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5. Kapitel


Mr. Shellys Geheimnis


Ich hatte mir nie vorstellen können, wie die geheimnisvollen Dämonen aussehen würden, aber nun konnte ich es. Immerhin stand einer vor mir. Ich war zwar überzeugt, dass jeder Dämon anders aussah, das war so eine Sache die ich einfach und ohne ersichtlichen Grund wusste. Dieser hatte fledermausartige, schwarze Flügel mit einer Spannweite, die der große Raum gerade so zuließ, kein Gesicht und gelbe Fangzähne. Der Dämon ließ ein Brüllen verlauten, dass eine lähmende Wirkung auf mich hatte. Ich konnte einfach nur dastehen und ihn anstarren. Obwohl ich eher es sagen würde. Das Monster schlug mit den Flügeln, wobei auch die letzten Fensterscheiben zersprangen und Scherben auf den Boden rieselten. Auch einige der Glasvitrinen waren zerplatzt und ihre wertvollen Inhalte lagen überall verstreut. Ich weiß zwar nicht mehr wie es sich fortbewegte, denn ich war wie in Trance, jedenfalls kam es auf mich zu. Weder Jessy noch Jack standen neben mir. Sie mussten rausgelaufen sein, doch davon hatte ich nichts mitgekriegt. Immer noch starrte ich auf das Monster und für einen Moment hatte ich das Gefühl, als hätte es doch ein Gesicht, oder zumindest ein Paar schwarze Augen ohne Iris, die mich wie schwarze Löcher in den Bann zogen und mich weiterhin bewegungsunfähig machten. Das Monster schwang seine... Flügel und ich sah, dass es Krallen wie ein dunkler Engel hatte. Nur, dass sie noch schärfer waren. Mit einem Schwung und einer beängstigenden Leichtigkeit durchschnitt es den Mast der Luftspirale. Es kam mir immer näher und setzte gerade wieder zu einem Hieb an, der mich diesmal glatt durchtrennen würde, als endlich die Geräusche um mich herum zu mir durchdrangen und mir klar wurde, dass all das in wenigen Sekunden geschehen war und es auf mich nur wie eine so lange Spanne gewirkt hatte. Ich hatte alles wir in Zeitlupe gesehen. Doch diese Erkenntnis änderte nichts daran, das der Flügel des Monsters mit den scharfen und absolut tödlichen Krallen auf mich zuraste, während ich immer noch bewegungslos dastand. Auf einmal kam etwas von links und warf mich zu Boden. Mit einem Keuchen wich die Luft aus meiner Lunge. Hatte mich das Monster erwischt? Nein, es war Jack, der mich zu Boden presste. „Bist du jetzt vollkommen verrückt?“, schrie er mich über das Geräusch hinweg an, dass durch den Flügel des Monsters verursacht wurde, als der Flügel mit den Krallen und der vollen Geschwindigkeit an die hohe Wand prallte. Gesteinsbrocken fielen wie todbringender Hagel von Wand und Decke. Ich konnte nichts sehen, weil mein Gesicht zu Boden gerichtet war und Jacks Gewicht, dass immer noch schwer auf mir lastete, es nicht zugelassen hätte, dass ich meinen Kopf auch nur einen Zentimeter bewegte. Das Gewicht war so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Dann packte jemand meine Hand und zog mich mit einer Leichtigkeit hoch, als würde ich nicht schlaff daliegen wie ein Sack Kartoffeln. Mr. Shelly stand vor einer Tür, die ich noch gar nicht bemerkt hatte und winkte uns hastig und mit angespanntem Gesichtsausdruck zu sich. Jessy stand hinter ihm und starrte entsetzt auf das Monster. Ich hatte keine Ahnung was es tat; ich wollte es einfach nur hinter mir lassen. Dieser Wille ließ mich aus meiner eigenartigen Trance erwachen und ich fing an zu joggen. Wieso musste dieser dumme Raum auch so groß sein? Plötzlich erfasste mich etwas von hinten und ließ mich erneut zu Boden gehen. Sofort schoss ein betäubender Schmerz durch mein rechtes Bein. Ich schrie auf. Ein Gesteinsbrocken muss mir aufs Bein gefallen sein!, schoss es mir durch den Kopf und als ich einen Blick darauf warf, wurde mein Verdacht bestätigt: Meine Hose war zerrissen, sodass mein blutüberströmtes Bein gänzlich zu sehen war. Eine Scherbe steckte darin und ich war mir sicher, dass es gebrochen war. Das war auch dem