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Liebe auf den ersten Blick


Im Geiste ging sie nochmal alles durch. Das Catering war bestellt, die Ringe lagen schon in der Kommode parat und warteten auf ihren Einsatz. Hoffentlich wird das Kleid rechtzeitig fertig, dachte Nina und musste lächeln. Ich werde aussehen wie Sissy. Mindestens. Marco bleibt garantiert die Spucke weg, wenn er mich darin sieht. Sie hatte schon fast nicht mehr damit gerechnet, dass er ihr noch einen Heiratsantrag machen würde. Schließlich waren sie schon seit der zehnten Klasse zusammen.
„Schlossplatz!“ Die Durchsage riss Nina abrupt aus ihren Gedanken. Was? Schlossplatz? Hier muss ich doch raus! Hastig sprang sie auf, schnappte ihre Tasche, den Schirm und das Hochzeitsplanungsnotizbüchlein und eilte Richtung Ausstieg. Das Notizbuch fiel ihr aus der Hand. Rasch bückte sie sich, um es aufzuheben, aber jemand kam ihr zuvor. Als er zu ihr aufsah, blickte sie in die meergrünsten Augen, die sie je gesehen hatte. Ihr stockte der Atem. „Wichtige Notizen“, sagte er lächelnd – das stand auf dem Büchlein. Dabei entblößte er strahlend weiße Zähne. Bestimmt ist er Zahnarzt, vermutete sie. Der Dreitagebart passte perfekt zu seinem markanten Gesicht mit dieser Adlernase. Der Mann meiner Träume. Nina war hin und weg. Unsanft wurde sie von den Fahrgästen, die ebenfalls aussteigen wollen, weitergeschoben. Rasch griff sie nach dem Notizbuch, dann wurde sie auch schon durch die Ausstiegstür bugsiert. Die Tür schloss sich, der Zug rollte an. Verzweifelt versuchte Nina, noch einen letzten Blick durch die Scheiben des Waggons auf ihren Traummann zu erhaschen, aber die im Durchgang stehenden Fahrgäste versperrten ihr die Sicht.

Sie stand noch am Bahngleis, als der Zug schon lange fort war. „Entschuldigung, junge Frau, ist der Wupper-Express schon weg?“ Sie zuckte zusammen und drehte sich reflexartig zu der alten Dame um, die sie angesprochen hatte.
„Äh …, ja“, antwortete Nina verwirrt, blickte auf die große Bahnhofsuhr und erschrak. Sie würde zu spät ins Büro kommen. Dabei musste sie unbedingt ihr aktuelles Projekt beenden, bevor Marco und sie nach der Hochzeit in die Flitterwochen flögen.

Beim besten Willen konnte sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren, musste immerzu an ihren Traumprinzen denken.
„Frau Schröder, stimmt was nicht?“ Der Chef klang besorgt. „Sie scheinen heute nicht recht bei der Sache zu sein.“
„Mir ist ein bisschen Flau im Magen“, antwortete sie, und das war nicht mal gelogen.
„Wahrscheinlich Lampenfieber, wegen der Hochzeit“, meinte ihr Vorgesetzter milde lächelnd. „Gehen Sie nach Hause und ruhen sich aus. Nicht, dass Sie am Ende an ihrem großen Tag noch krank sind.“

Zuhause legte Nina sich ins Bett, zog die Decke über den Kopf und stellte sich vor, der Mann aus dem Zug läge neben ihr. Sie liebten sich leidenschaftlich, er flüsterte ihr zärtliche Worte ins Ohr. Später würden sie eng umschlungen einschlafen. Ein Geräusch im Flur brachte sie in die Realität zurück.
„Bist du schon da, Schatz?“, rief Marco durch die Wohnung. Schon stand er im Türrahmen.
„Was ist los? Geht`s dir nicht gut?“
„Migräne.“
Er setzte sich auf die Bettkante und musterte sie argwöhnisch. Nach all den Jahren kannte er seine Verlobte in- und auswendig, merkte sofort, wenn sie log.
„Was hast du wirklich? Kalte Füße gekriegt, wegen der Trauung?“ Er grinste.

