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Ramona

Sie rannte. Rannte so schnell sie ihre Füße trugen. Rannte über das reifbedeckte Unterholz des Novemberwaldes. Sie war barfuß und ihre Rockschöße flatterten hinter ihr durch die Nacht, ein Paar schauriger, zerrissener, schmutziggrauer Flügel in der silbrig glänzenden Umgebung. Ihr Atem kam nur noch stoßweise und Ihre Füße schmerzten. Ihr Körper drohte, sie im Stich zu lassen. Doch das durfte er nicht. Sie konnte nicht stehenbleiben, nicht einmal, um für einen Augenblick Luft zu holen.

Die Kälte fuhr ihr mit frostigen Fingern über das gerötete Gesicht, sorgte dafür, dass ihre bereits verblassenden Tränenspuren gefroren. Wahllos peitschten ihre kleine Äste und Zweiglein entgegen, Dornenranken rissen ihre zerfledderte Kleidung immer weiter auf, sodass von dem einstmals prachtvollen Abendkleid nichts mehr zu erkennen war. Ihre Augen waren immer noch schreckgeweitet und brannten von ihren salzigen Tränen. Doch all dies störte sie für den Moment nicht. Das einzige, was augenblicklich zählte, war in Bewegung zu bleiben. Ramona floh, lief ihm davon. Egal wohin, nur weg von ihm.

Sie hatte es nicht mehr ertragen, konnte sich nicht länger hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit verstecken. So hatte sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt und war ihm entwischt. Ramona hatte sich unter einem Vorwand von der Abendgesellschaft entschuldigt und war auf die ausladende Terrasse des Herrenhauses getreten, um in einem unbeobachteten Moment zielstrebig weiter auf den nächtlichen Garten zu zu eilen. Als sie durch die versteckte Tür der Gartenmauer in einem toten Winkel der Rosensträucher geschlüpft war, hatte sie sich erstmals ihren Rock aufgerissen. Unbehelligt davon eilte sie die dunklen Straßen der Stadt entlang, hielt sich in den Schatten und vermied den verräterischen Schein der Straßenlaternen. Sie ließ ihr altes leben Stück für Stück, Meter für Meter hinter sich zurück und war fast euphorisch, als sie endlich an den Rand des finsteren Waldes gelangte, der sich nur wenige Meter von den Stadtmauern entfernt über mehrere Hektar erstreckte. Eingehüllt in die tröstliche Dunkelheit der Bäume hatte sie schließlich zu rennen begonnen. Wohl auch deswegen, weil sie plötzlich Hundegebell und Pferdegetrappel hinter sich vernahm. Panisch war sie losgestürzt, hatte erst die rechte, dann auch die linke Sandale verloren, und Haken schlagend durch die willkommene Finsternis geflogen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich zum Hafen der Nachbarstadt durchzuschlagen, sich auf das nächstbeste Schiff zu schmuggeln und ihre schreckliche Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen. Doch als Ramona sich plötzlich auf einer ihr unbekannten Lichtung wiederfand, wusste sie, sie war in die falsche Richtung gelaufen. 

Panik stieg in ihr auf. Nun hörte sie zwar keine Pferdehufe mehr, denn abseits der Wege durch den Wald zu reiten, war in diesem Abschnitt unmöglich, doch das Gebell der Hunde wurde immer lauter. Verdammt! Es fehlte nicht mehr viel und er hatte sie wieder eingefangen. Alles, bloß das nicht, schoss es Ramona durch den Kopf. Also setzte sie sich wieder in Bewegung und überquerte zügig die Lichtung. Wieder im Schutz des Unterholzes blieb sie mit dem Fuß an einer der unzähligen Wurzeln hängen und schlug der Länge nach hin. Als sie sich wieder aufrichtete, spürte sie Hitze direkt unter ihrem rechten Auge- sie hatte sich geschnitten und nun quoll ihr dunkles Blut träge aus einem winzigen Schnitt unterhalb ihres Auges hervor und lief über ihre Wange. Eine blutige Träne auf ihrer schneeweißen Haut. In der Zwischenzeit waren die Hunde unaufhörlich näher gekommen und der Abstand wurde in kürzester Zeit verschwindend gering. Ramona lief wieder los. Immer tiefer in den Wald hinein, während sie hinter sich aufgebrachte Männerstimmen vernehmen konnte. Doch sie rannte weiter. Die Angst davor wieder in ihr altes Leben, in diesen widerlichen goldenen Käfig, zurückzukehren, ließ ihre Füße in einem immer schnelleren Tempo über den weichen Untergrund aus Moos und Laub trommeln. 

Plötzlich wurde sie von hinten gepackt. Starke Arme schlangen sie wie Schraubstöcke immer fester um ihren zierlichen Körper und hielten sie unnachgiebig fest. Hab ich dich! Höhnte einer von Clementins Schergen. Doch Ramona gab nicht so leicht auf: sie zuckte und zappelte, strampelte mit den Beinen und trat ihren Peiniger. Dies ließ ihn jedoch völlig unberührt. Solange, bis Ramona aufgrund ihres wilden Gebährens ein Stück nach unten rutschte und es ihr gelang in fest in den Unterarm zu beißen. Mit einem schmerzerfüllten Brüllen ließ der Mann Ramona los und sie rannte weiter. Geradewegs auf die steilen Klippen direkt vor ihr zu. Ramona! Der Klang seiner Stimme machte sie stoppen- direkt vor dem tödlichen Abgrund. Sieh mich an! Ramona konnte nicht anders als sich auf diesen barschen Befehl hin zu ihm umzudrehen. Sie streckte den Rücken durch und reckte ihm trotzig das Kinn entgegen. Das wird Konsequenzen haben, mein Vögelchen. Einfach so wegzulaufen. Glaube mir, das werde ich kein zweites Mal zulassen. Clementin kam in gebieterischer Haltung auf sie zu. Nein, sicher nicht, hauchte Ramona. Ihr schwarzes Haar flatterte im Wind und die blutige Träne unterhalb ihres rechten Auges funkelte im Mondlicht. Und gerade als der ihr verhasste Clementin die letzten Meter, die ihn noch von ihr trennten, überbrücken wollte, breitete sie mit einem erlösten Lächeln die Arme aus, schloss die Augen und ließ sich rückwärts von den Klippen fallen. 

Impressum

Texte: Schattenpüppchen
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2013

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