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TAG 1



Tag 1

Es ist "Tag 1". Wie lächerlich das klingt. Heute wurde es offiziell gemacht: Meera ist gestorben. Bei einem ihrer blöden Arbeitstage auf der blöden S.S. Melody. In der Schule war sie das Thema des Tages. Ich bin ja immer die erste im Klassenraum. Wie sie alle auf meinen Platz zugestürmt sind! Das einzig Gute was ich daraus ziehen kann, ist dass Gree mich traurig angelächelt hat. Man sollte meinen, dass ich besseres zu tun hätte, als einen Hirnaussetzer wegen einem Smile zu bekommen, aber tatsächlich schafft Gree das. "Sorry", hat er gemeint. Und Frau Iason im Anschluss:"Was tuschelt ihr denn da?!" Mit einem Blick auf die erste Reihe, in der Felicity mit brennendem Gesicht versucht, den Blick auf ihren Hintern zu schützen, den Alex eine Reieh hinter ihr beglotzt, fügt sie hinzu: "Und geht verdammt nochmal auf eine Mädchenschule, wenn ihr verhindern wollt, dass ein Mann euch die Arschbeleuchtung abguckt!"
Für Frau Iason ist das Wort "Arsch" eigentlich Recht modern, normalerweise aber nicht Teil ihres Wortschatzes. Heute ist alles anders.
Als es zur Fünf-Minuten-Pause klingelte, kribbelten meine Fingerspitzen immer noch wegen Grees Zuspruch. Da kam Felicity auf mich zu, knickte fast weg (ein Disaster bei ihren High Heels) und stellte sich dann possierlich vor mein Pult. "Ich weiß genau wie du dich fühlst", sagte sie mitleidig, "meine Tante ist vor einem Jahr gestorben und ich habe mich gefühlt, als würde man mir ein Teil meines Herzens rausreißen. Dieser Teil ist immer noch nicht wieder da. Es bedarf viel Liebe so eine große Wunde zu kurieren!" (Ja, sie sagte tatsächlich EIN Teil, statt einen Teil). Ich habe nur lieb gelächelt und genickt, aber am liebsten hätte ich sie mit ihrer teuren Kette von Charlotte stranguliert und geschrien: Deine Tante hast du nur sieben Mal in deinem erbärmlichen Leben gesehen, aber meine Schwester habe ich jeden Tag gesehen! Und deine Tante ist gestorben, weil sie alt war! Das ist normal! Du hast keine Peilung wie ich mich fühle, du blöde Schlampe!
Aber wie gesagt. Ich räkelte mich auf meinem Drehstuhl und klopfte Feli auf die Schulter. So bin ich eben. Rachel. Ich fange prinzipiell keinen Streit an, nicht einmal wegen Meera. Wegen Boss vielleicht, meinem Hund, denn er hätte ja niemals eine Chance gehabt, sich zu wehren. Nur auf.. eh.. hündisch.
Ich frage mich jetzt, woran so ein Hund denkt. Ob er auch irgendwann in seinem Hundeleben denken wird: Hey, da fehlt doch jemand der mein Ohr krault! Meera hat das immer getan. Ich habe es nie gemacht, da ich weiß, dass er lieber am Kinn gekrault wird, aber in Zukunft werde ich es mal versuchen. Er weiß ja trotzdem, wer ihn da gerade liebkost.
Es ist komisch. Ich schreibe gar nicht viel über Meera, dabei ist sie quasi der Grund für Anfang dieses... Dokumentationstagebuch-dingends. Ich will versuchen herauszufinden was los war, gestern, mit der S.S. Melody (Meera wurde erst heute als.. tot erklärt). Wir werden sehen. Aber erstmal muss ich mit Boss raus, der macht mich nämlich gerade heftig runter, macht mir ein heftiges schlechtes Gewissen... auf hündisch.


