen ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter machen. Dass Dichtung und Wahrheit um gegenseitige Vorherrschaft ringen müssten, war mein Entschluss schon vor dem ersten Federstrich. Die innere Einstellung hatte ich also gefunden und guckte deshalb entschlossen drein.

Schwiegermutter fiel mir um den Hals und herzte mich, wie seit der Eheschließung ihrer Tochter nicht mehr. Mir war nun klar, dass sie etwas zu verbergen hatte. Sie fürchtete mit größter Wahrscheinlichkeit, dass ich davon bereits wüsste. Ich wusste natürlich nichts.

Als ich mich aus ihrer liebevollen Umklammerung löste, standen ihr Tränen in den Augen. Dass sie echt waren, erkannte ich auch am leichten Zittern ihres Körpers. Meine Gattin eilte besorgt zu ihr und setzte sie in einen Sessel. Weil sich Schwiegermutter nicht mehr in der Gewalt hatte und zu stottern begann: „Er wird es schreiben! Er wird es schreiben!“, warf sich meine Ehehälfte vor ihr auf die Knie und flehte inständig: „So sage ihm doch, dass alles in guter Absicht geschah!“

Nach beiderseitigem Tränenfluss, der die schlimmsten Befürchtungen wohl weggeschwemmt hatte, bat mich Schwiegermutter an ihre Seite. Sie offenbarte mir nun etwas, was ich zwar nicht für möglich gehalten hätte, aber doch nicht so dramatisch empfand, als dass ich davon nicht hätte wissen dürfen.

Nachdem meine liebe Schwiegermama, denn augenblicklich hatten wir uns lieb gewonnen,

geendet hatte, fiel ich ihr mit Dankesworten um den Hals. Das verstand sie nun wieder nicht. Ich beteuerte nochmals, dass das, was sie mir eben mitgeteilt hatte, einem wertvollen Geschenk gleichkäme. Ich hätte von all dem nichts gewusst, nun sei es aber heraus, und sie müsste mir mehr dazu sagen. Für mein Buch, dessen Titel ich noch nicht gefunden hatte, sei das von allergrößtem Nutzen. Vertrauliche Angelegenheiten würde ich natürlich vertraulich behandeln.

Dieser Satz wirkte wie eine Erlösung. Schwiegermutter erhob sich aus dem Sessel und ging zum Schreibsekretär, an dem sie nun geheimnisvoll herumfummelte. Dass dieses alte Möbelstück ein Geheimfach besaß, wusste ich, nicht aber, wie es zu öffnen war. Nach wenigen Handgriffen entnahm sie diesem Sesam-öffne-dich ein … - Das verrate ich an späterer Stelle, weil meine Darlegungen auch spannungsgeladen sein sollen.

 

Vom schwierigen Anfang

Froh beschwingt und voller Elan zog ich mich in mein kleines Arbeitszimmer zurück, das eigentlich eine Bodenkammer war. Ich hatte sie mir etwas hergerichtet. Umgeben von allerlei nicht mehr gebrauchten Gerätschaften saß ich nun an einem von Holzwürmern bewohnten Tischchen direkt vor dem einzigen Fensterchen. Die frühe Abendsonne, die schon nahe dem Horizont stand, schickte einige Sonnenstrahlen los, die nachsehen sollten, was ich unter dem Dach juchhe wieder treibe. Sie hatten es nicht leicht, sich durch das dichte Laubwerk der alten Kastanie zu zwängen, die direkt vor dieser Fensterseite stand. Für mich war dieser Platz hier oben von auserlesener Romantik, vor allem dann, wenn ich mit mir allein war.

Das war ich in diesem Moment jedoch nicht lange, denn kaum hatte ich die Bleistiftspitze auf das erste Blatt Papier gesetzt, da schwebte meine Gemahlin herein und stellte eine Vase mit blühendem Klatschmohn und wunderbar blauen Kornblumen auf das Tischchen. Sie wusste, was ich liebe und mich inspiriert. Wie, um meinen Gedankenfluss zu beschleunigen, drückte sie mir ein zartes Küsschen auf die rechte Wange. Und wieder einmal entdeckte ich, dass ich mit einer wunderschönen Frau verheiratet bin. Weil sie meine Empfindungen wohl erraten hatte, schmatzte sie noch meine linke Wange. Nun war alles geschehen, was ich brauchte, um mich emphatisch an meine Dichtung zu wagen.

Dieser Schwung wurde jedoch durch das Vorhandensein meiner Gattin gedrosselt. Sie setzte sich auf eine alte Holzkiste gegenüber und schaute mir in die Augen, so wie sie es immer tat, wenn sie mich ins Gebet nehmen wollte.

„Es ist sehr erfreulich, dass du ein Buch schreiben willst. Vielleicht gelingt dir das auch. Aber denke schon bei den ersten Zeilen daran, dass du dich kurz fassen musst. Dein Schreibstil ist oftmals sehr weitschweifend und deshalb schwer verständlich. Deine früheren Liebesbriefe beweisen das. Oftmals habe ich sie nur bis zur Hälfte gelesen, weil ich dann eingeschlafen bin.“

Mich ärgerten ihre Worte. Noch hatte ich keine einzige Zeile geschrieben und schon wurde ich kritisiert. Wie ich ihrer Meinung nach denn beginnen solle, fragte ich.

„Kurz und knapp. Du könntest mit einem weisen Spruch beginnen, der dann ein bisschen verdeckt, was dir an dummen Sätzen einfällt. Etwa so: Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht um, er geht um den Kreis, dass niemand was weiß.“ Und weiter: „So wäre es sinnvoll, wenn du vom Plumpsack sofort auf einen anderen Sack überleitest, nämlich auf Torsten Sack. Er ist eine geachtete Person in unserem Ort, weil er mit seiner Spritze schon viel Zufriedenheit gebracht hat. Mit ihm bist du also ohne alle Umschweife mitten im Anfang. Zitiere doch einfach aus dem Weckelnheimer Rundblick, Ausgabe Nr. 15.“

Weil ich mich als einsichtiger Schriftsteller zeigen wollte, tat ich nach ihrem Geheiß und schrieb aus dem Amtsblatt für umliegende Gemeinden folgendes ab: Wieder einmal ist von einer aufopferungsvollen und mutigen Tat zu berichten. Torsten Sack, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr Würda, hat an der Spitze seiner Kameraden ein wahres Beispiel von Entschlossenheit gezeigt. Die Bäuerin Dora Klee hatte kürzlich einen Brand; er tat aber nichts, die alte Ziege konnte gerettet werden. Und nicht nur dieses Haustier verdankt seine Rettung vor dem Flammenmeer Torsten Sack, sondern auch anderes Getier, das in letzter Zeit durch seinen selbstlosen Einsatz bis zur Schlachtung am Leben bleiben konnte. Auch das ist ein lobenswerter Beitrag zur Aufrechterhaltung der Volksernährung.

Weil mir das stupide Abschreiben von Dorfkorrespondenzen zu dumm war, blieb ich bei der Findung eigener Worte. Hilfreich wurde mir dabei ein Ereignis, das die Würdaer in Aufregung versetzt hatte. Der Enkelsohn der längst verblichenen Freiherrschaft von Hummelshausen erschien im Dorf, um Kenntnis zu nehmen vom Zustand seines Erbteils. Er fuhr in einem schwarzen Mercedes vor und hatte in diesem seine gesamte Familie sitzen, nämlich seine Gemahlin, die er in Hamburg St. Pauli kennen gelernt hatte. Während die mit den pomadebeladenen Wimpern klimperte, hob Enkel-Freiherr von Hummelshausen die Nase, als wollte er mit dieser das Autoschiebedach öffnen. Dann aber hätte es ihm in die Nasenlöcher geregnet, denn ein unfreundliches Tief bewegte sich über Würda hinweg. Weil er sich die Salamander-Schuhe im Straßenmodder nicht beschmutzen wollte, fuhr er wieder davon, ohne auch nur eine welke Nelke auf die pompöse Grabstelle seiner Urgroßeltern und seiner Kleintante Agathe gelegt zu haben.

Dennoch hinterließ sein Mercedes Bewunderung bei Würdas Männern. Tagelang diskutierten sie über die Vorzüge dieser westdeutschen Nobelkarosse. Weil schließlich festgestellt wurde, dass man ein solches Auto nie und nimmer besitzen werde, erhob man den „Trabi“ zum besseren Fahrzeug. Der wäre fahrtüchtig auch dann, wenn man den gerissenen Keilriemen durch einen Perlonstrumpf der Ehefrau ersetzte. Der Verkehr bekäme dadurch neuen Antrieb.

 

Hugo Franski

Weil es unter der Würde des Herrn von Hummelshausen war, Würdaer in das Innere seines bestaunten Autos gucken zu lassen, lud Fahrschullehrer Franski zum Tag der Offenen Moskwitsch-Tür ein. Er war der Meinung, dass dieses Auto in allen seinen Eigenschaften der beste Wagen zwischen Wladiwostok und Würda sei. Um das zu beweisen, ließ er jeden, der das wollte, in das Wageninnere spähen. Jeder wusste natürlich, dass man einen Moskwitsch nicht zu kaufen bekam, und so war Hugo Franski der einzige im Ort, der ein solches Russen-Auto fuhr. Dass ihm das möglich war, verdankte er seinen Augen und Ohren, die er der Stasi zur Verfügung stellte.

Der Tag der Offenen Moskwitsch-Tür war ein voller Erfolg. Im Weckelnheimer Rundblick, Ausgabe Nr. 16, war zu lesen: Genosse Franski hatte wieder einmal die Tür seines Fahrschulautos für die breite Masse geöffnet. Das allgemeine Interesse war groß. Er ließ auch einige fahren.

Nicht geschrieben stand, dass am Kühlergrill des Moskwitsch am nächsten Morgen ein Mercedes-Stern prangte. Hugo erfuhr von dieser imperialistischen Schändung erst, als er im Hof der Stasi-Zentrale zu Hola vorgefahren war. Der Stasi-Oberst, der vom Fenster seines Verhörzimmers aus das neue Moskwitsch-Logo entdeckte, griff sofort zum Telephon und erkundigte sich bei den Genossen im Abhörraum, ob sowjetische Truppen in Stuttgart einmarschiert seien.

Als Franski wieder nach Hause fuhr, fehlte ihm zwar der Stern, nicht aber das Licht, das ihm aufgegangen war. Irgendein klassenfeindliches Subjekt hatte ihm dieses Symbol kapitalistischer Selbstgefälligkeit ans Auto geklemmt. Welcher Schweinehund versuchte ihn zu denunzieren?

Während seiner Schulungen zum 007 des Dorfes Würda war ihm auch der besonders wichtige Merksatz eingehämmert worden, dass Kinder und Betrunkene stets die Wahrheit sagen. Weil Otto Krugs Kneipe noch nicht geöffnet hatte, musste sich Franski wohl oder übel dem Kinderspielplatz zuwenden. Damit er von den im Sand spielenden Kleinen sofort freundlichst empfangen wurde, hatte er sich mit einem Plasteimerchen, einem Schippchen und drei kleinen Kuchenformen ausgerüstet. Wie er nun den Sand in den Förmchen festklatschte, dabei feinhörig auf die Unterhaltung der Kleinkinder achtend, hörte er, wie ihn ein Dreijähriger anbrabbelte: „Ontel Hudo, hatte widda Wanze an die Hut?“

Diese Fragestellung ärgerte Hugo, weil es für ihn nun sinnlos geworden war, weiter im Sand zu buddeln. Sein Gemüt heiterte sich auf, als er Emma Zunke über den Dorfanger watscheln sah. Vor sich schob sie einen Kinderwagen und hinten schleppte sie ihren ausgedehnten Hintern. Wenn man ihr folgte und zum Überholen ansetzte, musste man weit ausweichen, um nicht mit ihrem ausscherenden Gesäß zu kollidieren. Die Zunke war nicht nur füllig geraten, sondern auch ungeraten in ihrer Ausdrucksweise, wie der Leser bereits erfahren hat.

Hugo Franski fand das im Moment nicht hinderlich, im Gegenteil sogar, vielleicht ließe sich diesem Schandrachen eine nützliche Information entlocken. Mit der scherzhaften Bemerkung, ob sie für das Schieben eines Kinderwagens eine Fahrerlaubnis besitze, wollte er den Dialog entfachen.

Weil Emma heute nicht der Sinn nach Unterhaltung stand und schon gar nicht mit diesem Sandkasten-Sherlock Holmes, reagierte sie mit dem allseits bekannten „LmaA!“

Das aber wollte Hugo bestimmt nicht tun, weil er damit wertvolle Zeit vertan hätte. Eiligst notierte er in sein Notizbüchlein, dass Emma Zunke dem Einfluss des Klassenfeindes verfallen sei, weil sie sich nicht zur aktuell-politischen Lage geäußert habe.

Hugo war höchst unzufrieden. Während er das war, befand sich jenseits der innerdeutschen Grenze ein Mensch in noch schlimmerer Gemütsverfassung. Hummel von Hummelshausen wetterte über den moralischen Verfall der Lebewesen im Lande Ulbrichts. Seine Gemahlin, die welke Bordsteinschwalbe von St. Pauli, besänftigte. Doch half das nicht, denn Freiherr-Hummel konzentrierte sich in seinem Zorn auf die Würdaer. Die nämlich hätten ihm den Stern vom Mercedes gebrochen. Weder er noch Genosse Franski wussten, dass dies das Werk des Fahrschullehrersohnes war. Der wollte dem Vater eine innige Freude bereiten. Nun aber freute sich der Sohn des Stasi-Oberst in Hola, der den Stern unter seine Presley-Poster im Kinderzimmer gehängt hatte.

Hugo Franski wusste, dass ihm die Würdaer längst auf die Schliche gekommen waren. Er musste umdenken, nicht ideologisch, sondern im Umgang mit den Menschen. So kam er auf eine ganz abgefeimte Idee. Warum sollte er nicht einmal so tun, als hätte er sich dem Gedankengut des Klassenfeindes aus aufkommender Überzeugung genähert. Dabei wollte er sich den Anstrich eines ehrsamen Bürgers geben, denn ehrsam war in Würda nur der, der aus Unzufriedenheit stets meckerte.

Als Stasi-Hugo wieder einmal im Konsum Schlange stand, begann er so aus dem Nichts heraus zu stänkern, halblaut natürlich, damit sein Ärger glaubhaft wirke. Er raunzte, dass es eine Schände sei, in einer Republik leben zu müssen, in der es keine Bananen zu kaufen gebe. Wie wohltuend wäre es doch, wenn man in einer Bananen-Republik leben könnte. Nachdem er sich so geäußert hatte, schaute er listig um sich, doch niemand im Geschäft nahm Anstoß an seiner staatsfeindlichen Hetze. Nicht einmal Anna Stunk, die Meckerziege, ließ sich zu einem Disput hinreißen. Dabei wäre es doch ein Leichtes gewesen, bei ihr den Stachel der Unzufriedenheit noch tiefer zu bohren, denn diese eingetrocknete Vettel hechelte gern und oft mit den Dorftratschen.

Hugo, dem es nicht gelungen war, Unmut in die Schlange anstehender Menschen zu bringen, wandte sich nun direkt an eine Frau, die vor ihm stand. Von der versprach er sich mit Sicherheit Hilfeleistung für die Staatssicherheit, aus erster Hand, brandaktuell und unverbraucht. Wenn er sich Olga Zinkenbrink recht jovial näherte, dann könnte aus ihr eine wichtige Informantin werden. Die wichtigsten Voraussetzungen hierfür besaß sie bereits.

Olga Zinkenbrink hielt sich dafür zuständig, im Dorf den neuesten Klatsch zu verbreiten oder, wenn solcher nicht im Umlauf war, ihn zu erfinden. Es bereitete ihr tiefste innere Befriedigung, wenn aufgrund irgendwelcher Faschmitteilungen die Dorfbewohner in Angst und Schrecken versetzt wurden. Einmal hatte sie das Gerücht in die Welt gesetzt, es gebe bald keine Scheuerlappen mehr. Flugs hatten die Weiber beide Geschäfte des Ortes entlappt. Die unersättliche Irmhild Vogelbeer lagerte in ihrer Besenkammer 120 Stück. Als sie ihrem Mann vom Vorrat an Scheuerlappen berichtete, meinte der trocken: „Du bist bescheuert!“

Franski rieb sich die Hände. Mit der Zinkenbrink wäre was anzufangen. Der würde niemand zutrauen, dass sie sich als informelle Mitarbeiterin betätigt. Wie sollte man auch jemandem, der viel blödes Zeug redet und dumm wie Bohnenstroh ist, für den Überbringer hochwichtiger und hochgeheimer Nachrichten halten. Olga Zinkenbrink war also das Muster an Unverfänglichkeit.

Schon ihr Äußeres machte sichtbar, dass sie eher als Schlampe denn als Geheimnisträgerin gelten konnte. Die Schürze, die sie stets umgebunden hatte, war wohl ehemals weiß gewesen. Das konnte aber nur vage Vermutung sein, denn dieses Bauchlinnen glänzte in unterschiedlichsten Farben. Wer genauer guckte, wusste um die speckige Colorierung. Olga schnäuzte nicht ins Taschentuch; sie besaß keins. Sie wusch ihre schmutzigen Hände nicht unter Wasser, sondern rubbelte sie trocken etwas heller.

Wer so schmutzige Pfoten hat, dachte sich Franski, wird nicht auffällig, wenn er sie noch mehr beschmiert. Er steigerte sich in das widerwärtige Empfinden, das Hässliche schön zu finden. Bei dieser absurden Betrachtung kam er schließlich in Olgas Gesicht an. Ihr Blick glich der einer hinterhältigen Hexe, die unentwegt nach Hänsel und Gretel Ausschau hält. Warum sollten diese falschen und gierigen Augen nicht auch Unbescholtene bis aufs Gewissenskostüm entkleiden, frohlockte Hugo. Dann verharrte seine Betrachtung an Olgas Nase, die in Überlänge aus dem Gesicht stieß. Weil diese sehr spitz endete, frotzelte man, dass die Zinkenbrink ihren Zinken bequem in jeden Quark stecken könne, um in diesem herumzurühren. Die Schulkinder waren noch frecher und behaupteten, dass sie beim Zeitungslesen bequem Löcher ins Papier bohren könnte, um durch diese die Leute zu beobachten. Alles in allem, so Franski abschließend, ein Weib, mit dem sich zwar nicht Staat, aber Staatssicherheit machen ließe.

Wie er nun im Vollbewusstsein seiner gewonnenen Erkenntnis der Zinkenbrink vertraulich auf den schmächtigen Hintern tätschelte, fuhr diese wie von der Tarantel gestochen herum und plärrte: „Franski, du hinterhältiger Lustmolch!“

Hugo flüchtete ins Freie und noch einige Meter weiter. Als er sich eine Verschnaufpause gönnte, stand es für ihn fest, dass Olga der Sicherheit des Staates nicht dienlich sein konnte. Damit war für ihn diese Kaderfrage gelöst.

Nach Nächten unruhigen Schlafes wachte er endlich mit einem Entschluss auf, der bahnbrechend für die Findung subversiver Elemente sein konnte. Die fixe Idee, ein Transparent an der Wand des Gemeindeamtes anzubringen und es vor aller Öffentlichkeit anzuspucken, verwarf er recht schnell. Auch diese Arglist hätte kaum Glaubhaftigkeit erregt, zumal auf dem knallroten Spruchband zu lesen gewesen wäre: Wie der Kapitalismus auch geifert und speit – wir bleiben zu großen Taten bereit!

Mit seinem neuen Plan wollte Franski den Menschen nicht entgegentreten, sondern ihnen entgegen kommen. Nach ausgiebiger Unterredung mit Bürgermeister Hampel und Parteisekretär Stoffel war entschieden, eine Kommunikationszentrale (KKZ) einzurichten. So wurde das auch am Schwarzen Brett bekannt gegeben, mit der Bitte an die Bevölkerung, von dieser lebhaften Gebrauch zu machen.

Diese Aufforderung war noch keinen Tag alt, da ging beim Bürgermeister ein anonymer Brief ein, in dem gedroht wurde, dass die Einrichtung eines Doppel-KZs in Würda zu folgenschweren diplomatischen Schritten führen werde. Mit Resten faschistischen Gedankenguts müsse nun auch in dem Drecksnest Würda Schluss gemacht werden.

Hampel, Stoffel und Franski gaben sich daraufhin sehr verstört und änderten die Namensgebung in Begegnungsstätte (BGS). Hugo war zufrieden, weil er glaubte, mit BGS ließe sich der Stasi gut und diskret dienen. Aber auch der Schuss ging in die Hose, weil nun die Kreisleitung der SED mit aller Entschiedenheit festlegte, dass die Eröffnung einer BGS nicht in Frage komme. Man wisse in Würda wohl nicht, dass BGS die Abkürzung für Bundesgrenzschutz sei. Der 2. Sekretär der Kreisleitung ereiferte sich, man solle künftig RIAS hören, damit man genau wisse, was im kapitalistischen Westdeutschland vor sich geht.

Franski war nun mehr als ratlos. Mit irgendeinem günstigen Entschluss musste er sich beeilen, weil die Holasche Stasi-Zentrale festgestellt hatte, dass Würda im Wettbewerbs-Plan Wer bringt die meisten Staatsfeinde? das Schlusslicht bildete. Das ärgerte Hugo maßlos, denn im Falle eines Wettbewerbssieges wäre ihm eine zweiwöchige Auszeichnungsreise zu einem Feriendorf im wunderschönen Sibirien sicher gewesen. Weil er, vom gesunden Ehrgeiz getrieben, wenigstens einen Mittelplatz im Wettbewerbsfeld erreichen wollte, kam ihm die Idee, bei Emmi Pospischil vorzusprechen.

 

Emmi Pospischil

Diese Frau, eine Dame von der Ferse bis zur Zehe, leitete die örtliche Poststelle. Zwei Dingen frönte Emmi täglich, einmal dem langwierigen Frisieren vor dem Spiegel und zum anderen dem unerlaubten Öffnen von Briefen. Dabei war sie schon einige Male ertappt worden, und zwar von ihrem Sohn Dronthardt. Der wusste um die krankhafte Sucht seiner Mutter, das Postgeheimnis zu verletzen. Weil ihm das missfiel, ermahnte er sie immer wieder, das sein zu lassen. Doch Süchtige sind nur schwer zu bekehren.

Frau Pospischil hielt in unbeobachteten Momenten nach wie vor Briefe über den Wasserdampf des Topfes, in dem das Kaffeewasser kochte. Allerdings wurde nicht jeder Brief einer Visitation unterzogen, das wäre zu zeitaufwendig gewesen. Emmi nahm sich deshalb nur solche Briefe vor, auf denen Briefmarken der Deutschen Bundespost klebten. Aus deren Inhalten ließen sich aufschlussreiche West-Ost-Dialoge erkunden. Weil die Dame Pospischil nebenher auch noch Kreuzworträtsel löste, war es für sie ein Leichtes, verschlüsselte Briefzeilen zu deuten. Sie fasste das als Schulung ihres Gedächtnisses, weil sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, dass angestrengtes Gehirntraining jung erhalte. Und jung wollte sie bleiben.

Jährlich feierte sie ihren 40. Geburtstag und war jedem gram, der sich bei Glückwünschen in höherer Zahl bewegte. Zu einem ihres Vierzigsten, schon Jahre zurückliegend, hatte sie sich so aufgedonnert, als wollte sie bis zu Christi Geburt verjüngt wirken.