Monster nicht entgangen und es flog soweit in die Luft, wie es der Raum zuließ. Es machte sich bereit zum Todesschlag! Ich war mir sicher, es würde auf mich herabstürzen und seine Krallen in mich bohren. Reflexartig riss ich meinen Arm vor den Kopf. Er konnte mich zwar nicht schützen, aber mich vor dem Anblick bewaren. Ich kniff die Augen zusammen und wartete auf den Angriff des Monsters. Das Blut pochte mir in den Ohren und der Schmerz betäubte mein Gehirn. Es war doch keine gute Idee gewesen das Museum aufzusuchen. Am besten hätten wir die Finger gleich vom Spiegel lassen sollen und gar nicht erst großartig Ermittlungen anstellen sollen. Dann wäre ich jetzt nicht hier und würde auf meinen Tod warten. Wie erbärmlich! Nein, ich hatte einen Auftrag zu erfüllen. Das war ich mir und der Welt schuldig. Ich war die einzige die ein neuerliches Aufleben der dunklen Wesen verhindern konnte! Ich hatte diese Aufgabe und ich musste sie erfüllen. Wenn ich das konnte, warum sollte mir diese Last dann auferlegt worden sein? Ich musste das schaffen! Und ich würde nicht sterben, ohne alles versucht zu haben. Das Monster über mir kreischte auf – ein markerschütternder Laut, der mir Gänsehaut verursachte. Das war das Zeichen zum Angriff. Ich hörte wie es noch einmal mir den Flügeln schlug um Schwung zu holen, bevor es zum Sturz ansetzte. Blitzartig und entschlossen griff ich nach der Scherbe in meinem Bein, zog sie heraus und schleuderte sie dem Monster entgegen. Etwas warf es mitten im Flug nach hinten und es zog sich verletzt zurück. Dieses etwas war jedoch nicht meine Scherbe. Dennoch wagte ich nicht mich umzudrehen, bis das Monster von meinem Standpunkt aus nicht mehr zu sehen war und es in dem Nebel, der sich inzwischen wie gewohnt über London ausgebreitet hatte, verschwunden war. Keuchend drehte ich mich um und sah Mr. Shelly, mit immer noch erhobener Armbrust und schwer atmend, hinter mir stehen. Er ließ die Waffe sinken, setzte ein Lächeln auf und sagte: „Wer hat Lust auf Tee?“


Wir saßen in einem vollkommen normalen Büro mit braunen Sesseln und einem Chefschreibtisch. Jessy umklammerte ihre Tasse Tee und schien sich anstrengen zu müssen, um nicht wie ein kleines Kind vor- und rückwärts zu wippen. Sie sah immer noch kränklich aus, viel zu blass und ich hatte das Gefühl, sie aufmuntern oder zumindest ablenken zu müssen, aber fand einfach nicht die richtigen Worte. Es war ja nicht gerade so, als hätte der Angriff des Monsters mich nicht auch geschockt. Der einzige Unterschied war wohl, dass ich mir, im Gegensatz zu ihr, neben dem Schock noch ein Bein gebrochen hatte. Mal wieder ich und mein Glück. Jack schien einigermaßen gefasst. Zumindest ging es ihm so gut, dass er mich schon wieder nerven konnte. Ständig fragte er nach meinem Befinden und war übermäßig besorgt. Mr. Shelly hatte mein Bein verarztet so gut es ging. Er hatte ein paar kleinere Splitter rausgezogen und die Wunde genäht. Was konnte dieser Typ eigentlich nicht? Er führte ein Museum, bekämpfte anscheinend nebenbei furchteinflößende Monster und nun war er auch noch Arzt! Ich hatte mich erschrocken als er eine Nadel und einen faden rausgezogen hatte, aber er versicherte mir, er habe eine Arztausbildung und leistete, so wie er es ausdrückte, erste Hilfe. Ich würde das nicht gerade als erste Hilfe bezeichnen, denn 1. hatte er dieselbe Ausstattung wie in einem Krankenhaus in diesem Museum und 2. waren die Stiche so ordentlich und präzise durchgeführt worden, dass man, wenn man mein Bein nur sah, auf den Gedanken kommen könnte, ich könnte wieder ganz normal gehen. Das war leider nicht der Fall, aber bei diesem Mann hätte mich gar nichts mehr gewundert. Neben all seinen Fähigkeiten war dieses Museum das wahre Wunder, denn er hatte mich so weit durch verschiedene Gänge getragen - ich konnte ja nicht gehen – dass ich zu dem Schluss gekommen war, dass dieses Haus unmöglich so groß sein