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4. Kapitel
London





Mir war der kalte Schweiß ausgebrochen. Das konnte doch nicht sein! Nein, nicht ich. Das würde ich nicht aushalten. Andererseits war es eine Erklärung und ich wusste, sie traf zu. Die Erkenntnis traf mich wie ein Kick in die Magengrube. Ich fühlte mich, als könnte ich Blut spucken. Ich würgte ein paar mal, aber mein Mund blieb verschlossen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ihn in 100 Jahren noch mal aufbekommen würde. Ich war doch nur das kleine Mädchen, dass schon in der ganzen Welt gewesen war und nie richtige Freunde gehabt hatte! Ein niemand, ohne besondere Fähigkeiten oder etwas wissenswertem. Es konnte nicht sein, dass ich dazu bestimmt sein sollte, die Welt vor dunklen Wesen zu retten. Ich war nicht die, die den Spiegel für immer zerstören würde. Doch ich spürte, dass ich mich nicht gegen die Wahrheit sträuben konnte. Wieso sonst sollte ich mich ganz normal sehen? Weshalb sonst sollte ich diese Vision gehabt haben? Es war mir ein Rätsel gewesen, bis vor ein paar Sekunden. Plötzlich fiel mir etwas ein, dass meine Adern gefrieren ließ und meinen Mund löste. „Aber sie ist tot.“ „Wer ist tot?“, fragte Jessy erschrocken. Auch Jack blickte auf. „Die Frau in meiner...“ Die Stimme versagte mir. Ich konnte nur entsetzt auf den Boden starren. „In deiner was?“ Jessy hatte mich nicht verstanden. „Die Frau in meiner Vision.“ Ich blickte auf. Sie hielt die Luft an. Jack hatte die Augen weit aufgerissen. „Sie ist gestorben nachdem sie...“, sagte Jack. Er sprach den Satz nicht zuende. Ich nickte. Seine Miene verhärtete sich. „Dann tun wir es einfach nicht.“, entschied er mit beschlossener Stimme. „Du hast sie ja nicht mehr alle! Du kennst doch die Spiegelbilder und du weißt, dass das Siegel bricht! Wenn wir nichts tun, sind irgendwann alle wieder frei!“, schrie Jessy ihn mit sich überschlagender Stimme an. Er starrte auf den Boden. „Du hast recht, es geht nicht anders.“, stimmte ich ihr zu. Meine Stimme klang leblos. „Du willst dich umbringen?“, fragte Jack. Ich zuckte mit den Schultern. Vielleicht sterbe ich ja gar nicht.“ „Nein, bestimmt nicht! Hast einen Moment lang an deine Familie gedacht? Glaubst du sterben ist nicht so schlimm? Das kannst du doch nicht machen!“, fauchte er. Ich blickte ihn an. Wut stieg in mir hoch. Dachte er auch nur einen Moment lang daran, dass ich das wollte. Um die große Heldin zu sein vielleicht? „Und ob ich das kann! Überhaupt, welches recht hast du, mir vorzuschreiben, was ich tun kann und was nicht?“ „Willst du etwas erleben, ist es das, was du willst?“ „Nein, natürlich nicht! Ich habe nie gewollt, dass es so kommt.“ „Wieso stürzt du dich dann kopfüber ins Verderben?“ „Hab ich eine Wahl?“ Er wich zurück. Entgeistert schaute er mich an. Seine Augen waren schmerzerfüllt. Darauf wusste er also nicht mehr zu sagen. Ich war immer noch wütend, wie konnte er mir nur so etwas vorwerfen? Meine Fäuste waren geballt, meine Nasenflügel gebläht und mein Körper bebte. Aber ich hatte es geschafft, ich spürte zwar, dass er mich immer noch daran hindern wollte, aber nicht mehr wusste was er sagen sollte. Ich konnte sie doch nicht da mit reinziehen. Ich sollte den Spiegel zerstören und dabei wahrscheinlich draufgehen. Sie mussten das nicht tun. Sie würden nicht sterben. Warum waren Jacks Augen dann so voller Schmerz? Es ging um mein Leben, nicht um seins. Jessy schaltete sich ein: „Ich bin Jacks Meinung.“ Sie hatte die ganze zeit still am Fenster gestanden. Ich starrte sie wütend an. Ich wollte schon wieder losschreien, da hob sie eine Hand und bedeutete mir klar, ich solle erst mal zuhören. Sie begann zu sprechen: „Du hast offensichtlich eine Aufgabe, die sehr schwierig wird, vor dir. Vielleicht wirst du am Ende sogar sterben. Es ist eine sehr wichtige Aufgabe, ihr scheitern könnte das Ende der Welt bedeuten. Deshalb muss sie erfüllt werden.“, Sie wandte sich mir zu, „Du wirst das nicht alleine schaffen. Du wirst Hilfe brauchen und ich denke, wir sind perfekt dafür geeignet.“ Ich blickte ihr ins Gesicht. Nichts als Aufrichtigkeit lag darin. Mein Blick wanderte von ihr zu Jack. Er sorgte sich um mich, weil er mich liebte. Er hatte meine Abweisung nicht verdient, doch was er eindeutig verdient hatte, war mein Vertrauen, diese Aufgabe mit ihm zu bewältigen. Auch Jessy verdiente das. Ich nickte. „Dann machen wir uns mal an die Arbeit.“
Ich stand vor dem Spiegel, der groß und schön vor mir aufragte. Neben mir stand der Engel mit den schwarzen Flügeln und der Vampir, bei dessen Anblick mein Herz höher schlug. Sie sollten mir helfen, den Spiegel zu zerstören. Das war meine Aufgabe, der Grund warum ich kein Spiegelbild hatte. „Wie glaubst du, kann man ihn zerstören?“, fragte Jessy. Ich sagte nichts. „Vielleicht mit einem Baseballschläger. Ich glaube, ich habe so einen in der Garage.“, schlug Jack vor. Das war wohl seine Art zu sagen, dass er keine Ahnung hatte. Ich streckte meine Hand nach dem Spiegel aus, wollte das Glas spüren. Ob es sich so anfühlen würde wie bei anderen Spiegeln. Hinter ihm lauerten Vampire, Dämonen, dunkle Engel und andere Wesen, mit denen man lieber nicht Bekanntschaft machen sollte. Sie würden nach und nach versuchen in unsere Welt zu gelangen, wenn ich sie nicht aufhielt. Nun lagen nur noch fünf Zentimeter zwischen meinen gespreizten Fingern und der kühlen Fläche. Mein Herz schlug schneller, Jessy hielt die Luft an und Jack erstarrte, als meine Finger nur noch einen Millimeter von dem Spiegel entfernt waren. Ich streckte mich und plötzlich war alles dunkel und Wörter, fremd und laut, dröhnten mir in den Ohren. Ich sah nichts mehr.