Die S.S. Melody hat den Vorfall nicht überlebt. Captain Brown ist am Boden zerstört, für ihn war die Gute wie eine Frau. Doch zu der Hochzeit ist es nie gekommen.
Mom sagt mir gerade, dass ich zu lange vor meinem Notizbuch hocke und Nichts anderes mache. Ich soll raus gehen, sagt sie, es sei schönes Wetter. Schönes Wetter bei 13 Grad Celsius. Meine Winterjacke habe ich von Meera, so ist das bei uns, ich bekomme immer Meeras alte Klamotten, angenommen sie passen mir. Also trage ich ihre ausgeblichene, früher graugrüne Parker mit der ekelhaft verschrumpelten Kapuze. Sonst schäme ich mich immer für sie, heute jedoch, trage ich sie mit echtem Stolz. Jedenfalls tat ich das heute in der Schule. Zum Glück ist es Freitag, so dass sie nur noch sechs Unterrichtsstunden Zeit hatten, mich auszufragen und zu nerven. Sie sind meine Mitschüler. Und innen. Mit Innen meine ich natürlich Felicity, NUR Felicity.
Boss stolziert gerade unter dem Tisch und quetscht sich zwischen meine Schenkel. Ich kraule ihn jetzt das erste Mal hinter den Ohren und er beugt den Kopf für einen kurzen Moment hinunter und an mein rechtes Knie, wie eine Schweigeminute für Meera. Mom, Dad, ich liebe euch!
In dieser Jahreszeit- Herbstwinter- trägt Boss ein Halsband mit süßen, umherlaufenden Rentieren in weiß und rot. Er hasst das Halsband, aber Dad meint es stimmt uns alle ein wenig fröhlicher, wenn wenigstens Boss gut aussieht. Das findet Besagter nicht.
Er klimpert nun mit seinen Augen und ich ziehe ihm das Halsband aus. Boss leckt mein Handgelenk ab, ich beuge mich zu ihm herunter und er fährt über meine Nase. Urgh. Mir fällt jetzt auf, dass der ganze Eintrag quasi von Boss handelt. Was soll ich sagen, er ist der Boss!
Das ZungenableckenderHandgelenke et cetera schmeichelt mich, aber ich weiß, dass Hunde dies aus purem Eigennutz machen. Wir Menschen haben auf unserer Haut irgendwelche Salze, die Hund gerne ableckt. Urgh Hoch Zwei.
Es war Dads Wunsch ein haustier- speziell einen Hund- anzuschaffen, aber inzwischen bin ich Boss' Bezugsperson, da ich rein prinzipiell am Konsequentesten und auch die meiste Zeit mit ihm verbringe. Zurück zur S.S. Melody. Sie ist ein Krüppel. Also die S.S. Das ist keine Beleidigung. Sie ist wirklich ein Krüppel. Völlig zerstückelt und babababa.
Am Hafen, zu dem mich übrigens Mom gefahren hat, da er weit weg ist, habe ich ein merkwürdiges Mädchen getroffen. Es hatte volle, knallrot geschminkte Lippen und Unmengen an schwarzem Kajal unter den Augen. Trotzdem trug es Sneakers, zerrissene Hotpants und ein simples, schwarzes Top.
An einer Leiter ist sie zum Ausguck eines mir fremden Schiffes hochgeklettert und hat besagtem Ausguck auf die Schulter getippt. Sie haben sich kurz unterhalten und dann hat das Mädchen an seiner Stelle durch das Fernglas gesehen. Es hat gelacht. Für einen Moment habe ich es für eine zweite Feli gehalten, aber als das Mädchen runterkletterte und später zu mir gekommen ist (als ich gelangweilt auf einer Bank am Hafen saß), habe ich gemerkt wie nett es ist. Die Fremde heißt Perry. Ich will mich mit Perry anfreunden und herausfinden, ob sie mir etwas über die S.S. Melody und den Vorfall Wasserleichen erzählen kann. Bald werde ich in ihre Kabine auf dem "mir unbekannten Schiff", oder wie ich später herausfand der C.S. Army, einbrechen und Privatgegenstände durchsuchen. Mein Scharfsinn und mein Verstand... sie schmieden schon Zeit- und Ordnungsplan. Ich weiß, das Nichts schief gehen kann. Wenn doch, haben wir noch eine Leiche.

