Im Jahr der Trulle
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„Pssst, nicht so laut!“ Twell wusste nicht, wie oft er seinen kleinen Bruder bereits ermahnt hatte. Nur etwas leiser, ein klein wenig und-
„Ich bin gar nicht laut!“, rief Zeck und rempelte ihn von der Seite an.
„Das war’s.“
„Wie, was meinst du damit?“
„Das war’s eben.“ Twell verließ die Deckung, indem er aufstand. Er vermied den Blickkontakt mit seinem Bruder und genoss es, dass der ihn suchte. Es war vorbei. Und wenn er ehrlich war, hatte er auch keine Lust, den Rest des Tages mit Zeck zusammen den Waldweiher zu beobachten.
Lieber komme ich später her, wenn er auf Arbeit ist. Dann hab ich meine Ruhe.
Es war ja nicht so, als gönne er Zeck nicht den Anblick, dem sie entgegen fieberten. Es war vielmehr so, dass Zeck keine Geduld hatte und ganz schnell herum zappelte.
„Einhörner sind an Ruhe und Stille gewöhnt. Sie mögen keinen Lärm.“
„Was heißt das, Großvater?“
„Nun, Zeck, Einhörner können Ungeduld und Nervosität spüren. Sie hören das Pumpen deines Herzens, das Rauschen deines Blutes. Das ist für sie Lärm, und den meiden sie.“
„Ich gehe“, sagte Twell genervt und drehte seinem Bruder den Rücken zu.
„Aber…“
„Nichts aber. Ich gehe. Du kannst hier ja noch eine Weile sitzen bleiben und Einhörner vertreiben.“ Er wusste, dass Zeck zusammenzuckte. Fast rechnete er damit, von seinem Bruder umgerannt zu werden – aber das geschah nicht.
„Gut. Dann komme ich mit.“
Sie legten den Weg schweigend zurück.
Kaum hatten sie die Hütte erreicht, stieg ihnen der Geruch von frisch gebackenem Brot in die Nase und verscheuchte die Enttäuschung, die sie soeben erlebt hatten. Twell lächelte und stieß seinen Bruder spielerisch zur Tür.
„Du gehst als Erster!“, rief er und lachte.
Zeck drehte sich zu ihm um und stürzte sich auf ihn. „Nur über meine Leiche!“
„Das lässt sich machen!“
Kaum waren sie rücklings ins Gras gefallen, ging die Tür auf und Großmutter stand kopfschüttelnd vor ihnen.
„Hups“, entfuhr es Zeck.
„Und wer darf euch wieder die Grasflecken von den Hosen waschen?“ Die alte Frau schüttelte mit einem Lächeln, das sie sich kaum verkneifen konnte, den Kopf und verschwand im Hausinneren.
„Hups“, bestätigte Twell und zerzauste dem Bruder das Haar.
„Ich hab euch ja schon erzählt, dass Einhörner sehr scheu sind.“
Großvaters Blick wanderte von einem zum anderen Jungen. Er hob mahnend den Finger: „Aber das ist nicht der alleinige Grund, warum man sie kaum zu Gesicht bekommt!“
„Wie jetzt, es gibt also noch mehr?“ Zeck riss die Augen auf.
Großvater nickte. „Sie sind nicht allein.“
„Aber du hast uns doch gesagt, dass es in jedem Wald nur ein Einhorn gibt und sie Einzelgänger sind“, warf Twell ein. Er verknotete die Finger ineinander und musterte den alten Mann fragend.
„Das ist richtig“, nickte der Großvater. „Jedes Einhorn ist das Einzige seiner Art in einem Wald. Dennoch sind sie nicht allein. Sie haben Schukabis bei sich.“
„Schukabis?“, fragten Zeck und Twell wie aus einem Mund.