Weil Sohn Dronthardt die Selbstsucht seiner Mutter nicht länger ertragen konnte - er litt als kaum beachtetes Einzelkind sehr darunter -, verließ er bei Nacht und Nebel die Stätte seiner Geburt, Kindheit und Jugend. Das war freilich nicht der einzige Grund für seine Flucht ins deutsche Nachbarland. Innerlich völlig zerrissen hatte er die Absicht, sich mittels Strick um den Hals aus dem Diesseits zu entfernen. Ihn quälte unsäglicher Liebeskummer zu einer Frau, die seine Liebe niemals erwidert hätte. Die Person war Theodora Lieblich.

Dass sich Schüler in ihren Pubertätsregungen auch in ihre Lehrerin verlieben, ist normal. Unnormal war jedoch, dass Dronthardt Pospischil einer Frau nachträumte, die bereits doppelt so alt war wie er. Dennoch, sie war jung genug, noch nicht Vierzig, hübsch von Angesicht und verlockend in ihrer Statur. Doch das wissen wir bereits. Was wir noch nicht wissen ist, dass Dronthardt seinen Sehnsüchten literarische Gestalt gab. Abgesehen von einigen Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Versen versuchte er, mit inniger Schmachtprosa Theodora zu gefallen.

Als sie die ersten Erzeugnisse per Post zugestellt bekam und auch gelesen hatte, fragte sie den Briefträger, ob das von ihm sei. Der schüttelte verneinend sein schütteres Haupt, woraufhin die Lehrerin der festen Überzeugung war, dass ihr jemand in böser Absicht einen Fortsetzungsroman der Courths-Mahler andrehen wollte. Sie beschwerte sich deshalb bei der Poststelle in erster Instanz und bekam von Emmi Pospischil die Mitteilung, dass so ein Mist bei ihr ungelesen in den Papierkorb wandere.

Weil Dronthardt sehr bald merkte, dass seine in Tinte gefassten Sehnsüchte die Empfängerin kalt ließen, gab er sich in knallharter realistischer Dorfprosa. Er gründete den Zirkel schreibender Schüler, zu dessen Vorsitzenden und dessen einzigem Mitglied er sich sogleich selbst berief. In dieser Funktion stellte er sich mit hochroten Wangen der Lieblich vor, die dann so lächelte, wie sie hieß. Nach einigen anerkennenden Worten zu seinem Ansinnen und einigen leichten Tadeln zum Ausdrucksstil war der junge Pospischil mit der Bemerkung entlassen, sich mit seinen dichtenden Mitstreitern weiterhin emsig zu bemühen. Sie könnten sich ja auch im Weckelnheimer Rundblick veröffentlichen.

Diese Herabwürdigung seines Schaffens brach Dronthardts Glauben an das Vorhandensein seelischer Regung bei der Lieblich und zugleich auch daran, dass die Würdaer Kuhbauern jemals die Eleganz seiner dichterischen Empfindungen mit Verstand wahrnehmen könnten.

Dronthardts Leidensweg endete wider Erwarten nicht mit dem Strick um den Hals, sondern mit einer Fahrkarte der Reichsbahn in der Tasche. Im Interzonenzug fuhr er bis Bielefeld. Von dort schrieb er seiner wenig geliebten Mutter eine einzige Ansichtskarte mit der Grußformel: Und sehen wir uns nicht in Bielefeld, dann sicherlich in einer anderen Welt.

So entschlossen war Dronthardt also von seiner Mutter gegangen. Seine Dichtungen hinterließ er als Nachlass seiner Jugendgespielin, die nun meine Gattin ist. Nach dem Fortgang ihres Sohnes gab sich Emmi Pospischil untröstlich. Vom heimlichen Öffnen gewisser Briefe konnte sie aber dennoch nicht lassen. Sie redete sich ein, dass ihr das über den Schmerz hinweg helfe.

Hugo Franski war damals schon am Befinden Emmis sehr interessiert, immer in der Absicht, von ihren Kontakten zu Bielefeld mehr zu erfahren. Als er schließlich rigoros mitgeteilt bekam, dass zwischen Würda und Bielefeld nichts weiter als Luft sei, zog er sich zurück.

Nun, nach einigen vergangenen Jahren, besann sich Hugo wieder auf diese Frau, die kürzlich ihren 41. Geburtstag begangen hatte. So weit voraus hatte sie sich schon gewagt. An höherer Stelle trug man sich allerdings mit dem Gedanken, Frau Pospischil in den Ruhestand zu schicken, weil sie immer öfter vergaß, Briefe abzustempeln. Weil sich eine andere Postangestellte aber nicht finden ließ, beließ man sie vorerst noch im Amt.

Diese Situation nutzte Franski und wollte sich bei der alt und zittrig gewordenen Christel von der Post ins rechte Verständnis rücken. Dass sie jahrelang unerlaubt Briefe geöffnet hatte, wusste er nicht, dass sie dazu aber nun fähig sein würde, wäre ihrem altersschwachen Unverstand zuzutrauen. Hugo wollte das schon geschickt in die Wege leiten.

Als er mit tückischen Hintergedanken vor Emmi hingetreten war, gab er ihr zu verstehen, dass es an der Zeit sei, die Poststelle in eine Agentur umzuwandeln. Dieser Begriff schien ihm angemessen, die betagte Dame in Gewissensnöte zu bringen. Und tatsächlich, es klappte, und Emmi kippte fast aus den Latschen. Aufgrund ihres Alters war sie schon sehr begriffsstutzig geworden. Kaum hatte sie Franskis Ansinnen vernommen, entfuhr ihr ein spitzer Aufschrei. Sie flehte ihn an, ihr keine Agenten ins Haus zu schicken.

Franski freute dieser erste Teilerfolg seines miesen Tricks. Um die Pospischil noch mehr in Bedrängnis zu bringen, log er, dass sich für sie auch schon der sowjetische Geheimdienst interessiere.

„Bei meiner Seel`“, rief sie zu Tode erschrocken, „ich habe doch immer regelmäßig die Beiträge für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft bezahlt. Außerdem“, und dabei deutete sie mit zitterndem Finger auf einen helleren Fleck an der schon reichlich vergilbten Wand, „hat da immer der Parteifreund Stalin gehangen. Er hatte die gleichen Maße wie der Führer, der vorher dort hing.“

Emmi sackte kraftlos auf den einzigen Stuhl im Raum und begann mit dünner Stimme das russische Volkslied Kalinka zu singen. Dabei wiegte sie ihren Kopf hin und her, wie sie es auch im Dorfchor getan hatte, wenn dieses Lied vor begeisterten Zuhörern gesungen wurde.

Sie erinnerte sich an einen besonders eindrucksvollen Auftritt im Großen Saal. Der war festlich geschmückt, und auch die Menschen, die zahlreich erschienen waren, hatten sich in beste Schale gehüllt. Minna Mampel hatte zur Feier des Tages den Hut aufgesetzt, den sie zu besonderen Anlässen stets trug. Er war ein Erbstück der Großmutter und lockte, wenn er im Freien getragen wurde, Insekten an, weil er mit künstlichem Obst besetzt war. Da ihr Kopfschmuck die Sicht des hinter ihr sitzenden Herrmann Ackermann versperrte, raunte der nach vorn: „Nimm schleunigst deinen Obstgarten vom Schädel!“

Diese kleine Unfreundlichkeit blieb die einzige im dicht gefüllten Saal. Jeder hatte sich mit bester Laune versehen. Die sieben aufrechten Genossen hatten das Parteiabzeichen auf Hochglanz poliert. Drei von ihnen hatten neben dieses noch ein Aktivistenabzeichen gesteckt.

Weil Genosse Oskar Müller ein solches nicht besaß, würdigte er sich selbst mit einer Medaille, die ihm sein zwölfjähriger Sohn geliehen hatte, nämlich der Pionierehrennadel für vorbildliche Leistungen bei der Sammlung von Buntmetall.

Elsbeth Hampel, die Frau des Bürgermeisters, wollte auch hier wieder die Herausragende sein. Damit das deutlich wurde, hatte sie ihren fülligen Busen hochgeschnallt und in eine hautenge Bluse gepresst. Damit ihre Kurven bewundert wurden, hatte sie unmittelbar über diese je einen fünfzackigen Blechstern geheftet. Bei genauerem Hinsehen waren in der Mitte derselben güldene Werkzeuge zu erkennen, die sich kreuzten: Hammer und Sichel. Niemand wusste, woher Elsbeth diese Busenorden hatte, aber jeder ahnte, dass es Abzeichen von russischen Soldatenmützen waren.

Vor der Bühne war ein festlich dekoriertes Präsidium aufgebaut, an dem wie üblich Stoffel und Hampel Platz genommen hatten. Aber sie waren nicht die einzigen, die hier saßen. Ein ungewohnter Anblick, denn zwischen ihnen saßen zwei ältere Herren in russischer Militäruniform. Jeder im Saal wusste, was es mit diesen Gästen auf sich hatte, aber niemand konnte deuten, weshalb auch Heinrich Kugler neben diese Persönlichkeiten platziert war. Er blickte jedenfalls so, als wäre er die wichtigste Person des heutigen Tages.

Hinter dem Präsidium, erhöht auf der Bühne, stand der Chor Würdas. Emmi Pospischils Herz klopfte bis zum Hals, denn gleich würde sie ihren besonderen Auftritt haben. Der Chor würde einige russische Volkslieder zu Gehör bringen. Bei einer Weise hatte Emmi als Solosängerin zu agieren. Sie nahm sich vor, Kalinka so russisch zu singen, dass die Anwesenden im Saal das Gefühl bekämen, an einem Lagerfeuer in der Taiga sitzen.

Traugott Hampel erhob sich von seinem Platz, und augenblicklich trat feierliche Stille ein. Die Würdaer wussten sich zu besonderen Anlässen zu benehmen. Auch Franz Apel wusste es und senkte seine Augenlider zum Mittagsschläfchen. Er war ein geübter Versammlungsteilnehmer. Im rechten Moment würde er wieder aufwachen. Vorerst entging ihm nichts Wichtiges, denn der Bürgermeister würde eine Rede reden, die sich im Wortlaut kaum von anderen Festreden unterschied. Einzig und allein das Datum war dem Anlass angepasst. Und das verfrachtete Traugott Hampel gleich an den Beginn seiner Rede, um dann hemmungslos vom Blatt abzulesen.

Die Würdaer erfuhren, dass heute der 8. Mai war, der als Tag der Befreiung jedes Jahr in Stadt und Land gewürdigt wurde. Selbst für unser Dorf hatte dieser Maientag seine besondere Bedeutung, denn auch aus Würda hatten die Sowjets den Faschismus gefegt. Liebevoll schaute Hampel auf die beiden Uniformierten, und den Saal durchtoste lang anhaltender Beifall, auch in Zufriedenheit, dass der Bürgermeister heute weniger Worte verloren hatte.

Darin sollte sich die Masse aber getäuscht haben, denn Traugott setzte seine Rede fort. Mit stolzem Blick auf die beiden sowjetischen Genossen sagte er, dass sie im April 1945 am Sturm auf Würda teilgenommen hatten. Wie sich ältere Einwohner wohl entsinnen könnten, war um die Stärkefabrik (hier war jahrelang aus Kartoffeln Wäschestärke gewonnen worden) ein erbitterter Kampf entbrannt. Die älteren Einwohner nickten, denn sie konnten sich erinnern, dass ein Trupp russischer Soldaten in das kleine Fabrikgebäude eingedrungen war, um die Restbestände an Kartoffelschnaps auszusaufen, die die Amis, die vorher hier waren, nicht restlos getilgt hatten.

In den letzten Kriegswochen war in der Stärkefabrik Schnaps gebrannt worden, der den Glauben an den Endsieg bis in die letzte Ader dringen lassen sollte. So geschah es, dass tage- und nächtelang betrunkene Männer verschiedenen Alters durch Würdas Gassen zogen und Parolen brüllten, die wiederzugeben das Gesetz verbietet. Hitlerjunge Rübesam, voll bis zur Unterlippe, grölte: „Ich mache jeden Russen zur Sau!“ – Dann machte er sich in die Hose. Wenn andernorts die weiße Fahne gehisst wurde, in Würda war sie blau – die Schnapsfahne.

Jewgenij und Aljoscha, die beiden sowjetischen Gäste, lächelten still in sich hinein. Sie erinnerten sich noch genau, wie leicht dieser Sieg hier errungen war.

Traugott Hampel bat Theodora Lieblich und ihren Chor, einige Liedchen zum Besten zu geben. Der Gesang war so wunderbar ergreifend, dass den beiden Russen die Tränen aus den Augen rannen. Der Gipfel alles Herzbewegenden war Emmi Pospischils Sologesang. Sie trällerte Kalinka so fehlerfrei und der Chor fiel so mächtig in den Refrain ein, dass niemand im Saal war, den es nicht vor Begeisterung vom Stuhl riss. Nur Franz Apel fiel zu Boden, weil ihn die nebensitzende Emma Zunke mit einer Gesäßhälfte umgestoßen hatte.

Als sich der Begeisterungssturm gelegt hatte, erhob sich Aljoscha und sprach in perfektem Russisch einige Sätze. Niemand verstand ein Wort, auch Traugott Hampel nicht. Dennoch dankte er wärmstens für die geäußerten Empfindungen, aus denen wieder einmal deutlich werde, wie tief verwurzelt der Gedanke deutsch-sowjetischer Freundschaft ist. Dann schmetterte er die einzige Vokabel, die er beherrschte, in die Massen. Vielfach scholl das Drushba! (Freundschaft!) zurück.

Bevor das gesellige Vergnügen mit Tanz beginne, so der Bürgermeister, werde noch ein Erlebnisbericht Heinrich Kuglers zu vernehmen sein. Ihn habe man im Präsidium Platz nehmen lassen, weil er die deutsch-sowjetische Freundschaft hautnah erlebt hätte, und zwar noch während des II. Weltkrieges, als sich deutsche und russische Klingen heftig kreuzten.

 

Heinrich Kuglers Bericht

Kugler hob seinen schmächtigen Hintern vom Stuhl, stützte beide Hände auf den mit rotem Fahnentuch bespannten Präsidiumstisch und gab so die Haltung eines Mannes ab, der lang und breit referieren wolle. Die Vergewaltigung der zuhörenden Ohren nahm nun wie folgt ihren Verlauf.

„Hört mal zu, ihr Zuhörer! Wie ihr wisst, war ich im Weltkrieg Soldat und dann Kriegsgefangener. Das kam so. Ich gehörte zu einer Truppe, die Partisanen verfolgte. Irgendwo in der Ukraine durchkämmten wir ein Waldstück. Ich ließ meine Kameraden vorausgehen, weil ich mal pinkeln musste. Als ich damit fertig war und weiterpirschen wollte, rief es plötzlich: Stoi! – Hoi, dachte ich, wo kommt der denn her? Es war ein Russe in Zivil, also ein Partisan. Der hielt mir seine Pistole unter die Nase und quasselte lauter russisches Zeug. Nur ein Wort Deutsch konnte er sagen, und das verstand ich sofort. Es lautete: Faschist. Ich konterte und sagte Bolschewist. Er grinste und knallte mir eins auf die Rübe. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem Gefangenenlager. Weil ich mich ordentlich führte und fleißig Kastenbrot und Machorkatabak schmuggelte, war ich bei den Sowjets bald so eine Art Vertrauensperson. Das waren meine ersten Ansätze zur deutsch-sowjetischen Freundschaft.“

An dieser Stelle brach Genosse Oskar Müller in frenetischen Beifall aus. Jeder sollte sehen und hören, wie aufrichtig er sich als Genosse zu benehmen wusste. Alle schauten zu ihm, und Emma Zunke kommentierte: „Der hat sie doch nicht alle!“

„Weil ich mich so geschickt beim Warenumsatz anstellte, ernannten mich die Sowjets zum Verwalter im Magazin“, fuhr Kugler fort. „Das Magazin war der Umschlagplatz für Waren aller Art. In ihm konnte ich immer ein paar Pullen Wodka beiseite schaffen, mit denen ich dann größere Geschäfte abwickelte. Die Offiziere waren zu mir lieb und nett. Beinahe hätte ich vergessen, dass ich ein Deutscher war. Die wichtigsten russischen Wörter konnte ich bald auswendig. Ich arbeitete mich immer höher. Schließlich war ich ständiger Gast im Offizierskasino als Produktvermittler. Meine Fähigkeiten wurden von allen anerkannt.

Als die Russen gen Berlin marschierten und es so aussah, als würde das Tausendjährige Reich nur noch ein paar Wochen existieren, erschien im Lager eine Kommission. Die bestand aus lauter Parteioffizieren. In der Baracke des Lagerkommandanten ließen sie sich nieder. An zwei Tagen wurde eine Reihe von Kameraden verhört. Ich gehörte zu ihnen. Weil die Polit-Kommissare von meiner fleißigen Lagertätigkeit erfahren hatten, empfingen sie mich mit freundlichen Gesichtern. Der eine grinste genau so wie der Partisan, der mich gefangen genommen hatte. Ich dachte, gleich wird der dir eins auf die Birne geben. Doch das tat er nicht. Im Gegenteil. Der eine Kommissar bot mir eine Machorka-Zigarette an. Er hatte sie selbst gedreht und mit eigener Spucke festgeklebt Nun dampften wir wie die russische Schwarzmeerflotte.

Als die Bude so blau war, dass sich kaum einer mehr richtig sehen konnte, fing das Verhör an. Mir wurden verschiedene Fragen gestellt, die ich wahrheitsgemäß beantwortete. Einer wollte zum Beispiel wissen, wo ich geboren wurde. Ich antwortete: Im Bett! Ich solle mich genauer äußern, meinte der Uniformierte. Ich also genauer: In Deutschland! Dann fragte mich ein anderer, ob meine Eltern der Arbeiterklasse entstammen. Ich antwortete: Nein, die sind tot! Einer wollte es noch präziser wissen und fragte mich, ob ich ein begeisterter Nazi war. Ich antwortete: Ich nicht, aber mein Nachbar! So drang die Fragerei immer weiter in die Tiefe, und ich fürchtete schon, sie würden mich fragen, wann ich zum ersten Mal … - na, ihr wisst schon, was ich meine. Das haben sie mich aber nicht gefragt, und ich hätte das auch nicht genau beantworten können. In meinem Heimatdorf in Oberschlesien gab es zwei Mädchen, die liebestoll hinter mir her waren. Jede behauptete, ich hätte sie zuerst gebraucht. Sie beruhigten sich erst, als Beide zu gleicher Zeit einen dicken Bauch kriegten.“

Bürgermeister Hampel hielt es in diesem Moment für dringend geraten, Kuglers Rede zu beenden. Er dankte ihm im Namen aller Anwesenden für seinen eindrucksvollen Erlebnisbericht. Dann klatschte er kaum hörbar Beifall.

Noch ehe sich andere auf gleiche Weise beim Berichterstatter bedanken konnten, schlug der mit dünner Faust auf den Tisch und plärrte mit dünnem Stimmchen: „Alle mal herhören, ich bin noch nicht fertig! – Nachdem die Politniks aus dem Lager verschwunden waren, wurde ich in eine kleine Stadt überführt, die in der Nähe war. Dort sollte ich eine Abteilung leiten. Ich war nun Beauftragter für außerordentliche und wichtige Angelegenheiten bei der Überwindung von Versorgungsengpässen sowie der Bereitstellung notwendiger Grundnahrungsmittel. Das stand an meiner Tür und darunter mein Name Geinrich Kugler. Die Russen können das H nicht aussprechen. Ich hatte auch einen Dolmetscher. Das war ein Kerl, groß und mit mächtigen Muckis. Wenn der tief Luft holte, flog die Zimmertür zu. Er hieß Grigori und war ein prima Kumpel. Mit dem konnte man Pferde stehlen. Das taten wir auch, aber erst später, nachdem wir uns richtig kennen gelernt hatten. Vorher machten wir kleinere Geschäfte. In meiner Abteilung hatte ich nämlich den genauen Überblick.

Als wir eines Tages wieder mal einen tollen Produktionserfolg erzielt hatten“, Heinrich kicherte verhalten, „wir hatten einige Sack Zucker umgelagert, machten wir beide einen drauf. Das heißt, wir soffen dreieinhalb Flaschen Schnaps aus. Aus Freude darüber, dass wir so wirksam zusammenarbeiteten.“

Jetzt war es an Willi Stoffel, Heinrich Kugler in die Schranken zu weisen und ihn daran zu erinnern, dass man heute den Tag der Befreiung begehe und in dem Zusammenhang die freundschaftliche Verbundenheit mit dem Sowjetvolk unter seiner unfehlbaren Führung würdige.

„Habe ich was Falsches gesagt?“ fragte Kugler beleidigt. „Ich rede doch die ganze Zeit von deutsch-sowjetischer Freundschaft. Der Grigori war nicht nur mein Dolmetscher, sondern auch mein bester Freund. Ich sagte ihm, dass ich ihn richtig lieb habe. Das freute auch ihn dermaßen, dass er mich mit beiden Armen umringte. Mir blieb die Luft weg, und ich glaubte, er habe mir ein paar Rippen gebrochen. Als ich wieder normal atmen konnte, sagte ich: Grigori, du bist mein bester sowjetischer Freund! Das gefiel ihm so sehr, dass er den Rest der vierten Flasche allein aussoff. Leider war die schöne Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, bald vorbei, weil der Krieg vorbei war. Ein hoher Polit-Kommissar erschien eines Tages, dankte mir für meine aufopferungsvolle Arbeit zum Wohle des Sowjetvolkes und begann dann zu weinen. Das waren Freudentränen, denn er konnte nicht begreifen, dass ein Deutscher so edelmütig handeln konnte. Dann zog er einen Blechstern aus der Manteltasche und steckte ihn mir an den Jackenaufschlag. Ich war nun Held des kommunistischen Verteilungsprinzips.“

Die sieben Genossen im Saal klatschten aufrichtig Beifall, am lautesten Oskar Müller, der sich dabei wünschte, auch bald eine Auszeichnung zu erhalten.

„Und nun komme ich zum Schluss meiner Rede. Weil ich so gute Arbeit geleistet hatte, wurde ich ein paar Wochen ideologisch geschult. Dann schickte man mich in die Heimat, und zwar nach Berlin. Dort wurde ich Verantwortlicher zur Überwachung des Schwarzmarktunwesens. Das war für mich natürlich der richtige Posten. Hier konnte ich meine Erfahrungen ausspielen. Jeden Tag nahmen die Vopos, also die Volkspolizisten, einige Leute hopp. Wie gern hätte ich hier in Berlin meinen Freund Grigori dabei gehabt. Aber ich fand auch hier einen Kumpel. Ein richtiges Schlitzohr war der. Außerdem war er ein richtiger knallroter Kommunist, der überall seine Finger hineinstecken durfte, ohne befürchten zu müssen, dass man auf diese klopfte. Ich war aus eigener Erfahrung schon Einiges gewöhnt, aber der drehte vielleicht krumme Sachen. Obwohl wir niemals persönlich auf dem Schwarzmarkt waren, hatten wir immer volle Taschen. Erich, so hieß mein Kommunistenkumpel, verschob die besten Sachen an höhere Funktionäre. Das verstärkte unseren Einfluss. Bald hatten wir einen Schieberring aufgebaut, der auch noch staatlichen Schutz genoss.“

Hampel und Stoffel sprangen gleichzeitig auf, um Kugler endgültig das Wort zu entziehen. Die Menge aber rief: „Lasst ihn ausreden!“

Heinrich, das mit Genugtuung vernehmend: „Viel gibt es nicht mehr zu sagen. Durch irgendeinen dummen Zufall kam unser Tun ans Tageslicht. Ehe ich mich recht versah, hatte sich Erich in den amerikanischen Sektor abgesetzt. In Funktionärskreisen wurde dann tüchtig aufgeräumt. Einige landeten im Zuchthaus. Ich weiß gar nicht, ob die schon wieder draußen sind. Mir kam man nicht auf die Schliche, weil mich keiner verraten konnte. Die wichtigsten Leute waren bereits von der Bildfläche verschwunden. Wenn es anders gekommen wäre, hätte mich meine sowjetische Auszeichnung geschützt. Nun wird wohl jeder von euch verstehen, warum ich aus ehrlichem Herzen für die deutsch-sowjetische Freundschaft bin. Ich habe sie am eigenen Leibe erfahren.“

Die Anwesenden klatschten erneut Beifall. Hampel und Stoffel nicht; sie hätten Kugler am liebsten aufs Maul geklatscht. Beide schworen sich, diesen Mann nie wieder vor die Öffentlichkeit treten zu lassen. Der hingegen war vom Beifall so berauscht, dass er im Gefühlsüberschwang seine dürre Rechte zur Faust ballte und schrie: „Rot Front!“

Die Sprache verstanden auch die beiden Russen. Kraftvoll stießen sie ebenfalls die rechte Faust in die Luft und schmetterten: „Krassnui Front!“ Vielfach tönte es aus dem Saal zurück: „Krassnui Front!“ Man war stolz, russisch rufen zu können.