Les sauveurs du miroir a deux visages. Un brilliant et sombre.
Ich schlug die Augen auf und taumelte rückwärts. „Amy was ist?“, fragte Jack, als ich zu Boden fiel. Ich keuchte und hielt mir den Kopf. Stöhnend richtete ich mich auf und sagte: „Ich glaube das war wieder eine Vision, aber diesmal war sie ganz anders. Ich habe nichts gesehen, aber gehört habe ich etwas. Jemand sagte irgendwas auf französisch.“ Meine Sprachkenntnisse reichten aus um das zu übersetzen. “Die Worte heißen übersetzt: Die Erlöser des Spiegels haben zwei Gesichter. Ein helles und ein dunkles. Les sauveurs du miroir a deux visages. Un brilliant et sombre. Das waren die Worte.“ Immer noch außer Atem, stützte ich mich an der Wand ab und blickte auf. Jessy schien nach wie vor besorgt, aber Jack schnappte nach Luft. Noch bevor ich ihn genauer betrachten konnte, rannte er auch schon die Treppe runter. Jessy und ich tauschten Blicke. Sie zuckte die Schultern und wir folgten ihm. Als wir unter ankamen sahen wir Jack am Lap Top sitzen und eifrig tippen. „Darf ich fragen was das soll?“, fragte ich verwirrt. „Ich habe diese Worte doch schon irgendwo mal gehört. Mann, hätte ich im Französischunterricht nur mal besser aufgepasst!“, fluchte er. Verständnislos starrte ich ihn an und schaute dann zu Jessy. Sie lachte als sie meinen doof dreinblickenden Gesichtsausdruck sah, wusste selbst aber scheinbar auch nicht was los war. Ich schüttelte den Kopf. „Ha!“, machte Jack triumphierend und ich schreckte zurück. „Was ist jetzt los?“ „Ich hab’s doch gewusst! Dieser Dichter über den ich vorletztes Jahr ein Referat halten musste, hat immer so seltsame Sätze in seine Gedichte eingebracht. Von ihm sind auch die Worte, die du in deiner Vision gehört hast. Ganz sicher. Damals habe ich mich gefragt wovon der da bitte schwafelt, aber jetzt weiß ich, dass mehr dahinter steckte. Es war so was wie eine versteckte Botschaft. Er lebte zur selben Zeit wie Frederick Johnson und wusste anscheinend auch von dem Spiegel. Könnte ich mich nur erinnern was genau er noch gesagt hat!“ Jack sprach schnell und fiebrig. Ich war angespannt. Würden wir von diesem Dichter mehr über den Spiegel, meine Vision und mich herausfinden? Nun da ich wusste, dass ich den Spiegel zerstören musste, möglichst ohne die Welt ins Verderben zu stürzen, hatte das alles eine höhere Bedeutung. Jack schien etwas eingefallen zu sein. „Jetzt hab ich´ s! Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, was er so erzählt hat, aber in London gibt es ein französisches Museum noch aus der Zeit von William of Normandy. Dort hängen viele seiner Gedichte und außerdem kann es sein, dass wir noch mehr finden.“ Ich hatte ein Gefühl, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. „Dann gehen wir da hin. Sofort.“, beschloss ich und die beiden starrten mich entgeistert an. „Aber Amy, wir können doch nicht einfach mal so nach London fahren.“, hauchte Jessy. „Wieso nicht?“, fuhr ich sie an. „Wolltest du nicht noch vor kurzem helfen und unbedingt mit dabei sein? Dann musst du auch was tun!“ „Dazu bin ich auch bereit, aber ich halte es nicht für eine gute Idee einfach mal so Hals über Kopf nach London zu fahren, nur weil wir möglicherweise eine Spur haben!“ „Möglicherweise? Ich weiß zwar nicht was das mit den zwei Gesichtern heißen soll, aber die Erlöser des Spiegels. Das heißt ich und noch jemand. Das ist sehr, sehr wichtig. Was ist, wenn ich nun gar nicht die Kraft besitze zu retten, sondern die Wesen freilassen würde? Hast du überhaupt eine Ahnung wie wichtig das alles ist?