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Im Jahr der Trulle



- 2 –

Er wusste nicht, wie lange er bereits seinen tief schlafenden Bruder über den Schnee schleifte. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und folgte dem Schukabi schweigend.
Das musst du erst mal verarbeiten,

dachte er. Noch vor einer Stunde hatte er geglaubt, sie seien alle verloren und keinen einzigen Gedanken an Einhörner und Schukabis verschwendet. Und jetzt folgte er einem Gnom, um seinen Bruder in Sicherheit zu bringen. Es war verrückt.
„Wir brauchen deine Hilfe“, sagte das edle Wesen. Es sprach ganz leise, dennoch konnte Twell seine Worte förmlich tief in sich selbst spüren, als schwebten sie durch ihn hindurch.
„Ich heiße Suka. Und das ist Flux, mein Schukabi.“
„Warum ich?“, fragte er stöhnend. Immer wieder drohte ihm der Bruder in den Schnee zu plumpsen, weil seine eisigen Hände ihn nur noch schwer zu fassen bekamen.
„Wir spüren deinen Herzschlag nicht. Du hast eine reine Seele.“
Konnte es möglich sein…?
„Du musst unser Volk retten. Die Trulle haben die Einhörner zusammengerottet. Sie wollen sie für eine größere Sache benützen.“
„W…was?“
„Sie treiben sie in den Krieg gegen die Menschen. Euer Dorf macht den Anfang.“
„Haben sie sich deshalb damals zurückgezogen? Bei der Großen Belagerung?“
Die Erinnerungen schlugen Twell mit solcher Wucht ins Gesicht, dass er innehielt. Er konzentrierte sich darauf, tief ein und aus zu atmen. Es fiel ihm schwer.
„Ja. Hör zu“, Suka hielt inne. Ihr Blick ruhte auf ihm. Er wurde nervös. „Mein Horn ist gebrochen und Flux ist alt. Wir können nicht kämpfen. Sie haben uns nicht gefangen genommen, weil wir ihnen entkommen konnten. Weißt du, warum?“
Er zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich unwohl, wenn sie ihn so direkt ansah.
„Dein Großvater.“
„Nein…“, flüsterte Twell. Er plumpste rücklings in den Schnee ohne es zu bemerken.
Suka nickte. „Dein Großvater. Er hat uns versteckt.“
„Das… kann nicht wahr sein!“
Jetzt lächelte das Einhorn. Twell konnte es spüren; ihr Lächeln drang durch ihn hindurch und erfüllte ihn mit Wärme.
„Er hat uns geholfen und nun braucht er unsere Hilfe.“ Entschlossen scharrte Suka mit den Hufen. „Und zwar sofort.“

„Hast du gespürt, wie wir mit dir im Traum Kontakt aufgenommen haben?“, fragte Flux. Der Schukabi saß dicht an ihn gedrängt – dennoch spürte ihn Twell nicht. Es war, als spreche er mit einer Halluzination.
Suka ruhte nicht weit von ihnen entfernt. Sie war so weiß, dass sich ihr Fell bei Tageslicht nicht vom Schnee unterschied.
„Ich kann mich an den Traum erinnern“, antwortete Twell. „Ich wollte meinem Großvater davon erzählen, aber es war immer jemand um uns herum.“ Sein Blick wanderte zu seinem Bruder, der friedlich neben ihm lag. Ohne das Einhorn oder seinen Schukabi zu fragen, wusste Twell, dass sie ihn mit einem Zauberschlaf belegt hatten, sonst wäre er längst aufgewacht.
„Du musst dir keine Sorgen um Zeck machen“, sagte Suka, die bemerkt hatte, wie er seinen Bruder ansah. „Falls uns etwas geschehen sollte, fällt der Bann von ihm ab und er wird erwachen.“
„Das ist… sehr beruhigend.“
„Ja, nicht wahr?“, sagte Flux. Er hüpfte unruhig hin und her. Immer wieder reckte er seine Nase in die Höhe, um zu wittern.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Twell. Er spürte, wie die Angst erneut von ihm Besitz ergriff – Erinnerungen an Großmutter und Großvater schossen ihm in Windeseile durch den Kopf.
Was ist, wenn sie sterben, während wir hier sitzen und warten, bis der Tag anbricht?


