Er trug ein simples Holzfellerhemd ohne Jacke (was bei diesem Wetter auch nicht nötig war, da die ersten Hitzegewitter bereits aus sandten). Um seinen Hals hatte er eine Krawatte gebunden. Im Vergleich zu den Zwillingen sah er einfach nur armselig aus, so wie der erste Eindruck der ganzen Felsinsel auch war. "Vielleicht haben sie sich abgesprochen", murmelte Bella ihrer Schwester zu, als diese in ihrem orangenen Seidenkimono die Stufen des Flugzeugs runterstielte. "Vielleicht haben sie die ganze Hässlichkeit aufeinander abgestimmt, um zu beweisen, dass sie zumindest Mal dafür Geschmack haben."
Pyros lachte kurz und ging dann auf ihren Vater zu. Andrew stand unbeweglich da und beäugte einen Ölfleck auf seinem Hemd, ganz der Hinterweltler.
"Eh... habt ihr gut geschlafen?", fragte er.
"Nein, die Sitze waren grauenhaft. Man sollte annehmen, das für die First Class mehr drin wäre als ein sauberes Glas Wasser und ein Stück Hühnerbrust auf einem Pappteller", schnappte Bella. "Ich hoffe du hast dich auch ohne uns prächtig amüsiert... Daddy."
Andrew lächelte seine Töchter an und winkte ihnen im weitergehen zu.
"Ist nicht dein Ernst. Willst du uns kein Taxi rufen oder sollen wir laufen, bis wir Falten bekommen?!"
Pyros sah ihre Schwester tadelnd an und versuchte so schnell es ging dem Hinterweltler zu folgen. Was hatte Bella erwartet? Eine Hochzeitskutsche? Gesattelte Mulis, auf denen sie reiten konnten?
"Na los, ihr zwei. Ich kann es mir nicht leisten den Schuppen so lange geschlossen zu lassen."
Der Schuppen stellte sich allerdings als ein überdachter Fahrradverleih in Via Medina heraus.
Verschiedene Modelle (Von hässlich bis noch hässlicher) reihten sich in einem sechs Meter langem Fahrradständer nebeneinander. Die Gestelle schienen nach Farben sortiert zu sein, zuerst Rot und zum Schluss die Lilatöne, so, als wolle er mit seinen Rädern einem Regenbogen Konkurrenz machen.
"Ihr seid nicht besonders gesprächig. Was ist los, hat mein schickes Gemäuer euch die Stimmchen genommen, Mädels?" Andrew grinste und hoffte anscheinend sie würden in sein stummes Gelächter einfallen. Er konnte nichts dafür, dass er sich so in seinen Töchtern täuschte- er hatte sie acht Jahre nicht gesehen.
"Was nicht anders zu erwarten ist. Dieser Gestank verschlägt einem buchstäblich die Sprache", keuchte Bella und stupste Pyros an, die auf Anhieb die Lippen zusammenpresste.
Andrew wirkte gekränkt und schloss widerwillig die Holztür auf. "Na, dann Mal rein in die gute Stube", meinte er, wieder ganz der Alte. Pyros gewöhnte sich ein wenig an seine aufdringlich nette Art und beschloss ihm von nun an entgegen zu kommen, ganz im Gegensatz zu ihrem identischen Zwillingsungeheuer.
"Die Einrichtung lässt zu wünschen übrig", kommentierte dieses mit gespitzten Lippen das wenige Mobiliar des Eingangsbereiches. Lediglich eine Werkbank, eine nackte Glühbirne (die ohne Schirm von der Decke baumelte) und ein gemaserter Holzschrank hießen sie willkommen.
"Lass gut sein, Bells" (Ich hoffe an dieser Stelle du bist mir nicht böse, Bella, dass ich deinen Spitznamen für Bella übernommen habe ) Pyros klang gelangweilt, als sie tiefer in das Holzhäuschen eindrang. Andrew schnaubte.
"Also, Mädels, das Gästezimmer ist oben und falls ihr euch umsehen wollt: Jede Rundfahrt kostet euch fünf Mäuse, also überlegt euch gut, was ihr hier anfasst und was nicht", murmelte er und gab Pyros einen Klaps auf den Hintern. "Na los jetzt!"
Bella hakte sich bei ihrem Zwilling ein und führte ihn zu dem Treppengeländer.
"Staub", seufzte sie, "Staub, Staub und- Oh Wunder- noch mehr Staub!"