“ In meiner Wut über Jessy, war ich zu Schlüssen über meine Vision gekommen, die mir sonst nie eingefallen wären, aber das milderte nicht meine Wut über sie. Sie starrte mich an und ließ schließlich langsam den Blick sinken. „Tut mir Leid. Ich habe nicht erkannt wie wichtig diese Information war. Sorry.“, sagte sie kleinlaut und schon jetzt tat es mir Leid, was ich gesagt hatte. „Schon o.k.“ Ich seufzte. „Also.“, Jack schlug die Hände zusammen, „Wann fahren wir los?“
Mit all meinem gespartem und einem kleinen Reisegepäck wartete ich am Bahnhof von Dayton auf meine besten Freunde. Diese Bezeichnung stimmte nicht, da man Jack einfach nicht als sehr guten freund bezeichnen konnte. Viele würden sagen: Es war Liebe auf den ersten Blick! Das schien aber nicht zu passen. Meine eigenartigen und fremden Gefühle waren schon vom ersten Augenblick da gewesen, aber man konnte nicht von Liebe sprechen. Langsam hätte ich mich wohl daran gewöhnen sollen, dass alles keineswegs so war wie es für einen im ersten Moment aussah, sondern dass alles viele Komplikationen und Hindernisse barg. Ich seufzte und stöhnte gleichzeitig. Meine zu schwere Handtasche lastete auf meiner Schulter wie ein Korb voller Steine und noch immer stand ich auf einem verlassenem Bahnhof. Weder Jessy noch Jack ließen sich blicken. Den Inhalt meiner doch recht geräumigen Tasche konnte man wirklich mit Steinen vergleichen:
Mein Geldbeutel, Schminkzeug, eine Zahnbürste, mein Nachthemd, eine Nagelfeile, mein Handy, mein MP3 – Player, ein Haarreif, ein Ersatzoutfit und ein Apfel.
Die hälfte dieser dinge war für Männer vermutlich absolut unnötig, aber ich ging nirgendwohin ohne meinen Schminkkoffer! Frauen legen halt Wert auf ihr Äußeres und wenn Männer das täten wäre unsere Welt gleich viel schöner und wohlriechender! Ich schnaubte einmal zur Verstärkung meiner Gedanken und fand mich damit ab, dass wohl doch keiner meiner Freunde aufkreuzen würde. Traurig und enttäuscht machte ich mich auf den Weg zum Ausgang. Das konnte doch nicht sein! Niemals hätte ich von Jessy gedacht, dass sie mich so im Stichlassen würde und Jack erst. Große Reden halten und eins auf Held machen und dann – kneifen. So ein Blö... Hinter mir hörte ich Schritte, die meinen feurigen gedachten Monolog störten. Ich drehte mich und stutzte vor erstaunen. Da war Jack in einem Outfit, dass vielleicht für einen Ausflug alla Indiana Jones geeignet wäre, aber sicher nicht für einen Museumsbesuch in London! Sein Gepäck sah aus wie die gesamte Ausrüstung eines Kamerateams und die von Indiana Jones zusammen. Jessy erinnerte mich in ihrem schwarzen Anzug an Catwoman, obwohl das geschmackvolle – sie hatte schon immer einen Sinn für Mode – Kostüm längst nicht so enganliegend war. Auch sie trug viel Gepäck mit sich. „Wieso um alles in der Welt seid ihr so angezogen und habt so viel Gepäck dabei?“ Ich fühlte mich unprofessionell und klein neben dieser Aufmachung. „Du warst doch diejenige die immer betont hat wie wichtig das alles hier ist. Da wollten wir auf jede Situation vorbereitet sein.“ „Ja, schon, aber müsst ihr hier gleich als James Bond und Catwoman erscheinen?“, erwiderte ich auf Jessys Bemerkung. Ich war trotzdem irgendwie stolz auf die beiden und war mir nun sicher, dass sie die richtigen waren um mir bei dieser Mission zu helfen. Jacks Grinsen war Antwort genug. „Ihr beide seid ...einzigartig!“ Ein anderes Wort fiel mir nicht ein.
