Golden Delicious
Es machte RATSCH und ehe sie sich versahen, fiel Horst vom Ast – ein lautes PLOCK kündigte seine Ankunft auf dem Rasen an. Danach: Betretenes Schweigen bis sie wieder zu sich gekommen waren.
„Mist“, murmelte Schorsch. Er wusste, wenn es dumm für ihn lief, war er der Nächste; immerhin hing er nun – nachdem Horst einen Abgang gemacht hatte – am Höchsten von allen, was bedeutete, dass der Wind sein größter Feind war.
„Horst? Kannst du uns hören?“, kreischte Karolina. Ihre Stimme überschlug sich hysterisch.
„Vielleicht ist er ohnmächtig oder sowas. Der Sturz hat bestimmt sein Fruchtfleisch verletzt“, analysierte Hans-Peter.
„Halt die Klappe!“, mahnte Dieter.
Als wäre Horsts Sturz aus drei Metern Höhe nicht schon schlimm genug, sah Schorsch von weitem einen Hund direkt in ihre Richtung laufen.
„Oh oh“, murmelte er. Es hatte beinahe etwas Komödiantisches, wie der Wind ihn sanft vor und zurück wippte.
„Was ist jetzt schon wieder?“, zischte Karolina. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie sehr viel für Horst übrig gehabt hatte. „In einem anderen Leben“, hatte sie ihm, als ihr Reifegrad dabei war, seinen Höhepunkt zu erreichen, zugeflüstert, „werden wir sicher zusammen sein können! Stell dir vor, wir beide, gemeinsam, als Tier wiedergeboren…“
Vielleicht waren es gerade Karolinas gehauchte Liebesworte gewesen, die Horst zum Verhängnis wurden, denn er war vor seiner Zeit reif geworden – und nun lag er unter ihnen im Gras und rührte sich nicht mehr.
„C’est la vie. So ist das Leben“, knurrte Dieter.
„Wie kannst du nur so taktlos sein?“, tadelte ihn der vor und zurück wippende Schorsch. Der Hund kam immer näher. Er spürte, wie sein Fruchtfleisch allmählich vor Angst sauer wurde.
„Horst? HOOORST!“, brüllte Karolina.
„Halt die Klappe!“, schrie nun auch Dieter – und es war nicht so ganz klar, ob er Horsts Verflossene oder Schorsch damit meinte.
„Ein Hund!“ Hans-Peter, der bis jetzt ruhig geblieben war, stöhnte hörbar auf.
Karolina seufzte: „Dass es so enden muss… Ausgerechnet ein Köter… Nein…“
„Das hat er nicht verdient“, bestätigte Schorsch, der ganz bleich wurde in Angesicht der Gefahr: Das Tier und der Mensch, eine Einheit, von denen sie als Äpfel nichts verstanden, kamen direkt auf ihren Baum zu. Beide waren gefährlich; der Mensch, weil er seine Füße gegen sie einsetzen konnte, das Tier, weil es gerne mit ihnen spielte und gefährlich spitze Zähne besaß… Einziger Hoffnungsschimmer: Als vor zwei Vollmonden Anneliese vom Stamm gefallen war und einen Tag später auch durch Hund und Mensch Gefahr für sie gedroht hatte, waren beide gedankenverloren an ihr vorbei marschiert. Allerdings, das mussten sie zugeben, hatte es nicht viel genützt; Anneliese, die für einen Apfel am Stamm recht betagt gewesen war, hatte nie wieder zu ihnen gesprochen. Kurz danach konnten sie die ersten braunen Altersflecke auf ihrer Haut ausmachen.
Aber vielleicht hatte Horst mehr oder zumindest dasselbe Glück. Gespannt hielten sie den Atem an – nur Schorsch konnte ein leises Jammern nicht unterdrücken, da der Ast, an dem er hing, keine schönen Geräusche von sich gab.
„Ist er schon da?“, fragte Hans-Peter in die Stille hinein. Er war so positioniert, dass er unmöglich etwas sehen konnte; der Hauptstamm versperrte ihm die Sicht.
„Psst“, machte Schorsch.
„Halt die Klappe!“, mahnte Dieter.
Sie waren so leise, dass sie das Gras unter den Füßen des Menschen einknicken hörten.
Horst hatte kein Glück gehabt. Genaueres ersparen wir dem Leser dieser Geschichte.
„C’est la vie. So ist das Leben“, knurrte Dieter mitten in Karolinas Schluchzen hinein.