August Trautloff krähte mit altersschwacher Stimme: „Kratz mich blond! Es lebe der Kaiser!“

Die Menschen hatte freudige Erregung erfasst. Bürgermeister Traugott Hampel stellte zufrieden fest, dass die für den 8. Mai geplante Fröhlichkeit erreicht war. Um dem offiziellen Teil den würdigen Abschluss zu geben, dirigierte Theodora Lieblich den Chor noch einmal ans Lagerfeuer in die Taiga mit dem Lied Kalinka. Emmi Pospischil kam mit ihrem Sologesang wieder zu Ehren. Den Refrain sangen dann fast alle Anwesenden mit. Getanzt und gefeiert wurde bis weit nach Mitternacht. Es war ein schönes Fest.

 

Emmi Pospischil und Lotte Goldstein

Wie gern hätte Emmi in Erinnerungen weiter geschwelgt, doch brachte sie ein Klopfen an der Zimmertür jäh in die Gegenwart zurück. Kaum „Herein!“ gesagt stand Lotte Goldstein - meine spätere Schwiegermutter – im Raum. Die Frauen fielen sich um den Hals, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen und als wären sie durch große Entfernung voneinander getrennt gewesen. Lotte Goldstein wohnte jedoch nur einige Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Und mindestens zweimal in der Woche begehrten sich die beiden Freundinnen. Sie waren es seit Kindheitstagen. Auch deren spätere Eheschließung hatte ihre Freundschaftsbande nicht getrennt. Weil die Ehemänner aus dem Krieg nicht zurückkehrten, rückten Beide noch näher zusammen.

Es gab einen festgelegten Turnus gegenseitiger Hausbesuche. Sich auf der Straße zu treffen wie zwei Klatschweiber war ihnen zuwider. Ihre Gespräche befassten sich mit Angelegenheiten, die über jeglichen Dorftratsch erhaben waren. Trotz enger Freundschaft und größter Vertraulichkeit wusste Lotte eine nicht vom heimlichen Brieföffnen Emmis. Nur wunderte sich Lotte immer wieder, wie gut informiert Emmi über Würdas familiäre Angelegenheiten war. Dabei wäre es doch eher an Lotte gewesen, über das eine oder andere Problem Bescheid zu wissen, denn als Gemeindeschwester vertrauten sich manche ihr an.

Über Emmis Allgemeinwissen machte sie sich aber keine weiteren Gedanken, denn die war schon während der gemeinsamen Schulzeit über Belanglosigkeiten besser unterrichtet gewesen als über das Unterrichtswissen. Besonderes geschickt zeigte sie sich im Weiterreichen von Liebesbriefen der Mädchen an gewisse Jungen. Bevor diese jedoch den Adressaten erreichten, informierte sie sich über den Inhalt des Geschriebenen. Ihr Weg zur Leiterin der örtlichen Poststelle war also vorgezeichnet.

Nachdem sich beide Damen, denn als solche erachteten sie sich, aus der herzlichen Umarmung gelöst hatten, fragte Lotte Goldstein die Freundin, warum Stasi-Franski bei ihr gewesen sei; sie habe diesen Schnüffler aus ihrem Haus gehen sehen. Sofort war Emmi Pospischil an das erinnert, was sie vor einer guten halben Stunde in Ängste versetzt hatte. Wieder überkam sie ein leichtes Zittern, doch mäßigte sie ihre Furcht, weil die treue Freundin so tröstlich in der Nähe war. Gemeindeschwester Goldstein erfuhr nun, was Poststellenleiterin Pospischil als immerwährendes Geheimnis mit ins Grab nehmen wollte. Höchste Gewissensnot zwang sie zur Offenbarung.

Als beide Frauen ihre Geheimsitzung beendet hatten, übergab Emmi der Freundin ein fest geschnürtes Bündel Papier mit der inständigsten Bitte, es bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in sicherste Verwahrung zu nehmen. Lotte nahm es an sich und verstaute es im Geheimfach ihres Schreibsekretärs. Aus diesem wäre es nie ans Tageslicht gekommen, wenn nicht auch Frau Goldstein eines Tages in Gewissenszwänge geraten wäre. In diesem Falle aber nicht durch Hugo Franski, sondern durch mich, ihren Schwiegersohn. Ihr musste ich hoch und heilig versprechen, dieses Geheimnis nicht an die große Glocke zu hängen. Dass ich das nicht tun würde, beteuerte ich nochmals. Um ihr meine Aufrichtigkeit zu beweisen - Schwiegermutter war eine sehr gläubige Frau -, ging ich noch am gleichen Tage zu Pastor Frommel und bat ihn, mir zu verbieten, irgendwann und irgendwie etwas an die große Glocke zu hängen. Der Pfarrer weitete das Verbot auch auf die beiden anderen Glocken aus.

Lotte Goldstein war`s zufrieden.

 

Emmis Geheimnis

Da ich mich nun auch nach oben hin abgesichert hatte, zog ich mich in meine Bodenkammer zurück, um das Papierbündel zu entbinden. Ich ging so behutsam zu Werke, als müsste ich eine antike Schatztruhe öffnen. Und ein Schatz war es in der Tat, den ich nun in Händen hielt.

In sauberer Sütterlin-Schrift hatte Emmi Pospischil die Briefe kopiert, die Feldhüter Hasso Keil an den Enkel seiner einstigen Freiherrschaft von Hummelshausen geschickt hatte. Emmi hatte sich viel Mühe gegeben, die Keil-Schrift Wort für Wort auf eigenes Papier zu bringen. In ihrer gewissenhaften Neugier hatte sie keinen Buchstaben anders formuliert, als ihn der Feldhüter gesetzt hatte. Für mich wurden Frau Pospischils Geheimdokumente zur wahren Fundgrube.

Feldhüter Hasso Keils briefliche Informationen an den von Hummelshausen öffneten mir den Blick in die Geschichte Würdas. Der Nachfolger dieses alten Freiherren-Geschlechts wollte nämlich genauestens darüber informieret sein, wie Land und Leute Würdas dahingewandelt waren. Der alte Keil, der sich immer noch zu Diensten fühlte und nun auch dazu verdonnert, Briefe schreiben zu müssen, ergab sich devot in dieses Schicksal. Weil er sich für die Holprigkeit seiner Darlegungen von vornherein entschuldigen wollte, begann er seine Briefe mit den unterschiedlichsten Anreden. So las sich der Freiherr-Enkel immer in anderer Hochwohllöblichkeit von Durchlaucht bis Majestät und endend in der Floskel: Untertänigst Ihr … -

Ich fühlte mich glücklich, aus diesen Schriftquellen schöpfen zu können. Sie würden mir den Beginn meines Buches leichter machen. Frohgestimmt hüpfte ich spät abends ins Ehebett. Die Uhr tickte bereits kurz vor Mitternacht. Meine Gattin liebte es nicht, wenn ich mich nach der Geisterstunde an ihre Seite kuschelte. Sie fürchtete sich seit ihrer Kindheit vor Nachtgespenstern. Weil ich auch in der folgenden Nacht vor dem Erscheinen der Gespenster bei ihr lag, säuselte sie, dass sie mir ein Geheimnis verraten werde, wenn ich weiterhin so pünktlich sei. Donnerwetter! Noch ein Geheimnis? Natürlich versprach ich ihr sofort, mich an den vorgegeben Zeitplan zu halten. Sie schockte mich etwas mit der Zusatzbemerkung, dass ich auch für betörende Liebesspiele bereit sein müsse.

„Na gut“, sagte ich leichthin, „wenn`s weiter nichts ist!“ Für die Lüftung eines weiteren Geheimnisses wollte ich jedes Opfer erbringen. Weil meine Gattin durch die Betttätigkeit zufrieden gestellt war, gab sie ihr Geheimnis schließlich preis.

 

Inge Goldsteins Geheimnisse

Vor fünf Jahren hätte ihr Dronthardt Pospischil seine gesammelten Dichtungen übergeben. Weil Theodora Lieblich sein Liebesverlangen verschmäht habe, wolle er sich, von tiefem Seelenschmerz geplagt, auch von Würda lossagen. Nur einer Person sei er noch in Liebe verbunden, und zwar ihr, Inge Goldstein. -

Weil ich nicht gleich eifersüchtig reagierte, wurde meine Gemahlin ungehalten. Ich Dummerchen hatte im Halbschlaf nicht sofort rekapituliert, dass Inge Goldstein nun meine Ehefrau ist. Zärtlich knabberte ich an ihrem linken Ohrläppchen, und schon war sie zu weiteren Mitteilungen bereit. Dronthardts Liebe zu ihr sei mehr ein freundschaftliches Verhältnis gewesen, die Fortsetzung gemeinsamer Kindheitstage sozusagen. Dronthardt habe sie im Sandkasten immer mit Sand beworfen, damit sie sich entkleide und die Sachen säubere. Ein rechter Schelm sei er gewesen.

Meine Gattin kicherte, und ich argwöhnte mit der Frage, in welchem Alter Dronti aufgehört habe, mit Sand zu werfen. Inge zürnte, das ginge mich gar nichts an. Ich solle ja nicht versuchen, die süßen Erinnerungen an ihn zu zerstören. Dann könnte es nämlich passieren, dass sie mir Dronthardts unveröffentlichte Werke nicht aushändige.

Das wollte ich natürlich verhindern, weil es mich schon interessierte, welche Schmachtfetzen er Theodora vergeblich vorgetragen hatte. Vielleicht fanden sich in seinen Ergüssen auch entkleidende Zeilen an Inge Goldstein. Weil ich die Übergabe der Dronti-Schriften beschleunigen wollte, erfasste ich sanft Inges Köpfchen, drehte es ein wenig zur Seite und knabberte nun an ihrem rechten Ohrläppchen. Um ihren Zorn nicht allzu abrupt zu beenden, meckerte sie, verhalten aber, ich solle sachter knabbern, ihre Ohren wären doch keine Salzbrezel. Um sie wieder endgültig in Eingangslaune zu versetzen, knabberte ich mich an ihrem Körper hinab bis hin zum Bauchnabel. Dabei blieb es natürlich nicht.

Beinahe wäre ich am nächsten Morgen nicht aus den Federn gekommen. Hellwach wurde ich jedoch, als meine liebe Inge mit einem Päckchen winkte, das mit zartrosa Schleifchen verschnürt war. Was war ich doch für ein Glückspilz. Nun besaß ich zwei beschriftete Papiersammlungen, die meine Lust am Fabulieren steigerten.

Meiner begatteten Gattin versprach ich, Dronthardts Dichtungen mit allem erforderlichen Respekt zu lesen.

 

Dronthardt Pospischils Prosa

Ein unverfälschtes Beispiel seiner Dichtkunst will ich hier vorstellen.

Wie wir unseren Fernseher kriegten und welche Freude deswegen bei uns ausbrach

Vorige Woche vorgestern haben wir einen Fernseher gekriegt. Das ging eigentlich recht schnell. Mein Vater hatte sich erst vor zwei Jahren zu einem Fernsehgerät angemeldet. Wir wären noch gar nicht dran gewesen. Dran gewesen wäre Gustav Schulze, weil der in die SED eingetreten war. Er war somit Genosse. Genossen wurden bei Fernsehgeräten bevorzugt behandelt. Bei der Parteiaufnahme fragte ihn der Kreisleiter, ob er ein Nazi gewesen ist. Er lügte, dass er nur ein kleiner Nazi war, so klein, der nur Hitlers Geburtstag wusste. Gustav gelobte, immer für den Frieden zu kämpfen. Das überzeugte den Kreisleiter und er ließ Gustav in die Partei eintreten.

Gustav hat in unserem Dorf nun die große Klappe. Alle haben ideologischen Schiss vor ihm. Auch unser Bürgermeister. Weil mein Vater über Gustavs wahre Vergangenheit gut Bescheid weiß und er das Gustav auch sagte, bekam der sofort Muffensausen.

Gustav bevorzugte uns also mit dem Fernsehgerät. Das passierte bei einem Skatabend in der Kneipe. Da hat er zu meinem Vater gesagt: „Franz, du kannst den Fernseher vor mir kaufen, weil ich jetzt Parteigenosse bin. Da darf ich nicht Westfernsehen gucken.“

Nun haben wir den Fernseher. Mein Vater freut sich, meine Mutter freut sich, ich freue mich, meine Schwester freut sich, unser Hund freut sich nicht. Er hat von Fernsehen keine Ahnung. Nun können wir in die Röhre gucken. Mein Vater hat gesagt, dass wir nur Westfernsehen gucken tuen werden, weil das die Fortsetzung bringt 'Vater ist der Beste'.

Frohgemut hat er den Fernseher auf den Tisch gestellt und dann eingeschaltet. Wir waren sehr gespannt, wie der Kasten auf das Einschalten reagieren wird. Wir jubelten - aber zu früh. Er reagierte nicht. Die Mattscheibe blieb dunkel. Papa sagte, dass die Fernsehbilder erst einen Durschlupf finden müssen, um ins Fernsehgerät zu gelangen. Papa öffnete die Fenster. Ich die Tür. Opa den Hosenstall, weil er pinkeln musste. Wenn Durchzug ist, muss er das immer. Er verließ das Wohnzimmer. Meine Schwester auch. Sie hat wieder ein Stelldichein mit ihrem Liebhaber.

Papa erklärte, dass die Fernsehbilder einen weiten Weg durch die Luft nehmen müssen. Wenn sie am Haus angekommen sind, sind sie erschöpft. Deshalb muss man ihnen den Zutritt zum Fernsehapparat erleichtern. Nach einer halben Stunde hatten die Fernsehbilder immer noch nicht den Weg in den Kasten gefunden. Papa war ganz aufgeregt und sagte, wir sollten die Ruhe bewahren. Der Kasten ist neu und muß sich erst an die Zimmertemperatur gewöhnen. Mama verstand das falsch und warf fünf Briketts in den Stubenofen. Wir kamen ganz schön ins Schwitzen.

Wieder verging eine viertel Stunde. Immer noch irritierten die Fernsehbilder irgendwo in der Gegend herum. Aus der Küche drang ein stinkender Geruch. Mama sagte: „Das ist bloß das Mittagessen.“

Papa verlor die Geduld und befummelte den Fernseher von allen Seiten. Wütend klopfte er auf ihn und schimpfte: „DDR-Produktion!“ Dann nahm er die Bedienungsanleitung zur Hand und informierte sich über den Inhalt. Plötzlich hatte er etwas Wissenswertes entdeckt. Er steckte das Stromkabel in die Steckdose. Es dauerte nicht lange und die Mattscheibe wurde hell.

Er brüllte wie von Sinnen: „Endlich!“ Ihm liefen Freudentränen aus den Augen. Mir und Mama auch. Opa und Schwester Hannelore nicht, weil sie nicht da waren.

Dann werden wir heute Abend eine Quietschsendung gucken“, meinte Mama überglücklich.

Das heißt nicht Quietschsendung, sondern Quittssendung“, belehrte sie Papa. Dann drehte er den runden Knopf am Fernseher. Nach mehreren Umdrehungen erschienen immer noch keine Fernsehbilder. Aus dem vergitterten Lautsprecher an der Seite rauschte es, als würde im Kasten ein munteres Bächlein fließen.

Opa kam vom Pinkeln zurück. Als er das Rauschen hörte, musste er gleich wieder verschwinden. Er hat eine altersschwache Blase. Oma nicht. Sie ist schon tot.

Ich hatte den Eindruck, dass Papa noch etwas reinstecken müsste. Er studierte wieder die Bedienungsanleitung. Dann grübelte er. Plötzlich fragte er Mama, wo sich die Fernsehantenne befindet. Sie antwortete: „Im Keller.“

Kein Wunder, dass die Fernsehbilder nicht wissen, wie sie in das Fernsehgerät kommen können,“ meckerte er unfreundlich. Mama traf keine Schuld, denn er hatte die Antenne in den Keller gebracht.

Papa und ich gingen nach unten, um sie zu holen. Wie wunderte ich mich, dass nur lose Metallstäbe in einem Regal lagen.

Ist das die Antenne?“ fragte ich.

Ärgerlich antwortete er: „Das ist sie. Wir müssen sie zusammenbauen und dann aufs Dach bringen.“

Warum aufs Dach?“

Damit die Fernsehbilder sie sehen und dranfliegen können.“

Das leuchtete mir ein. Wir begannen mit dem Zusammenbau. Etwa eine Stunde bastelte Papa aus den Stäben eine Antenne, die wie ein Vogelkäfig aussah. Ich sah ihm dabei zu und schätzte seine Geschicklichkeit positiv ein. Ich sagte, dass die Fernsehbilder sicher eingefangen werden und im Käfig eingesperrt bleiben. So könnten sie nicht mehr entweichen. Papa lobte meinen Verstand. Dann trugen wir den Antennenkäfig vorsichtig aus dem Keller. Papa stellte eine lange Leiter an den Hausgiebel. Dann betrat er mit dem Antennenkäfig die erste Sprosse. Mir fiel ein, dass ich vor einiger Zeit zwei Sprossen angesägt hatte. Der Freund meiner Freundin sollte sich beim Fensterln verletzen. Ich hatte ihm eine Zigarette gestohlen. Als ich sie rauchte, wurde mir übel, und ich bekam Dünnschiss.

Ich wies Papa auf die Gefahr hin. Er lachte, weil er glaubte, ich hätte einen Scherz gemacht. Als er zur Erde sauste, lachte er nicht mehr. Nachdem er mir zwei Ohrfeigen versetzt hatte, stieg er wieder nach oben. Dort angekommen, stellte er fest, dass eine Antennenstange fehlte. Er war nun ratlos. Ich riet ihm, die Antenne an den Schornstein zu binden. Das tat er. Seitdem können wir notfalls Fernsehen. Das Bild wird sich bessern, wenn die Antenne an einer Stange hängt.

Als ich Inge sagte, dass ich soeben eine Dichtung Dronthardts in mein Buch aufgenommen habe, schloss sie mich liebevoll in die Arme. Ihr Busen bebte leicht, und ich hatte das Gefühl, dass sie Dronti umfing. Weil ich es genau wissen wollte, zog ich sie fester an mich. Ihr leichter Widerstand bestätigte meine Vermutung. – Ich tat gekränkt.

Sie meinte, ich solle mich nicht so haben. Es sei nur die bloße Erwähnung Dronthardts, die sie daran erinnere, wie ungestüm er in seinen Liebesbezeugungen war. Erst nach der dritten Ohrfeige habe er von ihr gelassen. Ich fragte, wie viele Backenstreiche ich nun verdient hätte.

„Nicht einen“, lächelte sie, „du bist ja nicht Dronti.“

 

Bürgermeister Traugott Hampel

Während des gesamten Wochenendes war ich in meinem Bodenstübchen zu finden. Mit wahrer Begeisterung schrieb ich die ersten Seiten meines Würda-Buches.

Als ich am Montag der neuen Woche meine Arbeitstätte im Gemeindeamt betrat, war der Herr Bürgermeister schon anwesend. Von seinem Büro her rief er mich zu sich. Das war eigentlich immer dann üblich, wenn er mir Dienstanweisungen für diesen oder die nächsten Tage erteilte. Dann stand ich kerzengerade vor ihm, Bleistift und Notizblock gezückt. Er schaute von seinem Schreibtisch kurz auf, um sich zu vergewissern, ob ich es wirklich war, den er gerufen hatte. Dann würdigte er mich keines Blickes mehr, und ich hatte die neuen Aufgaben entgegen zu nehmen.

Mich wurmte zwar immer wieder, wie beiläufig er mich behandelte, doch war mir bisher keine Möglichkeit eingefallen, mich besser zur Geltung zu bringen. Manchmal, wenn ich so stand, als hätte ich einen Besenstiel verschluckt, wünschte ich mir, ich könnte es ihm so richtig heimzahlen. In einem Kriminalfilm hatte ich mal gesehen, wie ein hinterhältiger Diener seinem Herrn den Fußboden unter dem Schreibtischstuhl als Fallgrube ausgesägt hatte. Als der dicke Boss auf dem Stuhl saß und eine dicke Zigarre rauchte, trat der vor ihm stehende Diener auf eine bestimmte Fußbodendiele, woraufhin der Fettsack schlagartig von der Bildfläche verschwand. Ich fand die Tat des Dieners zwar gemein, weil er auf das Geld des Chefs aus war, aber die Idee wärmte mein Herz. So befiel mich auch an diesem Montagmorgen wieder die Vorstellung, Traugott Hampel würde schwuppdiwupp im Fußboden verschwinden. Im Gegensatz zum Film sollte er zwar am Leben bleiben, aber schmerzhaft spüren, dass er zu Fall gebracht werden kann. Bei diesem Gedanken lächelte ich.

Der Bürgermeister schaute mich drohend an und fragte, was mich so fröhlich stimme. Mir würde der Befehlsempfang wohl plötzlich Spaß bereiten. Ich nickte und antwortete, dass es mir ein Vergnügen sei, Befehle von ihm entgegen zu nehmen. Deren Ausführung würde meinem Leben erst Sinn geben, und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als seine Ideen der Nachwelt zu erhalten.

Traugotts Blick durchbohrte mich und suchte irgendwo hinter meiner Fassade, ob ich das nun ehrlich gemeint hatte oder ob ich ihn verschaukeln wollte. Letzteres lag seiner Vermutung näher, weshalb er losdonnerte: „Verscheißern kannst du deine Großmutter, aber nicht mich! Wenn du glaubst, hier den Oberschlauen mimen zu können, dann werde ich dir zeigen, wer du wirklich bist!“

Er schnaufte wie eine Dampflok. Ich erwähnte, dass meine Großmutter schon lange tot sei.

Das war nun das Letzte, was ich mir erlauben durfte. Er sprang vom Stuhl auf, hastete zum Schlüsselbrett an der linken Wand und riss von diesem einen verrosteten Schlüssel. Den warf er mir vor die Füße und schnaubte: „Mit dem schließt du den Gemeindedachboden auf! In ihm liegt allerhand Krempel. Ich gebe dir zwei Tage Zeit, dort oben Ordnung zu schaffen. Bis Mittwoch hast du von dem Krimskrams eine Inventarliste erstellt!“

 

Verstaubte Schätze

Ich knallte die Hacken zusammen, hob den Schlüssel auf und verließ schleunigst die Amtsstube. Als ich an Willi Stoffel vorübereilte, rief der mir fragend nach: „Was ist los?“

In meiner fürwitzigen Art rief ich zurück: „Was nicht angebunden ist!“

Nachdem ich mit einiger Mühe die Gemeindedachbodentür mit dem verrosteten Schlüssel geöffnet hatte, stand ich zunächst vor einem Chaos herumliegender Dinge. Ich ließ mich auf einem staubbedeckten Aktenstapel nieder und überdachte erleichtert, dass ich für zwei Tage dem Zugriff meines Chefs entzogen bin. Durch das kleine Dachfenster schickte die Morgensonne einige Strahlen. Die hatten Mühe, sich durch das arg verschmutzte Glas zu bohren. Nicht leichter fiel es ihnen, sich durch die vielen Spinnennetze zu tasten. Eine fette Kreuzspinne entdeckte eine Fliege in ihrem Netz. Zufrieden mit dem Fang, ließ sie ihr Opfer noch ein wenig zappeln.