Die Zugfahrt hätte in mir vielleicht ein De ja vu Gefühl wecken sollen, aber diese Fahrt unterschied sich klar von der, die ich vor wer weiß wie vielen Tagen angetreten hatte. Erstens war ich nicht allein, zweitens fuhr ich in die andere Richtung und drittens kam ich mir vor wie ein ganz anderer Mensch. Die Amy, die ich damals gewesen war, hatte sich in Selbstmitleid gesuhlt und ihre Eltern beschimpft, die sie gegen ihren Willen schon durch die halbe Welt geschleppt hatten. Die jetzige Amy saß einem Vampir und einem dunklen Engel gegenüber und war auf dem Weg nach London, um in einem Museum alte Schriften von einem Dichter einzusehen, der versteckt über einen Spiegel geschrieben hatte, der dunkle Wesen gefangen hält. Genau diesen Spiegel und damit auch die Wesen musste sie zerstören, wobei es auch sein konnte, dass sie sie wieder freiließ. Und diese Amy hatte Visionen, während denen sie keine Luft bekam und schon einmal fast erstickt wäre. Meine damals so ernsten Sorgen erschienen mir klein und unwichtig und zudem absolut normal. So etwas erlebt jeder mal, vielleicht auch ohne diesen Hintergrund aber ein Umzug ist absolut alltäglich. Alltäglich wäre vermutlich das letzte Wort, dass ich für den Spiegel verwenden würde. Als alltäglich würde ich auch die Sache mit Jack und Jessy bezeichnen, die mir vorkam als lägen sie ewig zurück, obwohl das, wenn ich mich nicht täuschte, erst zwei Tage her war. Es war so schnell gegangen. Ein Abend. Ein Morgen. So lange hatte das gedauert. Dann wurde es von etwas viel wichtigerem überschattet. Womöglich war es so schnell gegangen, eben damit ich mich sofort dem lauernden Geheimnis zuwandte, dass oben auf mich gewartet hatte. Oder, wer weiß, vielleicht schwirrten in Dayton bereits einige dunkle Engel herum, die ihrem gläsernen Gefängnis entkommen waren. Plötzlich fiel mir etwas ein. „Glaubt ihr er weiß davon?“, fragte ich ganz in Gedanken in die Stille hinein. Sie war keineswegs bedrückend oder unangenehm gewesen. Wir alle hingen unseren eigenen Gedanken nach, auch wenn ich mir sicher war, dass sie alle um dasselbe kreisten. „Wer weiß wovon?“ Jack war verwirrt, Jessy starrte immer noch nachdenklich auf einen Punkt im Boden, so wie sie es schon die ganze Zeit getan hatte. Sie hatte meine Frage vermutlich nicht mal gehört. Ich blickte wie hypnotisiert auf. „Der alte Mann, der vor uns in dem Haus gewohnt hat. Glaubt ihr, er kannte das Geheimnis?“, erläuterte ich. „Ja, klar. Wieso sonst sollte er ihn denn zurückgelassen haben?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Vielleicht hat er ja nicht durch die Tür gepasst. Und wir säßen ja auch nicht hier, wäre ich nicht ...“ Ein Kloß im Hals erstickte meine Worte. „Du hast recht, wie soll er davon erfahren haben? Na gut, er wusste vermutlich dass er sich anders darin sieht, aber mehr auch nicht. Vielleicht war er ihm unheimlich und er dachte sich <Dann können die sich ja damit herumschlagen>.“, meinte Jack. „Warum hat er ihn dann gekauft?“, überlegte Jessy, die aus ihrer Starre erwacht war. „Ich glaube nicht, dass er ihn gekauft hat. Er wurde wohl einfach weitergegeben. Vielleicht sogar anonym, denn wer würde so was grusliges annehmen?“, sagte ich. „Also ich würde es. Ist doch lustig und man kann es einfach für eine optische Täuschung halten.“ Jack grinste verschmitzt. Ich starrte ihn fassungslos an. „Du würdest etwas kaufen, dass die Menschheit vernichten kann oder noch schlimmer: dass die Menschheit dazu bringt sich selbst zu vernichten?“ „Das wüsste ich ja nicht!“, verteidigte er sich, aber ich konnte nur den Kopf schütteln. „Das ist unfair.“, warf er mir vor und wir versanken wieder in tiefes Schweigen, doch diesmal dachte ich nicht nach. Ich hätte es ja getan, aber nun war ich nicht mehr in Stimmung dazu. Jack und ich blickten uns an, aber jedes mal, wenn ich aufsah und bemerkte wie er mich anstarrte, sah er weg und ich ebenfalls. Dann blickte ich ihn wieder an und er hob den Blick. Dann starrten wir uns beide an und ließen schnell den Kopf wieder sinken. Es war irgendwie peinlich, kindisch und lustig zugleich.