TAG 2


Perry macht es mir schwer, sie nicht zu mögen. Schon wieder war sie am Hafen, turnte auf der C.S. Army herum und brachte mir die unmöglichsten Sachen bei.
"Und so", endete sie nach drei Stunden ihre Prozedur, "liest man in Gesichtern. Wenn du willst, kann ich dir jetzt beibringen, wie man Jungs verführt!" Sie hatte mir zugezwinkert und meine Gedanken setzten aus. Es war nur ein: 'OhGottOhGott, ich habe noch nie einen Jungen verführt! Wozu auch, ich komme auch ohne zusätzliche Lasten voran. Wäre er jedoch mein Packesel...'
"Sind Jungs Packesel?", habe ich sie deshalb gefragt. Perry hat gelacht. "Ich kann nicht glauben, dass du 18 bist! Aber wenn du es so willst: ja, meistens packen sie ihre Scheiße selbst und deine gleich mit. Jungs sind... wie Gutscheine auf 50% Rabatt. Du kannst Vorteile aus ihnen ziehen und zu einem Ziel kommen, aber es gehört auch bezahlen dazu!", hatte sie gesagt und gezwinkert.
Ich frage mich jetzt, ob sie in der Lage ist auch mich zu beeinflussen, denn aus ihren Augen glimmt schon wieder dieser hypnotische Schimmer!
"Also", meinte sie, "welcher Junge hier gefällt dir?" Sie zeigte rund um den ganzen Platz, der sehr befüllt war von Jugendlichen und Erwachsenen aller Art. Also suchte ich jedes Gesicht ab, bis ich mich am Ende für einen blonden Jungen mit blaugrünen Moosaugen entschied, der gegen einen Baum auf der Grünfläche gelehnt saß und in einem Lehrbuch las.
"Gute Wahl", meinte Perry darauf ein wenig perplex und schürzte anerkennend die Lippen, als wollte sie eigentlich etwas ganz anderes sagen. Etwas wie: Warum habe ich den nicht zuerst gesehen?!
Dann jedoch schritt sie ganz langsam auf den besagten Fremden, das Verführungsobjekt wieder willen, zu und sah, kurz gesagt, dabei sehr feminin aus. Sie wackelte bei jedem Schritt mit ihrer Hüfte und verschränkte die Arme vor ihrem Bauch, als wolle sie sich hinter ihrer Schönheit verschanzen. "John, Schatz, du hier? Bist du doch sonst nicht. Kann ich dir was Gutes tun?", fragte Perry. Der Junge schaute verwirrt von der Lektüre auf und eine Sekunde später sah auch Perry ihn das erste Mal an, schien gespielt geschockt. "Du bist ja gar nicht John! Du siehst meinem Freund aber auch wirklich ähnlich!" (Später erklärte Perry mir, das sie somit das Selbstwertgefühl des Jungen aufpumpen würde, da hübsche Mädchen immer hübsche Freunde hatten, sie also auch.)
Der Junge lächelte darauf zaghaft und ließ das Buch in seinen Schoß fallen. "Ich wusste gar nicht, dass an so einem hässlichen Ort so etwas Schönes herumlaufen kann. Hat diese Schönheit hier auch einen Namen?"
Perry konterte mit einem geschickten: "Oh, für dich habe ich keinen Namen, aber meine Freundin hier heißt Rachel und ist ein wahres Zuckerstückchen! Und so ganz unter uns, sie ist noch zu haben!" und deutete auf mich. Gelangweilt saß ich auf der immer gleichen Bank und folgte Perrys Eroberungskünsten unauffällig.
Der Junge säuselte ihr etwas ins Ohr, ein pfeifen, wie Perry später klar stellte, und murmelte:"Nicht von schlechten Eltern. Und noch frei. Wie kommt ihr zwei Schönlinge überhaupt dazu mich anzubaggern? Ihr könnt kaum älter als 20 sein. Für mich alten, 24-jährigen Knacker seit ihr dann doch zu jung, oder? Es kommt darauf an, wofür deine Freundin ein Händchen frei hat." Der Junge, nein, der Mann, warf mir einen gefährlichen Seitenblick zu, den ich mit einem perplexen Augenaufschlag quittierte. So schnell war eine solche Eroberung doch gar nicht möglich! Außerdem dachten Männer doch sowieso nur an das eine, was mir die Anspielung auf mein Händchen versicherte. Ha- Ha.
"Rachel kann alles und noch mehr. Wäre ich lesbisch, wäre ich jetzt tierisch eifersüchtig auf jeden Jungen, der sie mit ihren Blicken auszieht. Ich sag dir was: Ich gebe dir ihre Nummer und wenn du dich in 48 Stunden nicht meldest, werde ich die Anfrage eines Ashton Heller annehmen. Die Uhr läuft!" Geschickt kam Perry aus der eingenommenen Sitzposition hoch, zwinkerte und ging betont langsam zu meiner Bank, nachdem sie dem Fremden mit einem Kulli die Nummer auf das Handgelenk gekritzelt hatte, die ich ihr vor vier Minuten angesagt hatte. Auf dieser kurzen Strecke flüsterte sie immer wieder "Tick-tack", was der Mann mit einem wilden Blick beobachtete.