Mich kam ein Vergleich zwischen dem Bürgermeister und meiner Hilflosigkeit an. Ich nahm die Fliege aus dem Netz und gab ihr die Freiheit. Schadenfroh stellte ich mir vor, wie empört und fassungslos die Spinne jetzt war. Nun aber besann ich mich auf die Aufgaben, die ich - zeitlich festgelegt war – zu erfüllen hatte.

Ich begann zunächst lustlos. Je weiter ich mich aber durch Staub und schwere Aktenordner wühlte, desto interessanter wurde mir diese Strafarbeit. Hier und da entdeckte ich nämlich Manches, was mir für meine Aufzeichnungen nützlich schien. Das inventarisierte ich natürlich nicht, nur das, war ich als wertlos erachtete. Dabei überdachte ich, dass es dem Bürgermeister niemals in den Sinn kommen würde, das Verzeichnis auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen.

Mein besonderes Interesse erweckte ein Schrank, der schüchtern in einer Ecke stand. Er hatte wohl schon bessere Tage erlebt und musste nun still erdulden, wie sich Holzwürmer in ihm vorfraßen. Als wollte er sich für diese unfeine Gesellschaft entschuldigen, öffnete er mir knarrend eine seiner beiden Türen. Bei der anderen musste ich etwas nachhelfen.

Was ich vermutete, bestätigte sich. Wichtige Sachen bringt man in Schränken unter, so war es auch hier. Zunächst entdeckte ich einige Bücher, die sich in einem ordentlichen Bücherschrank eines gepflegten Zimmers besser ausgenommen hätten. Vor allem die beiden Bände mit Golddruck auf dem Rücken. Ich konnte nicht begreifen, weshalb solche bibliophilen Schätze ins Abseits geschoben waren. Als ich die Titel in der Inventarliste erfasste, wurde mir einiges klar. Die standen sicher schon auf dem Index und waren als Lektüre in dieser Zeit nicht mehr geduldet.

Ein kleiner Schreck durchfuhr mich, als ich Hitlers 'Mein Kampf' unter den Geächteten sah. Neugierig klappte ich den Einbanddeckel auf und las auf der Innenseite die handschriftliche Eintragung Traugott und Elsbeth Hampel zur Trauung am 11. März 1938. Darunter fanden sich ein Hakenkreuzstempel und der Namenszug des Ortsgruppenleiters. Hinterlist trieb mich nicht, als ich den Führerschinken an mich nahm. Vielleicht sollte ich ihn meinem Chef zur Silberhochzeit überreichen, auf dass er gerührt an seinen Vermählungstag erinnert war. Gattin Elsbeth würde sicherlich in engstem Kreise schwelgen: „Ja, unser Führer, er dachte auch an uns …“ -

Jetzt, da es den Führer nicht mehr gab, bestückte sie ihren Busen mit Sowjetsternen. Zackig musste es sein, so oder so.

Meine Blicke erfassten nun verdaulichere Lesekost. Kein Golddruck, keine protzige Aufmachung verschönten das Äußere eines schmalrückigen Buches, dessen Einband bereits vergilbt war. Im hintersten Winkel, hinter all den Größen versteckt, zeigte es sich mir als Exemplar mit handschriftlichen Eintragungen. Dieser unscheinbare Band, vom Äußeren her eher einem Rechnungsbuch einer Amtskanzlei ähnlich, wurde für mich zum wichtigsten Fund unter all dem Sammelsurium hier oben.

Als ich mich in den Inhalt der ersten Seiten vertieft hatte, stellte ich erfreut fest, dass mir ein wertvolles Schriftstück in die Hände gekommen war. Ich las und las und vergaß die Zeit sowie die Welt mit dem in ihr befindlichen Gemeindedachboden. Ich hatte einen wahren Schatz gehoben, die Schul- und Gemeindenachrichten des Dorfes Würda, aufgeschrieben von ehemaligen Lehrern des Ortes, und zwar im Zeitraum von 1848 bis 1945.

Mich wunderte, dass Traugott Hampel diese wertvolle Schrift nicht selbst ans Tageslicht befördert hatte. In der Einwohnerversammlung forderte er doch recht nachdrücklich das Schreiben einer Ortschronik. Allerdings, so fiel mir ein, war ihm und Willi Stoffel daran gelegen, die Ortshistorie erst ab 1945 zu erfassen.

Als ich Traugott Hampel am Mittwochmorgen Vollzugsmeldung erstattete und ihm die angefertigte Inventarliste überreichte, zeigte der sich murrend zufrieden. Er wusste nicht, dass ich die Schul- und Gemeindenachrichten unterschlagen hatte.

 

Alte Schulnachrichten

Die nächsten Abende verbrachte ich damit, Würdas Chronik zu studieren. Ich vertiefte mich so sehr in das Buch, dass mich meine Gattin schalt, wenigstens pünktlich zum Abendbrot zu erscheinen.

Das Lesen mancher Wörter und Sätze fiel mir nicht leicht, weil sie in alter deutscher Schrift abgefasst waren. Über zwei Begriffe auf Seite 35 grübelte ich besonders lange. Sie waren verwischt und mussten doch gedeutet werden, um den nachfolgenden Wortlaut verstehen zu können. Nachdem ich eine geschlagene Stunde hin und her gegrübelt hatte, ohne eine Lösung gefunden zu haben, fragte ich Inge um Rat. Die sah sich die Schriftstelle nur kurz an und wusste bescheid.

„Der Dichter hat zwei Fliegen beim Liebesspiel ertappt und das Buch zugeklappt.“ -

So grausam können Menschen sein. Ich jedenfalls kann keiner Fliege ein Leids tun, was auf das völlige Unverständnis Inges stößt. Wenn so ein Summserchen unfreiwillig im Frühstückskaffe baden gegangen ist, dann reiche ich ihm hilfreich einen Finger. Des Sommers wird Inge von einer regelrechten Jagdlust gepackt. Gleich mit zwei Fliegenklatschen stürmt sie los, wenn sich ahnungslose Fliegen in irgendeinem Zimmer niedergelassen haben. Dabei ging neulich eine wertvolle Porzellanvase zu Bruch.

Selbst ich bleibe von Schlägen nicht verschont, wenn sich eine Fliege auf meinem Kopf niedergelassen hat. An der Wucht der Klatsche kann ich ermessen, wem der Schlag eigentlich galt. Die Fliege entkommt meist unbeschadet.

Ich bin zwar nicht revanchelüstern, aber einmal reichte mir diese Haue denn doch. Inge hatte mit einem Doppelschlag meine Nase fast platt gemacht. Durch die Wucht wirbelte meine Brille durch die Küche und landete im Suppentopf. Am nächsten Morgen ergab sich eine günstige Gelegenheit, es Inge heimzuzahlen. Weil ihr Frühstück vorrangig aus marmeladebestrichenen Schnitten besteht und auch Fliegen an solchem Brotaufstrich Gefallen finden, landeten zwei von diesen im Sturzflug. Als Inge versuchte, die Mitesser mit einer raschen Handbewegung zu verscheuchen, schlug ich zu. Die Klatsche landete zielgenau in der Marmelade. Was von ihr empor spritzte, fand auch Niederschlag in ihrem Gesicht. Ich lachte nicht deshalb, weil mir der Hieb gelungen war, sondern weil Inge nun aussah, als hätte sie Masern. Das Lachen verging mir jedoch recht schnell.

Nichts zu lachen hatten auch die Schüler, die in früheren Zeiten die Schulbank drückten. So las ich in den Schulnachrichten unter den Eintragungen des Jahres 1909 folgende Sätze:

Auf seinem nächtlichen Heimweg aus der Gastwirtschaft erbrach sich der alte Herr Wurzmann und verlor dabei seine Beißhilfe. Am folgenden Morgen trieb der stets ungehorsame Sohn der Witwe Klunker seinen Schabernack mit ihr. Auf dem Schulhofe gab er Mädchen und Buben ein widerliches Schauspiel, das zu zügelloser Heiterkeit führte. Der Herr Schulleiter Knorpel tadelte diese Unverschämtheit und züchtigte vor aller Augen den Unverbesserlichen mit 15 Schlägen auf das Gesäß. Das wird jedem Schüler eine Warnung sein, dritte Zähne – sofern sie gefunden werden – nicht zur Entstellung des eigenen Gebisses zu nutzen. Nach Beendigung der öffentlichen Züchtigung wies der Herr Schulleiter darauf hin, daß Fundsachen beim Schutzmann Schwammel abzugeben sind.

Eine weitere interessante Eintragung ist die, ebenfalls aus dem Jahre 1909:

Der Herrgott möge uns davor bewahren, daß in kommenden Zeitläufen noch mehr solcher Knaben ihr Unwesen treiben wie der Tunichtgut Brumse. Dieser Unhold, der sich in der Abschlußklasse bereits vier Jahre tummelt, wird zum Ärgernis für jedermann. Den Mädchen steckt er die Zöpfe ins Tintenfaß, den lernbegierigen Jungen speit er auf die Schiefertafel, den Lehrern gar begegnet er mit Frechheiten, die auszudrücken sich die Feder sträubt. Daß sich Brumse auch außerhalb des Schulgebäudes unmanierlich aufzuführen weiß, bezeugt diese Missetat. Dem ehrbaren Bürger Udo Kramer spuckte er einen Pflaumenkern in die Milchkanne und streckte demselben noch die Zunge heraus. Da der betagte Mann sehr schlecht zu Fuß ist, übernahm den Strafvollzug Herr Schulleiter Knorpel. Beim achten Schlage zerbrach jedoch der sorgsam ausgewählte Rohrstock mittlerer Stärke, weil Brumse sein Hinterteil mit Blech ausstaffiert hatte. Nach Entfernung desselben mußte er das Doppelte an Schlägen hinnehmen.

Das prügelreiche Jahr 1909 enthält eine weitere Verlautbarung über eine Ungezogenheit.

Der Schüler Traugott Hampel, seines Alters 12 Jahr, wurde von mir in der Rechenstunde dabei erwischt, wie er die Schulbank mit unsittlichen Figuren beschnitzte. Als ich ihn behufs dieser Sache zur Rede stellte, erfrechte er sich mit der Bemerkung, daß die nackte Frau schon da gewesen sei und er nur noch den nackten Mann hinzugefügt habe. Eva wäre ja auch nicht allein im Paradies gewesen. Daß er seine anstößige Arbeit nicht vollenden konnte, war meiner raschen Reaktion zu verdanken. Der Herr Schulleiter Knorpel strafte diese Missetat wieder öffentlich.

Unterzeichnend der 2. Lehrer Friedhelm Flügel

Nun war mir klar, warum mein Chef die „Schul- und Gemeindenachrichten“ der Öffentlichkeit vorenthielt. Sicherlich schämte er sich der lüsternen Kreativität seines Vaters.

 

Balduin Rockstroh

Vor allem in Otto Krugs Kneipe wurde oft über vergangene Schultage gesprochen. Jeder Gesprächsteilnehmer hob hervor, wie stark und unübertroffen er im Herumblödeln gewesen sei. Mit jedem Bier mehr steigerten sich die Kraftmeiereien. Lachend wurde dann auf die Tischplatte geschlagen, dass es eine Lust war, dieser heiteren Gesellschaft zuzusehen. Nur einer saß am Nachbartisch und verzog keine Miene. Das missfiel den anderen, und sie fragten ihn, warum er nicht mitlache. Die karge Antwort war, dass die erwähnten Streiche von geringer Intelligenz zeugen. Schlagartig erlosch die Fröhlichkeit, denn in Würdas Kneipe war das Wort Intelligenz noch nie gehört worden. Es passte gar nicht hierher, denn es war ein fremdes Wort.

Der da gesprochen und nicht mitgelacht hatte, war auch ein Fremder. Sagen wir fast ein Fremder, denn er war erst gegen Ende vergangenen Jahres nach Würda gezogen. Er hatte den wichtigen Auftrag mitgebracht – das wusste jeder am Stammtisch -, die Bauern des Dorfes von der Notwendigkeit einer LPG-Gründung zu überzeugen. Bislang war dieser Neue noch der einzig Überzeugte. Dass ihm keiner glauben wollte, lag vor allem an den vielen fremden Wörtern, mit denen er seine Argumentationen garnierte. Allein schon der ellenlange Name Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft enthielt Unverständliches. Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht! Schon gar nicht solch ausländisches Kauderwelsch. Das einzige, was der Stammtischhaufen akzeptierte, war der Familienname des Fremdlings. Der lautete Rockstroh und hatte etwas Landwirtschaftliches an sich. Warum aber vor dem Stroh noch der Rock stünde, wollte man wissen. Er hätte doch kein Weib mitgebracht. Ob er in Würda jedem Rock nachlaufen wolle!

Balduin Rockstroh schüttelte den Kopf und sagte, dass ihm die Frauen dieses Dorfes zu frigide seien. Aha, dachten die Männer, wenigstens über unsere Frauen denkt er vernünftig.

Weil er weder auf der Straße noch in den Häusern LPG-willige fand, versuchte er sich im Gasthof. Vielleicht ließ sich irgendwann ein Betrunkener zu einer Unterschrift bewegen, und wenn ich ihm dabei die Hand führen müsste, entschied Balduin. Der Zweck heiligt die Mittel!

Nun saß Rockstroh immer noch erfolglos beim Stammtisch und hatte also keinen Grund zur Fröhlichkeit. Weil er die Stammtischbesatzung aber mit einem Fremdwort neugierig gemacht hatte, gab er einen Intelligenzstreich aus seiner Gymnasialzeit zum Besten. Vielleicht war das ein Weg, die Trunkenbolde für sich einzunehmen.

„Es ist schon einige Jährchen her, dass auch ich die Schule besuchte. Dem Wunsch meiner Eltern folgend, besuchte ich eine höhere Bildungsanstalt. Am meisten gefielen mir die Unterrichtspausen. Da Hitler seinen verbrecherischen Weltkrieg begonnen hatte, wurden auch die besten Jahrgänge der Lehrer eingezogen. Unsere Klasse wurde deshalb von einem Professor übernommen, der sich bereits zwanzig Jahre seines Ruhestandes erfreut hatte. Nun erfreuten wir ihn mit unseren Einfällen. Erstaunlicherweise wurde der alte Herr nicht ungehalten, sondern ersah in unseren Streichen einen gewissen Bildungsdrang. Weil er nach 15 Minuten Unterrichtszeit auf seinem Kathederstuhl schon ein Nickerchen machte, beschäftigten wir uns anderweitig. Einmal formten wir im Mund Löschpapierkügelchen und schnippsten sie an die Raumdecke. Dann riefen wir den Herrn Professor wach, gaben uns aufgeregt und zeigten an die Decke mit den Worten: Sehen Sie nur, Herr Professor, in unserem Unterrichtsraum wimmelt es von lästigen Raupen! Professor Lommasch schaute nur kurz zu den Papierkügelchen hinauf und erklärte dann: Das sind keine Raupen, sie bewegen sich nicht. Das sind Kokons! Wir lachten, bis uns das Zwerchfell weh tat. Professor Lommasch glaubte, wir würden uns über den Erkenntniszuwachs freuen, und er lächelte.“

Balduin Rockstroh stellte verdutzt fest, dass die Stammtischrunde nicht lachte. Die Pointe war fehlgegangen, denn an Würdas Schule wurde man für eine Dummheit geprügelt.

Der LPG-Agitator war um eine weitere Erkenntnis reicher: da, wo er sich überlegen wähnte, ersahen es die anderen als Unsinn. Die einzigen, die ihm Unterstützung bei der LPG-Werbung zugesagt hatten, waren Traugott Hampel und Willi Stoffel. Vorerst hielten sie sich in ihrem Mittun aber noch ein wenig zurück, weil sie den Sinn der Kollektivierung ebenfalls nicht kapierten. Willi war es unverständlich, dass sich in einer Genossenschaft auch Nichtgenossen zusammenfinden sollten. In der Landwirtschaft würde dann ja alles wie Kraut und Rüben durcheinander gehen. –

Dem Bauern muss erst der Stiel einer Hacke an den Kopf knallen, damit er erkennt, dass er sie falsch gestellt hatte. Mit dieser selbst erdachten Weisheit ausgerüstet erwartete Balduin Rockstroh die bäuerliche Erleuchtung.

 

Herr Schuschi

Auch der Landfilm, der einmal im Monat den Dorfleuten etwas vorflimmerte, würde mit der dazugehörigen Wochenschau die erforderliche Einsicht bringen. In verstärktem Maße zeigte sie Beiträge aus der Sowjetunion. Zufrieden lächelnde Bäuerinnen und Bauern schauten von der Leinwand, und das machte deutlich, wie wohl man sich als Mitglied einer Kolchose fühlte.

Steter Tropfen höhlt den Stein, ermunterte Rockstroh seine Hoffnung und bat den Filmvorführer, die Wochenschau mit Ausschnitten einer Kolchosversammlung noch einmal zu zeigen. Der Streifen war aber noch nicht halb durch den Projektor gelaufen, da ertönten Pfiffe, und Kirschkerne knallten an die Leinwand. Lautes Gelächter erscholl, als ein Kirschkern den aufgerissenen Mund des Kolchosvorsitzenden traf, der ein Hoch auf die Sowjetmacht ausbrachte.

Der Filmvorführer wollte die Vorstellung abbrechen, aber die Zuschauer johlten, weil sie den Hauptfilm sehen wollten. Nur einer johlte nicht, aber den Hauptfilm wollte er unbedingt auch sehen. Dieser eine war Herr Schuschi, ein stiller, zurückhaltender Mann, der den Eindruck machte, als wollte er in sich kriechen.

Herrn Schuschi hatte es in den Nachkriegswirren nach Würda verschlagen. Er war in einer großen Stadt geboren und aufgewachsen. Dann kam der Krieg, und er wurde zur Wehrmacht eingezogen. Doch zum richtigen Kampf an der Front war er nicht tauglich, weil vermutet wurde, er könnte die Soldaten zu falschen Emotionen und damit zur Befehlsverweigerung bewegen. Das erkannte man bei der Grundausbildung. Immer dann, wenn ein Schuss fiel, wurde Soldat Schuschi von Weinkrämpfen geschüttelt. Weil sich auch die Militärärzte vor ein Rätsel gestellt sahen, wurde er als wehruntauglich entlassen. Zu Hause in der großen Stadt steckte man ihn in eine Munitionsfabrik, damit er wenigstens in dieser zum Sieg der deutschen Waffen beitrug. Als diese Waffen nicht gesiegt hatten und kein Schuss mehr fiel, wurde Herr Schuschi auch nicht fröhlicher. Er blieb ein Sonderling, der sich vom öffentlichen Leben fernhielt.

Eine Leidenschaft trieb ihn jedoch einmal im Monat aus dem Haus und in den großen Saal hinter der Kneipe. War der Landfilm wieder angerückt, saß Herr Schuschi als Erster auf einem wackligen Gartenstuhl in der ersten Reihe. Als Letzter verließ er den Raum, weil niemand sehen sollte, wie sehr ihm der Film zu Herzen gegangen war. Kaum waren die kyrillischen Buchstaben Konez (Ende) auf der Leinwand erloschen, arbeiteten Herrn Schuschis Tränendrüsen auf Hochtouren. Ausschließlich sowjetische Filme bewegten ihn zutiefst. Andere bekam er in den ersten Nachkriegsjahren ohnehin nicht zu sehen und wollte er auch nicht sehen.

So geschah es, dass er dem Filmvorführer in einige Orte der näheren Umgebung folgte, weil ein Film seinem Seelchen besonders zugesetzt hatte. Es war ein Revolutionsfilm, an dessen Ende sich die junge Bolschewikin Tanja in den Kugelhagel der Menschewiki wirft, um damit ihren Beitrag zum Sieg der Oktoberrevolution zu leisten.

Herr Schuschi war von der schauspielerischen Leistung und der Schönheit der Hauptdarstellerin so begeistert, dass er sich diesen Streifen von Schafweide bis Knispelstedt ansah. Zwischen diesen Vorführorten lagen sieben andere. Aus Dankbarkeit, dass ihn der Vorführer in seinem altersschwachen Opel-Blitz mitgenommen hatte, schenkte ihm Herr Schuschi sämtliche Fett- und Zuckerabschnitte seiner Lebensmittelkarte des Monats September 1950. Das war dem Beschenkten sehr recht, obwohl er diese Mildtätigkeit nicht begreifen konnte. Den sowjetischen Revolutionsschinken sah er ohnehin zigmal und empfand nur dann Regung, wenn der Film wieder mal riss.

Diese einmonatige Entsagung von Fett und Zucker berührte Herrn Schuschi wenig, viel mehr aber der Liebeskummer, der ihn befiel, als er die hervorragende Filmschauspielerin Ludmilla Lukowa zum ersten Male in diesem bewegenden Leinwandepos sah. Weil ihn platonische Seelenerschütterungen nicht nur bei Tage, sondern auch bei der Nacht überkamen, schrieb er einen Brief an das Gorki-Filmstudio in Moskau, zur Weiterleitung an die Angehimmelte. Geduldig wartete er auf eine Antwort, die aber auch nach Wochen nicht eintraf.

Dafür traf eines Tages eine Kurzmeldung des Senders RIAS Berlin an sein Ohr, die verkündete, dass die sowjetische Staatsschauspielerin Ludmila Lukowa während der Filmfestspiele in Karlovy Vary den Eisernen Vorhang durchbrochen und an der Seite eines amerikanischen Kollegen den Weg in die westliche Freiheit genommen habe.

Das Mittelalter hatte wohl grausame Arten der Menschenfolter, die aber waren nicht mit den Qualen zu vergleichen, die Herr Schuschi nun litt. Dass er die so heiß verehrte Ludmila nicht mehr sehen sollte, schmerzte ihn über alle Maßen. Mehr noch als die unglaubliche Tatsache, dass ein Sowjetmensch seine Heimat verlassen hatte. Das konnte und wollte Herr Schuschi nicht glauben. Vielleicht war es nur eine RIAS-Ente! Aus Sicht seiner filmdurchlebten Erfahrungen war jeder Sowjetbürger ein glühendes Beispiel für Vaterlandstreue, Siegeszuversicht, für kommunistischen Aufbauwillen und moralische Unfehlbarkeit. Bei Herrn Schuschi hatte sich letztlich der Glaube verfestigt, dass der Sowjetmensch vor Adam und Eva war.

 

Dr. Emanuel Piep

Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts kamen Talententdekkungen landesweit in Mode, genannt 'Der Bitterfelder Weg'. In der Nr. 21 des 'Weckelnheimer Rundblicks' mussten sich die Leser folgendes gefallen lassen:

Einst saß ich unter rauschenden Fichten, die raunten mir zu, ich solle was dichten. Da kam des Wegs eine schöne Maid, mit der machte mir das Dichten viel Freid. (ersonnen von Adolf Hiller)

Frau Hiller, eine feinsinnige und weitsichtige Frau, ergänzte um eine weitere Zeile, die von der Rundblik-Redaktion rigoros abgelehnt wurde:

Neun Monate später tat es mir leid.