Die restliche Zugfahrt verbrachte ich in einer merkwürdigen Stimmung, voller Erwartung auf die beste Stadt der Welt, mit ein wenig Angst und Neugier blickte ich auf das Ziel unserer Reise. Besonders an der vorbeiziehenden Landschaft konnte man gut erkennen, wie nah wir London waren. Langsam nahm der Verkehr zu, die Häuser wurden größer, es waren mehr Läden zu sehen und viel mehr Menschen auf den Straßen. Mir viel auf, dass auch die Wolken sich verdichteten, obwohl das auch an den vielen Fabriken und Kraftwerken liegen konnte. Durch ein kleines Fenster, konnte ich sehen, dass die Passagiere in den anderen Wagons schon ihre Jacken anzogen und nach ihrem Gepäck griffen, als wir in einen Tunnel fuhren. Wortlos und mit auf einmal flauem Magen stand ich auf und griff nach meinem Koffer auf der Ablage. Gleich würde ich London wiedersehen und meine Eltern hatten keine Ahnung davon. Was wohl meine Mutter dazu sagen würde? Plötzlich fiel mir wieder ein, dass sie weder wusste dass ich hier war, noch wieso. Ich konnte mir kein Leben mehr ohne dieses Wissen, diesen ständigen Hintergrundgedanken, vorstellen. Vielleicht, überlegte ich, würde London jetzt ganz anders sein, oder eher anders auf mich wirken. Die alte Amy war begeistert on London gewesen, aber was war wenn die neue, reifere, Amy nun nur noch Düsternis und Grauen in diesen Straßen finden würde? Vielleicht schwirrten nicht nur in Dayton, sondern bereit auch in London diese Wesen herum. Der Gedanke erschreckte mich so sehr, dass ich fast den Koffer fallen gelassen hätte. Das würde heißen, denn es konnte nur einen Spiegel geben, dass die Wesen 1845km weit gekommen waren und sich breit machten. Aber was war wenn sie nicht nur in London sondern auch in anderen Städten dieser Welt waren? Ich erschauderte und befahl mir streng: Mach dich nicht verrückt und Theorien anzustellen bringt auch nichts. Du fantasierst doch nur rum! Ich stand bereits vor der automatischen Schiebetür des Zugs und wartete darauf, dass Kings Cross vor meinen Augen auftauchte. Trotzdem verschlug es mir die Sprache, als der Zug einfuhr und ich wirklich da war: in London! Das war wie ein unumstößlicher Beweis. Erst jetzt wurde ich mir überhaupt bewusst wo ich war. Es war als wäre ich in Trance gewesen und erst jetzt auf gewacht. Kings Cross, mit seinen roten Ziegeln und zahlreichen Zeitungsständen wurde in ein goldenes Licht getaucht, denn die Sonne war ausnahmsweise bis hierher vorgedrungen und tauchte das geschäftige Treiben in ein friedliches Licht. Es war immer etwas hektisch, aber meiner Meinung nach, nie zu voll oder unangenehm. Alles hatte seinen Platz und war genau da richtig, wo es sich befand: Der Kiosk, die Tauben, ja selbst der Akkordeonspieler – alles hatte seinen perfekten Platz, als hätte eine besonders pingelige Hausfrau alles und jeden in einem symmetrischen Muster angeordnet, um den Eindruck perfekt zu machen. Ich atmete tief ein und lächelte. „Wir sind da.“
Das Museum bot von außen einen eher nüchternen, unauffälligen Eindruck, bei dem ich nie darauf gekommen wäre vor einem Museum zu stehen, hätte es nicht draufgestanden. Mein Herz pochte bis zum Hals als ich wie in Trance die Glastür öffnete und in den Vorraum mit der Kasse schritt. Ein kleiner Souvenirshop zierte den geräumigen Raum mit rötlichen Fließen. Die Wände waren kahl und weiß und die Decke reichte ungefähr zehn Meter hoch. Obwohl das alles doch sehr schlicht war, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Wir bezahlten nicht sehr viel und ich hatte beinahe das Gefühl wir wären die einzigen Gäste hier. Das würde mich nicht überraschen, denn trotz meiner Stadtkenntnisse (ich hatte es geliebt ein bisschen in der faszinierenden Stadt herumzustreifen und neue Winkel und Läden zu entdecken, als ich noch hier gewohnt hatte) war es uns doch recht schwer gefallen das Museum zu finden. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass es sehr schlecht ausgeschildert war und nur ein kleines Schild am Eingang das Museum als ein solches auswies. Unsere Schritte hallen laut von den Wänden wieder, als wir uns voller Spannung und neugieriger Erwartung zu den Schildern hin in Bewegung setzten. Keiner hatte bisher ein Wort gesagt und ich spürte, dass die anderen ebenso aufgeregt waren wie ich. Oder zumindest in etwa so aufgeregt. Ganz oben – es gab drei Stockwerke – befand sich eine Cafeteria, im 2. Stock war „Alles rund um Technik und Geschichte“ und hier im Erdgeschoss war der Wissenschaftliche Bereich rund um den menschlichen Körper und die Natur. Jack, der Vorangegangen war drehte sich halb fragend halb (ich glaub´ s kaum) nervös um und sagte: „Ich denke mal wir versuchen´ s im zweiten Stock, oder möchtet ihr euch davor noch die 20 todbringensten Insekten ansehen? Angeführt von der Vogelspinne und einer besonders ekeligen Zeckenart?