Der Gedanke kam ihr ganz plötzlich, und schon sprudelte es aus ihr heraus: „Marco, es tut mir leid, aber ich kann dich nicht heiraten.“
„Hä?“
An ihrem ernsten Gesichtsausdruck und daran, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten, erkannte er, dass es ihr ernst war.
„Ich habe mich verliebt“, fuhr sie fort. „In einen anderen Mann.“ Jetzt war es raus.
„Du hast WAS?!“ Marco war sofort auf hundertachtzig. Das war das Letzte, womit er gerechnet hätte. „Sag mal, hast du sie noch alle?! Bin ich hier im falschen Film, oder was? Wir planen seit über einem halben Jahr diese Hochzeit, und jetzt, zwei Tage vorher, erzählst du mir lapidar, es gibt da einen anderen Kerl? Ich fasse es nicht. Wie lange geht das schon mit euch?“ Er wurde immer lauter.
„Erst seit kurzem.“ Ninas Antwort war ein Flüstern.
„Erst seit kurzem?!“ Marcos Augen drohten, aus den Höhlen zu springen; er war jetzt puterrot. „Und dafür gibst du mir den Laufpass? Sechzehn Jahre sind wir schon zusammen. Sechzehn Jahre (!) wirfst du weg für eine kurze Affäre?“
„Es ist keine kurze Affäre“, erwiderte sie. „Es ist die große Liebe.“
Ehe sie sich`s versah, war er aus dem Zimmer. Schon knallte die Wohnungstür zu.

Kopflos packte Nina ein paar Sachen zusammen. Sie wollte die gemeinsame Wohnung verlassen haben, eher ihr Verlobter zurück wäre. Für einige Tage oder Wochen käme sie bestimmt bei ihren Eltern unter, so lange, bis sie eine neue Wohnung gefunden hätte. Oder bis sie ihn, den Traummann, wiedergefunden hätte, bei dem sie garantiert sofort einziehen könnte, denn, dass er für Nina genauso empfand, wie sie für ihn, wusste sie instinktiv. Es war Liebe auf den ersten Blick. Zweifellos.

Bei den Eltern stieß Nina auf Unverständnis, als sie ihnen offenbarte, dass sie die Hochzeit absagen wolle, weil sie sich in einen anderen Mann verliebt habe. Dass sie diesen Mann nur ein einziges Mal flüchtig gesehen und noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte, verschwieg sie.
„Die Hochzeit absagen? Sag mal, bist du noch bei Trost?!“, keifte ihr Vater drauflos.
„Das kannst du doch nicht machen. Was sollen denn nur die Leute von uns denken?“, jammerte ihre Mutter und fing, wie es ihre Art war, auch gleich an zu heulen. Ob sie denn ernsthaft alle Gäste wieder ausladen wolle, und wie sie sich das vorstelle, wegen der Kosten, denn schließlich habe man ja schon diesen großen Saal gebucht, und die Miete dafür werde man auf jeden Fall auch dann zahlen müssen, wenn keine Feier stattfände.
„Glaub bloß nicht, dass wir die Kosten dafür übernehmen, so wie es vereinbart war. Wenn du Marco nicht heiratest, kannst du zusehen, wo du das Geld dafür herbekommst“, drohte der Vater.“
„Und das schöne Brautkleid“, gab die Mutter zu bedenken. „Die tausendfünfhundert Euro für das Kleid zahlen wir natürlich auch nicht.“
Damit hatte Nina nicht gerechnet. Daran, dass sie ihren Traummann kurzfristig heiraten würde, hegte sie jedoch keinen Zweifel. Für das Kleid bestand also durchaus Verwendung. Wo soll ich nur das ganze Geld hernehmen? Ich muss meinen Prinzen unbedingt wiederfinden. Wenn er wirklich Zahnarzt ist, sind das für ihn Peanuts.
Der Vater stellte seine Tochter vor die Wahl, ihre Entscheidung nochmal gründlich zu überdenken, oder sofort zu gehen. Sie ging.