Die Ablehnung wurde mit dem Hinweis begründet, dass sich jüngere Leser fragen würden, was es mit den neun Monaten auf sich habe. Dem unsittlichen Denken der Jugend wäre damit Vorschub geleistet.

Agathe Hiller gab aber so schnell nicht auf und sandte diese Zeile nach Weckelnheim:

Adebar kommt dann, wenn es schneit.

Diese Formulierung wurde akzeptiert, weil sie nicht so direkt war. Prompt erchien Hillers Vierzeiler in der Nr. 22 noch einmal mit dem Anhängsel seiner Frau.

Diese Zeile fand nun einen anderen Gegner, nämlich den Tierarzt Dr. Emanuel Piep. Nicht nur, weil er so hieß, sondern weil sein Freizeithobby die Ornithologie war, lehnte er Agathes Zusatz entschieden ab. Der Rundblick-Redaktion schrieb er einen gepfefferten Brief, in dem er nachdrücklich darauf hinwies, dass Störche des Winters in wärmeren Ländern weilen. Dr. Piep verlangte die Veröffentlichung seiner diesbezüglichen Berichtigung.

Im Weckelnheimer Redaktionsbüro gab man sich gelassen und meinte, dass Piep einen Piep habe. Weil man wusste, dass er sich mit Vögeln beschäftigt, vielleicht sogar mit schrägen, unterließ man den Druck.

Als nach sechs Wochen die Nr. 23 erschien, war Dr. Piep außer sich vor Empörung. Wie konnten es die Weckelnheimer Schmierfinken wagen, seine wissenschaftliche Erklärung nicht zu veröffentlichen. Was bildeten sie sich ein, diese ungebildeten Grünschnäbel! Grundschuld hatte natürlich diese dumme Gans Hiller.

Am nächsten Morgen erschien Dr. Emanuel Piep bei Bürgermeister Traugott Hampel, um durch ihn die Durchsetzung seiner Forderung zu erwirken. Der zeigte sich nicht abgeneigt, weil auch ihn ein Problem bewegte, dass durch Pieps Unterstützung vielleicht schneller gelöst werden könnte. Hampel machte zur Bedingung, dass sich der Tierarzt während der nächsten Gemeindevertretersitzung zum kompetenten Sprecher bei der Neubenennung von Flur- und Straßennamen mache. Es sei nämlich kürzlich die Forderung von oben eingegangen, mit alten Namen, die zu sehr an alte Zeiten erinnern, Schluss zu machen. Weil es Würdas alteingesessene Bürger sehr wundern würde, altvertraute Namen nicht mehr nennen zu dürfen, müsse eine gemäßigte Namensfindung beratschlagt werden. Vielleicht wäre es günstig, Begriffe aus der Natur aufzugreifen. Von Friedensplätzen, Freundschaftsstraßen und ähnlichem Einerlei wimmele es in anderen Orten. Würda sollte sich diesbezüglich würdevoll herausheben.

Nur zu gern war Emanuel Piep bereit zu helfen. Er werde gewichtige Worte einbringen, sagte er dem Bürgermeister zum Abschied.

In der folgenden Nacht fand er kaum Schlaf, so sehr beschäftigte ihn die Umbenennung der Straßen und Gassen Würdas. Am frühen Morgen wimmelte Pieps Kopf von Vogelstraßennamen, eingeschlossen auch exotischen wie Straußenpfad und Kolibristeg. Darüber hatte der Veterinärmediziner seinen Ärger mit dem Weckelnheimer Rundblick vergessen. Sein Kopf war nun ein zwitscherndes Vogelnest, und mit diesem erschien er als außerordentlicher Gast sowie wissenschaftlicher Berater bei der 'Umbenennungskonferenz' (die Sitzung sollte nach seiner Vorstellung so heißen, damit die besondere Wichtigkeit hervorgehoben sei) im Vorzimmer des Bürgermeisters.

Hier hatten sich die Gemeindevertreter bereits versammelt, fast vollzählig, wie ich im Protokoll vermerkte. Wie üblich fehlte Schlossermeister Edmund Rohrbach. Traugott Hampel hatte schon vor längerer Zeit erwägt, diesen Unzuverlässigen durch eine andere Person zu ersetzen. Zuvor sollte jedoch überprüft werden, ob dieselbe Donnerstagabend frei von intimen Verpflichtungen sei, um im Interesse der Öffentlichkeit wirken zu können.

Keiner der Versammelten ahnte, dass diese außerordentliche Sitzung auch außergewöhnlich lange dauern würde, denn selbst die Neubenennung des Rinnsals aus der Mistgrube des Schnockschen Gutshofes wurde von einigen Eiferern in Betracht gezogen. Unberührt von aller Sprachvergewaltigung blieb Würdas fließendes Wahrzeichen, die Würda.

Zunächst ging man das nähere Umland unseres Dorfes an. Es entspräche nicht dem guten Ton, dass die beiden Hügelchen vor unserem Ort weiterhin Busenberge genannt werden. Ein Gemeindevertreter rechtfertigte die Bezeichnung als überkommenes Sprachgut. Allein an diesem Namen wurde eine gute halbe Stunde herumgebastelt, mit dem Ergebnis, dass man es bei dieser Bezeichnung beließ. Dr. Emanuel Pieps Vorschlag, die beiden Landschaftserhebungen in Adlerberge umzubenennen, wurde einstimmig als Schwachsinn abgelehnt.

Weil ich dem Leser das ermüdende Hin und Her dieser Versammlung ersparen will. gebe ich nur das Bedeutsamste wieder. Der Trampelpfad entlang des Würda-Bachs wurde in Johann-Sebastian-Bach-Weg umgetauft. Die Straßenecke, an der mit russischen Soldaten Tauschhandel betrieben wurde, erhielt ebenfalls einen musischen Namen: Händel-Eck. Der Platz, an den Schnocks großes Gemüsebeet grenzte, sollte fürderhin die Bezeichnung Beethoven-Platz tragen. Dass die Namen bedeutender Komponisten untergebracht waren, war der Forderung des Bürgermeisters zu verdanken, der in seiner Freizeit ein leidenschaftlicher Klavierspieler war.

Ziemlich leer ging Dr. Piep aus, dem es auch nicht gelang, Amsel, Drossel, Fink und Star ein namentliches Zuhause auf Straßenschildern zu geben. Einzig und allein Vogelschar-Weg wurde akzeptiert. Emanuel, der sich deshalb entrüstete, wurde von Willi Stoffel darauf hingewiesen, dass die Namen von Komponisten wichtiger seien als die von Piepmätzen. Dabei sah er den Tierarzt so zweideutig an, dass der glaubte, ebenfalls ein unwichtiger Piepmatz zu sein.

Innerlich frohlockte Piep dennoch, denn auch Stoffel brachte keinen Namen eines Kommunisten unter. Für diesen hirnlosen Ortsparteisekretär empfand er ohnehin nicht die geringste menschliche Regung. SED-Mitglieder waren für ihn nur Galgenvögel.

Als gegen 23.30 Uhr einige Versammelte bereits schliefen, beendete Traugott Hampel diese richtungweisende Beratung. Ich schrieb ans Protokollende die leichtfertige Bemerkung: Ade nun zur guten Nacht!

Dem Bürgermeister kam sie sowieso nicht vor Augen, weil er Protokolle nie las.

Als die Namensvorschläge am Schwarzen Brett aushingen, reagierten die Einwohner unterschiedlich, die meisten jedoch entschieden dagegen.

 

Abschnittsbevollmächtigter Schabunke

Der Ortssheriff brachte es auf den Punkt, in dem er öffentlich erklärte, man sollte sich lieber Gedanken über Naturschutz und den Schutz von Volkseigentum machen. Um seinen nützlichen Äußerungen Nachdruck zu verleihen, stellte er sich vor das Schwarze Brett und feuerte aus seiner Dienstwaffe drei Schüsse in die Luft. Diese Ballerei traf eine Haustaube, die leblos vor Schabunkes Füße fiel. Er hob sie auf, hielt sie nach oben und erklärte den erschrocken dreinschauenden Bürgern, dass dieses tote Tier ein Beispiel dafür sei, welcher Frevel sich breit mache. Die Natur, mit allem, was in ihr kreuche und fleuche, sei zunehmender Brutalität ausgesetzt. Einem kleinen Hund, der sich dankbar an seinen rechten Stiefel stellte und ihn bepinkelte, trat er in den Hintern, dass er jaulend in die Menge flog.

„Seht ihr, so wie ich es eben getan habe, ergeht es täglich vielen kleinen und großen Lebewesen. Hilflos sind sie der Allmacht des Menschen ausgesetzt. Dagegen muss etwas getan werden!“

Diese Worte zündeten Beifall und entzündeten die Gemüter. So sehr sich Schabunke um weitere Darlegungen bemühte, in dem zunehmenden Stimmengewirr fanden sie kein Durchkommen mehr. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, noch einmal in die Luft zu schießen, doch den Verbrauch von mehr als drei Schuss Munition musste er bei der Polizeidirektion Hola nachweisen. Darüber hätte er einen Bericht schreiben müssen, mit Angaben über die Anzahl der Toten, der Leicht- und Schwerverletzten. Außerdem auch mit Hinweisen darauf, aus welchen Verbrecherkreisen die Opfer stammen, ob zu den Kriminellen oder politischen Gegnern zählend. Bei diesen Gedanken stöhnte Schabunke, denn Schreiben war nicht sein Fall. Großspurige Reden, ja, die konnte er schwingen. Über sie musste er keine Berichte anfertigen.

Die immer lauter werdende Menge geriet sich nun in die Haare. Die Menschen packten sich rücksichtslos an Nasen, Ohren und anderen Körperteilen. Schabunkes gut gemeinte Ratschläge veranlassten die Leute, sich gegenseitiger Tierquälerei zu bezichtigen. Von bloßer Verunglimpfung des Mastschweins als blöde Sau über den rasierten Schwanz der Hauskatze bis hin zu betrunken gemachten Hühnern reichte die Spannweite an vorgeworfenen Tätlichkeiten.

Für den Ortspolizisten waren solche offen ausgetragenen Händel nichts Außergewöhnliches. Schon als junger Mann hatte er mit Vorliebe an Massenschlägereien teilgenommen. Jedoch nur an solchen, in denen wirklich die Fetzen flogen. Kaum volljährig, trat er der Kommunistischen Partei bei. In dieser Mitgliedschaft hatte er einmal an einem Aufmarsch der KPD teilgenommen, der schließlich in einer wüsten Keilerei mit den Nazis endete. Obwohl anschließend total lädiert, trat Schabunke mit diesen Wunden in Würda als Märtyrer auf. In immer blutrünstigeren Übertreibungen berichtete er, wie auch er den Nazis aufs Maul gehauen hätte. Später nahm er an diversen Saalschlachten teil. Eine von diesen provozierte er selbst, und zwar nirgendwo anders als in Würda selbst.

Weil einige ortsansässige Sozialdemokraten seine Fähigkeit angezweifelt hatten, sich kräftig genug prügeln zu können, wollte er ihnen das im Kneipensaal beweisen. Als wieder einmal Ringelpietz angesagt war und Jung und Alt sich beim Tanze drehten, wurde diese Fröhlichkeit plötzlich durch einen Tusch unterbrochen. Auf der Bühne erschien der Jungkommunist Ernst-Günther Schabunke und brüllte in den Saal, dass es an der Zeit sei, auch einmal ein Arbeiterlied zu spielen, und zwar 'Rot Front' marschiert! Kaum gerufen, gellte aus zwei Kehlen, dass das Lied 'SA marschiert!' heiße.

Schabunke kannte die Schreier, und er freute sich, dass seine Provokation gelungen war. Die da berichtigt hatten, waren die Sozis, die seine kämpferischen Fähigkeiten angezweifelt hatten. Ernst-Günther rief: „Habt ihr gehört, Leute, diese Subjekte nennen sich Sozialisten, machen aber gemeinsame Sache mit den Nazis! Auf sie mit Gebrüll!“

Auf die beabsichtigte Wirkung seines Schlachtrufs konnte sich der Prügel-Prolet verlassen, denn Würda galt in den 20er Jahren als ausgesprochen „Rotes Nest“. Was an diesem Samstagabend so friedlich begonnen hatte, endete in einer Saalschlacht. Zu den Wenigen, die das Kampfgetümmel schadlos überstanden hatten, zählten einige Frauen und Schabunke selbst. Der hatte sich gleich nach Schlachtbeginn verkrümelt und war mit dem Fahrrad nach Bimstedt gefahren, um im dortigen Gasthof zu verkünden, dass in Würda eine Massenschlägerei im Gange sei. Was gab es für Bimstedts Raufbolde Schöneres, als wieder einmal ein Wochenende mit Handgreiflichkeiten zu beleben.

Wenige Tage später wirbelten durch Holas Straßen Flugblätter der Kommunistischen 'Roten Zelle', in denen der klare Klassenstandpunkt und der kämpferische Wille des Jungkommunisten Ernst-Günther Schabunke aus dem Dorfe Würda gerühmt wurde. Die Nationalsozialisten jedoch, die einige Jahre später auch in Würda an die Macht gelangt waren, würdigten Schabunkes Einsatz mit seiner Unterbringung in einer Verwahranstalt für politisch Andersdenkende.

Der konnte das anfänglich nicht recht begreifen und gab vor, sich ebenso gern wie die Nazis gedroschen zu haben. Von einer Ideologie sei bei ihm ebenso wenig vorhanden gewesen wie bei den Genossen Nationalsozialisten. Diese Bemerkung missfiel besonders, und so wurde Schabunke dazu verdonnert, täglich in braunen Propagandaschriften zu lesen, und zwar so lange, bis ihm speiübel werde. Ernst-Günther fand das schließlich zum Kotzen und wurde, weil er das einsah, in ein Straflager gebracht, das von dichtem Wald umgeben war. Hier fand er seine innige Liebe zur Natur und zu den Bäumen.

Der Lagerkommandant, in dessen Herz Schabunke sich geschmeichelt hatte, befahl ihm, im Wald Pilze zu sammeln. Weil der Ober-Nazi für sein Leben gern Pilzgerichte aß, bekam Ernst-Günther nun all zu oft die Gelegenheit, sich im Wald herumzutreiben. Der Lagerboss vertraute ihm so sehr, dass er ihn ohne Bewachung durch den Forst streunen ließ. Und in der Tat, Schabunke war längst geläutert, hatte seine ehemalige KPD-Mitgliedschaft geleugnet und fühlte sich in diesem Wald- und Wiesenlager bestens aufgehoben.

Nur einmal hätte ihm beinahe der Rausschmiss gedroht, weil er dem Edel-Nazi Stinkmorcheln angedreht hatte. Die Gattin des SS-Gewaltigen legte ein gutes Wort für Ernst-Günther ein, und so blieb der von der Ausweisung verschont. Die Gönnerin wollte dafür aber bedankt sein und verpflichtete Schabunke, sie des Öfteren zur Pilz-Pirsch mitzunehmen. Wenn Busch und Tann besonders dicht waren, musste sie Ernst-Günther beglücken.

Als sich die NS-Zeit dem Ende zuneigte, neigte sich auch die Zuneigung dem Ende zu. Die Pirschdame wollte ins ganz normale Zivilleben entwischen. Damit sie dabei aber weder von ihrem Gatten noch von dessen Vergangenheit eingeholt wurde, erteilte sie ihrem Liebhaber den Auftrag, unter die Speisepilze auch Giftpilze zu mischen. Der Gatte aß und verschied. Die Gattin war noch vor der Mahlzeit spurlos verschwunden, und so lastete auf Schabunke der Verdacht des Pilzmordes.

Ehe das Standgericht an ihm vollzogen werden konnte, erschienen amerikanische GIs als Befreier vor dem Lagertor. Nachdem man dem Befehlshaber dieser Truppe vermeldet hatte, dass der Lagerhäftling Schabunke den Lagerkommandanten aus dem Leben befördert hatte, wurde der Mordbube zum gefeierten Helden.

Versehen mit solcher Ehre wurde er in die Freiheit und in sein Heimatdorf entlassen. Die sowjetische Besatzungsmacht hielt es für bemerkenswert, dass Schabunke als aufrechter Kommunist einige Jahre seines Lebens in einem Lager der Faschisten zugebracht hatte. Er schien der rechte Mann zu sein, in Würda für antifaschistische Ordnung zu sorgen. Aus dem Rucksackkommunisten wurde ein uniformierter Ordnungshüter. Weil niemand im Ort wagte, an seiner Vergangenheit zu deuteln – man fürchtete die Allmacht der Russen -, wurden Schabunkes Amtshandlungen stillschweigend erduldet und befolgt.

Nun aber, Jahre später, wagte man, sich vor seiner Person in die Wolle zu kriegen. Ernst –Günther ließ den Mob gewähren. Warum sollte er eingreifen, wenn hier Selbstjustiz im Gange war. Schon morgen würde er ein weiteres Exempel statuieren, damit der Prügelhaufen Verständnis für den Schutz von Volkseigentum bekäme.

Die Vorbereitungen hierzu traf er in der folgenden Nacht. Zwei Polizeihelfer mussten einen Baum absägen, der zu einer Gruppe Gleichstämmiger nahe der Busenberge gehörte. Am nächsten Morgen stand er mitten auf dem Platz vor der Dorfkneipe. Seines Geästs und seiner Wurzeln beraubt war er als nackter Stamm in die Erde gegraben. Die Würdaer wunderten sich, dass während einer Nacht ein Baum ohne Äste und Zweige gewachsen war. Das konnte nur das Werk Gottes sein.

Flugs wurde Pastor Frommel herbeigebeten, der diesen Stamm als göttliche Fügung wertete. „Seht“, sprach er zum umstehenden Volk, „so wie diesen Baum hat der Allmächtige jedes Wesen nackt auf die Erde gebracht; nackt und unschuldig. Auch Adam und Eva waren unbekleidet.“

Emma Zunkes gottloser Schandrachen bemerkte, dass beide aber nicht unschuldig gewesen wären. Der Herr Pfarrer strafte sie mit einem bösen Blick und rief, dass die Schuld der beiden darin bestanden hätte, auch eine Emma Zunke zu ihren Nachfahren gemacht zu haben.

„Aber nackt bin ich nicht“, wehrte sich Emma.

„Gott sei Dank!“ so der Pastor.

Die zur Schule eilende Theodora Lieblich mischte sich neugierig unter die Menge. Beim Anblick des astlosen Baumstamms rief sie erfreut: „Ein Geschenk Gottes. Hier kann ich heute Nachmittag mit den Pionieren endlich das versprochene Indianerfest veranstalten. Der Marterpfahl steht schon. Mal sehen, wen wir an ihn fesseln!“

Wie aus dem Erdboden gewachsen stand plötzlich ABV Schabunke am Pfahl und breitete theatralisch die Arme aus. Sofort trat Ruhe ein. „Hört ihr Leute, lasst euch sagen, den Baumstamm hier ließ ich wohl schlagen.“

„Reizend“, rief die Lieblich, „wie im Theater. Fehlt nur noch der Hut auf der Stange.“

„Was für ein Hut?“ fragte jemand neben ihr.

„Der vom Gessler natürlich!“

„Ach so, der hat ihn wohl wieder in der Kneipe hängen lassen.“

„Bürger von Würda!“ dröhnte es vom Baumstamm her, „heute gebe ich ein Beispiel für den schändlichen Umgang mit der volkseigenen Natur.“ Schabunke deutete auf den Stamm.

Pastor Frommel murmelte entsetzt. „Die Natur ist Gottes Schöpfung!“ Dann entschwand er der Menge.

Lang und breit ließ sich der Dorf-Sheriff nun darüber aus, welche schlimmen Folgen es hätte, wenn sämtliche Bäume in und um Würda mit Stumpf und Stiel ausgerottet wären. Man lauschte ihm andächtig und verfiel nicht in Gezänk wie am Tag zuvor. Schabunke hatte sich auf die Rede gründlich vorbereitet und als er da anlangte zu sagen, dass die kleinen Vögelchen keine Nistplätzchen mehr anlegen könnten, weinten einige Frauen.

Das dankbare Hündchen von gestern erschien wieder und hob diesmal das Beinchen gegen den Baumstamm. Wieder ein Tritt, wieder ein Jaulen und wieder ein Flug in die Menge. Ernst-Günther Schabunke verstand es ausgezeichnet, die Theorie mit der Praxis zu verbinden.

„Mich macht jedoch so zornig, dass dieser Baum zu Lebzeiten in übelster Weise tätowiert wurde.“ Der Polizist deutete auf eine Stelle in Stammesmitte.

Die Nächststehenden konnten lesen, dass in seine Rinde Ei laff ju! geritzt war. Darunter war ein Herz geschnitzt, das ein Pfeil durchbohrte. Weil die Menschen keine Unmutsbewegung ergriff, regte der ABV eine solche an.

„Stell dir vor, Franz“, sprach er den dicht vor ihm stehenden Franz Apel an, „dir wäre so etwas bei lebendigem Leibe in die Haut geritzt worden. Was hättest du gedacht?“

„Dass der so was tut ein Verbrecher ist.“

„Hervorragend“, strahlte Schabunke, „ein Verbrecher.“

„Na klar“, nahm Franz noch einmal das Wort, „wer sich einen Pfeil durch sein Herz schießen tut, ist auch ein Mörder.“

„Ausgezeichnet“, frohlockte Ernst-Günther, „ein Mörder.“ Dann an die Masse gewandt: „Könnt ihr euch vorstellen, wie weh das tut?“

Die reichlich naive Lisa Dumke rief, dass ihr Liebster auch einmal so ein durchbohrtes Herz unter einen Liebesbrief gemalt hätte.

„Dann war der das mit dem Baumstamm!“ rief jemand.

„Du spinnst doch“, die Dumke, „der ist schon lange tot!“

„Was mich nicht wundert“, grinste Schabunke beim Blick auf die übergewichtige ehemalige Köchin derer von Hummelshausen.

Jemand wollte nun wissen, was Ei laff ju! bedeutet. Das überstieg auch Ernst-Günthers geistigen Horizont. Weil er sich diese Blöße aber nicht geben wollte, antwortete er: „Das ist arabisch und bedeutet so viel wie …, na, ihr könnt euch das schon denken.“

Weil niemand in den Verdacht geraten wollte, sich das nicht denken zu können, stieg ein empörtes Raunen empor. Nur einer raunte nicht und zog sich still und leise aus der Menschenansammlung zurück. Es war eben der, der dem Baum arabisch zu Leibe gerückt war.

Der Stamm blieb einem Mahnmal gleich noch einige Tage auf dem Kneipenplatz stehen. Von dem Tage an hielt sich die Floskel: „Das ist arabisch!“ – wenn etwas nicht genau erklärt werden konnte. Die Sprache der Eltern ihren schulpflichtigen Kindern gegenüber wurde zunehmend arabisch.