“ Ein schalkhaftes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und ich hätte ihm in diesem Moment am liebsten eine verpasst, als hinter uns eine Stimme ertönte. „Kann ich den Damen irgendwie helfen?“ Ich und Jessy fuhren herum. Ein älterer Herr mit schneeweißen Haaren und einem Gehstock aus dunklem Holz kam auf uns zu. Sein Gang und die Tatsache dass er einen Gehstock trug, wiedersprachen sich, da er ihn nicht zu brauchen schien. Jack drehte sich mit zusammengebissenen Zähnen um – ihm war das „Damen“ nicht entgangen. Jessy und ich kicherten. Der Mann richtete sich an mich und Jessy: „Ich bin der Direktor dieses Museums. Wenn ich mich vorstellen darf,“ Er ergriff Jessys Hand,“ Mein Name ist Mr. Shelly.“ Er küsste ihre Hand und ich hörte deutlich wie Jack hinter uns schnaubte und die Augen verdrehte. „So was nennt man dann wohl einen Gentleman.“, sagte ich und Jessy meinte: „Ja, und ich hatte schon gedacht so etwas gäbe es heute gar nicht mehr. Das ist wirklich selten.“ Jack schnaubte erneut und ich musste mir ein Kichern verkneifen. Mr. Shelly, der sich wieder aufrichtete und die Hände mit dem Gehstock hinter dem Rücken kreuzte, beobachtete uns belustigt. Jack räusperte sich und Mr. Shelly blickte zu ihm auf, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt. „Ja Sie können uns helfen. Wir suchen Werke von…“, fing Jack an, aber ich schnitt ihm das Wort ab: „Wir suchen Werke aus der Literatur um das 17. Jahrhundert. Für ein Schulprojekt.“ Ich vertraute niemandem, besonders keinen Männern die Frauen Handküsse gaben. Dieser hier schien außerdem doch sehr erfahren zu sein, das verrieten mir nicht nur die weißen Haare, sondern auch sein charmantes Auftreten und die Tatsache, dass er mir zur Begrüßung nur zugenickt hatte. Das bedeutete, dass er anhand meiner Haltung und meines Gesichtsausdrucks gemerkt hatte, dass ich misstrauisch und nicht allzu aufgeschlossen war und daher einen Handkuss, nun ja, eher als – nicht direkt aufdringlich, nicht bei einem älteren Herrn – aber zumindest als unangenehm empfinden würde. Es wäre bei mir nicht angebracht. Einen anderen Grund als seine Erfahrenheit konnte ich mir nicht vorstellen. Der einzige Grund für seine... Zurückhaltung könnte noch sein, dass ich einen Freund hatte, aber da der nicht vorhanden war... kam doch eher das erste in Frage. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein paar in meiner Altersklasse davor Haltmachen würden. Jungen konnten skrupellos sein, wenn sie etwas wollten. Besonders wenn es eine Frau war. Eine Frau konnte vieles für einen Jungen sein: eine Haushälterin und Köchin, eine zweite Hälfte, ein Symbol des Wohlstands, ein Spielzeug, dessen man doch bald überdrüssig wird, eine Unterstützung des Egos, nun ja, s gab natürlich noch vieles mehr, aber der Punkt ist, dass eine Frau in häufigen Fällen eine glänzende Trophäe ist, mit der man angeben kann und um die man kämpfen muss. Jungs wollen immer nur kämpfen – diese Erfahrung hatte ich schon gemacht. Vor zwei Jahren hatte ich einen netten Jungen kennen gelernt, aber ich fand ihn halt nur nett. Nicht nett nett. Er mich hingegen schon. Ich jedoch wies ihn immer wieder zurück. Normalerweise war ich nicht so gemein, aber damals hatte ich gerade eine missglückte Beziehung hinter mir und wollte nicht schon wieder so tief fallen. Es war alles ziemlich schmerzlich gewesen. Doch er kämpfte um mich und gab mir das Gefühl etwas besonderes zu sein. Was soll ich sagen? Wie kann ein Mädchen sich da nur nicht verlieben? Schließlich willigte ich ein und kurze Zeit später waren wir ein Paar. Nur verebbten seine Gefühle sobald er nicht mehr um mich kämpfen musste und er sah mich nur noch als Trophäe. Er führte mich vor und prahlte mit mir, aber er liebte mich nicht. Ich merkte, dass ich mir auch nur noch Sachen einredete (ein Mechanismus, der bei allen Mädchen gleich ist: sie reden sich gern Dinge ein) und ich zog den Schlussstrich. Einem Jungen zu verfallen ist immer gefährlich und die Teenagerzeit deshalb so schwer, weil man genau das dann besonders oft tut. Ich schätze das dient dazu alles zu lernen und sich für das Erwachsensein zu wappnen. Ich hatte aus meinen Fehlern gelernt und der Anlass aus dem wir hier waren, machte mich nur noch misstrauischer. Mr. Shelly blickte ein paar mal zwischen uns hin und her, dann nickte er mir zu und ging vor und die Treppe hinauf in den 2. Stock. Jessy sah mich an und schüttelte die Augen verdrehend den Kopf. „Was denn?“ Sie zog nur die Augenbrauen hoch. Nun, wenn sie mich für zu misstrauisch hielt, dann war sie offensichtlich eine Frau, die sich viel zu leicht von kleinen Schmeicheleinen eines Mannes einwickeln ließ. So eine war ich jedenfalls nicht - ganz sicher nicht.