konnte. Mindestens doppelt oder vielleicht dreimal so groß wie es von außen aussah musste es sein. In den Gängen waren wir immer wieder an Fenstern vorbeigelaufen, was die Möglichkeit eines riesigen Kellers oder eines unterirdischen Gewölbes ausschloss. Da es keine anderen Gebäude neben dem Museum gab, war diese Möglichkeit auch ausgeschlossen. Das einzige was blieb war also Zauberei. Dieser Mann hatte gar nicht geschockt auf das Monster reagiert. Gut, doch, vermutlich schon, aber nicht so, wie es ein normaler Mensch täte. Und wir waren uns von Anfang an einig gewesen, dass er irgendwas wusste und ich hatte das Gefühl es wäre mehr als das bisschen, dass wir herausgefunden hatten. Gerade machte ich den Mund auf um etwas zu sagen, als er mit einem Tee in der Hand kam und sich auf den Sessel hinter dem Cheftisch setzte. Sofort begann er zu reden: „Es ist eine sehr große Freude Sie bei mir zu haben, Miss. Ich dachte dieser Tag würde nie kommen.“ Mein Herz machte einen Sprung. „Was meinen Sie damit?“, fragte ich und versuchte meine Aufregung zu unterdrücken. „Ach, lassen wir doch dieses <Sie>. Du kannst mich Christian nennen.“ „Okay, Christian. Ich bin Amy. Amy Trish.“, sagte ich und er wandte sich Jack zu. Der hob wie zur Begrüßung eine Hand und nannte seinen Namen. Er hatte es wohl nicht so mit ganzen Sätzen. Jessy, die gerade an ihrem Tee nippte, sagte auf einen Blick von Christian: „Ich heiße Jessica.“ Christian seufzte glücklich wie ein Kind an seinem Geburtstag, lehnte sich zurück und blickte freudestrahlend in die Runde. „Es ist wunderbar Freunde zu haben, die einen auf einer solch schweren Mission begleiten.“, Dann wandte er sich nur Jack und mir zu, „Ihr seid doch nur Freunde, oder?“ Jack sprang auf und ich versuchte es aus Reflex auch, zuckte aber gleich vor Schmerzen zusammen. Wütend rief er: „Was soll das?“ und ich sagte laut,: „Woher wissen Sie das?“ Obwohl wir auf verschiedene Sachen reagierten, sprachen wir gleichzeitig. Christian hob beschwichtigend die Hände und sagte an Jack gewandt: „Ich wollte niemanden wütend machen.“ Jack setzte sich langsam wieder und meinte bissig: „Gut, dann lassen Sie am besten gleich diese Gentleman Nummer.“ Christian nickte einwilligend und sagte dann: “Aber dann musst du dich auch an das duzen halten!“ Beinahe hätte ich gelacht, es hörte sich einfach zu kindlich an. Christian ließ die Hände sinken und als er anfing zu sprechen, setzte ich mich auch. „Ich denke es ist Zeit euch zu enthüllen was ich bin und euch meine Geschichte zu erzählen.“ Nun war er wieder der erwachsene Mann, gar nicht mehr kindlich. Ich umklammerte meine Sessellehne fester, als er fortfuhr: „Ich weiß nicht alles über dich, Amy, aber ich weiß wer du bist und was deine Aufgabe ist. Ich weiß nichts über deine Kindheit, oder deine Eltern, oder so. Ich weiß auch gar nicht warum ihr hier seid und ich war geschockt als dieses Wesen auftauchte.“ „Wissen... ähm... weißt du was es war?“ „Ist. Es muss heißen: <Was es ist>. Es ist nicht tot. Ich habe es nur verwundet und dazu noch nicht stark, aber es ist dennoch geflohen. Ich glaube kaum, dass es an seiner Verletzung lag, ich glaube es hat mich einfach erkannt.“ „Wie konnte dieser Pfeil ihm überhaupt etwas antun? Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt etwas gibt, dass diese Haut durchdringen kann.“, meinte Jack und starrte Christian gebannt an. Immer noch lag eine Spur von Feindseligkeit in seinem Blick. Dafür hätte ich ihm am liebsten einen Kick gegeben, denn ich wollte nicht riskieren, dass Christian uns nur wegen Jacks Unfreundlichkeit nichts mehr sagen wollte, aber mein Bein war zur Zeit leider nicht Funktionstüchtig. Dieser jedoch lachte nur und sagte: „Stimmt. Es gibt nur sehr wenig, dass die der dunklen Seite verletzen kann. Diese Armbrust und die Pfeile sind einige der wenigen Gegenstände, die es können. Deswegen ist sie auch so wertvoll.