„Schau mal, wir kriegen neue Nachbarn“, rief Walter aus der Küche. Margot eilte zu ihm und gemeinsam sahen sie neugierig aus dem Fenster, gut hinter den Vorhängen versteckt, versteht sich.
Tatsächlich. Vor dem alten, baufälligen Haus, in dem Frau Schröder noch bis kurz vor ihrem Tod gewohnt hatte, parkte ein großer Umzugswagen. Dahinter ein Minivan. Das Haus stand schon mindestens zwei Jahre leer, man konnte kaum noch über die Hecke sehen. Der Garten, der von Frau Schröder bis zuletzt immer super gut in Schuss gehalten wurde, war völlig verwildert. Meterhoch wucherte das Unkraut. Zahlreiche Makler hatten sich bisher erfolglos bemüht, Mieter für diese Bruchbude zu finden, denn verkaufen wollte Frau Schröders Sohn, der die Immobilie geerbt hatte, nicht. „Es war der letzte Wille meiner Mutter, dass das Haus in Familienbesitz bleibt“, hatte er gesagt. „Darin ist schon mein Großvater aufgewachsen.“
Aus dem Kleintransporter waren inzwischen ein junges Paar und drei kleine Kinder ausgestiegen. Zwei dänische Doggen wuselten um die Familie herum.
„Meine Güte, was will man mit zwei riesigen Hunden, wenn man schon drei kleine Gören am Hals hat?“, meinte Walter kopfschüttelnd, und Margot erwiderte: „Vielleicht waren die Hunde ja auch schon vorher da.“
Die Umzugsleute hatten inzwischen die Wohnzimmereinrichtung aus dem LKW geholt.
„Ach du liebe Zeit!“, rief Margot aus. „Guck dir mal diesen Sperrmüll an. Echt Gelsenkirchener Barock.“ An dem durchgesessenen Sofa hatten sich scheinbar schon mehrfach die Hunde zu schaffen gemacht, der Schrank war völlig vermackt, was sogar aus der Entfernung unschwer zu erkennen war. An einigen Stellen hatten die Kinder offenbar versucht, das Möbelstück mit Filzstift aufzuwerten, auch, damit es besser zu dem Wohnzimmertisch passte.
Als nächstes wurde ein großer Käfig aus dem Umzugswagen gehieft. Zunächst konnten Margot und Walter nicht erkennen, was für ein Tier sich darin befand. Als die Möbelpacker den schweren Käfig wohl etwas zu unsanft auf dem Bürgersteig abstellten, ertönte eine sehr laute, krächzende Stimme: „Passt doch auf, ihr Eierköppe. Gleich setzt es was.“
„Ein Kakadu!“, stellten Margot und Walter zeitgleich fest. Doch dabei bleib es nicht. In einer großen Transportbox befanden sich auch noch mehrere Hühner, in einer weiteren Box irgendwelche Kleintiere. „Häschen oder Meerschweinchen“, vermutete Margot. Letztlich kam auch noch ein Kratzbaum zum Vorschein, dann ein Katzenklo.
„Na, großartig. Jetzt haben wir bei uns gegenüber einen Zoo“, bemerkte Walter ironisch. „Ist es überhaupt erlaubt, mitten in einer Wohnsiedlung so viele Viecher zu halten?“
„Keine Ahnung“, sagte Margot. „Warum nicht? Solange wir die Tiere nicht versorgen müssen, kann uns das doch egal sein, oder?“
So egal war es letztendlich aber dann doch nicht. Jeden Morgen, sobald die Sonne aufging, kündigte der Hahn der neuen Nachbarn einen neuen Tag an. Das heißt, gegen 5.30 Uhr war die Nacht vorbei; auch samstags und sonntags (!).
Tagsüber gab der Kakadu der Kleinjohanns – so hießen die Leute – entweder ohrenbetäubend laute Krächzgeräusche von sich oder er plapperte Werbeslogans nach. Seine Lieblingssprüche waren „Respekt, wer`s selber macht“ und „Dann geh doch zu netto“.
Die Hunde bellten oft; laut und ausdauernd. Vor allem in der Nacht. Seit die Neuen zugezogen waren, lagen überall in der Siedlung riesige Hundehaufen herum, selbst mittig auf den Gehwegen. Es war offensichtlich, wer dafür verantwortlich war. Nicht nur Margot und Walter ärgerten sich sehr über diese Sauereien, und Herr Maier von nebenan hatte sogar bereits das Ordnungsamt verständigt. Bisher konnte jedoch leider noch niemand beobachten, wie, nachdem einer der Hunde sein großes Geschäft zum Beispiel auf dem Bürgersteig verrichtet hatte, seine Besitzer den riesigen Haufen nicht beseitigten. Ohne Beweise konnte die Ordnungsbehörde natürlich nichts tun. Als Margot neulich mit ihren nagelneuen Pumps in eine solche Tretmine hineinstapfte, platze ihr förmlich der Kragen. Wutentbrannt suchte sie das Haus der neuen Nachbarn auf und klingelte Sturm. Frau Kleinjohann öffnete die Tür und strahlte über das ganze Gesicht, als sie Margot sah, das Kleinkind auf ihrem Arm ebenfalls.