Die Treppe war aus elfenbeinfarbenem Stein und man konnte Jessys Absätze laut klackern hören. Die großen Fenster mit den schwarzen Rahmen hatten etwas verspieltes künstlerisches und schienen möglichst viel Licht einzufangen, wodurch es irrsinnig hell hier drin war. Ein eigenartiges Kribbeln durchfuhr mich als ich die letzten Stufen hinaufstieg. Vielleicht lag es nur an der Stadt, aber ich fühlte mich seltsam Wohl hier. Mir war warm und ich knöpfte meine Jacke etwas auf. Ich dachte wir hätten die Abteilung schon erreicht, denn wie groß konnte dieses unscheinbare Museum schon sein? Aber rechts, wo Mr. Shelly sich hinwandte, befand sich nicht die Abteilung sondern ein langer Gang, genauso wie auf der linken Seite. Obwohl ich schon ganz hinten lief, wurde ich langsamer um mich umzusehen. Eine Fensterfront ließ viel Licht in den Gang fließen, wodurch man die Gemälde, die die Wand gegenüber der Fenster zierten, besser sehen konnte. Ich las einige Namen von bekannten Künstlern und wunderte mich immer mehr, warum wir die einzigen Besucher waren. Mr. Shelly der, ohne den Gehstock zu benutzen, locker vor uns herlief, drehte sich halb um und sagte laut: „Das hier sind einige der Gemälde die in dem ganzen Gebäude in Gängen wie diesem verteilt hängen. Ich entschied mich, die Bilder einfach so aufzuhängen und keine separate Abteilung dafür herzurichten. Dies sind hauptsächlich Werke aus dem 19. Jahrhundert.“ Ehrfürchtig starrte ich auf die Gemälde. Ich stand gerade vor der Zeichnung einer Brücke an einem Frühlingstag. Die Farben waren hell und blass, aber trotzdem aussagekräftig. Was sie sagten war: Das ist ein perfekter Ort, an dem du jetzt bestimmt gern wärst, nicht? Tja, aber zu einem perfekten Ort gehört auch ein perfektes Leben, also wirst du ihn wohl nie zu Gesicht bekommen! Mein Leben war nicht perfekt und es würde das Bild verunstalten. Blut, Tod, mysteriöse Visionen und Tatsachen passten da nicht hinein. Ich passte da nicht hinein. „Nichts ist perfekt.“, flüsterte ich, als wollte ich es den Farben sagen. Ich wandte mich ab und schloss zu Jessy auf, die mit interessierter Miene ein Bild musterte. Noch bevor ich einen Blick darauf werfen konnte, fragte sie: „Was hältst du davon?“ Ich betrachtete es und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Auf dem Bild war eine Frau auf einem Balkon, von der man nur den Rücken sehen konnte und im schwarzen Himmel über ihr schwebten düstere Gestalten, die nur verschwommene Umrisse hatten, aber es bestand kein Zweifel was sie waren und was genau auf dem Bild zu sehen war. Ich stolperte rückwärts, fiel aber nicht hin, denn kräftige Hände fingen mich auf. Als ich aufblickte sah ich in die dunklen Augen von Mr. Shelly. Schnell rappelte ich mich auf und murmelte: „Danke“ Er brauchte den Gehstock definitiv nicht. Mein Herz jedoch schlug immer noch rasend schnell. Er beugte sich vor und ganz kurz weiteten sich seine Augen, als er das Gemälde erkannte. Mit einem Gesichtsausdruck der irgendetwas zwischen interessiert und entgeistert war, wandte er sich an mich: „Dieses Gemälde scheint es Ihnen ja besonders angetan zu haben. Gibt es einen speziellen Grund dafür?“ Schnell antwortete ich: „Wieso fragen Sie?“ Mein Tonfall war wohl etwas zu scharf, dafür war seiner etwas zu interessiert. Jessy hätte mir jetzt wahrscheinlich einen bösen Blick zugeworfen, aber sie schaute mich immer noch ängstlich an. Sie hatte wohl auch begriffen. Mr. Shelly schien sich wieder zu fassen und sagte locker: „Nun, nichts besonders. Nur hat einer meiner Vorfahren dieses Werk gemalt und wahrscheinlich bin ich nur so Stolz und möchte gleich damit prahlen. Ich muss sagen, sie haben Temperament, Miss.“ Er drehte sich lachend um und, als er am Ende des Ganges war forderte er uns munter auf: „Kommen Sie, ich dachte Sie wollten, dass ich Sie zu den Gedichten aus dem 17. Jahrhundert führe!“ Er ging bereits weiter und Jessy und ich folgten ihm. „War das ein Bild aus deiner Vision?“, murmelte Jessy und ich konnte ihren Knoten im Hals fast hören. Jack, der einige Meter entfernt gestanden hatte, hatte auf uns gewartet und wir schlossen nun zu ihm auf. Ich nickte stumm. Jack drehte sich verschwörerisch zu mir und flüsterte: „Mit den Typen stimmt irgendetwas nicht. Hast du gesehen, wie er dich angesehen hat?“ „Ich finde du übertreibst, also ich finde ihn jedenfalls nett.“, entgegnete Jessy. Jack schnaubte. „Nur weil er sich so ekelhaft einschleimt!“ Ich lächelte. „Du bist doch nur sauer, weil er dir deinen großen Auftritt vermasselt hat.“, sagte ich grinsend. „Der Typ hat auf jeden Fall nen riesen Knall“, fuhr er fort, als hätte ich nichts gesagt. „Das einzige was hier riesig ist, ist dein Ego.“, schnaubte ich. Jessy stimmte mir zu: „ Oh ja! Schlag ein, Mädchen!“ Sie hielt eine Hand hoch und ich schlug ein. Jack verdrehte die Augen und wollte schon protestieren, denn einen solchen Vorwurf konnte er ja nicht auf sich sitzen lassen, aber ich schnitt ihm das Wort ab, noch ehe er irgendwas gesagt hatte: „Nein, ich finde Jack hat recht. Irgendetwas stimmt nicht. Er weiß was und vielleicht sogar mehr als wir.“ Jessy nickte nun auch. „Seine Vorfahren wussten auf jeden Fall was, immer hin hat einer von ihnen den Bannungsprozess gemalt.“, meinte sie. Ich wollte noch irgendetwas sagen, aber wir erreichten gerade die Abteilung und es verschlug mir die Sprache.