„Ja. Das sind kleine Gnome, die man schnell übersieht, wenn man nicht auf sie achtet. Sie kundschaften die Gegenden aus, in denen sich das Einhorn aufhält.“
„Warum tun sie das?“
Der Großvater lachte. „Weil Einhörner die edelsten und schönsten Wesen sind, die in einem Wald leben – und weil sie dadurch auch ständig in Gefahr sind, gefangen genommen zu werden. Schukabis sind so etwas wie ihre Beschützer; sie haben einen ausgeprägten Orientierungssinn. Was das Einhorn nicht spürt, weil es abgelenkt ist oder gerade schläft, das bemerkt sein Schukabi.“
„Dann sind das die Freunde der Einhörner?“, fragte Zeck. „Und wie sehen sie aus?“
Der Großvater zuckte mit den Schultern. „Das ist unterschiedlich; es gibt große, kleine, dicke, dünne… Alles in allem nennt man sie aber wohl nicht umsonst Gnome.“
„Wahnsinn“, entfuhr es Twell. Er bemerkte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. „Einfach nur der Wahnsinn!“
Plötzlich riss sie Großmutters Stimme unsanft aus ihrer Unterhaltung: „Genug für heute, Männer – Zeck, du musst zur Arbeit, sonst wird Goron dir die Ohren lang ziehen.“
Zeck seufzte. Er knurrte: „Der zieht mir sowieso die Ohren lang, dazu braucht der noch nicht mal einen Grund.“
Twell lachte und klopfte ihm auf die Schulter. „Viel Spaß wünsch ich dir.“
„Sei ruhig, sonst erinnere ich dich daran, dass du am Feiertag dran bist.“
Zeck zog die Nase kraus und stand auf. „Erzähl ihm nichts, was du mir nicht auch erzählst“, sagte er zu seinem Großvater, beugte sich über Twell und küsste den alten Mann auf die Wange. „Ich bin dann mal weg.“
„Viel Spaß“, rief ihm Twell hinterher. Dann hörten sie die Tür zuschlagen.
„Dein Bruder muss noch viel lernen“, sagte der Großvater.
„Ja“, seufzte Twell. „Vor allem Geduld. Eine jede Menge davon, schätze ich.“
„Das wird schon“, versicherte der alte Mann. „Keine Sorge, das wird schon.“
In der Nacht träumte Twell zum ersten Mal von einem Einhorn mit seinem Schukabi; er sah sie am Waldweiher stehen und angeregt miteinander unterhalten. Er verstand die Worte nicht, die fielen, weil ihre Sprache eine andere war. Das Einhorn schüttelte sich immer wieder – Twell ertappte sich dabei, wie er den Blick von ihm reißen musste, um auch den Gnom in Augenschein zu nehmen. Es war zu schön. Die Faszination, die von diesem Wesen ausging, war beinahe greifbar.
Auch, wenn er nicht verstand, wie das möglich sein konnte, ging sein Herzschlag ganz ruhig – er war kein bisschen aufgeregt, obwohl alles in ihm förmlich schrie. Deshalb konnten weder der Schukabi noch das Einhorn ihn bemerken.
Jetzt bewegten sie sich; der Gnom warf den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. Das Einhorn wandte sich von ihm ab und trank ein paar Schlucke aus dem Weiher. Noch nie in Twells Leben hatte er etwas Schöneres gesehen, als diesen Anblick, der sich ihm darbot. Er erschauerte.
Plötzlich knackte direkt neben ihm ein Ast. Er hielt die Luft an, fuhr herum und starrte ins Nichts.
„Was war das?“, fragte eine hohe Piepstimme. Er hatte sie nie zuvor gehört, dennoch kam sie ihm seltsam vertraut vor.
„Das war Twell“, antwortete eine andere Stimme, von der er sofort wusste, dass sie dem Einhorn gehörte.
Den ganzen Tag schon wollte er seinem Großvater von seinem Traum erzählen – doch er war nie allein; mal ging Großmutter, mal Zeck durchs Zimmer. Irgendwann gab Twell auf und dann war es auch schon Zeit für die Arbeit.
Goron behandelte ihn – wie auch seinen Bruder – streng, aber fair; er hatte sie vor einigen Jahren als Müllerburschen aufgenommen. Weil er ihre Eltern gekannt hatte, wie er sie wissen ließ. Mehr hatten sie ihm allerdings nie entlocken können.
Vor der Großen Belagerung der Trulle war alles anders gewesen. Damals hatten sie noch Mama und Papa gehabt – eine vollständige Familie. Ihnen hatte die Welt zu Füßen gelegen; es hatte Träume gegeben, an deren Erfüllung sie geglaubt hatten. Großvater zum Beispiel; war er nicht der größte Geschichtenerzähler seines Dorfes gewesen? Hatten sie ihm nicht alle eine sichere Zukunft prophezeit? Doch dann kam die Belagerung und niemand wollte ihm mehr auf dem Marktplatz zuhören. Selbst die dreckverkrusteten Kinder blieben weg. Keiner, dem es schlecht geht, hört gerne Geschichten über Hunger und Tod.