“ Ich konnte einfach nicht zuhören ohne mehr Fragen zu stellen: „O.k. zwei Fragen: 1. was ist die dunkle Seite? Und 2. ist die Armbrust nur deshalb in ihrem Museum? Weil sie wertvoll ist?“ Christian lächelte und sagte: „O.k. zwei Antworten: 1. Die dunkle Seite nennt man die Welt auf der anderen Seite des Spiegels.“, Als er meinen überaus interessierten Blick sah, führte er seine Antwort zu meinem Vergnügen noch ein bisschen weiter aus: „Seid ihr mit dem Bannungsprozess vertraut?“ Ich nickte eifrig. „Das habe ich in meiner ersten Vision gesehen.“ „Du hast Visionen?“, schrie er entgeistert und sprach ein leises, kurzes Gebet. Dann starrte er mich an. „Was genau hast du gesehen?“, sagte er und hatte scheinbar Mühe seine Stimme ruhig zu halten. „Ich... also“, Ich warf Jack einen Blick zu. Er schaute zu Boden. Ich räusperte mich, „Ich hatte plötzlich ein Bild vor meinen Augen. Da stand eine Frau auf einem Balkon und über ihr waren all diese...Wesen. Sie haben sich bekämpft und dann hat sie ihre Arme ausgestreckt. Die Wesen zogen sich immer näher zu ihr ran und desto näher sie kamen, umso mehr entglitt mir das Bild. Dann war es ganz weg und ich habe nur noch die Frau gesehen. Sie lag tot auf dem Boden.“ Meine Kehle war ganz trocken. Ich räusperte mich wieder. „Das Problem bei der ganzen Sache war bloß, dass ich während meiner Vision keine Luft mehr bekommen habe. Ich fiel sofort in Ohnmacht, als die Vision vorbei war. Aufgewacht bin ich dann in dem Raum mit dem Spiegel, in den die dunklen Wesen damals gebannt wurden. Keiner hatte mich dorthin gebracht. Alles was wir gesehen hatten war so eine merkwürdige Gestalt. Wir glauben es war ein dunkler Engel.“
Christian lehnte sich zurück und murmelte: „Hm. Dunkle Wesen und dunkle Engel. Gute Namen hast du dir da ausgedacht. Aber warte mal- ihr habt den Spiegel?“, fügte er hinzu als wären erst jetzt meine Worte zu ihm durchgedrungen. „Äh, ja denke schon. Er zeigt Jessy als dunklen Engel und Jack als... Vampir. Nun ja, nur mich zeigt er ganz normal, aber das ist auch der Grund warum wir darauf gekommen sind, dass ich irgendwie anders sein könnte. Na ja das und-„ Ich hätte noch mehr sagen wollen, aber Christian sprang auf und schnitt mir das Wort ab: „Oh mein Gott, du hattest eine Vision vom Bannungsprozess! Du bist es wirklich!“ Ich versuchte erst gar nicht wieder an meine Worte anzuknüpfen und konnte Christian nur schief angucken.
„Ich hab doch gesagt der hat ´nen riesen Knall.“, nuschelte Jack und fügte dann etwas lauter an Christian, der noch immer auf seinen Tisch gestützt dastand, gewandt hinzu: „Haben Sie vielleicht eine Krankheit, bei der das Hirn das gehörte besonders langsam verarbeitet oder haben Sie einfach nur nen riesen Knall?“
Christian blickte von seinem Tisch auf und ich sah voller Entsetzen wie seine Augen rot aufleuchteten, als er die Worte zwischen den Zähnen hervorpresste: „Bürschchen, wenn du noch einmal <Sie> sagst, kannst du was erleben!“
Seine Stimme schwoll zu einem Schrei an und Jack schien ihn nun für noch durchgeknallter zu empfinden.
„Alles klar, Christian.“, sagte er und Christian setzte sich. „Ihr müsst entschuldigen, aber ich habe schon so lange darauf gewartet und jetzt geht alles so schnell.“
Für einen Moment hatte ich das Gefühl unser schräger Gastgeber würde in Tränen ausbrechen. Und zwar in Freudentränen über meine Existenz. War das verrückt!
„Nun ja und wenn es auf euch so wirkt als hätte ich eine gespaltene Persönlichkeit, dann kann ich euch nur sagen, dass das an all den Menschen liegt, denen ich begegnet bin. Ich habe so viel Zeit mit ihnen verbracht und so viel mit ihnen erlebt, dass ich schon einige Blicke, Gesten oder manchmal sogar die ganze Persönlichkeit übernommen hatte. Das ist so bei Leuten wie mir.“
„Leute wie du?“, hakte ich nach.
Er grinste verschmitzt. „Na, na, na. Du wolltest doch erst deine Antworten.”
„Ach stimmt ja.“ Das hatte ich schon ganz vergessen.