Pyros verkniff sich ein Lachen. "Wusste gar nicht, dass die von Briese One-Touch auch Staubdüfte vermarkten", prustete sie und zog Bella weiter nach oben.
Das Gästezimmer war genau so in die Brüche gegangen wie der Rest des Hauses auch und trotz ihrem Beschluss musste Pyros erst einmal geschockt ächzen, als sie die knarrende Tür hinter sich zuwarf.
"Sieht aus als teilen wir uns ein Bett, Bells.", schluckte sie und ließ die graue Reisetasche langsam von ihrer Schulter gleiten.
"Wenigstens kannst du mich so vor den 'Bettwanzen' schützen, Py"
"Pscht! Wir sollten uns wirklich Mal ansehen. Wir meckern nach Strich und Faden..."
"Dann lass uns rausgehen und uns wenigstens ein Stück Landschaft reinziehen. Wenn es hier genauso öde ist, wie an den Niagara Fällen, laufe ich Amok. Versprochen", säuselte Bella abwesend und fuhr sich durch das eichelbraune Haar, das identisch zu dem ihrer Zwillingsschwester passte.
Vielleicht besteht die Tragik des Lebens im Verlieren. Man verliert... egal was! Der Bauch ist leer, ebenso der Kopf und nur das Leid zählt, man selbst. Du kannst die Traurigkeit mit dir herumschleppen oder sie abschaffen. Eine Heimat zu verlieren ist aber komplett anders. Du blickst in diesen völlig neuen Planeten und stellst fest, dass diese Menschen Monster sind.
Und erst viel zu spät erkennst du, dass es keinen Unterschied zwischen Mensch und Mutant gibt.
Pyros schwirrte der Kopf, als sie mit ihrer Zwillingsschwester aus dem kleinen Terassenhäuschen stöckelte. Die Stadt schwirrte voll Verkäufern ("Ein echtes Lederband! Welche Farbe wird das Schicksal für sie bestimmen? Das Lederband spricht Bände!" Leises Lachen. Dann Schweigen, erwartungsvolle Augen. Bella schob den ausgestreckten Arm weg. "Nein, danke der Herr") und kleinen Ständen. Obsthändler, Markenfeilscher und Trickbetrüger.
Der Himmel war klar und doch schien die Sonne nicht. Das tiefe Blau erstreckte sich wie eine schützende Hand über dem Horizont und den wirbelnden Köpfen vereinzelter Straßentänzerinnen. Sie schwangen die Hüften zu einem unsichtbaren Beat, der nur in ihren herzen existierte. Pyros blinzelte. Kein CD-Player weit und breit.
"Weiter"
Bella zog sie mit sich aus Via Medina heraus.
Die Hafenluft wütete wie ein wildes, aufgebrachtes, gefangenes Tier durch Via Nazario Sauro, als sie in die Straße einbogen. Entfernt ähnelte der Ort einer kleinen venezianischen Stadt, nur ohne Gondeln, Mondschein und tief gebaute Steinbrücken. Alles flaches Wasser. Nicht einmal Boote schwammen, keine Bojen und auch kein Hinweis darauf, dass jemals irgendeine Maschine das Wasser mit dem Rumpf berührt hatte. Bis auf ein paar Fußgänger war dieser Teil der Stadt wie leer gefegt, genau so wie das Meer. Dabei war das saubere Viertel von Neapel. Ausgeschaltete Laternen ragten mit jeweils zehn Metern Abstand aus dem Boden in die Luft und endeten in zwei runden Lichterkugeln, wie überdimensionale Glühwürmchen.
"Auf deine Frage vorhin im Flugzeug", seufzte Pyros, "Wahrscheinlich Nicht. Aber vielleicht hängt irgendwo ein Schild- 'Nächste Diskothek in zweihunderttausendachthundertsiebenundvierzig Kilometern'. Wer weiß."
"Sport ist gut für die Seele, Py"
"Und für diätreife Pottsäue."
Bella belies die Anschuldigung auf sich ruhen und betrachtete weiter Haus um Haus. Keine schrillen Farben, keine niedlichen Fensterläden aus fernen Ländern und auch keine skurrilen Straßenkünstler, die einem jeden Cent aus der Tasche ziehen wollten. Nur ein kleines verlassenes Neapel.
"Brauchen die Ladys eine Rundfahrt?"
Pyros und Bella zuckten im gleichen Moment zusammen, drehten sich um und atmeten auch im gleichen Moment um. "Mach das nie wieder."