Twell konnte sich gut vorstellen, wie seine Großmutter ihn angeschrien hatte:
„Erzähl was anderes! Reiß dich zusammen!“ Aber in ihm gab es nichts anderes mehr; nur Hunger und Tod, Schmerz und Leid. Sie hatten sich auf ihr Talent der Garnstickerei stützen müssen – ein Glück, dass die Leute kamen und Großmutters Stickereien gegen Brot und Käse tauschten. Sonst wären sie vermutlich verhungert.
„Sie ist anpassungsfähiger als ich“, war alles, was Großvater jemals über diese schwere Zeit verlauten ließ. „Sie hat uns gerettet.“
Die Große Belagerung ging vorbei, die Trulle verschwanden so plötzlich wie sie gekommen waren und keiner wusste warum. Doch Zecks und Twells Eltern kehrten nicht zurück und Großvater machte sich wieder zum Marktplatz auf, um seine Geschichten zu erzählen, die nun endlich frei von Hunger, Leid und Tod waren. Aber keiner kam, um ihm zuzuhören; sie liefen, die Köpfe gesenkt, den Blick gen Boden gerichtet, zügig an ihm vorbei.
Die Trulle hatten ihnen mir nichts dir nichts alles genommen.
Das war jetzt zehn Jahre her und der alte Mann litt nach wie vor unter den Folgen. Seine einzigen steten Zuhörer waren seine Enkel; sie klebten förmlich an seinen runzeligen Lippen, wenn er ihnen von Einhörnern erzählte. Das war sein Spezialgebiet. Schon immer gewesen.
„Er behauptet, er habe selbst einmal eins gesehen“, flüsterte Großmutter den Kindern zu.
„Und? Hat er?“, fragte Zeck aufgeregt.
„Wer weiß, wer weiß“, antwortete sie und zwinkerte ihnen zu.
Seine Enkel erinnerten ihn an die gute alte Zeit, als das Lachen seiner Tochter keine bloße Erinnerung gewesen war, sondern Wirklichkeit.
„Natürlich habe ich ein Einhorn gesehen“, knurrte er und sah mit Genugtuung, wie die drei, die alles waren, was er noch hatte, zusammenzuckten. „Herrje, könnt ihr nicht wenigstens so über mich reden, dass ich es nicht mitbekomme?“
„Alles an ihm wird alt, nur seine Ohren sind so gut wie am ersten Tag“, schimpfte Großmutter und sie brachen in schallendes Gelächter aus.
Die Zeit verging; aus Frühling wurde Herbst und aus Herbst Winter; die Jahreszeiten glitten förmlich ineinander über und lösten sich ab, noch ehe sie richtig ausgebrochen waren. So kam es Twell jedenfalls vor.
Er stand kurz vor seiner Abschlussprüfung zum Müller; wenn alles glattging, übernahm ihn Goron. Es sprach sogar einiges dafür, dass er ihn später einmal als seinen Erben einsetzte. Doch bis dahin sollten noch viele Jahreszeiten ineinander übergleiten.
Zeck schaffte es endlich, länger als zehn Minuten still zu sitzen – Twell wusste nicht, ob es daran lag, dass er tatsächlich geduldiger oder schlichtweg gleichgültiger geworden war. Er tat sich schwer in der Mühle, weshalb ihn Goron vermehrt eher als Hausmann statt als Müllerbursche arbeiten ließ.
Sie gingen fast jeden zweiten Tag an den Waldweiher. Allerdings um zu reden, nicht um Einhörnern und ihren Schukabis aufzulauern; Zeck hatte sich in ein Mädchen verliebt und suchte Rat bei seinem älteren Bruder. Das Dumme war nur, dass Twell nicht besonders viele Erfahrungen mit Mädchen hatte; genaugenommen überhaupt keine, wenn man mal davon absah, wie er Elg beinahe mit seinen feuchten Küssen erstickt hatte als er zum ersten Mal betrunken gewesen war. Eigentlich konnte er nur vom Alkohol abraten, mehr aber auch nicht. Dennoch suchte Zeck immer wieder das Gespräch mit ihm.
Plötzlich hörten sie Hufgetrappel; es kam aus allen Richtungen. Sie fuhren herum und Twell griff instinktiv nach dem Arm seines Bruders.