„Wir nennen die Wesen <Die, von der dunklen Seite> weil der Spiegel so etwas wie eine Kopie unserer Welt darstellt, nur dass diese Wesen, die ja eigentlich ein Teil des Menschen sind, sie behausen. Nur ein paar Unterschiede gibt es. Die andere Seite des Spiegels ist zwar genau genommen unsere Welt oder eben eine Kopie davon, aber dort ist es zum Beispiel immer Nacht. Diese Welt ist so eingerichtet, dass jede Art der Wesen in ihr bestehen kann, ohne benachteiligt zu werden. Es wäre für die Werwölfe doch unfair, wenn sie immer auf den Vollmond warten müssten.“ „Wieso unfair?“ „Weil es die Natur dieser Wesen ist zu kämpfen und zu töten. Sie können gar nicht anders, als sich gegenseitig zu vernichten. Sie bestehen aus der Wut und dem Hass der Menschen, oder zumindest verkörpern sie das. Niemand war jemals wirklich dort, aber es ist nur logisch dass sie die ganze Zeit kämpfen. Es ist schon erstaunlich, dass es jetzt noch welche von ihnen gibt und das macht mir Angst. Es könnte sein, dass sie sich weiterentwickelt haben. Ich würde ja gern sehen wie viele sie noch sind und wie sie leben und was sie tun, aber im Grunde wünsche ich niemandem dort hingehen zu müssen.“ „Nun ja, zumindest sind sie noch so mächtig, dass sie langsam aus dem Spiegel gekrochen kommen wie die Kakerlaken.“, sagte Jack verächtlich. „Das hat man ja heute gesehen.“ „Oh nein, das war kein dunkles Wesen.
Ich weiß zwar nicht was es war, aber es war wenn schon nicht nur ein dunkles Wesen. Es hatte die Zähne eines Vampirs, die Flügel und die Krallen eines dunklen Engels und bestimmt kann es noch viel mehr. Dass es noch da draußen rumschwirrt ist unser dringendstes Problem. Nun, aber kommen wir auf deine zweite Frage zurück. Die Armbrust dient nicht als Ausstellungsstück, sondern zu meinem Schutz. Die dunklen Wesen können ihre Artgenossen spüren und für solche Fälle wie heute ist sie doch ganz praktisch.“ Meine Augen verengten sich. „Was bist du, Christian?“, fragte ich kopfschüttelnd. Er war ein Mann, der eine der wenigen Waffen aufbewahrte, die dunkle Wesen töten konnten. Er wusste mehr über mich, den Bannungsprozess, den Spiegel, die dunklen Wesen, er hatte mich gerettet und verarztet, er war ziemlich durchgeknallt und hasste es, wenn man ihn siezte, aber was war er? Er senkte den Blick auf seinen Tisch und schien auf einmal Millionen Jahre alt zu sein. „Es gibt viele Arten von dunklen Wesen und die meisten sind bösartig und haben eigentlich keine andere Wahl als zu töten, weil sie kaum denken. Oder vielleicht haben sie nur verlernt wie man richtig von falsch unterscheidet. Ich weiß es nicht, ich war nie eins. Doch eine Art von ihnen gibt es, die die Wahl hat. Die Menschen dieser Art haben große Macht und können sich entscheiden auf welcher Seite sie kämpfen. Welch ein Wunder- die meisten entschieden sich für die dunkle Seite. Sie wollten über die dunklen Wesen herrschen und sie wussten, sie hatten das Potenzial dazu. Aber da jeder von ihnen immer mehr haben wollte, kam es zu Konkurrenzkämpfen. Am Ende waren sie auch nicht besser als diese ganzen dunklen Wesen. Doch einige von ihnen gab es, die sich dazu entschlossen dem ein Ende zu bereiten. Manche sagen sie erschufen den Spiegel, aber es gibt auch noch viele andere Versionen. Eine Frau unter ihnen beschloss, dass sie den Bannungsprozess durchführen wolle. Sie wusste, dass ihre Überlebenschancen schlecht standen. Das kniffelige daran war nur, dass man die dunklen Wesen sozusagen von den Menschen lösen musste. Das erforderte nicht nur viel Kraft und Anstrengung, nein, sie musste jedes der dunklen Wesen über ihren Körper in den Spiegel leiten. Sie starb. Natürlich hatten die Menschen danach noch etwas Böses in sich, aber sie konnten sich nicht mehr verwandeln. Sie war eine der mächtigsten Magierinnen die es je gab. So behielten nur die Magier ihre Kräfte. Ich bin stolz euch sagen zu können, dass ich ihr Enkel bin.“, endete er mit einem Lächeln. Ich war vollkommen sprachlos. „Ein M-Magier?