 

Drei Blicke in Würdas Vergangenheit

 

Der erste Blick gilt Walfriede Wuchtel

Ganz und gar nicht arabisch fand es Ortsparteisekretär Willi Stoffel, als er eines Tages am Kastanienplatz vorüber kam. Zwischen den sieben Kastanienbäumen liefen Mädchen und Jungen hin und her und riefen sich zu: „Krieg mich doch!“ Dieser Wortschatz missfiel Willi, und er rief die Kinder zu sich. Ihnen erklärte er, dass es für künftige Erbauer des Sozialismus unziemlich sei, das Wort Krieg im Munde zu führen. Er hatte auch gleich die Ersatzvokabel parat und riet dem sozialistischen Nachwuchs, das Wort 'Friede' zu gebrauchen. Als Stoffel verschwunden war, kreischten die Kinder: „Befriedige mich!“

Bei diesen unzüchtigen Ausrufen hätten die Blätter der Kastanienbäume schamrot werden müssen. Sie blieben aber grün, weil sie wussten, dass die Kinderlein wie Kinderlein denken und nicht wie Erwachsene. Da im Moment keine Erwachsenen in der Nähe waren, sinnierten die Blätter darüber, was Walfriede Wuchtel wohl gesagt hätte. Dieses Fräulein hatte die sieben Kastanienbäume vor ca. 100 Jahren gepflanzt. An jedem Tag einer einzigen Woche hatte sie ein Bäumchen der Erde anvertraut.

Walfriede litt, das wusste vor ca. 100 Jahren jeder, unter dem so genannten Wochentagssyndrom. Weil ihr innerhalb einer Woche sieben Liebhaber abhanden gekommen waren, pflanzte sie für jeden dieser Treulosen ein Kastanienbäumchen. So strafte sie diese, denn sie konnten sich nun nicht mehr von der Stelle bewegen.

Einige Zeilen der von mir aufgefundenen Gemeindenachrichten munkeln, dass Fräulein Wuchtel wohl eher eine Schwuchtel war, die es mit einigen Männern gleichzeitig trieb. Der Chronist hatte mit leicht zitternder Feder vermerkt, dass Walfriede nur reinseidene Kleider -, die Feder war noch mehr ins Zittern geraten – reinseidene Unterkleider, und nun waren die Schriftzüge eine einzige Krakelei – auch reinseidene Unterhöschen getragen habe. Nun waren die Buchstaben fast unleserlich, und ich vermutete, dass der Tiefblick auf die rosa Strumpfbänder den Lehrer völlig verwirrt hatte. Auf jedem Bändchen wäre der Name eines Wochentages eingestickt gewesen. Der Schreiber berief sich auf glaubhafte Mitteilungen männlicher Schüler der oberen Klasse. Er schloss mit der läuternden Bemerkung, dass Fräulein Walfriede Wuchtel von edlem Geblüt sei und ihr Herr Vater sieben Pferde im Stall stehen habe. Jedes Pferd höre auf einen Namen von Montag bis Sonntag.

 

Der zweite Blick trifft Hasso Keil

Beim weiteren Kramen in historischen Aufzeichnungen kamen mir die Hasso-Keil-Briefe in die Finger. Zunächst interessierte mich, was der alte Feldhüter über das Entstehen des Dorfes Würda zu schreiben wusste. Darüber schwieg sich die Ortschronik nämlich aus. Dank Pospischilscher Reinschrift wurde mir das Lesen leicht und zum Vergnügen.

Im ersten Brief tat Hasso Keil der Hummelshausener Hochwohllöblichkeit kund, dass Würda an der Würda liege. Dieser Bach sei einstmals klar und rein gewesen. Man hätte sich in seinem Wasser die Füße waschen können, ohne anschließend die Krätze zu kriegen. Jetzt würden die Kinder hinein spucken und Männer hinein pissen.

Um Würda ranke sich auch eine Sage. Ihr zufolge wäre es in grauer Vorzeit beinahe passiert, dass das muntere Bächlein um das Dorf einen weiten Bogen gemacht hätte, weil ein betrunkener Ritter, der seine Burg nicht finden konnte, sich in selbiges erbrach. Bei dieser ekelhaften Prozedur sei Kuno von Hinkelstein vornüber gekippt und dann in den Fluten ertrunken. Für diese würdelose Behandlung wollte sich der Bach rächen und einen anderen Verlauf nehmen. Schnell gaben ihm die Anwohner die Würde zurück und nannten ihn Würda. Diesen Namen erhielt sodann auch der Ort, den dieses Bächlein durchfließt.

Würda sei zwar nur auf wenigen Landkarten verzeichnet, doch könne man dieses Dorf, das einstmals nur von Bauern bewohnt war, leicht finden. Genau da, wo sich die vier Himmelsrichtungen kreuzen, liege es. Diese Angabe hatte der alte Feldhüter sicherlich nach dem fünften Schluck aus der Flasche getan. Die Leute, die Old-Hasso noch aus seinen besten Tagen kannten, wussten, dass er reichlich Korn einfuhr – zu jeder Jahreszeit in flüssiger Form.

 

Der dritte Blick ereilt das Geschlecht derer von Hummelshausen

Ein anderer Keil-Brief erweckte mein Interesse, weil er sich über den Namensursprung derer von Hummelshausen ausließ. Ob diese Zeilen den Empfänger erfreuten oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis.

Der Feldhüter schrieb, dass der soundsovielte Urgroßvater ein rechter Springinsfeld gewesen sei. Er hätte sogar mit einer Magd ein Kind gezeugt. Der nachfolgende Großvater wäre jedoch ein äußerst sparsamer Mann gewesen. Er sei mit dem Samen nicht so verschwenderisch umgegangen, weil er der Ansicht war, dass auch das kleinste Korn zu großer Ernte beitrage. Der alte Herr habe immer nur zwei Paar Socken getragen; das eine Paar im ersten, das andere Paar im zweiten Halbjahr. Wenn seine Gattin ihn schalt, er hätte wieder Kartoffeln in den Socken, meinte er, dass es Bauernsocken seien.

Ein ganz einfacher Mensch war der alte Herr. Statt sich einen Ledergürtel um den Hosenbund zu binden oder Hosenträger zu tragen, schlang er um den Bauch einen Bindfaden. „Was einen Getreidesack zusammenhält, hält auch mich alten Sack zusammen“, war seine Devise, die ihm die Achtung der Dorfbewohner einbrachte. Er genierte sich auch nicht, beim sonntäglichen Kirchgang mit Inbrunst am Hintern zu kratzen. Als ihm dabei einmal ein lauter Darmwind entfuhr, fiel eine Jungfer des Jungfrauenvereins in Ohnmacht.

So schlicht er in seiner Lebensführung war, so verschwenderisch zeigte er sich beim Kartenspiel – seinem einzigen Laster. Weil für ihn in Würdas Kneipe nichts mehr zu gewinnen war, denn niemand wagte sich mehr an seinen Spieltisch, zog er allsonnabendlich in einen der Nachbarorte. Aber auch dort saß er bald allein am Tisch, weil seine unfairen Kartentricks von aufrichtigen Skatfreunden verabscheut wurden. Deshalb zog es ihn in eine weiter entfernt liegende Kneipe, die er mit Pferd und Kutsche erreichte.

Weil ihm eines Skatabends auch hier aufrichtiges Misstrauen entgegenschlug, rettete sich Falschspieler Hummelshausen in eine Wette. Wenn er die nächste Skatrunde verliere, bei ganz ehrlicher Spielweise versteht sich, dann gehörten dem Gewinner Pferd und Kutsche da draußen. Das Spiel nahm seinen Fortgang. Am frühen Morgen erreichte der alte Herr zu Fuß seinen Bauernhof. Seine Gattin jammerte, er werde noch Sack und Seele verspielen.

So kam es dann auch; er verlor beides an den Teufel, wie man in Würda scheu munkelte.

Von manch anderen Merkwürdigkeiten wusste Feldhüter Keil noch zu berichten, doch legte ich die Briefe erst einmal zur Seite, um den Blick wieder auf Gegenwärtiges zu richten. Nur wusste ich im Moment nicht, welche Begebenheit in Betracht ziehen sollte.

 

Adelinde Brutsch und Mona Lisa

Sinnend blickte ich durchs Fenster meiner Bodenkammer und sah, wie sich auf einem Kastanienblatt ein Maikäfer von einer Maikäferin trennen wollte. Sein Bemühen war vergeblich; er konnte von ihr nicht kommen. Dass solches nicht nur bei Maikäfern geschieht, sondern manchmal auch bei Menschen, wollte ich an einem Beispiel belegen, das sich vor zwei Sommern in einem Heuhaufen zugetragen hatte. Die rettende Überleitung dankte ich dem Maikäferpärchen und begann zu schreiben. Als ich den Höhepunkt meiner Schilderung erreicht hatte, betrat überraschend meine Ehefrau den Raum. Sie beugte sich über mich und las, was ich in Sätze gefasst hatte. Ich freute mich über ihr Interesse und erhielt plötzlich einen heftigen Klaps auf den Hinterkopf. Dem folgte die zornige Frage, ob ich noch normal sei. Ich hätte wohl die Absicht, einen Schweinsroman zu schreiben. Ich verneinte und verwies auf die Maikäfer, die Schuld an diesem Gedankenflug hätten. Inge riss die beschriebenen Blätter an sich und dann in Stücke. Die Maikäfer seien sudanesische Zwillinge, zürnte sie.

„Wenn schon, dann siamesische“, wagte ich zu korrigieren, bereute diesen Mut aber augenblicklich. Sie warf mir die Papierschnipsel an den Kopf und verließ mit dem Ausruf, ich sei ein Saukerl, die Bodenkammer. Inge Goldstein hatte in ihrer Kindheit und Jugend Ethik und Moral löffelweise zu sich nehmen müssen.

Einer ähnlichen Fütterung war auch Adelinde Brutsch unterzogen worden. Sie war das erste Mädchen, mit dem ich mich angefreundet hatte, als ich mit meinen Eltern in Würda sesshaft wurde. Sie hatte es weniger im Kopf, dafür mehr in den Brüsten, die in ihrem Wachstum weit voraus waren. Aber wehe, wenn ich an diese auch nur mal getippt hätte. Schon ein scheeler Blick auf diese Wölbungen hätte zu einer Vorladung bei ihrer Mutter geführt. Der wollte ich nun wirklich nicht in die Finger geraten, weil sie über Kräfte verfügte, wie sie nur zwei ausgewachsene Männer aufbrachten.

Frau Brutsch war verheiratet, mehr aber mit sich selbst, denn der Mann an ihrer Seite war so klein und mickrig, dass man hätte glauben können, er wäre gewaltsam in diese Statur gebracht worden. Dabei gab sich Frau Brutsch lammfromm. Fromm war sie auf jeden Fall. Einzig und allein die 10 Gebote regelten ihren Lebens- und Tageslauf. So erklärte sich, dass Tochter Adelinde nicht anders dachte und handelte.

Es grenzte deshalb an ein Wunder, dass sie sich mir, einem Nichtgetauften, einem Heiden, hingab. Bei kindlichen Spielen. Vielleicht wollte sie mich bekehren, vielleicht hatte sie mich gern. Weil ich sie ebenfalls mochte, lieh ich ihr eines Tages eine selbst verfasste Kindergeschichte. Als Selbstverlag hatte ich die handgeschriebenen Seiten in ein selbst gefertigtes Cover gebunden. Zwischen zwei aufgemalten Tannenbäumen prangte in großen Lettern der Buchtitel Abenteuer im Wald. Dahinter verbarg sich ein harmloses Märchen, das von guten und bösen Waldtieren erzählt. Ich war jedenfalls recht stolz, meiner 'Busenfreundin' mein Erstlingswerk zu leihen. Sie nahm es erfreut entgegen, denn sie war sich der Erstleserin-Ehre durchaus bewusst. Doch schon am nächsten Tag kam es über mich wie das Jüngste Gericht. Adelinde warf mir die Dichtung vor die Füße und schalt mich einen unzüchtigen Unhold, der ihre reine Mädchenseele verderben wolle. Ich tat erstaunt und fragte, was an dieser Geschichte so unzüchtig sei. Das wisse sie nicht, denn sie habe keine einzige Zeile gelesen. Gott sei Dank nicht! Ihre Mutter habe sie davor bewahrt. Als diese nämlich den Titel Abenteuer im Wald vor Augen bekam, hätte sie mich einen Lüstling, Antichristen und Mädchenverführer genannt.

Wieder ein Beispiel dafür, wie eine gute Absicht sich ins Gegenteil verkehren kann. Adelinde gebar in ihren ersten vier Ehejahren drei Kinder. Ihr Mann hieß Waldemar Kuckuck und musste aufgrund dieses Namens einen Eignungstest bei Schwiegermutter in spe ablegen. Nachdem er die 10 Gebote von vorn nach hinten und wieder zurück fehlerfrei aufsagen konnte, war ihm gestattet, Adelinde die Hand zu küssen. Der nächste Schwierigkeitsgrad bestand darin, dem Herrn Pfarrer alle begangenen Sünden zu beichten. Dabei wäre es um Waldemar beinahe geschehen gewesen, denn er gestand, als Kind aus Mutters Speisekammer einen eingelegten Hering gestohlen zu haben. Frau Brutsch tadelte ihn heftig und meinte, wer einen Hering stehle, sei auch imstande, einem Mädchen die Unschuld zu rauben. Waldemar war dämlich genug zu fragen, wo Adelinde ihre Unschuld versteckt halte. Er wolle diese mit aller Macht beschützen. Adelinde war noch dämlicher und verriet dem jungen Kuckuck dieses Versteck, in das er nun seine Eier legte.

Dieser Gedanke half mir festzustellen, dass im Kastanienbaum vor unserem Haus auch Vögel nisten. Unsere Katze hatte das längst spitz gekriegt und betätigte sich nun eifrig als Nesträuber. Bei einem dieser Raubzüge wagte sie sich jedoch zu weit auf ein Astende vor, das nachgab und Mona Lisa nach unten plumpsen ließ. Obwohl Katzen zäh sind, hatte sie sich eine innere Verletzung zugezogen. Schwiegermutter war untröstlich. Ich nicht, denn ich hoffte, Mona würde nie wieder Vögeln nachstellen. Als hätte Lotte Goldstein meine garstigen Gedanken erraten, beauftragte sie mich, Lieselchen sofort von Tierarzt Dr. Piep untersuchen zu lassen. Ich tat danach. Als mich Piep fragte, wie Mona Lisa zu dem Schaden gekommen sei und ich ihm wahrheitsgemäß antwortete, verordnete er ihr ein Medikament, das bei ihr zum Haarausfall führte.

Dr. Piep gab unmissverständlich zu verstehen, dass er, wenn es in seiner Macht stünde, alle Katzen des Dorfes und die der umliegenden Ortschaften schonungslos ausrotten würde. Da er als Veterinärmediziner aber gewissen veterinären Grundsätzen verpflichtet sei, habe er ein Euthanasieprogramm entwickelt. Ich guckte antifaschistisch. Er schwächte ab und sagte, dass es nur um Katzen gehe. Um Kater natürlich auch. Ich gab zu bedenken, dass er sich dann des Völkermords schuldig mache, denn in Würda hatten Katzen den gleichen Wert wie Menschen. Jede Familie hatte mindestens eine Katze oder einen Kater neben dem Tisch oder auf dem Fenstersims sitzen. Sauf-Anton hatte jeden Morgen einen Kater.

Würdas hässlichstes Frauenzimmer, Frieda Kolle, umgab sich haufenweise mit Katzen. Die durften sich bei ihr überall lümmeln und räkeln. Jeder hatte sie einen Namen gegeben; was sie ihnen aber nicht gab, war das tägliche Futter. Deshalb war dieser Katzenhaufen ständig unterwegs, um auf eigene Tatze Nahrung zu suchen. Weil bald ein akuter Mäusemangel herrschte, fielen die Nimmersatten in benachbarte Speisekammern und Wurstkeller ein. Diese Invasion blieb natürlich nicht geheim. Man hasste die Kolle-Katzen wie die Pest.

Um dieser Plage Herr zu werden, legten sich die näheren und weiteren Nachbarn einen Hund zu. Das war jedoch das Falscheste, was sie tun konnten, denn Würda wurde nun von einem Radau erfüllt, der auf die Nerven ging. Die Folge waren heftige Streitigkeiten zwischen Hundebesitzern und Nichthundebesitzern. In einigen Fällen wurde man sogar handgreiflich..

Diese spannungsgeladene Situation hätte beinahe auch ein Menschenleben gefordert.

 

Egon Sass

Egon Sass, Würdas einziger Mondsüchtiger, fiel bei einer der nächtlichen Ruhestörungen vom Balkon seines Hauses. Weil unter diesem aus Sicherheitsgründen eine Hängematte gespannt war, blieb er unverletzt. In jungen Jahren, als er noch rank und schlank war, kroch er in Mondscheinnächten durch die Bodenluke aufs Dach. Nun, da er durch sie nicht mehr passte, wandelte er auf dem Balkongeländer. Bei Vollmond hüpfte er sogar auf diesem. So tat er es auch in der Nacht, in der die Hunde den Vollmond gemeinsam anbellten.

Egons Angetraute bedauerte zwar heimlich, dass der sich nicht wenigstens irgendeinen Knochen gebrochen hatte, klagte aber öffentlich, dass es hätte sein können. Ihr geldgieriges Bemühen richtete sich nämlich auf eine entschädigende Versicherungssumme, die erklecklich sein sollte.

Weil Vollmond nicht allzu häufig ist und Egon bei seinen Balanceakten schlafwandlerische Sicherheit bewies, ersann Else Sass eine gemeine Hinterlist, um an das große Geld zu kommen. Bei Anbeginn einer nächsten Vollmondnacht – Egon lag bereits im Bett – beschmierte sie das Balkongeländer mit Staucherfett. Zusätzlich entfernte sie die Hängematte.

So kam, was kommen musste: Egon glitt aus und sauste im freien Fall nach unten. Der ihn begleitende Schutzengel dämpfte aber den Sturz. Am Kopf hatte Egon dennoch etwas Schaden genommen, denn er bezichtigte seine Frau, ihn aus dem Bett geschubst zu haben. Die war sehr enttäuscht. Sie konnte nicht verstehen, wie ihr Mann den Sturz aus dieser Höhe ohne größere Verletzungen überstanden hatte. Während sie das bedauerte, flatterte über ihrem Kopf Egons Schutzengel und grinste froh.

Es war eigentlich gut so, dass Egon Sass gesund und munter blieb, denn er war eine schier unersetzliche Fachkraft beim Rat des Bezirkes in Hola. Hier wirkte er als Finanzbuchhalter, genauer gesagt als Vorsitzender der Finanzbuchhaltung. Diese verantwortungsvolle Funktion hatte man ihm übertragen, weil er im Kopfrechnen unschlagbar war. Das Einmaleins konnte er im Schlaf dahersagen, in mondlosen Nächten wohlgemerkt. Seine übergeordneten Chefs lasen ihm jeden Wunsch von den Lippen ab. Sie wussten, dass Egon in seinen Wünschen bescheiden blieb. Zweimal jährlich erhielt er eine Geldprämie, jährlich einmal durfte er – gemeinsam mit seiner arglistigen Gattin – Urlaub im sozialistischen Ausland machen. Die Übergeordneten waren ausgesprochen nett zu ihm. Das hatte natürlich seinen Grund. Egon wusste von unlauteren Transaktionen der Herren Genossen, wenn diese sich mit irgendeiner Parteifreundin am Schwarzen Meer aalten. Die finanzielle Spesenbasis hierfür schuf er mit seinen Rechenmanipulationen. Diese High-society-Genossen dankten ihm das mit einer hohen Versicherungssumme bei der Staatlichen Versicherungsanstalt der DDR. So waren sie sich selbst sehr sicher.

Auf dieses Geld hatte es Else Sass abgesehen. Ein Glück, dass Egon von ihrer Absicht nicht wusste. Rein äußerlich gab sie auch keinen Anlass zu Misstrauen. Im Gegenteil. Mit süßesten Worten umgarnte sie ihn, wann immer sie es für angebracht hielt. Wer ihr zuhörte, konnte meinen, sie sei die Erfinderin aller deutschen Kosenamen. Schnuckilein und Purzelschnurzel waren für sie Ausdrücke niederer Art. Sie begab sich in die Ozonschicht des Vokabulars und brachte Wortfügungen zustande, die selbst einen Linguisten ins Grübeln gebracht hätten. Aber nicht einen Egon Sass, dem man nur mit Zahlenreihen imponieren konnte. Hätte ihn Else Falschgeld genannt, wäre ihm das lieber gewesen als „Du erwachender Morgen, der dem Glanz der Sonne gleicht“.

Bei ihren Bemühungen, der deutschen Sprache Eleganz zu verleihen, hatte Frau Sass hin und wieder mit der Stumpfheit ihres Ehenamens zu ringen. Es ärgerte sie maßlos, dass sie ihn durch die Heirat übernommen hatte. Die Beibehaltung ihres Mädchennamens wäre ihr tausendmal lieber gewesen, weil er von Wohlklang war und von der Rechtschaffenheit ihrer Namensahnen zeugte. Else Sass war eine geborene Rosenduft. Ihr Gatte, dem nur das leserliche Schreiben von Zahlen geläufig war, hatte bei der Eintragung ihres Geburtsnamens auf einem Versicherungsschein so undeutlich gekritzelt, dass Hosenduft zu lesen war. Das schallende Gelächter im Versicherungsbüro veranlasste Frau Sass, ihren Gemahl zu einem Schadensfall zu machen, wenn möglich mit Todesfolge. Dieses makabre Ansinnen erhärtete sich noch durch eine Situation, in die Else lieber nicht gekommen wäre. Als sie nämlich bei irgendeiner bürokratischen Amtshandlung in irgendeinem Büro gebeten wurde, ihren Namen Verheiratet als … zu buchstabieren, tat sie das mit einer Geringschätzung, die ihr Gatte nicht verdient hatte. Sie spreizte das Sass derart zweideutig zu SA-SS, dass ihr Gegenüber aufsprang, die Hacken zusammenknallte und den rechten Arm nach oben riss. Dafür entschuldigte er sich anschließend und empfahl, den Namen Sass mit ß zu schreiben.

 

Raimund Quandt

Es passierte selten, dass sich Fremde nach Würda verirrten. Geschah es doch einmal, dann trachteten sie danach, dieses „Nest“ schnellstens wieder zu verlassen. Diese Flucht begründete sich in der Unwirtlichkeit der Landschaft und des tristen Ambientes unseres Dorfes. Einer war jedoch, der Gefallen an Würda fand. Dieser Mensch, ein Mann in jungen Jahren, nahm Wohnung bei der Bäuerin Dora Klee. Allen Leuten, die es wissen wollten - und das waren wirklich alle -, erzählte er, dass er von weit her komme. Er habe der Bundesrepublik Deutschland den Rücken gekehrt, weil ihn die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen angewidert habe. Diejenigen Zuhörer, die eine nicht ausgebeutete und paketschickende Westverwandtschaft hatten, drehten sich um und gingen ihres Weges.

Ganz anders Willi Stoffel. Der ging geradewegs auf den Fremden zu, herzte ihn und entführte ihn in seine Parteizentrale. Hier überfiel er ihn mit dem Angebot, Kandidat der SED zu werden, denn es sei eindeutig, dass er eine feste marxistisch-leninistische Weltanschauung besitze. Der Umworbene ließ Stoffel wissen, dass er für so einen wichtigen Schritt noch nicht reif genug sei. Er müsse sich erst mit dem sozialistischen Alltag in der DDR vertraut machen. Er sei nämlich Künstler und sehe das Geschehen mit drei Augen. Stoffel stutzte und dachte an Hühneraugen.

Raimund Quandt, der diese Vermutung ahnte, lächelte und erklärte, dass das dritte Auge rein künstlerischer Natur sei. Mit diesem sehe er Dinge, die einem normal Sterblichen verborgen bleiben. Stoffel nickte verstehend, hatte aber nur Bahnhof verstanden, weil ihm die Mitgliedswerbung im Kopf schwirrte. Irgendwann würde er das Bürschchen schon in die Partei kriegen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, riet er dem Überläufer, sich den Alltag in Würda anzusehen, am besten von Samstag Früh bis Sonntag Abend. Das würde völlig reichen, sich mit dem sozialistischen Wachsen und Werden vertraut zu machen.