„Du bist ungeduldig“, sagte Suka ruhig. „Wir müssen den Tagesanbruch abwarten, ehe wir angreifen.“
„Wie viele sind es?“
„Oh, sehr viele“, sagte Flux und kicherte. „Aber wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite.“
Twell bezweifelte, ob das ausreichen würde. Aber er biss sich auf die Lippen und schwieg.
Der Mond stand ruhig und hell am Nachthimmel. Die Sterne blinkten auf sie herab. Er hatte so viele Fragen; sie schossen ihm im Kopf umher – aber keine erschien ihm wichtig genug, um sie tatsächlich auszusprechen. Allmählich übermannte ihn die Müdigkeit und er nickte immer wieder ein.
„Schlaf“, flüsterte ihm Suka ins Ohr. „Flux wacht über uns.“
Schlaf…

hallte die Stimme des Einhorns in ihm wieder und wieder bis er in der Schwärze versank.

Vor ihnen lag das Dorf. Er erkannte die Dachgiebel, den Marktbrunnen, an dem sein Großvater vor der Großen Belagerung der Trulle gestanden und seine Geschichten erzählt hatte. Er erkannte die Art des Pflastersteins und den in Eisen gegossene Marktschreier. Doch etwas war anders, das wusste und spürte er ohne es genau benennen zu können.
Vereinzelte unterdrückte Schreie drangen an sein Ohr. Und noch etwas trübte den gewohnten Anblick; es war menschenleer.
Wir sind zu spät,

schoss es Twell durch den Kopf.Verdammt, wir hätten uns beeilen müssen!


Seine Großeltern. Er musste nach Hause und-
Suka bremste so abrupt ab, dass er beinahe vornüber geplumpst wäre. Instinktiv krallte er sich in ihrem Fell fest. Sie schnaubte und fuhr herum.
„Sie schlafen noch“, verkündete Flux, der vorausgeeilt war.
„Wo sind die Einhörner?“
„Sie haben sie in die Große Hütte getrieben.“
Die Große Hütte? Aber natürlich!

Twell spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.
„Das Gemeindehaus“, sagte er. Er spürte die fragenden Blicke auf sich ruhen. „Dort halten wir unsere Versammlungen ab. Es ist ein sehr großes Haus.“
„Wo?“, fragte Suka.
„Gleich dort drüben.“
„Seid leise!“, zischte Flux.
„Ich bring uns hin“, versicherte Twell. Hoffnung hatte von ihm Besitz ergriffen und brachte seine Augen zum Glänzen.

Während sie auf das Gemeindehaus zu preschten, wurde Twell klar, dass sein Großvater all die Jahre über Einhörner ganz genau gekannt hatte. Er hatte nicht nur eines gesehen, er hatte mit ihnen – oder zumindest mit Suka – Freundschaft geschlossen, sie vor den Trullen versteckt und-
Aber wo? Wo hat er sie versteckt?


Er musste ihm viele Fragen stellen, wenn all das vorbei war. Vorausgesetzt sie waren dann noch am Leben.
Plötzlich nahm er einen Lufthauch wahr. Neben ihm grunzte jemand. Suka blieb augenblicklich stehen und diesmal konnte sich Twell nicht mehr festhalten; er wurde zu Boden geschleudert und spürte, wie ihm der Arm brach. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen.
„Lauft!“, schrie Flux und sprang dem Trull ins Gesicht, sodass der ins Taumeln geriet.
„Steh auf!“, sagte Suka, packte Twell an seiner Kleidung im Genick und half ihm, wieder auf die Beine zu kommen.
Sie hatten keine Zeit, sich umzuschauen.
„Lauf!“, rief das Einhorn und stieß ihn in den Rücken. Twell rannen Tränen über die Wangen vor Schmerz. Er hatte Mühe, den Blick von dem Trull, der sie überfallen hatte, abzuwenden; noch nie war er einem von ihnen so nahe gewesen; er konnte seinen Schweiß riechen und noch etwas, von dem er lieber nicht wusste, um was es sich handelte.
Dem Trull gelang es, Flux abzuschütteln – doch selbst über diese Leistung überrascht, blieb er schnaubend stehen, unschlüssig, was er nun tun sollte. Twell nützte die Gelegenheit und rannte, so schnell er konnte, los. Sie mussten das Gemeindehaus erreichen. Sie mussten es öffnen und die Einhörner frei lassen, nur so hatten sie eine Chance, nur-
Etwas riss ihn brutal von den Füßen, sodass ihm der Atem stockte. Twell schrie, als er sah, dass sich ein Trull über ihn beugte; er hielt eine Keule fest umklammert und holte aus.
So, das war’s…,

dachte er, unfähig, sich zu rühren.
„Nein!“ Es war das erste Mal, dass er Suka schreien hörte. Auch der Trull schien verblüfft zu sein; er drehte den Kopf in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war… und plötzlich stieß ihm Suka ihr Horn in die Brust.
„Lauf!“, rief sie, diesmal deutlich leiser. Twell rappelte sich auf und tat wie geheißen. „Öffne das Tor!“
Immer mehr Trulle kamen aus den Häusern geeilt. Sie waren umzingelt. Aber sie mussten kämpfen, sie hatten keine Wahl; aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Flux auf den Rücken des nächsten Trulls sprang und Suka mit zwei Trullen, in deren Augen die Mordgier blitzte, kämpfte. Ihr Horn schimmerte rot im Morgenlicht.
Es lag an ihm. Ganz allein an ihm.
Also gut,

schoss es ihm durch den Kopf. Dann mal los!