„Das ist ja eine Überraschung. Schön, dass Sie uns mal besuchen kommen“, plapperte sie direkt drauflos. „Ich hatte sowieso vor, Sie in den nächsten Tagen mal zu uns einzuladen. Ich bin übrigens Britta.“ Sie reichte Margot ihre Hand. „Ist doch okay, wenn wir uns duzen, oder?“
„Äh…, ja…, können wir machen“, stammelte Margot und nannte auch ihren Vornamen.
Ein kleiner Junge und ein Mädchen kamen ebenfalls an die Tür und musterten sie neugierig.
„Bitte, Margot, komm doch rein“, forderte Britta diese auf. Die Kinder und ich haben ganz leckere Kekse gebacken, dazu kann ich uns schnell einen Kaffee aufbrühen.“
Margots Blick blieb an dem kleinen Jungen hängen, der hingebungsvoll in der Nase bohrte. Aus dem Hintergrund erklang lautstark Rolf Zuckowskis „In der Weihnachtsbäckerei“
– mitten im Juli. Margot wusste, dass dieser Ohrwurm sie noch tagelang verfolgen würde.
„Nein, danke“, sagte sie schnell. „Ich habe noch einen wichtigen Termin.“ Der Grund ihres eigentlichen Anliegens, nämlich die neue Nachbarin wegen der Hundehaufen zurechtzuweisen, kam ihr in den Sinn. Das Problem war: Diese Britta war nett. Supernett war sie. Also verabschiedete sich Margot und machte sich zu Hause daran, ihre Schuhe zu reinigen.
Fortan plapperte der Kakadu nun keine Reklametexte mehr nach, sondern krächzte, einer kaputten Schallplatte gleich, immerfort „In der Weihnachtsbäckerei gib´s so manche Leckerei…“
Eines morgens klingelte es bei Margot und Walter an der Tür, kurz nachdem der Hahn gekräht hatte. Britta stand völlig aufgelöst davor und erklärte hecktisch, der kleine Jonas sei aus seinem Hochbett gefallen. „Er hat eine schreckliche Platzwunde an der Stirn. Die muss bestimmt genäht werden. Ich muss sofort mit ihm in die Kinderklinik. Seine Geschwister kann ich mitnehmen, aber Max und Moritz…“ Dabei deutete sie auf die riesigen Hunde, die neben ihr standen. „Könntest du die Hunde vielleicht…?“ Britta flehte Margot förmlich an; sie hatte Tränen in den Augen. Wie hätte Margot da „nein“ sagen können? Ehe sie sich`s versah, hatte sie also die Hundeleinen in der Hand und Britta eilte davon.
Die Doggen hatten ein sehr ausgeprägtes Sabberproblem. Der Speichel rann ihnen in langen Fäden unaufhörlich von den Lefzen. In kürzester Zeit waren nicht nur Margots und Walters Morgenmäntel, sondern vom Sofa bis zur Fernbedienung quasi die komplette Wohnung vollgeschleimt. Die Tiere kratzten und schüttelten sich auffallend oft – hatten sie Flöhe? – und der Sabber klatschte an die Tapeten und Schränke.
Zum Frühstück bekamen Max und Moritz - wobei nicht klar war, wer wer war, denn, wie es schien, kannten die Hunde ihre Namen selbst nicht - jeder ein Leberwurstbrötchen, was ihnen sehr mundete. Offenbar wurden sie davon nicht satt, denn während Margot unter der Dusche und Walter am Küchentisch in seiner Zeitung vertieft war, hatten es sich die Doggen auf dem Sofa gemütlich gemacht und verspeisten die Pralinen, die vom letzten Fernsehabend noch auf dem Wohnzimmertisch standen. Die mintgrüne Couch war ruiniert.
Einer der Hunde hob sein Bein an der Yuccapalme. Erst jetzt fiel Margot ein, dass die Beiden bestimmt raus mussten. Die zierliche Margot hätte die ponygroßen Hunde sicher nicht halten können, und so erklärte Walter sich nach einigem Murren bereit, die Doggen auszuführen.
Es kam, wie es kommen musste. Einer der Hunde machte einen Kackhaufen, der dem eines Elefanten in nichts nachstand. „Scheiße!“, entfuhr es Walter, der eigentlich nie fluchte. Hecktisch kramte er in seinen Jackentaschen nach einer Plastiktüte und zog schließlich tatsächlich eine kleine dm-Tüte hervor. Diese streifte er wie einen Handschuh über und beugte sich zu dem Hundekothaufen herunter, in der Absicht, ihn einzutüten. Es stank erbärmlich. Außerdem, stellte Walter fest, hätte der Riesenhaufen ohnehin nicht in die Tüte hineingepasst. Unauffällig drehte er sich nach allen Seiten um. So früh am Morgen war noch niemand unterwegs. Die Luft war rein, und so lief er schnellen Schrittes weiter.