“, stotterte ich. „Jup. Die Armbrust ist ein Familienerbstück. Genauso wie das Bild in dem Gang. Das zeichnete ihr Ehemann. Er war mein Großvater.“ Ich konnte nur den Kopf schütteln. Die Frau in meiner Vision war eine mächtige Magierin gewesen. Sie war stark genug gewesen um tausende dunkle Wesen in einem magischen Spiegel einzusperren und ich sollte es ihr nun gleich tun. Aber das würde doch heißen... „Christian? Bin ich auch eine Magierin?“ Christian lächelte. „Ja, zumindest behauptet man das. Aber viele sagen du hättest noch viele Kräfte mehr. Und zwar in allen bereichen. Vom Kampf zu den schwierigsten Formeln. Einige behaupten sogar, du könntest fliegen.“ Ich war fassungslos. „Du musst dich irren, Christian. Ich kann weder fliegen, noch habe ich irgendwelche anderen mystischen Fähigkeiten.“ Wieder lächelte er. Hatte er mir nicht zugehört? „Du meinst wohl, du hast sie noch nicht entdeckt. Glaub mir, ich selbst habe an meinem Magiergefühl gezweifelt, als ich die Anwesenheit der Magierin spürte, die unsere Welt retten sollte. Immerhin waren sie eine lange Zeit nicht mehr aktiv gewesen. Aber du hast mir bewiesen, mit deinen Visionen und deiner ganzen Ausstrahlung, dass du es bist.“ Alles in meinem Kopf spielte verrückt. Ich eine mächtige Magierin mit unglaublichen Fähigkeiten und der Gabe, wie eine ungeheuer mutige Frau Hunderte von Jahren vor mir, die Welt von der Verkörperung des Bösen in den Menschen zu befreien? Alles klar.
Jessy, die noch gar nichts gesagt hatte meinte: „Verdammt, Christian. Wie alt bist du eigentlich?“ Ich rechnete schnell mal im Kopf nach und kam zu keinem Ergebnis, da ich nicht wusste wann die Bannung gewesen war. „Ich“, Er lehnte sich nach vorne, „bin über 300 Jahre alt.“, Er zuckte mit den Schultern, „Irgendwann hatte ich keine Lust mehr zu zählen.“
„Wow.“, machte Jessy. Jack pfiff.
„Ihr habt mir schonendlos viele Fragen gestellt. Jetzt bin ich dran. Wieso wart ihr hier und was wolltet ihr mit dem Buch?“
Diesmal nahm Jessy mir die Antwort ab: „Amy hatte wieder eine Vision, in der sie gehört hat wie jemand eine Passage aus einem französischen Gedicht aufgesagt hat. Es war klar, dass der Text etwas mit dem Spiegel zu tun hatte. Jack kannte den Dichter und wir wollten uns in der Hoffnung noch mehr herauszufinden noch ein paar Gedichte mehr ansehen. Dann haben wir erfahren dass es hier ein Gedichtsbuch von ihm gibt und sind hergefahren.“ Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Aber jetzt...“ Sie schluchzte,“ jetzt ist es weg.“ „Weg?“ Jacks Stimme schwoll an. „Lass sie mal!“, fuhr ich ihn an. „Als... das Monster kam“, wieder ein Schluchzen,“ hab ich das Buch genommen und ich“, ein Weinkrampf schüttelte sie und ich wollte sie trösten, kam aber wegen diesem verdammten Bein nicht zu ihr hin! Christian reichte ihr ein Taschentuch. Sie war nun wieder fähig zu sprechen. „Ich hab es fallen lassen, als ich sah, dass du noch immer dastandst. Ich bin ein paar Schritte vor und dann stürzte dieses Gewölbe ein.“ Ich erinnerte mich. Das war gewesen als der Flügel des Monsters mich knapp verfehlt hatte. Als Jack... lieber nicht dran denken. „Christian ist zwar von hinten gekommen, aber das Buch wurde verschüttet.“ Jetzt war es wieder dahin mit ihrer Selbstbeherrschung. War es etwa meine Schuld, dass sie sich deswegen so viel Stress machte? Christian war mehr wert als dieses Buch. Ich wollte ihr etwas sagen, wenn ich schon nicht zu ihr hingehen konnte, aber Jack kam mir zuvor und er schien ganz anders darüber zu denken wie ich. „Du hast was?“, schrie er sie an. „Hast eine Ahnung wie wichtig das war? Du hast all unsere Chancen zu Nichten gemacht! Am besten können wir uns gleich vor dieses Monster werfen und schreien: Friss uns! Du-„, fing er wieder an, aber ich schnitt ihm das Wort ab. Dieser unsensible Mistkerl! Das war eine komplette Überreaktion. Es stand zwar etwas in dem Buch, aber so wertvoll konnte es gar nicht gewesen sein. Ich wusste zwar nicht mehr was da gestanden hatte, aber nichts wäre das wert. „Hör auf sie so anzuschreien!