"Ich?", meinte der Junge vor ihnen schuldbewusst. Er lehnte neben einer typischen Touristeneskorte- ein eiserner, zu groß geratener Einkaufswagen mit Überdachung.
"Nein, Pyros."
"Wieso ich?", fragte Pyros entrüstet.
"Ja, wieso sie?", fragte der Fremde hustend.
Bella seufzte und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Jungen zu. Er sah aus wie die Miniskulptur eines Herkules. Um seine Ohren kringelte sich goldblondes Haar und seine Augen waren große graue Tunnel ohne Rückkehr. "Und wer bist du überhaupt?"
Der Blonde lächelte aufrichtig und stellte sich noch ein wenig aufrechter hin. "Ihr Retter in diesem Kaff, die Damen! Ich habe gehört ihr seid neu hier und..."
Bella drehte sich auf dem winzigen Absatz ihrer Schuhe um und marschierte die Fußgängerzone weiter entlang. Ihre Schwester starrte ihr noch einen Moment nach, dann drehte Pyros sich mit hitzigem Grinsen zu dem Fremden um. "Du musst sie entschuldigen", murmelte sie, "Sie hasst diesen Ort einfach. Also hasst sie auch dich. Aber keine Sorge, daran gewöhnt man sich schnell. Sie hasst so ziemlich Alles und Jeden."
Der Blonde stützte sich mit seinem Ellbogen auf dem tiefen Dach der kleinen Metalleskorte ab... und rutschte zwei einhalb Sekunden später wieder davon weg. "Scheiße! Das ist heiß!"
"Oh Wunder", grinste Pyros, während der Typ sich den brennenden Arm rieb. "André schickt dich, nicht wahr? Wie viel hat er dir bezahlt?"
Trotz des kleinen Brandflecks konzentrierte sich der Junge einen Moment lang nur auf ihre Frage und blickte schuldbewusst auf seine Schuhspitzen. "Zwanzig Mäuse. Aber ich hab das Geld abgelehnt. ich mache keine dreckigen Geschäfte, nein, nein. Wer weiß, ob ich am Ende noch eine Schuld zu begleichen habe. Also, kommst du nun mit und hilfst mir deine Schwester einzufangen oder willst du dir noch ein Bisschen anschauen wie mein Arm verkohlt?"
Pyros nickte lachend. "Ersteres!"
Sie schwang sich auf einen der karamellbraunen Ledersitze- an der Seite des Jungen.
"Pyros", sagte sie dann unvermittelt und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Fahrtweg, als er den Wagen anfuhr. "Mein Name ist Pyros" Er warf ihr einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Verkehrsschilder, die nun im Zoom an ihnen vorbeizogen.
"Alessio", hustete er, als sie über einige Hubbel fuhren, so dass Alessio ungefähr sechs Silben hatte. Sein italienischer Akzent war nur schwer herauszuhören, doch Pyros merkte ihn mit jedem Wort mehr. In Serien oder Filmen fand sie ihn immer schrecklich nervig, da er das Verstehen erschwerte, doch nun konnte sie sich Alessio gar nicht mehr ohne vorstellen und fand seine Bemühungen um ein sauberes Englisch angenehm. Er sprach die zwei s sehr warm und zart aus, keines Wegs hart oder wie ein z.
Die Sonne pendelte, je nach dem wie Pyros ihren Kopf drehte, nervend zwischen Sonnenschutz und eben keinem Sonnenschutz hin und her, blendete ab und an ihre Augen und verschwand für zwei mickrige Sekunden im Schattenbereich. "Wie schaffst du das? Fahren bei Sonne?"
Alessio spannte sich in seiner Fahrerposition an. Seine freie Hand trommelte ungeduldig auf das Amaturenbrett während er den Weg nach Via Partenope. "Hast du schon zu Mittag gegessen?", fragte er unvermittelt und schaute sie das erste Mal während der Fahrt an, als der Wagen langsam das Tempo drosselte.
Schnell durchsuchte Pyros ihren Kopf nach freundlichen Antworten. Etwas, das sie als It-Girl in Brooklyn nie gebraucht hatte. "Eh, Nein, noch nicht. Aber werde ich doch gleich wenn du mir was spendierst?"
Alessio stieß vorsichtig die Luft aus, die sich in seinen Lungen gesammelt hatte, und bremste ab, bog in die Einfahrt eines schwarzes Metalltores.
