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Fremdkörper



Das kleine Geschenk in Malis Händen ist sehr schwer und sie weiß nicht, wie lange sie es noch halten kann. Es ist in gelbes Geschenkpapier eingewickelt und ihr ganz fremd. Dennoch ist Mali froh, dass sie etwas hat, woran sie sich festhalten und worauf sie sich konzentrieren kann.
Sie geht die Straße entlang. Sie friert. Und trotzdem kann sie nicht erleichtert sein, als sie das Haus erblickt und die Stimmen im Haus an ihr Ohr dringen. Sie öffnet das Gartentor, geht die wenigen Stufen zur Haustür hinauf und bleibt stehen. Sie starrt die Klingel an, liest die Namen von Verwandten und versucht, Gesichter, die sie schon mal gesehen hat, den Namen zuzuordnen. Sie streckt den freien Arm aus, berührt die Klingel mit einem Finger, hört das Schrillen und Läuten im Innern des Hauses – und wartet.
Peter, der auch irgendwie mit Mali verwandt ist, öffnet die Tür, starrt sie an, blickt dann auf das Geschenk in ihren Händen, an dem sie sich festklammert, lächelt und sagt: Sieht man dich auch mal wieder. Komm rein.

Mali sitzt auf der Couch, hat nichts mehr, woran sie sich festhalten kann und unterdrückt den Impuls, nach den Zigaretten in ihrer Gesäßtasche zu greifen. Sie sitzt neben Toni, der auch irgendwie mit ihr verwandt ist und von seiner Freundin erzählt. Kinder krabbeln auf dem Boden herum, stoßen immer mal wieder gegen ihre Beine, schauen sie wie eine Unbekannte an und verschwinden dann wieder. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher – die Verwandten versuchen ihn mit ihren Stimmen zu übertönen. In der Küche schleudert die Spülmaschine Wasser gegen das Geschirr, im Esszimmer spielen lachende Gesichter Karten und immer mal wieder taucht die Hausfrau auf und fragt, ob genug zum Trinken da sei.
Mali sitzt auf der Couch und traut sich nicht, die Beine übereinander zu schlagen, Toni anzuschauen, mit irgendjemandem zu reden. Sie mustert eine Schale Erdnüsse auf dem Tisch, die vor ihr steht und hin und wieder wirft sie dem Fernseher im Zimmer einen Blick zu. Sie unterhält sich mit unsichtbaren Gesichtern auf der Mattscheibe, ist nicht dankbar für deren Anwesenheit, denkt an ihre Zigaretten und führt Gespräche mit fremden Augen, die sie anstarren und erst dann wegsehen, wenn sie den Blick zuerst abwendet.
Toni erzählt von seiner Freundin, tippt Mali irgendwann an und fragt sie etwas. Sie versteht es nicht gleich und er wiederholt wiederwillig seine Frage, rollt in Gedanken mit den Augen, dreht seinen Körper etwas zur Seite.
Was machst du eigentlich so, will er wissen.
Mali überlegt und antwortet ihm erst, nachdem er aufgestanden ist und sich weggesetzt hat.

Sie entdeckt eine Uhr. Aber es fällt ihr schwer, sie anzusehen, ohne sich den Hals zu verrenken. Mali würde gerne wissen, wie lange sie schon versucht, nicht aufzufallen. Ein kleines Mädchen setzt sich neben ihr auf die Couch und zupft an ihrer Hose und ihrem Pullover herum, der ihr viel zu groß ist und bis zu den Knien geht. Mali sucht in den Gesichtzügen des Mädchens irgendeine Ähnlichkeit mit Gesichtszügen von sich selbst – und kann keine finden. Dann versucht sie, Ähnlichkeiten des Mädchens mit ihren Eltern herauszufiltern, um zu erfahren, wohin es gehört.
Duuuuh, sagt das Mädchen und grinst sie an. Duuuuhhh... Immer wieder. Wer bist duuuhuuu?
Mali, antwortet sie und die Buchstaben kommen ihr fremd vor. Ich heiße Mali und wer bist du?
Das Mädchen sieht sie verwirrt an, wirft die Locken auf die Schultern zurück und sagt: Ich bin Lea, kennst du mich denn nicht?

Im Wohnzimmer wird es immer wärmer. Die lauten Stimmen hallen in Malis Kopf umher. Sie denkt an Höhlen, durch die sie wandert. Sie sucht den Ausgang; es ist furchtbar dunkel und sie kann ihn nicht finden. Der Alltagsregen prasselt auf sie nieder, manchmal läuft sie gegen Tropfsteine, an denen sie sich versucht, festzuhalten, die allerdings viel zu klitschig sind, um sich auch nur an ihnen emporzuziehen. Sie denkt: Vielleicht ist es draußen schon dunkel und ich muss einfach warten, bis es hell wird.
Mali setzt sich auf den Boden der Höhle, kauert sich in eine Ecke und wartet, während der Alltagsregen sie langsam durchätzt.

Sie steht auf und geht ins Esszimmer, sie bedankt sich mechanisch, wofür, weiß sie nicht. Sie greift nach ihrer Jacke und zieht sie an. Vertrautheit macht sich in ihr breit, sie fühlt sich wie ein Nackter, dem jemand eine Decke übergestreift hat. Ihr fällt wieder ein, wer sie ist; ihr Name gleicht keinem Fremdkörper mehr. Sie kann ehrlich lächeln, verabschiedet sich distanziert – und verlässt das Haus.
Es ist schon dunkel draußen. Dafür ist es in der Höhle hell geworden und sie hat den Ausgang doch noch gefunden.
Mali kramt im Gehen nach ihren Zigaretten, schaut zum Mond empor, lächelt, zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch zu den Sternen.

Impressum

Texte: (c) Cover: http://www.blogigo.de/Broken_Soul/entry/1/Lonelyness.jpg (c) Hintergrundbild: http://img.fotocommunity.com/photos/5751982.jpg (c) Geschichte: Stefanie Kißling, 2004
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die Fremdfühler unter uns.

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