So schnell war der junge Quandt aber nicht einzufangen, denn sein drittes Auge hatte Stoffels böse Absicht längst erkannt. Deshalb sagte er, dass seine ihm angeborene Kraft die Fliehkraft sei, weshalb er nicht nur dem Westen, sondern auch seinen Eltern entflohen sei. Er verschwieg, dass er mit einem Kumpel die Kreissparkasse überfallen hatte. Während er im Schalterraum den Angestellten die Wasserpistole vor die Nase hielt, war der andere mit der Beute auf und davon. Als Quandt die Polizeisirene hörte, verkrümelte auch er sich. Völlig mittellos lungerte er bettelnd einige Zeit auf der Straße herum, klaute alten Frauen die Handtasche und wurde bei einer Mitnahmeaktion in einem Kaufhaus gestellt. Während er ein viertel Jahr gesiebte Luft atmen musste, reifte in ihm die Überlegung, dass er in der Ostzone besser leben könnte, wenn er dort erzählte, dass er erbarmungslos ausgebeutet worden sei.

Man glaubte ihm aufs Wort, denn heruntergekommen sah er ja aus. Ihm wurde angeboten, als Referent bei FDJ-Schulungsabenden aufzutreten und der Avantgarde des neuen Deutschland darzulegen, wie schonungslos der zum Absterben verurteilte Kapitalismus um sich schlage und als Totengräber seiner selbst wüte. Raimund Quandt tat danach, auch sehr erfolgreich. Dabei half ihm die Gabe, glaubhaft zu lügen. Zeitweise log er derart das Blaue vom Himmel, dass sich die blauen Hemden und Blusen der FDJler ihrer Blässe schämten.

Eines Schulungsabends übertraf Raimund sich selbst an Bläue. Er war betrunken und lag mit dem Oberkörper auf dem Rednerpult. Dabei lallte er Sätze, die er hätte nicht äußern sollen. Am markantesten war die Formulierung, dass Stalin eine fünfmotorige Wildsau sei. Dann schlief er ein. Als er am nächsten Vormittag erwachte, saß er wieder in einer Zelle. In dieser aber nur 4 Wochen, denn zu seiner eigenen Überraschung wurde er unter Händeschütteln, Schulterklopfen und Bruderküssen aus dem Stasi-Knast entlassen.

Als Raimund einen Küsser fragte, warum ihm solche Ehre zuteil werde, antwortete er ihm, dass Stalin wirklich eine politische Wildsau gewesen sei. Das hätte man in der ruhmreichen Sowjetunion nun erkannt. Auf dem letzten Parteitag der KPdSU hätte der Genosse Chruschtschow mit den brutalen Machenschaften Stalins und dem Kult um seine Person abgerechnet. Donnerwetter, dachte Quandt, Cruschtschow ist aber mutig. Dann aber fiel ihm ein, dass sich der Generalissimus nicht mehr rechtfertigen konnte, weil er schon gestorben war.

Man bot Raimund an, als Referent wieder aktiv zu werden. Er sagte zu und referierte, dass ein Baron Münchhausen Minderwertigkeitskomplexe bekommen hätte. Doch auch diese Vortragsabende endeten mit einem Trunkenheitsauftritt und dem Schmähsatz, dass Nikita Chruschtschow genau so behämmert sei wie sein rechter Schuh. Plumps fiel Raimund vom Pult zu Boden. Doch nicht nur das, er fiel endgültig aus der Liste der Agitatoren. Man brachte ihn allerdings nicht wieder hinter schwedische Gardinen, weil man nicht genau wusste, ob auch Genosse Chruschtschow in nächster Zeit den Hut nehmen müsse. Es würde also peinlich sein, Raimund Quandt wieder mit Herzlichkeiten aus dem Kittchen zu geleiten. Man griff zu einem einfacheren Mittel und schob ihn einfach aufs flache Land ab, dahin, wo die Hähne zwar krähen, aber niemand etwas über Quandts jüngste Vergangenheit erfahren würde. Ihm wurde geraten, das Maul zu halten. Andernfalls würde er in den Westen zurückgeschoben.

So also tauchte der junge Mann eines Tages in Würda auf und bei Dora Klee unter. Bei ihr fand er ein sauberes Bett, ein gutes Essen und brauchte keinen Finger krumm zu machen. Er genoss in vollen Zügen die Vorzüge des beginnenden Sozialismus. Ihm gefiel es in Würda. Dora Klee umsorgte ihn wie einen leiblichen Sohn, den sie allerdings nie hatte, weil sie Jungfer geblieben war. 50 Jahre hatte sie die Jungfernschaft tapfer durchgehalten, und nun war ihr wie durch ein Wunder ein Sohn geschenkt worden. Sie dankte dem Himmel, auch Pastor Frommel, dem sie nun täglich einige frische Eier und etwas Ziegenmilch brachte. Für die Eier hatte der Ortsgeistliche gute Verwendung; die Ziegenmilch goss er in den Ausguss.

Während sich die gute Bäuerin über alle Maßen glücklich schätzte, geringschätzte Quandt diese Obhut. Ihn überkam Langeweile und damit das Ansinnen, seinen Tagesablauf etwas abwechslungsreicher zu gestalten. Weil ihm der Sinn aber nicht nach Nützlichem stand, verfiel er auf die abgefeimtesten Einfälle. So fing er Spatzen mit einer selbst entwickelten Vogelfalle, malte diese bunt an und verkaufte sie als seltene exotische Vögel. Als ihm Dr. Piep auf die Schliche kam, musste er dieses unlautere Geschäft einstellen. Er sann weiter. Schließlich war ihm eine andere Idee geboren. Er sammelte auf den umliegenden Feldern Feldsteine ein, und zwar solche, die einigermaßen oval, handgroß und glatt waren. Die tauchte er in Bronzefarbe und bot sie dann als versteinerte Dinosauriereier an. Was er gar nicht beabsichtigt hatte, trat nun ein.

Eines Tages erschienen bei ihm zwei ältere Herren. Sie waren bebrillt, hatten graues Haar und stellten sich als Wissenschaftler der Sektion Vorgeschichte an Holas Universität vor. Für sie sei es von größtem Interesse zu erfahren, wo die Dino-Eier gefunden worden waren. Raimund witterte das große Geschäft und führte die Herren zu den Ackerstellen, wo er die Steine tatsächlich aufgesammelt hatte. Die Herren Wissenschaftler notierten und skizzierten und machten dabei ein Gesicht, als wäre erst vorgestern die Ära der Dinosaurier zu Ende gegangen. Für sie war so bedeutsam und überraschend, dass es in dieser Region tatsächlich eine Herde von diesen Urzeitmonstern gegeben haben müsste. Als sich die Herren von Raimund verabschiedeten, quollen sie vor Dankbarkeit fast über. Eine gebührliche Belohnung sei ihm gewiss.

Schon am nächsten Tag kam ein Trupp Männer ins Dorf. Ohne nach Recht und Grundbesitz zu fragen, verteilten sie sich auf den umliegenden Feldflächen und gruben und hackten im Ackerboden, als gelte es eine prähistorische Siedlung freizulegen. Die beiden Wissenschaftler waren nämlich zur Überzeugung gelangt, dass Raimunds Dino-Eier durch Regen und jährliche Feldbestellung nach oben gelangt waren, der eigentliche Schatz aber tiefer liege. Die Bauern schimpften zwar wie die Rohrspatzen, doch aufhalten konnten sie die Buddelei nicht. Ihnen wurde eine Verfügung mit staatlichem Stempel unter die Nase gehalten.

Als sich die Männer so tief ins Erdreich gegraben hatten, dass man sie nicht mehr sehen konnte, verließ dieses und jenes Bäuerlein die Hoffnung auf eine ertragreiche Ernte. Die bange Frage war, wie man das Ablieferungssoll erfüllen sollte. Die aufgewühlten Felder glichen bald einem Schlachtfeld. Wie riesige Bombenkrater gähnten die Erdlöcher. Mit ihnen gähnten die Männer, die nun überhaupt keine Lust mehr verspürten, nutz- und sinnlos in den Äckern zu graben.

Diesem Gemütszustand brauchten sie sich nicht mehr länger hinzugeben, denn urplötzlich erschienen die beiden Wissenschaftler wieder, in ihrer Begleitung zwei bewaffnete Volkspolizisten. Die Vorgeschichtler guckten so verbissen, als hätten sie auf ein Dino-Ei gebissen. Raimund Quandt, der mit Dora Klee beim Frühstück saß und sich von ihr ob seines scharfsichtigen dritten Auges feiern ließ, wurde durch das energische Klopfen an der Stubentür aufgeschreckt.

„Aufmachen! Polizei! Sie sind verhaftet!“

Drinnen im Zimmer befahlen die Uniformierten: „Anziehen und mitkommen! Wenn Sie noch mal aufs Klo müssen, dann dalli! Versuchen Sie nicht zu türmen; wir schießen gleich, und zwar auf die Beine! Das tut weh!“

Raimund tat, wie ihm geheißen. Den Gang aufs Klo ließ er aus. Dann klickten die Handschellen, und er wurde abgeführt. Dora Klee, die das alles nicht begreifen konnte, schluchzte in einem fort. Die beiden Wissenschaftler schluchzten nicht, sondern fauchten Raimund an, dass er ein schädliches Insekt der Geschichtsforschung sei, das man zertreten müsse. Für diese unfeine Ausdrucksweise der gebildeten Herren hatte Quandt nur ein Grinsen übrig. Das beleidigte den einen Herren so sehr, dass er in Richtung des grinsenden Gesichts spie. Weil Raimund reaktionsschnell den Kopf zur Seite neigte, traf der Speichel das Gesicht des einen Polizisten. Der ersah das als Angriff auf die Staatsgewalt und legte dem Spucker ebenfalls Handschellen an.

Der Grund für Raimunds Verhaftung war logisch. Die Wissenschaftler hatten nämlich versucht, die Dino-Eier bei großer Hitze auszubrüten. Als die Bronzefarbe abblätterte, glaubten sie frohgemut an den Erfolg ihres Versuchs. Als dann aber gar nichts weiter geschah und der Stein nur Stein blieb, nährte sich bei ihnen der Verdacht, dass sie vergackeiert worden seien.

Raimund Quandts neues Domizil war nun keine Gefängniszelle, sondern eine Gummizelle. Seiner gutherzigen Dora schrieb er einige Wochen später einen Brief, in dem er sich für ihr Bemühen bedankte und für seine Handlungsweise entschuldigte. Er sei das Opfer eines Missverständnisses geworden, das sich bald aufgeklärt hätte. Jetzt sei er wieder voll mit seiner Kunst beschäftigt. Im Moment experimentiere er an einer neuen Sorte Kunsthonig. Raimund schloss den Brief mit dem Versprechen, die liebe, gute Dora so bald als möglich zu besuchen.

Bäuerin Klee war wieder einmal überglücklich und eilte mit dem Brief zu Pastor Frommel. Der nutzte ihn bei der nächsten Predigt und sprach von der baldigen Heimkehr des verlorenen Sohnes. Die Frauen weinten, und die Männer guckten ernst.

An eine Heimkehr des Sohnes war allerdings nicht zu denken, denn einer Gummizelle zu entrinnen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Anstaltsdirektor Dr. Frankenstein war von der Sicherheit der Zellen felsenfest überzeugt. Seiner Anstalt war noch nie jemand entwichen. Selbst der bärenstarke Blödian Dodo, der glaubte, der Riese Timpetu zu sein, blieb sein Leben lang hier aufbewahrt. Nicht den geringsten Zweifel hatte Dr. Frankenstein also auch, dass es dem Spinner Quandt gelingen könnte, in die Freiheit zu entkommen.

Der wiederum sann eifrigst darüber nach, wie ihm das schnell möglich sei. Bald hatte er die zündende Idee. Als ihm eines Morgens das Frühstück eingeschoben wurde, wies er es mit der freundlichen Bemerkung zurück, dass er schon gespeist habe. Mit verzückten Augen sah er hinauf zur Raumdecke, streckte die rechte Hand dorthin aus, schüttelte sie ein wenig und sagte: „Danke, du mein Erleuchter!“

Der Wärter glaubte zunächst, dass Raimund die schwach leuchtende Deckenlampe meine. Als der nun aber mit dem Erleuchter zu sprechen begann, da ging dem Wärter ein Licht auf. Weil er ein sehr gläubiger Christ, aber auch ein sehr abergläubischer Mensch war, vermutete er in Raimunds Zelle ein Wesen von höherer Macht, das sich hier eingeschlichen hatte. Andächtig verharrte er deshalb an der geöffneten Klappe und lauschte der Unterhaltung Quandts mit dem Unsichtbaren. Dass nur Raimund sprach, war für den Wärter ein Beweis dafür, dass Unsichtbare für Außenstehende nicht zu hören sind. Weil er aber dennoch gern gewusst hätte, was der Erleuchter so alles sagte, bat er Raimund, ihm das mitzuteilen. Der jedoch wehrte ärgerlich mit der Hand ab, was bedeuten sollte: Störe mich jetzt nicht!

Zur Mittagszeit, als er Raimund das Mittagessen durch die Klappe schob, bedankte der sich wieder mit dem Hinweis, dass er schon ausgiebig mit seinem Erleuchter gespeist habe. Jetzt sei es an der Zeit, mit ihm über den moralischen Verfall und das Ende der Menschheit zu sprechen. Spätestens morgen früh werde er erfahren, an welchem Tag und zu welcher Stunde das Ende da sei. Nur für ganz wenige Menschen werde es eine Rettung vor dem Fegefeuer geben. Die könnte der Erleuchter zwar nicht namentlich nennen, weil ihm einige Personenstandsverzeichnisse fehlen, aber er könnte die Tugenden nennen, die vor einem grässlichen Tode bewahren.

Der Wärter zitterte wie ein Kind, das Angst vor dem Weihnachtsmann hat. Raimund sah das mit Genugtuung. Der Zitternde machte sich beinahe in die Hose, weil er sich einiger Untugenden entsann und nicht wusste, ob diese unter das angekündigte Martyrium fallen könnten. Rasch fragte er Raimund, ob es eine Möglichkeit gebe, von Sünden frei zu kommen. Als Antwort kam es von drinnen: „Die gibt es wohl, willenloser Knecht gottloser Gewalten. Sei morgen früh mit deinem Brötchengeber, dem bitterbösen Frankenstein, hier zur Stelle. Ablass kann dir nur gewährt sein, wenn du mit ihm in dieser Zelle demütig kniest, um das Urteil des Erleuchters zu vernehmen. Und merke wohl: Nicht eher dürft ihr diesen Raum verlassen, als bis euch das Wort des großen Richters erreicht.“ Wie ein Prophet breitete Raimund die Arme aus und rief: „Nun gehe hin, Befleckter, und tue, wie ich gesagt!“

Dem Wärter wurde noch gruseliger, und er hastete ins Büro des Dr. Frankenstein. Dem verklickerte er Quandts Vorhersehung. Der Anstaltsdirektor geriet fast aus der Fassung, doch hielt er sich im Zaum und dachte: Entweder ist der Napfträger plemplem oder der in Zelle 7. Schließlich entschied er, dass sein Mitarbeiter geistig nicht ganz intakt sei, als Folge des jahrelangen Umgangs mit Geistesgestörten. Richtig wütend war er aber auf den Spinner Quandt. Seitdem der hier war, geriet einiges durcheinander. Der machte nämlich überhaupt keine Anstalten, in der Zelle zu toben oder wild zu schreien. Er gab auch nicht vor, eine bedeutende Persönlichkeit zu sein. Erstaunlich, denn einige Namen waren noch unbesetzt. Sicher, Jesus saß schon ein, der hatte Zelle 1 bekommen. Nummer 2 war der Froschkönig. Der wollte immer an die Wand geworfen werden. Insasse Nr. 3 war ein Kater, der zu jeder Mahlzeit lebende Mäuse verlangte. Dr. Frankenstein geriet ins Schwärmen: lauter vollständig Untaugliche hatten in seiner Pension Unterkunft gefunden. Nur Nummer Sieben scherte aus und gab sich wie ein normaler Mensch. Der schadete dem Anstalts-Image. Direktor Frankenstein schrieb seit Monaten an einer neurologischen Studie, die den Titel Präzedenzfälle von Macken tragen sollte. Der Irrsinn-Verlag hatte Druckinteresse bekundet. Außerdem war für Ende des Jahres eine Konferenz nach Augsburg einberufen, in der die bedeutendsten Neurologen Europas über außergewöhnliche Fälle von geistiger Verwirrung sprechen sollten. Dort wollte Dr. Frankenstein sein Werk vorstellen. Vielleicht, so dachte er, könnte die Quandt-Erleuchtung sein Buch als ein weiteres abnormales Beispiel bereichern. Er ließ den Wärter deshalb wissen, dass er für die Vorstellung in Quandts Zelle bereit sei.

So geschah am nächsten Morgen alles so, wie von Nummer 7 verlangt. Wärter und Anstaltsdirektor knieten nebeneinander. Während der eine andächtig nach oben blickte, schaute der andere gelangweilt zur Raumdecke und dachte sich: Der denkt wohl, ich falle auf diesen Schwachsinn rein. Dann schlossen sich Tür und Schloss. Als beide gegen Abend aus der Zelle befreit wurden, war Raimund längst über alle Berge.

Dr. Frankenstein brüllte außer sich: „Den Kerl bringe ich ins Irrenhaus!“

In Augsburg wurde Dr. Frankenstein besondere Aufmerksamkeit zuteil, weil er der einzige Nervenspezialist aus dem Ostblock war. Ein Kollege aus München, der beim Sprechen immer etwas sabberte, wollte wissen, ob Frankenstein mit dem berühmt-berüchtigten Horrorspezialisten gleichen Namens verwandt sei. Der Kollege aus Buxtehude schenkte ihm ein Kilo Bananen und eine große Tafel Vollmilchschokolade von Trumpf. Als er fragte, ob es in der Zone auch Salz gebe, nickte der Gefragte. Der Buxtehuder war zufrieden, denn nun musste er das nicht auch noch kaufen. Ein Neurologe aus Dänemark wollte wissen, ob in Frankensteins Anstalt auch schon einmal Walter Ulbricht eingesessen hätte. Erstauntes Kopfschütteln.

„Na ja“, meinte der Däne, „in unserem Land versteht niemand, dass Herr Ulbricht überholen will ohne einzuholen. Unlogisch. Da könne er doch auch behaupten, alt zu werden, ohne jung gewesen zu sein.“

Dr. Frankenstein fand diese Feststellung sehr interessant und wollte mit dem Kollegen aus Kopenhagen darüber einen Disput führen. Zu diesem kam es aber nicht, weil ein Klingelton den Beginn der Konferenz einläutete. Der Leiter dieser wissenschaftlichen Veranstaltung kündigte als ersten Redner einen Doktor Quandtus an, der sich mit der Frage beschäftige, ob Regenwürmer 14 Tage in der Sahara aushalten könnten, ohne einen Nervenzusammenbruch zu kriegen. Als der Angekündigte ans Rednerpult trat, hätte Dr. Frankenstein beinahe selbst einen Nervenzusammenbruch erlitten. Empört verließ er den Konferenzsaal und murmelte während der Heimreise unablässig: „Wer hat diesen Gehirnamputierten zum Doktor gemacht!“

Frankenstein, der von marxistisch-leninistischen Einflüssen verblendet war, wusste nicht, dass in einer wahren Demokratie grenzenlose Freiheit herrscht, eine Freiheit, in der man alles glauben darf und alles kaufen kann, selbst einen Doktortitel.

Zu Hause angelangt, war Frankenstein geistig so verwirrt, dass er seine Zahnbürste als Kamm verwenden wollte. Dabei brabbelte er unentwegt: „Ich bin ein gehirnamputierter Doktor.“ Man sperrte ihn in Zelle 7, die noch frei war. Ein Genosse der SED-Kreisleitung würdigte die aufopferungsvolle Tätigkeit des ehemaligen Anstaltsleiters, wünschte seiner Familie Gesundheit und ihm geistige Besserung.

 

Ludwig Lust

Nicht nur Raimund Quandt hatte Würda keinen guten Dienst erwiesen, sondern auch ein Herr, von dem nun die Rede sein soll. Eines Tages tauchte ein gut gekleideter Mann bei uns auf. Er tat sehr vornehm, um zu zeigen, dass er von achtbaren Manieren sei. Seine Haltung war gerade, und die Dorfweiber vermuteten, dass er ein Stadtmensch sei. Wen die tägliche Arbeit auf dem Feld nicht gebeugt hatte, der konnte nur einer sein, der täglich mit der Straßenbahn fuhr oder sich abends im Kino aufhielt. Die Frauen tuschelten, dass er bestimmt viele Mädchen ins Kino führte und sie dort verführte. Er war nämlich ein verführerisch schöner Mann, wie Elsbeth Hampel feststellte. Als er ihr zum ersten Mal begegnete, wölbte sie ihre Oberweite so weit nach außen, dass er sich tief bücken musste, um ihr einen Handkuss zu geben. Beim Aufrichten klemmte ihn Elsbeth zwischen beide Wölbungen ein. Das beeindruckte den schönen Herrn aber nicht. Verwunderlich, denn er stellte sich als Ludwig Lust vor. Er verschwieg, dass er weniger Frauenfleisch mehr liebe. Mehr liebte er auch vermögende Frauen. Wohlhabende wollte er wohl haben. Dass solche zumeist Witwen waren, förderte sein Verlangen. Nach dem Krieg gab es genügend Witwen, aber leider nur wenige, die über ein akzeptables Konto verfügten. Das war in den Städten ebenso zertrümmert wie manches Haus. Lediglich auf dem Lande ließ sich Gewinn machen. Man sah es an den vielen Städtern, die Tag für Tag dorthin zogen, um sich das zu holen, was den Hunger erträglicher machte. Das Hamstern verabscheute der schöne Ludwig. Für solche niedere Tätigkeit war er sich zu schade; er fühlte sich zu Höherem berufen.

Als er sich beim Bürgermeister vorstellen wollte und deshalb an meinem Schreibtisch vorüber ging, vernahm ich ein dumpfes Grollen. Ihm knurrte der Magen. Dieses Geräusch entschuldigte er als Veränderung seiner Atemwege, die sich an Landluft gewöhnen müssten. Hoffentlich lässt er hier nicht die Stadtluft sausen, wünschte ich mir und war erstaunt, dass Willi Stoffel ihn ohne Werbung vorüberziehen ließ. Er erklärte mir, dass so ein Fatzke es fertig brächte, den Stoßtrupp der Arbeiter-und-Bauern-Klasse zum Stoßtrupp von geilen Weibern zu machen. Die Partei folge höheren Zielen. Sie dringe tief in die Herzen der werktätigen Bevölkerung ein und nicht in die Arschlöcher willenloser Subjekte und Schmarotzer. Dieser geschniegelte Affe brächte es fertig zu rufen: Proletarier von Würda, liebet und vermehret euch!

Ich war von Stoffels Einschätzung sehr angetan. Weil ich ihm das auch sagte, meinte er, dass ich auf dem besten Wege sei, den Weg nach links zu nehmen, hin zur Mitgliedschaft der SED.

Währenddessen hatte Ludwig Lust sein Einwohneranmeldegespräch bei Traugott Hampel. Dem ging er mit ausgesuchtesten Formulierungen um den abrasierten Bart. Weil Traugott nur geringes Interesse bekundete, verstieg sich Lust in verschnörkelte Redewendungen. Ob der Herr Bürgermeister Kenntnis von Kunst und Literatur habe, so etwa von Boccacios Decamerone oder der Oper Die lustigen Weiber von Windsor. Traugott Hampel kannte nur die von Würda, und die fand man nicht in einer Oper, sondern im Kneipensaal beim Tanzvergnügen.