„Na ja, wenigstens“, begann Schorsch, „… wenigstens ist es schnell gegangen. Er hat nicht leiden müssen.“ Er schwankte bedrohlich und wünschte sich, es möge ihm doch genauso wie Horst ergehen. Er wollte nicht lange leiden.
„Exakt! Sieh es mal von der Seite; ganz bestimmt hat bereits der Sturz ihm das Fruchtfleisch so zermatscht, dass er den Hund gar nicht erst bemerkt hat!“, mutmaßte Hans-Peter.
Karolina schluchzte nur noch lauter. Sie schien gar nicht mehr zu sich zu kommen.
Schorsch wusste, dass es schwer für sie war. Für sie alle. Dieses traurige Schicksal war nicht Horsts Stil gewesen. Trotzdem mussten sie nun nach vorn blicken – nicht zurück.
Es fiel ihm schwer, die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen, obwohl er deutlich spürte, wie sie Balsam für seine gelbliche Haut waren. Er vermutete, dass es Dieter genauso erging, auch, wenn der nur einsam vor sich hin knurrte.
Karolina heulte lange, ehe sie vor Erschöpfung irgendwann einschlief.
Die Tage rasten förmlich an ihnen vorbei. Noch ehe der Himmel nach Regen aussah, tröpfelte es – und sie alle genossen das kühle Nass auf ihrer Apfelhaut. Wie meistens, wenn es dunkel wurde und eine relativ kühle Nacht vor ihnen lag, wurden sie etwas sentimental; selbst Dieter schien von dieser Stimmung angesteckt zu werden, denn er knurrte weniger als sonst. Schorsch, der das dumpfe Gefühl hatte, dass es ihn bald erwischte, wenn die Menschen nicht endlich kamen um sie von den Ästen zu nehmen und in Körben zu steckten, sagte in die Stille hinein: „Kaum zu glauben; vor wenigen Monaten waren wir noch… Kinder.“
Karolina, die wohl in Gedanken bei Horst war, der unter ihnen verrottete, schniefte in die Dunkelheit hinein.
„So ist der Lauf der Zeit. Ich hoffe nur, die Zweibeiner kommen uns bald holen. Ich möchte nicht enden wie…“, Hans-Peter hielt inne, aber es war zu spät: Karolina kreischte laut auf und schluchzte hemmungslos, sodass ihr Ast bedrohlich bebte.
„Entschuldige, das wollte ich nicht“, flüsterte er.
„C’est la vie. So ist das Leben“, knurrte Dieter.
Wiedermal war es an der Zeit, ihre Traumtode durchzugehen; Schorsch wollte schnell sterben, auf welche Art und Weise war ihm ganz egal. Hans-Peter stellte es sich wunderschön vor, gegessen zu werden und Karolina… Ja, Karolina schwieg sich in Erinnerung an ihren Verflossenen lange aus, ehe sie erzählte, es sei ihr eigentlich auch gleich, nur wolle sie nicht bei vollem Bewusstsein sein. „Das wäre schrecklich“, stellte sie für sich fest.
Sie redeten bis tief in die Dunkelheit hinein, ehe sie Dieters „Halt die Klappe!“ zum Schweigen brachte.
Als hätten sie es geahnt; es war ihre letzte gemeinsame Nacht am Baum. Am nächsten Morgen verpennten sie die ersten Sonnenstrahlen und als sie zu sich kamen, hörten sie das Gefährt der Zweibeiner. Endlich, endlich waren sie gekommen, um sie zu holen!
„Ich glaube, das nennt man; Glück gehabt“, sagte Hans-Peter.
Schorsch war einfach nur erleichtert, dass er nun nicht mehr wie Anneliese und Horst enden musste. Selbst Karolina kicherte fröhlich.
Als einer der Menschen seine Leiter an den dicken Baumstamm lehnte und zu ihnen hinauf stieg, wurde ihnen bewusst, dass sie tatsächlich zusammenbleiben würden. Es kam ihnen beinahe surreal vor: Vergessen war alles Furchtbare, was sie durchlebt hatten. Unter ihnen verrotteten Horst und Anneliese – aber ihr Schicksal war ein anderes. Sie würden, in der Blüte ihres Lebens, gegessen werden! Was konnte es Schöneres geben?
„Mensch, Freunde, wir haben’s geschafft!“, rief Schorsch. Zum ersten Mal machte es ihm nichts aus, hin und her zu wippen.
„Halt die Klappe“, sagte Dieter – und sie brachen in schallendes Gelächter aus.
Texte: (c) Stefanie Kißling
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Obstliebhaber, die keinen Apfelmus mögen.