Jana war mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders. Wegen des Klassenausflugs ins Kunstmuseum würde sie heute später nach Hause kommen. Hoffentlich kommt die Mama so lange alleine klar, dachte sie. Heute Morgen fühlte sie sich wieder gar nicht gut.
Gestern Abend bekam Jana zufällig mit, wie ihr Papa mit Tante Elli telefonierte.
„Es geht Andrea von Tag zu Tag schlechter“, hatte er gesagt. „Die Ärzte können nichts mehr tun. Die Medikamente, die sie bekommt, helfen alle nicht.“
Dann fing der Papa auch noch an zu weinen. Das Mädchen hatte ihren Vater zuvor noch nie weinen sehen. Nun liefen ihr selbst auch dicke Tränen die Wangen herunter.
Janas Mama war schon in sehr vielen Krankenhäusern gewesen, sogar in einer großen Universitätsklinik. Aber kein Arzt fand heraus, was ihr eigentlich fehlte. Sie wurde einfach immer kraftloser, immer dünner, aß kaum noch etwas und lag fast nur noch im Bett. Die ganze Hausarbeit musste Janas Papa abends erledigen, wenn er aus dem Büro kam, und am Wochenende. Alleine konnte er das kaum schaffen. Für Jana war es daher selbstverständlich, ihm zu helfen, obwohl sie das nicht hätte tun müssen. So blieb ihr kaum noch Zeit zum Spielen oder für etwas anderes. Ihre Freundinnen Lotta und Sarah fragten gar nicht mehr, ob sie sich mit ihnen verabreden wollte. Zu oft hatte sie schon „nein“ gesagt, weil sie so viel zu tun hatte. Obwohl Jana erst neun Jahre alt war, kaufte sie ein, fegte die Wohnung, räumte die Spülmaschine ein und aus, goss die Blumen, legte die Wäsche zusammen und viele Dinge mehr. Die freie Zeit, die ihr noch blieb, nachdem sie auch noch für die Schule gelernt und ihre Hausaufgaben gemacht hatte, verbrachte das Mädchen meist mit Malen. Wenn es ihrer Mutter nicht ganz so schlecht ging, spielte sie manchmal mit ihr Memory, oft las sie der Mama auch etwas vor. Sie liebten beide Fantasy-Geschichten, und Jana war eine wirklich gute Vorleserin.
Nur mit halbem Ohr bekam sie mit, was über dieses Bild erzählt wurde, das die Kinder der 4c sich alle anschauen sollten. Es trug den Namen Der Weg ins Ungewisse und zeigte einen dicht bewachsenen Wald, durch den ein langer, schmaler Weg führte. Was ist denn das Weiße da hinten auf dem Weg?, überlegte Jana und schaute jetzt genauer hin, während ihre Klassenkameraden schon weitergegangen waren. Ein Pferd? Sie ging noch näher an das Bild heran. Das Tier hatte ein spitzes Horn auf der Stirn. Es war eindeutig ein Einhorn. Plötzlich wurde Jana schwindlig, alles drehte sich um sie. Und dann wurde sie ohnmächtig. Als sie wieder erwachte, traute sie ihren Augen nicht. Wo bin ich?, fragte sie sich. Jedenfalls nicht mehr im Museum. Sie blickte sich um. Überall waren hohe Bäume und Sträucher. Sie lag mitten auf einem schmalen Weg. Weiter hinten huschte etwas davon. Es war schnell, aber Jana konnte es eindeutig erkennen. Ein Einhorn.
Sie musste sich mehrmals kneifen, um zu begreifen, dass sie nicht träumte. Jana befand sich wirklich in dem Bild. Was war das für ein Ort? Er wirkte irgendwie geheimnisvoll, nicht nur wegen des Einhorns. Wer weiß, was sich hier noch für Gestalten herumtreiben, dachte sie. Vielleicht Trolle? Ihr schauderte. Sie musste hier weg, bevor es noch gefährlich wurde. Aber wie sollte sie wieder zurückkommen? Das Mädchen blickte sich um. Irgendwo musste doch eine Tür oder sowas sein. Obwohl… Durch eine Tür bin ich ja gar nicht hier hingekommen. Eigentlich habe ich mir nur ganz konzentriert das Einhorn angeschaut. Wenn ich das nochmal tue, dann komme ich bestimmt wieder zurück ins Museum. Aber wo war das Einhorn? Jana ging den Weg entlang, in die Richtung, in der das Fabeltier gelaufen war. Wohin dieser Weg wohl führte? Neugierig war sie ja schon. Sie hätte gern diesen Ort erkundet. Aber sie musste zusehen, dass sie zurückkam. Sicher war der Museumsbesuch bald zu Ende und Jana musste schnell heim zu ihrer Mama. Verflixt nochmal, wo um alles in der Welt ist dieses Einhorn? Sie ging schneller, wobei sie versuchte, sich so geräuschlos wie möglich zu verhalten, damit das Tier nicht sofort wieder weglief, wenn sie es endlich gefunden hatte. Jetzt sah sie es. Dahinten am Wegrand. Es graste. Jana blieb bewegungslos stehen, um es bloß nicht zu erschrecken. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf das Einhorn, genauso, wie sie es im Museum getan hatte, als sie das Bild betrachtete. Doch nun passierte rein gar nichts. Sie seufzte. Das Einhorn hob den Kopf und sah das Mädchen an, dann drehte es sich um und trabte davon. Was nun? Jana dachte nach. Vielleicht gab es hier ja Menschen oder menschenähnliche Wesen, die ihr sagen konnten, wie sie aus dem Bild
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Anja Pompowski
Bildmaterialien: Anja Pompowski
Cover: Anja Pompowski
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0881-0
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