Wenn dienstags die Mülltonnen geleert wurden, waren die Abfallbehälter der Kleinjohanns bereits am Freitag randvoll. Nach dem Wochenende quollen sie förmlich über, die Deckel ließen sich nicht mehr zuklappen. Regelmäßig kam es vor, dass, sobald ein Windstoß aufkam, sich der gesamte Hausmüll in der Wohngegend verteilte. Überall lagen unter anderem leere Hundefutterdosen oder volle Babywindeln herum. Unmengen an gebrauchtem Kleintierstreu verfing sich in Margots Blumen- und Gemüsebeeten. Die Beete wurden im Übrigen gern und oft von der einäugigen Katze der Kleinjohanns - ein Kater, um genau zu sein; Pirat war sein Name - als Toilette benutzt, so dass Margot und Walter sich ekelten, das selbst angebaute Gemüse zu essen und es schließlich auf dem Komposthaufen entsorgten.
Als Margot vor einigen Tagen feststellte, dass ein Zaunkönigspärchen in ihrer Gartenhecke ein Nest gebaut hatte, in dem sich fünf Eier befanden, war sie außer sich vor Freude. Sie liebte die heimischen Singvögel und machte auch jedes Jahr eifrig bei der Vogelzählung des Naturschutzbundes mit. Inzwischen waren die Jungen geschlüpft, und Margot schob vorsichtig zweimal täglich die Heckenzweige zur Seite, um nachzuschauen, ob die Kleinen noch wohlauf waren. Erst am Morgen hatte sie sich noch davon überzeugen können, dass die Küken gut gediehen, am Abend stellte sie entsetzt fest, dass das Nest leer war, und das, obwohl, wie Margot als Vogelexpertin wusste, die Jungen noch nicht flügge waren. Im Gras fand sie schließlich die Überreste einer Vogelkükenleiche. Margot brach in Tränen aus, sie weinte bitterlich um ihre Schützlinge. Dann schlug ihre Trauerstimmung um in Wut. „Dieses blöde Katzenvieh!“, rief sie aus. „Diese schrecklichen Nachbarn!“ Aber es half nichts; sie konnte schlecht den Nachbarn verbieten eine Katze zu halten. Außerdem war diese Britta ja auch so furchtbar nett.
Eines morgens wurde Walter wach - ohne von dem Hahn geweckt worden zu sein. Er schaute auf die Uhr. „Was? Schon so spät?“, rief er aus. Davon schreckte nun auch Margot hoch.
„Ob der Geier tot ist?“
„Meinst du den Kakadu oder den Hahn?“
„Natürlich den Gockel.“
„Keine Ahnung.“ Margot stand auf und ging zum Fenster. „Du, drüben auf der Wiese ist kein einziges Huhn mehr. Und die Jalousien sind noch gar nicht hochgezogen. Und überhaupt..., hörst du das?“
„Was meinst du?“
„Na, hör doch mal; man hört absolut nichts.“
Wie Margot und Walter später vom Herrn Maier von nebenan, der immer alles wusste, erfuhren, hatten die Kleinjohanns von Frau Schröders Sohn und Erben des Hauses die Kündigung erhalten, weil sie in all den Monaten, in denen sie dort wohnten, noch keinen Cent Miete gezahlt hatten. „Typische Mietnomaden“, folgerte Herr Maier. „Und wie das darin aussehen soll… Die Renovierung der Bude wird dem jungen Schröder wohl so einiges kosten.“
Am Abend saßen Margot und Walter auf dem Sofa und warteten darauf, dass „Mord mit Aussicht“ anfing. „Schaaatz, weißt du, was ich mir überlegt habe?“, fragte sie.
Das wusste er nicht, aber er wusste, wenn sie so anfing, konnte das nichts Gutes bedeuten.
„Nein, aber du sagst es mir sicher gleich.“
„Also ich habe mir gedacht, bevor in dem alten Haus wieder irgendwelche schrecklichen, nervigen Leute einziehen, könnte doch besser meine Mutter darin wohnen.“
Vor Schreck fiel Walter die Zigarette aus dem Mundwinkel, die einen hässlichen Brandfleck auf dem Sofa hinterlies, was aber egal war, denn bald würde ohnehin die neue Couch geliefert werden.
„Na ja, es wäre doch schön, wenn wir Mutti direkt gegenüber wohnen hätten“, fuhr Margot fort. „Dann könnte sie jeden Nachmittag zum Kaffee rüberkommen, und mittags zum Essen, dann bräuchte sie nicht mehr selbst kochen. Und abends könnten wir alle zusammen Kartenspielen oder Mühle. Immer nur fernsehen ist doch sowieso blöd. Weißt du, ich glaube, Mutti ist ziemlich einsam. Und sie wird ja auch nicht jünger.“
Walter war fassungslos. Er stellte sich seine Schwiegermutter zwischen ihnen auf dem Sofa vor und wünschte sich nichts sehnlicher, als die Kleinjohanns zurück.
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2018
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