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Abschied von Tacko



Als er das Taxi wegfahren sah, trat ein Lächeln auf sein Gesicht.
"Endlich ist es vorbei", dachte er bei sich und wandte sich von der Straße ab.
Es war kalt. Arschkalt. Passend zu Toms Gefühlen kalt. Aber welchen Sinn hätte es noch gemacht? Irgendwie, trotz des Schmerzes, fühlte er sich nun wie von einer Zentnerlast befreit.
Die Erinnerungen wälzten sich in seinem Kopf hin und her; sie konnten nicht einschlafen, nicht schweigen. Immer wieder sah er sich mit seinem Freund Tacko Kartenspielen. Weil sie es regelmäßig taten, nannten sie das Männerstammtisch. Er sah sie zusammen im Kino sitzen - selbst zusammen gelesen hatten sie. Doch da gab es auch den anderen Tacko. Den nachdenklichen, traurigen, den mit hängenden Ohren, einem trüben Blick. Den Tacko mit Tränen in den Knopfaugen, nachdem er Lessy verloren hatte. Auch ihn würde er nie vergessen.
„Ich weiß, sie war nur ein Hund“, sagte Tacko damals mit brüchiger Stimme. „Aber trotzdem.“
Er, der beste Freund, hatte ihn in den Arm genommen und an sich gedrückt. Hatte ihm die Tränen von den Wangen gewischt. Und damals, nachdem Tacko vom Nachbarsköter gebissen worden war, war er es gewesen, der ihm zur Seite stand, ihn verarztete, ihn badete und ihm die Haare wusch.
„Dazu sind Freunde da“, rief er sich in Erinnerung. Die Stimme in seinem Kopf, die seine eigene war, hallte tausendfach wieder, pumpte sich durch seinen Körper bis zu seinem Herzen.
Und jetzt?
Jetzt war es vorbei. Zuhause wartete eine dampfende Tasse Kaffee auf ihn. Sein Job in der Bank. Seine 80jährige Nachbarin Lisa und die Feiertage mit ihr.
„Schön, dass Sie sich um sie kümmern, sie ist ja so einsam“, hatte Lisas Tochter zu ihm gesagt, dankbar gelächelt und sich das Haar auf die Schultern zurückgestrichen. Er hatte sie auf Anhieb nicht ausstehen können. Auch Tacko hatte sie nicht ausstehen können und selbst Lessy, die an Fremden nie interessiert gewesen war, hatte in ihrer Nähe immer leise geknurrt.
C’est la vie.
Ganz langsam, beinahe mechanisch, setzte Tom einen Schritt vor den anderen. Er wusste, dass er jetzt einem Räderwerk gleich funktionieren musste, sonst würde er den Verlust nicht überstehen. Was hinderte ihn auch daran, einfach Schluss zu machen? Es gab so viele unsinnige Gründe, warum sich manche Leute das Leben nahmen – wog da sein eigener nicht um ein Vielfaches schwerer?
„Die Tasse Kaffee“, murmelte er vor sich hin und nahm die Atemwolken wahr, die er ausstieß. Kälte oder Hitze, beides hinterließ Spuren in der Luft.
„Denk an die Tasse Kaffee“, sagte er nun lauter, bestimmter. Doch der beste Freund war auch jetzt noch allgegenwärtig; er sah ihn so plastisch vor sich, dass er hätte nach ihm greifen können.
Erinnerungen. Erinnerungen waren grausam, solange sie jung waren; sie weigerten sich stets, einzuschlafen, zu ruhen, zu schlummern. Tacko würde noch sehr lange eine Erinnerung sein. Genau wie Lessy.
„Aber das geht vorbei. Es geht immer vorbei. Und es ist gut so, wie es gekommen ist.“ Er schlang seinen Mantel enger um sich und beeilte sich, nach Hause zu kommen.