“, schleuderte ich ihm entgegen und wollte nun noch mehr wieder laufen können. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich mein Bein gebraucht hatte. „Du siehst doch dass es ihr leid tut. Jetzt hör mal auf ständig auf ihr rumzuhacken.“ Er drehte sich um. Seine Nasenlöcher waren gebläht. „Du hast doch selbst gesagt, dass das Buch wichtig ist.“, sagte er. „Ja, aber so wichtig nun auch wieder nicht, dass du sie anschreien darfst. Überhaupt geht es dir doch gar nicht um das Buch! Du willst dich bloß an jemandem auslassen und zeigen wie stark du bist!“, fauchte ich. „Es geht mir sehr wohl um das Buch!“, entgegnete er wütend. „Warum? Warum soll ich dir das glauben? Es hat etwas mit mir zu tun, aber nicht mit dir. Es kann dir doch egal sein was passiert. Mein Leben hängt davon ab, nicht deins. So und da wir dieses Missverständnis nun geklärt haben, kannst du ja gehen!“ „Ich werde aber nicht gehen.“ „Wieso? Ich kann dir doch egal sein!“ „Das bist du aber nicht!“ Ich schrak zurück. Seine Augen funkelten zornig. Wir starrten uns immer noch wütend an, als Christian sich einmischte: „Amy, es geht nicht nur um dich. Wir alle hängen davon ab. Du bist nur eine Schlüsselfigur. Eigentlich bist du die Schlüsselfigur. Und es könnte sein dass dein Leben für dass von uns allen gefordert wird.“ Er schluckte und verstummte. Ich starrte Jack nach wie vor an, aber mein Blick war nicht mehr zornig. Was hatte er gesagt? <Du bist mir nicht egal>. Ich bedeutete ihm also etwas. Unter meinem Blick der nun von wütend zu forschend wechselte, wandte Jack sich ab. Ich wusste gar nicht mehr, warum ich überhaupt sauer auf ihn gewesen war. Ach ja, er hatte Jessy angeschrien, obwohl sie keine Schuld hatte. Wenn schon war ich schuld, dass das Buch weg war. Ich war ja stehen geblieben und hatte wie blöd das Monster angestarrt, anstatt mich in Sicherheit zu bringen. „Wenn schon solltest du mich anschreien. Ich bin immerhin diejenige, die fast von dem Monster umgebracht worden wäre, nur weil sie zu blöd war um sich zu bewegen.“ Meine Stimme klang merkwürdig tonlos. Ich blinzelte ein paar mal, als ich merkte wie starr mein Blick war. Jack hob ruckartig den Kopf. „Aber das war doch nicht deine Schuld!“, rief er. Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Er zuckte die Schultern. „Weiß nicht.“, sagte er wahrheitsgemäß. Christian meldete sich wie im Schulunterricht. Wir starrten ihn an. Mir immer noch erhobene Hand entgegnete er unseren Blicken erwartungsvoll. „Äh... Christian?“, fragte Jessy zögernd. Er ließ den Arm sinken und begann zu sprechen. “Also, ich wollte schon die ganze Zeit sagen... nun ja, eure Sorge wegen des Buchs ist vollkommen sinnlos.“, Er zog etwas hinter seinem Rücken hervor, „Ich habe es aufgehoben, bevor ich Jessica in Sicherheit gebracht habe. Ich dachte mir es könnte irgendwie wichtig sein.“ Dann hielt er das Buch in der Hand. Ich hätte am liebsten einen Freudensprung gemacht, aber gleichzeitig graute es mir davor, etwas schlimmes zu Erfahren und vor dem Schmerz, den das in meinem Bein verursachen würde. Jack stand auf und nahm das Buch. Ich hätte erwartet, dass er es aufschlagen würde, aber er reichte es mir. Es war etwas schwierig das Buch zu halten, aber irgendwie schaffte ich es doch. Gerade als ich das Buch aufschlagen wollte, ergriff Christian wieder das Wort. „Weißt du noch, wie ich dir von deinen versteckten Talenten erzählt habe?“ Ich blickte auf. „Das ist gerade mal paar Minuten her.“ „Ich schätze das heißt <ja>. Du hast sicher bemerkt wie die Zeit langsamer und wieder schneller lief.“, Jessy und Jack nickten hastig, aber ich runzelte nur die Stirn. Was jetzt wohl wieder kam? ,“Das warst du. Ich bin sicher, das war eines deiner Kampftalente.