„Still“, zischte er ihm ins Ohr. „Bleib still liegen! Kopf runter!“
So lagen sie da; die Gesichter in den Schnee gepresst, mit klopfenden Herzen, und warteten, bis es vorbei war. Es schien ewig zu dauern, ehe das Hufgetrappel verstummte.
„Was war das?“, fragte Zeck, als die Luft wieder rein war.
„Ich weiß es nicht, aber sicher nichts Gutes!“
„Großmutter! Großvater!“, rief Zeck und rappelte sich auf. Er wollte losstürmen, da stürzte sich Twell auf ihn und riss ihn von den Beinen. „Bist du wahnsinnig? Wir müssen abwarten!“
… und einen kühlen Kopf bewahren. Was auch immer das gewesen ist, es klang vertraut. Verflucht vertraut. Es klang wie…
Zecks Widerstand erlosch. Als sich ihre Blicke trafen, wusste Twell, dass sie dasselbe dachten. Er nickte.
„Die Trulle. Sie sind wieder da“, flüsterte er in einer Stimme, die ihm fremd vorkam.
Sie froren. Die Sonne kletterte allmählich vom Himmel; der Mond löste sie ab und ehe sie sich versahen, schmerzte der Anblick des Schnees nicht mehr in ihren Augen.
Twell wusste, dass sie nicht mehr länger am Waldweiher bleiben konnten; sie mussten zurück, mussten wenigstens nachschauen, was passiert war. Zeck lag neben ihm. Er war eingeschlafen und träumte unruhig. Ab und zu murmelte er im Schlaf Unverständliches.
Twell hatte Kopfschmerzen. Er spürte, wie das Adrenalin durch seine Glieder pumpte und die Angst ihm – wie immer – auf die Atmung schlug. Er überlegte fieberhaft, was sie tun konnten und tun sollten.
Vielleicht waren es gar keine Trulle…
Aber er wusste, dass er sich damit nur etwas vormachte; immerhin kannte er das Geräusch ihrer Hufe, die durch den Waldboden preschten. Er hatte es als kleiner Junge viele Male gehört.
Twells Magen knurrte. Er drehte sich auf den Bauch und sah zwischen den Zweigen auf den Waldweiher, der vor ihnen lag als wäre nichts geschehen.
Was soll ich nur tun?
Neben ihm schlief der kleine Bruder, für den er sich verantwortlich fühlte. Ein Leben in Gefangenschaft konnte ihm den Rest geben – und er war nun in einem Alter, in dem sie ihn für ihre Zwecke einsetzen würden, genau so, wie sie es damals mit ihren Eltern getan hatten.
„Wohin haben sie Mami und Papi geschickt?“
„Ich weiß es nicht, Twell.“
„Geht es ihnen gut, dort, wo sie sind? Werden sie wiederkommen?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.“
Es war alles wieder so gegenwärtig, als wäre es erst gestern gewesen; die hellen Augen seines Großvaters, die in Tränen schwammen und Großmutter, die sich von ihnen abwandte, weil sie nicht wollte, dass sie die Verzweiflung in ihrem Gesicht lesen konnten.
Sie hatten sich sicher gefühlt. All die Jahre. Wut stieg in Twell hoch; wie hatten sie nur einen solchen Fehler begehen können? Als hätten die Trulle die Lust an der Belagerung schlichtweg verloren!
Nun ja. Vielleicht haben sie das auch. Und jetzt sind sie zurückgekehrt.
Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung – nicht viel mehr als ein heller Schatten. Twell hielt den Atem an. Bereit, jede Sekunde aufzuspringen und um sein und das Leben seines Bruders zu kämpfen.
Etwas flüsterte seinen Namen. Ganz leise.
„Twell…“
„Wer ist da?“, zischte er und spürte, wie sich die Muskeln seines Körpers anspannten.
„Können wir ihm trauen?“ Die Stimme war so nah, dass er herumfuhr.
Er starrte in das gnomartige Gesicht eines Schukabis. „Seine Reflexe sind nicht die Besten“, fügte das kleine sonderbare Wesen hinzu.
„Aber sein Herz ist rein“, sagte dieselbe Stimme, die ihn auch beim Namen genannt hatte.
Das Einhorn trat aus dem Schatten. Es war wunderschön.
Texte: (c) Stefanie Kißling
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2011
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