Lessys Tod kam völlig unvorhergesehen. Okay, sie war schon alt gewesen, aber trotzdem.
„Damit rechnet man ja nicht“, sagte Tacko und sah Tom direkt an. Fast schon vorwurfsvoll.
„Ich konnte nichts dafür. Sie ist einfach… gesprungen.“
„Wieso sollte sie das tun? Einfach so… springen?“
Der monotone Ton in Tackos Stimme. Sein Blick. All das führte dazu, dass sich Toms Unwohlsein nur noch verstärkte. Er wurde nervös, verschüttete die Tasse Kaffee, die er sich einschenken wollte, und biss solange auf der Unterlippe herum, bis sie blutete.
„Vielleicht hättest du es verhindern können. Ich meine, wieso war das Fenster offen?“
„Du weißt nicht, was du da sagst.“
„Ich weiß sehr gut, was ich sage. Lass das mal meine Sorge sein.“
Das Schlimmste für Tom war der Umstand, dass Tacko überhaupt nicht anklagend oder wütend klang. Eher so, als würde er mit einem alten Freund über das Wetter plaudern.
Das war Tackos Eigenart; seine Stimme klang immer neutral, immer so, wie… Tacko eben. Die Gefühle, die er hatte, äußerte er anders. Körperlich.
„Du tust mir unrecht“, war alles, was Tom über die Lippen brachte.
„Sie war… meine Freundin. Meine… beste Freundin, verstehst du. Und jetzt ist sie aus dem Fenster gefallen und überfahren worden.“
„Ich habe versucht, sie zu retten.“
„Sie wurde vom Lastwagen erfasst, da rettet sie keiner mehr. Und der Fahrer? Ist er wenigstens ausgestiegen?“
„Er hat’s nicht mal bemerkt.“
Die Erinnerungen an den Unfall überwältigten Tom. Waren frisch und erbarmungslos; er, wie er neben Lessy kniete, von der nicht mehr viel übrig geblieben war; überall segelte ihr Blut durch die Luft, besudelte es die betonierte Straße. In dem Augenblick, als sich seine Muskeln anspannten und er sie hochhob, um sie nach Hause zu tragen, ruhte ihr Blick fragend auf ihm. Es begann zu regnen. So standen sie da; vor Nässe triefend, allein und einsam, während die Passanten kaum Notiz von ihnen nahmen und gehetzt an ihnen vorbei huschten.
„Es… Es tut mir leid“, sagte Tom.
„ Ich weiß nicht… Ich weiß nicht, ob ich so weitermachen kann. Mit uns. Du musst mir Zeit geben.“
Er hatte Tacko die Tränen getrocknet, ihn an sich gedrückt. War für ihn da gewesen. Aber Lessys Tod hatte immer zwischen ihnen gestanden. Der stille Vorwurf, nicht alles versucht zu haben, um sie zu retten.
„Ich bin für dich da, mein Freund“, hörte er sich sagen.
Seine Stimme klang sehr weit weg. Und Tacko blieb ihm eine Antwort schuldig.



Der Kaffee rann ihm heiß die Kehle hinunter und belebte seine Geister. Die Kopfschmerzen, die er augenblicklich bekommen hatte, zogen sich zurück. Nur das Gewesene wollte nicht weichen – es war hartnäckiger als jeder Schmerz.
Er sah das Gesicht seiner Mutter vor sich - sah die Sorgenfalte, die sich tief in ihre Stirn grub, als sie sagte: „Du bist aus dem Alter schon längst raus, Tom. Du solltest nicht mehr mit deinen Plüschtieren zur Schule gehen.“
Das Lachen der Kinder hatte ihn nie gestört. Auch die Tritte nicht oder die Spucke an seinen Kleidern, in seinem Gesicht, wenn sie ihn wieder striezten.
Die Stimme seines Vaters; ruhig, besonnen, wie die Tackos: „Du bist ein Weichei, Tom.“
Keine Anklage, nur eine Feststellung. Eine reine Feststellung. Die Wahrheit.
Und dann wieder seine Mutter: „Wie alt musst du noch werden, bis du das endlich begreifst? Such dir richtige Freunde, nicht solche… Stofftiere!“
Er hatte damals protestiert. Er hatte auch jetzt noch protestiert, als er Tacko, den Plüschhasen, ohne ein Wort des Abschieds im Taxi zurückgelassen hatte. Im Grunde genommen war es das einzig Richtige gewesen. Er dachte an Lessy, an ihre Knopfaugen, an die Watte, die durch die Luft geflogen war, lange noch, nachdem der Lastwagen um die nächste Straßenecke gebogen war. Lessy.
Der Kaffee tat gut. Aber die Erinnerungen schmerzten. Trotzdem fühlte er sich besser. Erleichtert. Er wusste nicht warum, aber er spürte, wie die Lebensgeister in ihn zurückkehrten. Er fühlte sich wie jemand, der aus einem Kälteschlaf erwachte.
Ihm gegenüber saß Selli, das Elefantenmädchen aus Plüsch. Sie schwieg. Er würde auch von ihr Abschied nehmen müssen. Irgendwann mal. Aber jetzt nicht. Jetzt genoss er ihre Nähe, die ihm Trost spendete.
„Es ist vorbei“, sagte er zu ihr, dachte an Tacko, der wahrscheinlich noch immer im Taxi saß, und lächelte. „Endlich ist es vorbei.“

Impressum

Texte: (c) Stefanie Kißling Umschlagfoto: http://img.fotocommunity.com/photos/5751982.jpg
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2011

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