„Solange du nicht zur Vernunft gekommen bist, brauchst du dich hier nicht mehr blicken zu lassen“, rief er ihr noch hinterher.

Auch bei ihrer besten Freundin Elvira stieß sie auf Unverständnis. „So eine Eselei will ich nicht auch noch unterstützen“, meinte diese. „Geh nach Hause und sieh zu, dass du dich wieder mit Marco versöhnst.“ Das tat Nina nicht. Sie checkte in einem Garni-Hotel ein. Das Zimmer war dunkel und muffig, aber billig.

Ihren Freundinnen, mit denen sie am Abend ihren Junggesellinnenabschied feiern wollte, sagte Nina per WhatsApp ab, ebenfalls sämtlichen Gästen, die zur Hochzeit eingeladen waren. Dann hatte sie noch die Buchung des Saales zu stornieren, das bestellte Buffet, die Torten, die Kutsche, die Tauben … Als alles erledigt war, stellte sie ihr Handy ab. Inzwischen hatte sie über dreißig Nachrichten auf ihrer Mailbox.

Auf der Arbeit meldete Nina sich krank, fuhr zigmal am Tag mit dem Wupper-Express, in dem sie ihren Traummann gesehen hatte, von Aachen nach Dortmund, hin und zurück, und drängelte sich von vorn bis hinten durch den Zug, in der Hoffnung, ihn in einem der Abteile zu finden.

Nina erhielt von ihrem Chef per SMS die fristlose Kündigung, als sie nach drei Wochen noch immer keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung übersandt hatte.

Ihre Hoffnung, den Traummann jemals wieder zu sehen, schwand von Tag zu Tag. Doch eines Abends, als sie gefrustet Gleis achtzehn verlassen und durch das Bahnhofsgebäude Richtung Ausgang ging, stand er plötzlich da. Am Zeitungskiosk, etwa fünfzig Meter von Nina entfernt. Ihr stockte der Atem, ihr Herz schlug bis zum Hals. Jetzt sah er in ihre Richtung. Offenbar hatte er sie erkannt, denn er schaute erst überrascht, dann lächelte er und breitete seine Arme aus. Ninas Augen füllten sich mit Tränen. Tränen der Erleichterung. Genauso hatte sie es sich vorgestellt. Sie eilte zu ihm. Gleich würde sie sich ihm in die Arme werfen. Alles wird gut. Doch was war das?! Ein kleines, etwa fünfjähriges Mädchen mit langen, blonden Locken rannte an Nina vorbei, direkt auf den Traummann zu. „Papa!“, rief sie. Dieser fing sie auf und wirbelte sie lachend durch die Luft. Eine junge, überaus attraktive Frau – dem Aussehen nach zu urteilen, zweifellos die Mutter des Kindes – kam hinzu, und sie und der Traummann küssten sich innig.

Nina hatte das Gefühl, jemand riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Ihr wurde schwindelig. Dann fiel sie in Ohnmacht.

„Hallo! Aufwachen!“ Jemand rüttelte an ihrer Schulter.
Nein, ich will nicht aufwachen, dachte sie. Ich will nie, nie wieder wach werden.
„Schatz, du musst aufstehen, sonst kommst du zu spät ins Büro.“
Schatz? Büro? Nina öffnete langsam die Augenlieder. Sie lag gar nicht auf kaltem Beton, sondern im Bett. Hatte die Zudecke bis über die Ohren gezogen. Marco, der auf der Bettkante saß, beugte sich zu ihr runter, drückte ihr einen Kuss auf den Mund und sagte: „Ich muss los, zur Arbeit. Viel Spaß heute Abend, bei deinem Junggesellinnenabschied. Und trink nicht so viel. Nicht, dass du morgen vorm Altar nicht weißt, was du antworten sollst, wenn ich dir die Frage aller Fragen stelle.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 15.10.2018

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