Perry zog mich davon, um mir in der nächstgelegenen Eisdiele eine Abkühlung auszugeben.
Ich bedankte mich mit glühenden Wangen und fragte wie nebenbei, ob ein Leben auf der C.S. Army schön wäre. Perry bejahte dies und erzählte mir ausführlich von ihrer stattlich tollen Kabine, als seien wir zwei enge Bekannte. So, als wäre sie Meera.
Und vor 1 1/2 Stunden nach Hause kam, klingelte tatsächlich mein Handy und ein "Jim" und eine fremde Nummer leuchteten auf dem Display. Als ich mich mit einem "Rachel Thompson?" meldete, hörte ich die Stimme des Mannes vom Hafen. Er meinte:"Hast du Stift und Papier in deiner Nähe? Ich schreibe dir jetzt meine Adresse auf und will, dass du mich morgen besuchen kommst. Also: Knightstown, Cable Station Terrace, das rechte Haus. Es ist blau. Du kannst es nicht verfehlen, R."
Ich sagte noch kurz: "Eh ja, okay, ich habs" und schon legte er auf.
Wie Felicity, wenn ich sie nach den Hausaufgaben fragte. Wie Meera wenn wir uns stritten. Wie Meera.
Doch ich ließ mich nicht bei dem Fremden blicken.
Schließlich war ich anderweitig beschäftigt. Stattdessen besuchte ich den Captain der S.S. Melody, der wie ein nasser Sandsack in seiner kleinen Zweizimmerwohnung saß und schwarzen Kaffee trank.
Erst erkannte er mich nicht wieder, aber als ich meinen Nachnamen nannte, leuchteten seine Augen auf als würde er sich freuen, doch im nächsten Moment fielen die Falten über seinen Lidern traurig nach unten. "Ich kann dir nichts über den Untergang sagen",murmelte der Captain, schlürfte einen Schluck aus der Tasse und sah mich an.
"Können sie mir denn sagen, wo...?"
"An der alten Grotte. Weißt du, wo das ist?"
Ich nickte. Manchmal, im Sommer, sind Meera und ich dort hin gefahren, mit einem gemieteten Segelboot. Die Grotte geht zwar nicht sehr tief in den Inselfelsen hinein, dennoch hat er einen recht großen und leicht findbaren Eingang, weshalb es mich wundert, dass so viele Leute hier in der Stadt ihn kennen. "Natürlich, ich bin hier geboren, Captain."
"Ich weiß mein Mädchen", beschwichtigte der alte Mann mich, obwohl es mir SICHTLICH nicht gefiel, wie er mich da nannte. "Aber bevor du diesen alten Knacker hier wieder seinem Tod zusteuern lässt, will ich dir noch einen letzten Tipp mit auf den Weg geben!"
Ich sah ihn erwartungsvoll an.
Eigentlich will ich diesen Tipp nicht in diese Dokumentation schreiben, aber sollte ich nach meiner Inspektion draufgehen, wird er der Police vielleicht helfen, meine Leiche zu finden.
Captain trank seinen Kaffee leer, schenkte sich Neuen ein und trank. Immerzu. Irgendwann raunte er, scheinbar im letzten Zufluchtsort vor der Müdigkeit: "Es waren nicht sie, die Menschen, die wollten, dass es passiert, es waren die, die unter Wasser leben. Was auch immer du über uns denken magst, Miss Rachel, vielleicht solltest du bedenken, dass wir trotz allem, was wir deinem Volk tun, nicht die Bösen sind. Denk darüber nach, wie der Mechanismus des Fressen und gefressen werden auf unsere Sippe Auswirkungen trägt."
Der Captain entließ mich und jetzt sitze ich hier, mit einem komischen Gefühl. Es ist Mitternacht und ich fühle mich, als wollte ich kotzen.

Impressum

Texte: (c) M.D. Alle Rechte der Geschichte liegen beim Autor.
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Sonja, die der Ruhepol meiner Geschichten ist. Sie kommt erst jetzt in einer der Widmungen vor, da sie eben die goldene Mitte ist. Frischer Wind weht durch die Bäume Und das Laub fegt hin und her Wirbelnd um die Säume Der weiten Röcke Meer Fera, für dieses wundervolle Gedicht!

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