Weil Lust vermutete, Herr Hampel sei von geringer Bildung hinsichtlich lustbetonter Künste, griff er zu einem volkstümlichen Werk. Er griff in die Innentasche seines Anzugjacketts und zog ein Taschenbuch heraus, das er dem Bürgermeister auf den Schreibtisch legte. Der guckte auf den Buchtitel, las Clochemerle und ahnte, dass ihm ein unseriöses Machwerk vorgelegt war. Nichts anderes konnte es sein, denn der Titel begann mit Clo. Scheißhauslektüre war sein Fazit. Das sagte er dem Gegenüber auch unverblümt.

Der zeigte sich von den Französischkenntnissen des Bürgermeisters überrascht und bot ihm gleich einige Übersetzungsbeispiele an. So begann er zu sprechen, und das klang so, als würden große Popel den Ausgang seiner Nasenlöcher versperren: „Dö drang sü, allar sör.“ – „Dü gurande bissi wiel.“

Weil Traugott nur Bahnhof verstand und nicht das einfachste Französisch, übersetzte Herr Lust: „Tee trank sie, Aal aß er.“ – „Die Kuh rannte, bis sie fiel.“

Hampel meinte, dass Französisch eine Sprache fürs Bett sei und nicht für den öffentlichen Verkehr. Es klinge wie lüsterne Begierde und würde an Pariser erinnern. Gott sei Dank gebe es in Würda nur eine Person, die diese Sprache beherrsche. Das sei Yvonne Klein, die auch in Liebesdingen gut Bescheid wisse. Seit einiger Zeit sei sie Witwe und halte Ausschau nach einem Mann, der nur sie liebe und nicht ihr beachtliches Konto.

Ludwig Lust trat ungeduldig von einem Bein auf das andere und fragte, ob bestimmte Verhaltensregeln zu beachten seien, wenn man Frau Klein die Aufwartung mache.

Traugott grinste: „Die üblichen.“

Damit wusste der schöne Ludwig wenig anzufangen, weil dörfliche Üblichkeiten mit städtischen kaum vergleichbar waren. Als er das Gemeindeamt verließ und den Weg in Richtung Kneipe einschlug, wo er ein Zimmerchen als Pension bezogen hatte, reiften in ihm die kühnsten Vorstellungen, wie er Madame Klein Avancen machen wollte. Unwillig schubste er den Gedanken beiseite, der ihn daran erinnerte, dass es doch eigentlich um Moneten gehe.

Seinen einzigen Anzug – ein Nadelstreifenanzug – entstaubte er sorgfältig. Sein einziges Paar Schuhe – Lackschuhe – brachte er mit Spucke auf Hochglanz. Seine einzige Krawatte – eine längs gestreifte – legte er gleich dem weißen Oberhemd unter das Betttuch. Die einfachste Methode zu glätten. Am nächsten Tag betrat er den Friseurladen des Barbiers Erwin Klumpe. Dieser Meister aller Haarschnitte und –verschnitte war zu dieser frühen Vormittagsstunde noch recht nüchtern. Erst gegen 11 Uhr begann er zur Flasche zu greifen, die er im Hinterzimmer stehen hatte. Seine Kunden störte das nicht, weil Erwin auch im Rausch jedem den dorfüblichen Schnitt verpasste. Wer Wert auf moderne Haartracht legte, fuhr in einen Frisiersalon nach Hola. Diesen Begriff betonten einige Frauen besonders, um auf ihre Lockenpracht aufmerksam zu machen.

Als Ludwig Klumpes Haarstudio betreten hatte, fiel ihm auf, dass der Friseur über kein einziges Kopfhaar verfügte. Ein Glatzkopf vom Scheitel bis zu den Ohren. Weil noch kein Kunde im Geschäft war, durfte sich Ludwig auf einen der beiden Stühle setzen. Befragt, welchen Haarschnitt er wünsche, gab er an: Dauerwellen.

Den Frisiervorgang fand Herr Lust wenig lustig, weil sich die Brennschere auch an seiner Kopfhaut verging. Meister Klumpe hingegen freute sich, endlich mal einen fremden Kopf unter seinen Werkzeugen zu haben. Außerdem hingen an diesem auch andere Ohren, denen nun mitgeteilt wurde, was den Besitzer wenig interessierte. Erwin quasselte und zog dabei alle Register seines Friseurwissens.

Unter normalem Verschnittvorgang wäre Herr Lust wahrscheinlich eingeschlafen, aber das Wellenreiten der Brennschere auf seinem Kopf hielt ihn wach, sehr wach sogar. Nachdem er zum zehnten Male „Aua!“ gerufen hatte, war die Prozedur beendet. Erwin Klumpe hielt ihm einen Rasierspiegel vors Gesicht, weil es einen Wandspiegel nicht gab. Der schöne Ludwig traute seinen Augen nicht. Er war nur noch teilweise schön. Was hatte der glatzköpfige Pfuscher mit seinen Haaren gemacht! In Tal- und Hügelform war sein Kopfschmuck zwar gebracht, aber derart gerafft, dass nun vorn und hinten kein Haar mehr deckte. Als er sich über diese Reduzierung beschwerte, meinte Erwin gelassen, dass die Haare für die gewünschte Wellenlänge nicht gereicht hätten.

„Was soll ich denn nun tun?“ jammerte der halbschöne Ludwig.

„Erst mal bezahlen“, antwortete Klumpe. „Ich bin ja wohl nicht schuld, dass Sie jetzt aussehen wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. Sie wollten Dauerwellen haben, nicht ich.“

Um den Verunstalteten nicht so erbarmungswürdig gehen zu lassen, riet ihm Erwin, einen Hut zu kaufen. Es gebe allerdings auch die Möglichkeit, die Haare wieder in die ursprüngliche Form zu bringen, in die annähernde. Dieser Vorgang sei aber etwas schmerzhafter, weil die gewässerten Dauerwellen gebügelt werden müssten.

Ludwig Lust verließ schleunigst Klumpes Laden und entwendete einer Vogelscheuche in einer Kirschbaumplantage den Zylinder. Diesen tauschte er in einem Hutgeschäft Holas gegen einen Hut ein, unbemerkt, weil es ihm wieder mal an Geld fehlte.

Wohlbehütet entstieg er in Würda wieder dem Linienbus. Den Fahrschein hatte ihm Emmi Pospischil bezahlt, die neben ihm saß. Ihr hatte er nämlich erzählt, dass er nach Würda gezogen sei und auf eine größere Geldüberweisung per Post warte. Leider sei die noch nicht eingetroffen. Dass er die Leiterin der örtlichen Poststelle angelogen hatte, konnte er nicht wissen.

Emmi gab sich als diese auch nicht zu erkennen, denn sie neugierig, welch hoher Betrag eintreffen werde. Um den gut aussehenden Herrn mit dem eleganten Hut noch mehr für sich einzunehmen, lieh sie ihm 20 Mark.

Der bedankte sich bei der Verabschiedung von ihr mit einem Handkuss. Dass er den Hut dabei nicht vom Kopf nahm, war Emmi nicht wichtig. In ihrem ewig 40-jährigem Herzen flammte ein Gefühl auf, dass in frühen Jahren schon einmal gelodert hatte. Flugs eilte sie zur Freundin Lotte Goldstein, der sie sich überschwänglich mitteilte.

Die sah Emmis Herzensausbruch gelassener und riet zur Besonnenheit. Ein schöner Mann müsse nicht auch ein liebenswerter sein.

„O doch!“ ereiferte sich Emmi. „Stell dir nur vor, er hat sich von mir mit Handkuss verabschiedet.“

Schwiegermutter stutzte; solche galante Höflichkeit war in Würda nicht üblich. Sie selbst war einmal in jungen Jahren handgeküsst worden. Voller Grimm dachte sie daran zurück, denn anschließend war der Brillantring verschwunden, den sie von Großmutter geerbt hatte. Als der Dieb gefasst war, versuchte er die Tat als Mundraub zu lindern. Vielleicht, so argwöhnte Lotte, ist dieser Fremde auch ein Mundräuber.

„Natürlich“, entzückte sich Emmi, „der hat mir mit dem Mund fast den Verstand geraubt.“

Da hat er nicht viel nehmen müssen, dachte sich Schwiegermutter. Ob er sonst noch etwas entwendet habe, wollte sie wissen. Dabei schaute sie auf Emmis faltenreiche Finger.

„Selbstverständlich! Mein Herz hat er mir gestohlen. Aber er kann mir nicht entweichen, denn ich habe ihm 20 Mark geliehen.“

Die Gemeindeschwester hielt es nun für angebracht, eine seelische Reparatur vorzunehmen. Der schöne fremde Mann sei wahrscheinlich ein ausgemachter Herzensbrecher, der es auf Gut und Geld älterer Damen abgesehen habe.

„Ältere Damen?“ entrüstete sich Emmi.

Lotte glättend: „Damen über 40.“

Emmi: „Der Fremde ist bestimmt aus gutem Hause. Der Herrgott hat ihn mit feinsten Manieren ausgestattet.“

„Ganz bestimmt“, so Lotte, „wenn ein Ring am Finger blinkt, sein Seelchen in den Himmel springt.“ In Schwiegermutters Herz hatte sich die schlimme Erfahrung zu tief eingegraben.

„Du urteilst, ohne ihn gesehen zu haben“, empörte sich die Emmi von der Post. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, rief sie erfreut: „Sieh nur sieh, da steht er!“

Lotte Goldstein schaute durchs Fenster und erblickte den Mann mit Hut.

Der war eben dabei, sich von Emma Zunke erklären zu lassen, wo Yvonne Klein wohnt. Er sei ihr Cousin. Der bitterböse Krieg habe sie aus den Augen verlieren lassen. Emma verlor nun fast selbst die Augen, denn ein so schöner Mann hatte sie noch nie angesprochen. Erregt wackelte sie mit ihrem feisten Hinterteil.

Als Ludwig Lust sagte, dass er selten so wohlgeformte Frauen gesehen habe wie hier in Würda, wurde es Emma feucht im Schlüpfer. Betört von Ludwigs Süßholzraspelei bemühte sie sich um eine saubere Aussprache und wies ihm den Weg zur Cousine.

Just in diesem Moment schlurfte Olga Zinkenbrink herbei. Als sie die dicke Emma so ausgewählt sprechen hörte, begann sie laut zu lachen. Das klang wie das Meckern einer Ziege, und aus ihrer überlangen Nase tropfte es. Wider feine Manier schnäuzte sie in ihre schmutzige Schürze.

Lust widerte das zwar an, aber er blieb auch jetzt ganz Kavalier.

„Madame haben sich sicherlich eine Erkältung zugezogen. Kein Wunder bei diesem scheußlichen Tiefdruckgebiet.“

Olga verging das Schnäuzen.

„Scheußliches Tiefdruckgebiet“ bezog sie auf ihre Schürze; die Anrede „Madame“ auf ihre Person.

Sie verrenkte ihren dürren Oberkörper nach allen Seiten hin. Als sie mit der Verwandlung in „Madame“ fertig war, stöhnte sie hörbar, denn wieder hatte sie der Hexenschuss erwischt.

Emma Zunke, der das nicht entgangen war, lästerte gemein: „Ist der Schuss raus, kann die Hexe gehen!“ Ihr behagte es nicht, dass der schöne Herr die Rotznase Olga mit „Madame“ angesprochen hatte.

Olga holte zum Gegenschlag aus und kniff Emma kräftig in den Hintern. Diesem entfuhr schmerzhaft ein Pups, der Emma außerordentlich peinlich war. Sie stampfte mit einem Fuß auf die Erde, als wollte sie den Mistkäfer zertreten, der sich so unanständig benommen hatte. Bei dieser Gelegenheit trat sie auch gegen Olgas Storchenbeine.

Die Zinkenbrink fiel vornüber, und ihr spitzer Zinken bohrte sich in den Dreck.

Ludwig Lust, der Umgangsformen nur von Stadtfrauen kannte, stand ratlos. Dennoch bückte er sich reaktionsschnell, als die wieder auferstandene Olga der Widersacherin eine Ohrfeige verpassen wollte.

Der Schlag sauste ins Leere, und Olga wirbelte so heftig um ihre eigene Achse, dass sie wieder im Straßenstaub landete.

Jetzt war es an Emma Zunke, laut zu lachen. Diese Schadenfreude unterbrach sie nur für den Satz: „Siehste, olles Dreckstück, jetzt biste da, wo du hingehörst!“

Für ihre rückfällig gewordene Ausdrucksweise musste sie sich nicht schämen, denn der schöne Ludwig war längst um die nächste Hausecke verschwunden. Von dorther trat er aber wenig später wieder in Erscheinung – besser gesagt: lief er in Erscheinung -, gefolgt von einer Schar wütender Gänse. Allen voran mit steifem Hals der Gänserich.

Ludwig hatte, als er den keifenden Weibern entwichen war, am nahen Dorfteich eine kleine Verschnaufpause eingelegt. Weil er transpirierte, nahm er den Hut vom Kopf. Als der Gänserich, der nebst seinem Harem auf dem Dorfteich surfte, den Haarschopf Ludwigs sah, geriet er in Rage. Er vermeinte nämlich, dass der Mensch mit seiner Wellenfrisur den Gänsen nahe treten wolle. Je flotter die Wellen, desto flotter die Gänse, war eine der Weisheiten, die der Dorfteichpascha von seinem Vater mitbekommen hatte. Da heute Windstille herrschte und die Teichoberfläche spiegelglatt war, musste es zu diesem Gefühlsausbruch des Gänserichs kommen.

Schnatterich, wie man ihn nannte, war ein gefürchtetes Federvieh. Nicht nur die Einwohner hielten respektvoll Distanz, auch das Getier wich ängstlich zurück, wenn dieser Dorfteich-Tarzan sein drohendes Geschnatter in die Luft stieß. Selbst Hunde und Katzen flohen mit schreckgeweiteten Augen, wenn sie diesen Kampfruf vernahmen.

So schnell wie hier und heute war Ludwig Lust noch nie gerannt. Auf Holas Stadtpflaster war er nur flaniert, und als Schuljunge hatte er im Fach Sport nur Spott geerntet. Würde Würda ihn mit gleichem Hohn bedenken? Solche Überlegungen waren im Moment aber Zeitvergeudung, denn Schnatterichs Schnabel war nur noch Zentimeter von Ludwigs Hosenbeinen entfernt. In höchster Pein rief der Gehetzte: „Helft mir, ach, ihr hohen Mächte!“

Erstaunlich, wozu Schulwissen manchmal gut sein kann. Ludwigs Ruf wurde erhört. Urplötzlich stand Frieda Kolle neben ihm. Ludwig erstaunte das rasche Erscheinen dieser Unschönen, die einen Hofbesen mit sich führte. Jeder Würdaer hätte ihm diese Erscheinung sofort erklärt. Mit dem Besen sei sie durch die Luft hierher geritten.

 

Frieda Kolle

Kinder und Erwachsene waren der festen Überzeugung, dass Frieda eine Hexe sei. Nicht nur, weil sie ebenso unansehnlich wie die im Märchen Hänsel und Gretel war, sondern weil ihre Mutter kurz nach der häuslichen Entbindung gerufen hätte: „Zum Teufel mit dir!“

Dass diese gottlose Aufforderung nicht der Neugeborenen, sondern ihrem Erzeuger galt, das war im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten und der jüngeren Generation nicht mitgeteilt worden. Man wollte die Moral wahren und deshalb die Jugend nicht wissen lassen, dass Friedas Vater ein Tausendsassa und Hurenbock war. Der hatte vor Jahrzehnten noch andere Jungfrauen Würdas zur Frau und Mutter gemacht. Unter der holden Weiblichkeit hatte sich nämlich die Kunde verbreitet, dass Heini, so hieß der Fuhrmannsknecht, die gleiche Qualität besitze wie der Hengst, den er vor dem Wagen hatte. Wenn Heini an lauen Sommerabenden vom Feld heimkehrte, dann saß auf seinem Heu- oder Strohfuder garantiert ein Mädchen, das nicht nur den Stiel der Gabel in der Hand halten wollte. Weil auch verheiratete Frauen dem Weiberheld verfielen, wurde er eines Nachts von einem blindwütigen Ehemann erschlagen. Er wurde in einem Erdhügel nahe Hola verscharrt. Der Mörder erhielt ein vergoldetes Abzeichen vom Ortsbauernführer, weil er – wie es dann in der Zeitung stand – einen kommunistischen Verbrecher in selbstlosem Einsatz zur Strecke gebracht hatte. Heini war aber kein Kommunist, sondern ein einfacher Landarbeiter, der es auch liebte zu lieben.

Bei Friedas Mutter hatte Heini aber gemurkst, denn das Töchterchen war vom ersten Augenblick seines Erdendaseins an erschreckend hässlich. Diese Missgestalt wurde dem Mädchen in Kindheit und Jugend zur Last, denn man hänselte und verlachte es, wann immer es möglich war. Wenn andere Mädchen den Jungen verliebte Blicke zuwarfen, dann blieb es Frieda versagt, das auch mal zu können. Sie träumte davon, irgendwann einmal einem schönen Mann in die Arme zu laufen. Oftmals weinte sie auch, weil sie wusste, dass so etwas nie sein würde.

Jahr um Jahr plagte sie der Gedanke, warum nicht auch sie ein bisschen schön sei. Nicht viel, nur ein bisschen, so um die Nasenspitze herum oder einer Warze weniger im Gesicht. Frieda war bei weitem nicht so alt wie sie aussah; sie war in den besten Jahren, würde man sagen. Aber das sagte niemand. Da war es schon einfacher, von ihr als Hexe zu sprechen. Und Hexen sind zeitlos immer alt.

Sie hatte sich längst an ihr bedauerliches Schicksal gewöhnt, aber nicht daran, dieses auch stillschweigend zu erdulden. Wenn man ihr nachsagte, sie würde auf einem Besen reiten, dann wusste sie es besser. Mit diesem wolle sie gründlich Kehraus machen. Dieser Besen sei ein Zauberbesen und werde alle die hinausfegen, die die gute Stube Würda mit ihren schlechten Manieren beschmutzen.

Wen aber sollte sie nun hinwegfegen: den ängstlich rufenden Mann neben ihr oder den auf ihn zustürzenden Gänserich? Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren. Dann stand in Sekundenschnelle ihr Entschluss fest. Weil auch sie zeit ihres Lebens eine Gehetzte war und ihr der Sinn nach Gerechtigkeit stand, drosch sie nun auf den Gänserich ein, der sich soeben an Ludwigs linkem Hosenbein festgebissen hatte. Immer und immer wieder sauste der Besen auf das Gefieder nieder.

In seiner Verbissenheit ertrug Schnatterich lieber die Schläge, als den Schnabel auch nur einen Spalt zu öffnen. Schmach und Schande kämen über ihn, wenn er feige nachgeben würde. Sein Harem hätte sich respektlos von ihm ab- und einem anderen zugewandt.

Blinde Wut unten, blinde Wut oben. Frieda drosch, dass die Federn flogen. Ludwig bekam versehentlich auch einige Schläge ab. Der Hut war ihm längst vom Kopf geflogen. Urplötzlich entblößte es ihn aber noch mehr, denn ein gezielter Hieb Friedas auf den Gänsehals trennte das Tier und auch ein halbes Hosenbein von ihm. Ludwig Lust erweckte nun den Eindruck eines angeschlagenen Landstreichers. Auch der Gänseboss sah nicht gepflegter aus. In dieser zerzausten Runde nahm sich Frieda Kolle fast wie eine Schönheitskönigin aus. Das empfand sie aber nicht, denn ihr Blick ruhte verzückt auf Lusts Antlitz.

Ist der schön, durchsäuselte es ihre Gefühlswelt. Er glich dem Mann ihrer Träume, dem sie in den Armen liegen wollte. Ihre Nasenwarze glühte, der äußerste Punkt ihres in Flammen geratenen Herzens.

Weil der schöne Ludwig über seine Befreiung sehr glücklich war, umarmte er Frieda in großer Dankbarkeit. Sie schwebte auf Wolke Sieben.

Auf dem nackten Boden der Missgunst kamen Emma Zunke und Olga Zinkenbrink herzu. Beide eben noch in Zank und Streit entzweit einte nun die Lästerzunge. Ob der Herr Tomaten auf den Augen habe, frotzelte die Zunke, und die Zinkenbrink stänkerte, der Herr hätte wohl ein Warzenschwein gefangen.

Noch ehe Ludwig sich äußern konnte, klatschte Friedas Besen den beiden Frauen heftig um die Ohren. Herr Lust bat nicht um Einhalt, er tat das weitaus Klügere und entfernte sich vom Kampfplatz. Das Gekreische der drei Weiber schallte durchs halbe Dorf. Ludwig hörte es noch, als er Yvonne Kleins Häuschen erreicht hatte.

 

Yvonne Klein

Durch lautes Klopfen an der Hoftür machte er sich bemerkbar. Yvonne hatte ihn schon entdeckt. Zwei Rasierspiegel, an der Außenseite ihres Küchenfensters links und rechts angebracht, ließen sie sehen, was auf der Straße vor sich ging. Während Ludwig weitere Klopfzeichen von sich gab, musterte Yvonne zunächst einmal das Spiegelbild des Herrn da draußen. Ihr fiel auf, dass er einen eleganten Hut trug. Das machte ihn angenehm. Etwas unterhalb des Hutes war ein schönes Gesicht zu sehen. Das machte ihn noch angenehmer. Was sie aber entsetzte, war der Zustand der Kleidung und der Schuhe dieses Mannes. Vielleicht ein Bettler oder Vagabund, dachte Yvonne. Oder gar ein Spätheimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft. Als sie nun auch sah, dass dem Fremden ein halbes Hosenbein fehlte, war sie sicher, dass ein Landstreicher Einlass begehre. Dann aber nahm sie diese Vermutung etwas zurück, weil sie bemerkte, dass der Mann rasiert war. Bei der Rasur war er sicherlich unvorsichtig gewesen, denn zwei rote Streifen im Gesicht zeugten davon.

Frau Klein konnte nicht wissen, dass der Fremde eben erst einem Frauengefecht entwichen war. Sie öffnete das Küchenfenster und fragte barsch, warum er solchen Trommelwirbel an der Hoftür veranstalte. Er habe wohl in einer amerikanischen Jazzband mitgespielt.

Ludwig lüpfte kurz den Hut, machte eine leichte Verbeugung und erwiderte: „Mitnichten!“

„Was“, entfuhr es Frau Klein erstaunt, „mit Nichten haben Sie gespielt? Das interessiert mich. Kommen Sie herein!“

Wenig später war Ludwig Lust bleibender Gast im Hause Klein – etwa ein viertel Jahr lang.

Ich verzichte auf Darstellung von Einzelheiten, die Frau Klein Lust an Lust machten. Schon nach einer Woche gaben sich beide wie ein Ehepaar; auch außerhalb des Bettes. Die Dorfbewohner freute es, dass Cousin und Cousine sich endlich wieder gefunden hatten. Wenn beide Arm in Arm durch Würdas Gassen gingen, begegnete man ihnen höflich. Die Männer grüßten freundlich, und die Frauen sandten schmachtende Blicke hin zum schönen Cousin. Dabei ahnte niemand, was dieser Gutaussehende im Schilde führte. Auch Yvonne nicht. Dass sie einem Erzgauner verfallen war, sollte sie später gereuen.

Doch will ich dem Gang der Dinge nicht vorgreifen.

Ludwigs Ansinnen war es, ans große Geld

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 08.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7080-0

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Widmung:
Meiner lieben Ingrid

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