Wie das ganze Museum war auch diese Abteilung gut beleuchtet und wurde von gelblichem Licht durchflutet. An den Wänden waren einige mit wertvollen Schriften und anderen Gegenständen bestückte glas- und Holzvitrinen aufgestellt. Doch der Großteil des Raums wurde von einem riesigen - so sah es zumindest aus – Fluggerät aus dem 17. Jahrhundert in Anspruch genommen. Es sah ein bisschen aus wie... ja, das Gebilde erinnerte mich an einen Flaschenöffner. Es hatte Spiralförmige „Segel“ (so würde ich sie bezeichnen), die sich um so etwas wie einen Mast wanden. Unterhalb der Segel bildeten Holzstäbe die Form eines umgedrehten Trichters. Das alles wurde von robusten Stahlsteilen zusammengehalten und so was wie ein Boden bot Möglichkeit, sich darauf zu stellen. Egal wie robust die Stahlseile und das Holz auch sein sollten, ich würde mich nicht auf dieses Ding trauen, geschweige denn damit fliegen. Ich hatte schon mal eine Zeichnung von so einem Fluggerät gesehen. In einem Geschichtsbuch der 7. Klasse – nicht gerade mein aufmerksamstes Jahr, aber das weckte eine der wenigen Erinnerungen. Das war offensichtlich eine Nachbildung von Leonardo da Vincis Luftkreisel. Der erste Schritt zu dem späteren Hubschrauber. Da Vinci hatte zwar etwas früher gelebt, aber was soll´ s? Trotzdem, ich spürte wie mein Mund leicht aufklappte.
Mit kleinen, vorsichtigen Schritten näherte ich mich dem kreisförmigen Raum. Mir fiel auf, dass der Boden neben den üblichen elfenbeinfarbenen Fließen, auch noch mit einigen schwarzen belegt war. Sie gingen von dem Podium auf dem der Luftkreisel aus und verliefen sternförmig durch den ganzen Raum. Stünde kein Podium in der Mitte, würden sie dort, genau in der Mitte des Raums, zusammenlaufen. Plötzlich tauchte Mr. Shelly den ich ganz aus den Augen verloren hatte – war er überhaupt noch da gewesen? – vor mir auf und winkte uns zu sich, während er sagte: „Die Bücher mit den Gedichtssammlungen sind hier drüben.“ Wir folgten ihm quer durch den Raum und gelangten zu einer Ecke voll mit dicken, in braun und rostrot gebundenen Büchern, von denen jedes ein eigenes kleines Podium hatte. Mr. Shelly war so schnell wieder weg wie er aufgetaucht war, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Ich blickte zu Jack hinüber, der mir zum Zeichen dass er bereit war, zunickte und sich die Titel der Bücher genauer ansah. Nach einiger Zeit, wies er auf eines von ihnen. Mein herz schlug höher und ich schloss kurz die Augen um mich weder zu übergeben, noch in Ohnmacht zu fallen oder, wie es schon einmal passiert war, ohne ersichtlichen Grund einfach mal so halb zu ersticken. Dennoch fühlte ich mich zu jeder dieser Möglichkeiten bereit, als ich voranschritt und das Buch aufschlug. Der mysteriöse Dichter hieß Phillipe Toulou. Ich begann zu lesen. Da ich mal eine Weile in Frankreich gewohnt hatte und deshalb wie immer wenn wir umzogen schon einige Monate vor dem Umzug die Sprache hatte lernen müssen, verstand ich beinahe alles. Natürlich konnte ich mit dieser Methode nach den wenigen Monaten des Lernens noch kaum perfekt sprechen, aber ich hatte nie wirklich eine Wahl gehabt. „Das gibt sich dann schon!“, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ich an meinen Sprachkenntnissen zweifelte. Das war einer der Vorteile an London gewesen: ich hatte die Sprache nicht extra lernen müssen. Damit war die Verunsicherung wegen meinen Sprachkenntnissen schon mal weggefegt. Meine Mutter hatte ursprünglich sogar gewollte, dass ich russisch und tschechisch lernte. Neben allem anderen. Und das nur, weil ich Vorfahren aus diesen Ländern hatte. Das war eigentlich kein Wunder, denn ich hatte so ziemlich aus allen Ländern der Welt irgendwelche Vorfahren. Meine Familie hatte schon immer dazu geneigt viel zu reisen. Es war sozusagen eine Tradition. Ich würde sie später garantiert nicht weiterführen. Einige Traditionen sind für die Ewigkeit und das ist auch richtig so, aber andere veraltern und werden nicht nur lästig sondern auch vollkommen überflüssig. Diese Gedichte würden das auf jeden Fall nie werden. Sie waren tiefgründig und manchmal melancholisch, aber mache auch ironisch. Plötzlich stieß ich auf etwas und für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Ich las die Zeilen immer wieder und begann gerade ihren Sinn zu erfassen, als ein ohrenbetäubend lautes Klirren, ein Schrei und das Geräusch von zerschmetterndem Glas die Zeit wieder anlaufen ließ. Ich fuhr herum und fand mich Auge in Auge mit dem größten und schrecklichsten dunklen Wesen das ich je gesehen hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 27.06.2010

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