“ Ich machte große Augen. Das war zwar unglaublich, aber erstens, was war das nicht und zweitens, war das eine Erklärung. Dann erinnerte ich mich an etwas und drehte meinen Kopf langsam zu Jack. „Woher wusstest du das? Du sagtest doch vorhin, dass ich für meine Starre nichts könnte. Woher zum Teufel, wusstest du das?“ Der Gedanke schien ihm auch schon gekommen sein. Er hob leicht die Schultern und sagte dann schon fast entsetzt: „Ich habe keine Ahnung.“ Jessy, die wie gebannt auf das Buch starrte, sagte bissig: „Macht ihr das mit Absicht, oder regt ihr mich nur aus Versehen so auf? Mach schon endlich dieses Buch auf!“ Ich konnte es ihr nicht verübeln. Sie dachte, sie hätte das Buch verloren und hatte sich deswegen furchtbar schuldig gefühlt, es war nur verständlich, dass sie endlich wissen wollte, was drin stand. Mit einem gespannten Gefühl im Magen, öffnete ich das Buch. Es ging genau an der Stelle auf, an der ich den Hinweis, den ich leider wieder vergessen hatte, gefunden hatte. Es war ein Gedicht über Gut und Böse und darüber, dass sie gar nicht so verschieden sind. Philippe Toulou stellte die Vorteile und Nachteile dar und sprach von einem gewissen Ausgleich. Ich fand, die dunklen Wesen waren etwas zu viel des Bösen. Die Zeilen lauteten:
Pour trouver la vérité, nous devons nous unir avec le diable. Car le mal ne connaît la vérité.
Ich las sie übersetzt vor: „Um die Wahrheit zu finden muss man sich mit dem Bösen vereinen. Denn das Böse kennt die Wahrheit.“ Ich blickte auf. Jack betrachtete mich eingehend und mir kam der Gedanke, dass er mich vermutlich schon die ganze Zeit ansah. Weil ich nicht wusste wie ich damit umgehen sollte, ließ ich meinen Blick weiter zu Jessy schweifen. Sie hatte den Blick an die Decke gerichtet und murmelte die Zeilen vor sich hin. Christian sprach wieder sein Gebet. Seine ganze Haltung war angespannt, seine Augen zusammengekniffen. Erschrocken über diese Reaktion, las ich den Vers noch einmal. Um die Wahrheit zu finden muss man sich mit dem Bösen vereinen. Denn das Böse kennt die Wahrheit. Die Worte hatten beim zweiten mal nicht mehr Durchschlagskraft wie beim ersten mal und mir war gar nicht klar, warum ich sie für wichtig empfunden hatte. Da war ich wohl einfach klüger gewesen. Ich stand auf dem Schlauch. Ich war zu keinem logischen Gedanken fähig. Ich spürte zwar irgendwie dass sie wichtig waren, aber ich wusste nicht wieso. Nur Christian schien diesen Wörtern etwas abgewinnen zu können und deswegen war es wohl das beste ihn einfach zu fragen: „Was bedeutet das, Christian?“ Sofort sah er mich an. Sein Blick hatte etwas durchdringendes. Er atmete einmal tief ein und sagte dann: „Ihr kennt doch sicher Ying und Yang, oder?“, Wir nickten, „Nun, mit der Zeit wurde das Zeichen verändert auch wenn es einen Kern der Bedeutung beibehalten hat. Ursprünglich war es länglich, nicht rund. Es stellte den Spiegel mit seinen zwei Seiten dar.“, Mein Herz schlug schneller, “Die Punkte standen für einen Funken Gutem auf der Bösen Seite und der schwarze Punkt stand für die übriggebliebene Bosheit der Menschen. Der schwarze Punkt war allerdings ursprünglich gar kein Punkt, sondern irgendwie mehr verteilt. Ich weiß es aber nicht, ich war noch nicht geboren. Eigentlich aber, gibt es nichts Gutes in den dunklen Wesen und deshalb ist es nur ein Punkt. Dieser Gegenstand – wir wissen nicht genau was er ist – muss etwas sein mit dem man nur Gutes verrichten kann. Es ist also keine Waffe oder ähnliches sein. Es gibt nur eins, dass es sein kann: Das Wissen, dass die Menschen vertuscht haben, die dunklen Wesen aber nicht. Wissen ist eine mächtige Waffe, wenn es Wissen der richtigen Art ist. Es wird euch Macht geben, die unverzichtbar für eure Mission ist. Denn das Böse kennt die Wahrheit. Weil es nichts vergisst und nie vergibt. Dieses Wissen ist das einzig Gute und ihr werdet es nur dort finden.“ Er blickte auf und seine Augen waren voller Schmerz. „Auf der anderen Seite des Spiegels.“

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Tag der Veröffentlichung: 29.06.2010

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