Er rannte, stolperte, rappelte sich wieder auf. Hinter ihm ertönten die Schmerzensschreie des Schukabis und Einhorns.
LAUF!



Es kam ihm wie ein Wunder vor, als er den schweren Holzriegel hochhievte und zu Boden plumpsen ließ. Er presste sich mit aller Kraft gegen die massiven Türen des Gemeindehauses, als er plötzlich nur knapp von einer Axt verfehlt wurde; sie schlug ein paar Zentimeter von seinem Kopf entfernt gegen das Holz.
PLOCK


Der Trull stand direkt vor ihm und grinste auf ihn herab.
Es ist vorbei,

dachte er. Jetzt ist es endgültig vorbei. Es tut mir leid, Zeck.


Er beugte sich so tief zu Twell hinunter, dass er seinen Atem auf seiner Haut spüren konnte.
„Nein!“, schrie plötzlich eine vertraute Stimme. Der Trull fuhr herum – Twell nutzte die Gelegenheit, um die Türen vollends ganz zu öffnen. Der Schmerz, der von seinem Ellenbogen ausging, nahm inzwischen von seinem ganzen Körper Besitz. Er kippte vornüber, als seine Arbeit getan war.
„Nimm es mit mir auf! Komm schon, du hässliche Missgeburt!“
„Großvater“, flüsterte der Junge. Er hatte kein Gefühl mehr in den Armen, sein Herz pochte heftig. Wie aus weiter Ferne nahm er wahr, dass die Einhörner das Gemeindehaus verließen; stolz und anmutig stolzierten sie in den Tag hinaus. Mit Stolz und Anmut stürzten sie sich in den Kampf.
Aus den Augenwinkeln sah Twell, wie der Trull seine Keule hob und sie auf seinen Großvater niedersaußen ließ. Immer wieder. Solange, bis sich Suka mit einem wutverzerrten Schrei auf ihn stürzte. Dann war es vorbei: Er wurde ohnmächtig.

Er wusste, dass er träumte, obwohl alles um ihn herum real war: Sein Großvater lag am Boden, aus seinem Mund quoll Blut. Der Trull hatte ihm den Schädel zertrümmert.
Suka beugte sich über ihn. Sie weinte. Ihre Tränen tropften auf das Gesicht des alten Mannes. All der Schmerz quoll aus ihr heraus. Sie schluchzte, ohne Tönte von sich zu geben. Es war eine stille und lautlose Trauer.
Flux ging langsam auf sie zu. Er sah kurz zu ihr auf und senkte dann den Blick. Seine Gnomhände berührten Großvaters Kopf, schlossen seine Augen. Er beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn.
Twell wagte kaum zu atmen. Er wusste; er sollte Teil dieses Bildes, das sich ihm darbot, sein, aber seine Füße waren wie Zement; er schaffte es nicht, sie zu bewegen. Plötzlich stand Zeck hinter ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Wir haben uns in ihm getäuscht“, sagte er. Twell nickte.
Die Schlacht war vorbei; um sie herum lagen getötete Trulle und Einhörner. Der Rest war geflohen bis auf wenige dieser anmutigen Wesen; sie standen etwas abseits, hielten die Köpfe gesenkt und scharrten mit den Hufen, um ihre Anteilnahme auszudrücken. Sie hatten gewonnen. Die Menschen kamen allmählich aus ihren Häusern, langsam, ängstlich. Auf ihren Gesichtern war noch das Entsetzen des Erlebten gemalt.
Doch augenblicklich veränderte sich etwas: Im ersten Moment konnte Twell nicht ausmachen, was es war… Dann glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen: Die Lider seines Großvaters, die Flux geschlossen hatte, fingen an zu flattern. Seine Mundwinkel zuckten.
„Großvater!“, schrien Zeck und Twell gleichzeitig. Jetzt hielt sie nichts mehr – auch keine Füße, die sich anfühlten als seien sie in Zement gebettet – davon ab, loszustürmen.
„Das… hättest du nicht tun sollen, Suka“, flüsterte der alte Mann.
Suka schnaubte und schüttelte den Kopf. „Wir sind es dir schuldig, Twendolyn.“
Mit diesen Worten wandte sich das Einhorn ab und ging zu seinen Artgenossen, die vor ihm zurückwichen.
„Warum tun sie das? Haben sie Angst vor ihr?“, fragte Zeck.
Flux schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist nun eine Befleckte.“
„Warum?“, entfuhr es Twell. „Sie hat uns alle gerettet!“
„Ja, aber sie hat einem Menschen, der schon über die Schwelle geschritten ist, das Leben zurück geschenkt.“
Die Einhörner bäumten sich auf und rannten davon. Zurück in ihre Wälder. Zurück dorthin, wo sie hergekommen waren, wo ihr Zuhause auf sie wartete. Nur Suka blieb wo sie war. Sie senkte den Kopf.
„Eine Befleckte…“, murmelte Twell.
„Das hättest du nicht tun sollen“, wiederholte Großvater leise.
„Still“, befahl Suka. Ihre Blicke trafen sich. Das Einhorn lächelte. „Ich danke dir für alles, was du für uns getan hast, Twendolyn…“
„Warum nennt sie Großvater so?“, fragte Zeck den Bruder. Twell verpasste ihm einen Schlag in die Seite. „Sei ruhig!“
Das Einhorn sagte: „… Wir sind nun quitt.“ Es wandte sich ab. „Komm, Flux.“
„Halt!“, rief Twell. Es war, als beobachte er sich selbst, so unwirklich kam ihn sein eigener Einwand vor. Suka musterte ihn geduldig.
„Werden wir uns wiedersehen?“, fragte er leise.
Jetzt grinste das Tier und Twell wusste; es war die Königin der Wälder; seine Seele steckte in allen Pflanzen und Tieren. Sie war unsterblich.
„Komm“, wiederholte Suka.
Dann waren sie verschwunden.