"Wie... grufti. Ristorante La Bersagliera? Und du meinst hier finden wir meine Schwester? Also nicht, dass sie kein Näschen für allen Luxus der Welt hat, aber..." Pyros rümpfte beim Sprechen die Nase "ihr Geschmack hat die Anreise... schon überlebt, so ist das nicht. Und hier sieht es aus als würden jeden Moment Vampire vom Himmel fallen."
"Such dir einfach was zu Essen aus", seufzte der Fahrer und fuhr rückwärts in eine Parklücke. "Drinnen reden wir weiter."
La Bersagliera stellte sich als kleine schmucke "Pizzeria" heraus, die jedoch auch andere Kleinigkeiten verkaufte. Alessio hielt Pyros die Tür auf, ganz entspannt, was sie ihm aber nicht ganz abkaufte, denn noch immer befanden sich tiefe Sorgenfalten auf seiner Stirn. "Denk nicht so viel nach", riet sie ihm über die Schulter hinweg. "Das gibt Falten!"
Alessio folgte ihr kommentarlos, aber als Pyros sich nochmals umdrehte, sah sie wie er grinste.
Er wies ihr einen Tisch in der Mitte des Raumes. Zwar fühlte sie sich ein wenig beobachtet, als sie Platz nahm (und Alessio ihr nicht den Stuhl vorschob), aber sie sah über die gaffenden Neuigkeitenjäger hinweg und setzte ein Bisschen Fröhlichkeit auf.
Als ein mit russischem Akzent sprechender Kellner zu ihnen stieß, bestellte Alessio nur zwei Pizzen (was sonst), Margarita, um auch nichts falsch zu machen.
"Danke", sagte Pyros, "ich bin Vegetarierin"
Als Antwort lächelte er und schob ihr eine Serviette von dem Serviettenbehälter in der Mitte des Tisches zu und einen Moment kam sie sich vor, als schrieb sie eine Matheklausur und die Serviette sei ihr Spicker.
"Und du meinst wirklich wir finden Bella, indem wir hier in aller Ruhe Pizza essen?", fragte Pyros mit lahmer Freude über den deftigen Käsegeruch.
"Kannst du mir nicht einfach dafür danken, dass ich dich umsonst ernähre und deine Füße vor dem Zufuß-gehen schütze?", winkte Alessio ab und nahm sich den Salzstreuer von einem der freien Nachbartische. Er balancierte das Fläschen auf drei Fingern und drehte es in seiner Hand. "Mit vollem Magen lässt es sich leichter suchen. Oder kannst du ausgehungert ein Kreuzworträtsel lösen?"
Alessio sprach das z in Kreuzworträtsel wie ein s aus, eine Kleinigkeit die Herkules vielleicht nicht tun würde. Wäre dies ein Date und sie Bella, wäre sie genau jetzt aufgestanden, hätte ihn einen Spießer geschimpft (ob er das Wort nun kannte oder nicht) und wäre mit funkelnden Augen davon gerauscht. Natürlich wäre Bella dabei eine Schönheit gewesen. Aber Pyros hatte nicht ihre großen Augen, sondern schmale, kleine, die zu nah bei einander waren und sie immerzu grimmig aussehen ließen.
Sie atmete aus. "Dankeschön. Und jetzt? Pizza mampfen? Ja, und heute Abend? Vielleicht Marshmallows über dem Feuer heizen?"
Alessio stellte den Salzbehälter zurück und faltete die Hände, bevor er sie in seinen Schoß fallen ließ. Als Pyros sich umdrehte, entdeckte sie den herannahenden Kellner und ihre Pizzen. Auch sie nahm eine ordentliche Haltung an und hoffte, dass dies nicht so hochnäsig aussah, wie es in einem orangen Seidenkimono nun einmal sonst wirke. Der Russe stellte sein Tablett auf der weißen Tischdecke ab und erfüllte seinen Job: kellnern. Erst als er wieder im Eiltempo zur Küche eilte, stellte Alessio die Frage, die Pyros in seinen Augen gelesen hatte. "Was heißt "mampfen"? Was ist das?"
- ICH SCHREIBE NOCH WEITER UND ARBEITE AN DER FORTSETZUNG! BITTE GEDULDE DICH!-
Texte: (c) "Alessios Gedicht" ist von der Autorin verfasst worden, somit liegen alle Rechte bei ihr (kommt später)
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Obst-Gang und für Pyros und Bella, dass sie mich die ganze Zeit über ertragen und für mich handeln. Oder andersherum?