Großvater erholte sich schnell; nach nur ein paar Wochen im Bett stand er wieder auf und hackte Holz, ganz so, als sei nichts geschehen. Dabei hatte sich alles verändert, seit die Einhörner ihnen das Leben gerettet hatte; die Bewohner klopften scharenweise an ihre Tür, um sich zu bedanken - die allermeisten von ihnen brachten sogar Geschenke. Es war beachtlich, wie Großmutter geduldig auf jeden Einzelnen von ihnen einging.
„Eigentlich denke ich, könnten sie uns ein ganz bestimmtes Geschenk machen. Das läge mir am Herzen“, flüsterte sie eines Morgens Twell ins Ohr und zwinkerte ihm zu.
„Was meint sie?“, fragte er Zeck. Doch an dessen Reaktion merkte er schnell, dass der Bruder nicht ganz so ahnungslos war, wie er tat, als er mit den Schultern zuckte.
Und so kam es, dass Großvater, den sie alle nun Twendolyn nannten, ohne um die Bedeutung der Bezeichnung zu wissen, zum Marktplatz ging, sich auf einen Hocker setzte und Geschichten erzählte. Zuerst saß nur ein kleines Mädchen vor ihm, dann kam ein Junge dazu… Am Ende wurden es immer mehr und auch die Erwachsenen lauschten seinen Worten als hätten sie nie etwas anderes getan. Am Ende jeder Geschichte gingen Zeck und Twell mit ihren Hüten umher und sammelten Münzen ein. Der Lohn war reichlich.
Wenn sie Zeit hatten, trafen sich die Brüder am Waldweiher wie früher; sie legten sich hin und redeten über Mädchen und Goron, den Müller. Twell schloss seine Lehre ab und Zeck heiratete – es veränderte sich viel in ihrer beider Leben. Bis auf Eines: die regelmäßigen Abende, in denen sie dem Weiher einen Besuch abstatteten und sich auf die Lauer legten. Manchmal glaubten sie, einen weißen Schatten in den Augenwinkeln zu sehen und lächelten.
„Weißt du“, seufzte Zeck eines Tages. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass Suka und Flux uns die ganze Zeit beobachten und…“
„… nie aus den Augen lassen“, beendete Twell den Satz. Sie grinsten sich an. Irgendwo heulte eine Eule.
Ihr Großvater hatte aufgehört, in seinen eigenen vier Wänden Geschichten über Einhörner zu erzählen. Man munkelte, er rede zuhause nur noch über Raben.

Impressum

Texte: (c) Stefanie Kißling Titelfoto: http://thumbs.dreamstime.com/thumblarge_22/112748635031hF50.jpg
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2011

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