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Die Moschusnote

Es passierte an einem Mittwoch Abend im Frühling, einer wie er im Buche steht, mit milden Temperaturen und einem goldenen Sonnenuntergang.

 

Ich hatte meine wöchentliche Stunde Geigenunterricht hinter mich gebracht, wie immer mit viel Spaß und neuen Übungen. Allerdings hatte sich mir dieses Mal das gelernte Stück in meinem Kopf regelrecht festgesetzt. Es war ein Ohrwurm der nervenden Natur, der zum was-weiß-ich-wievielten Male auf und ab tickerte. Besonders auffällig bohrte sich dabei das Fis vom Anfang des Stückes durch mein Gehör und machte meinem zarten Nervus cochlearis gehörig zu schaffen.

 

Natürlich wollte ich mir diesen wunderbaren Abend dadurch nicht verderben lassen. Daher bummelte ich noch etwas durch die Straßen und entschied mich, in das kleine Bistro um die Ecke zu gehen. Dort würde ich mir einen Latte Macchiato und einen Flammkuchen gönnen. Die im Hintergrund laufende Musik würde sicher ausreichen um dem repitierenden F mit dem Doppelkreuz den Garaus zu machen.

 

 

Ein Grüppchen Leute versperrte mir den Weg dort hin – sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mich wahr zu nehmen und zu merken, dass sie den schmalen Gehweg vollständig verstopften. Auf die Straße auszuweichen verbot sich, denn dort fuhren kontinuierlich Autos, und innerlich widerstrebte es mir mich durch die Gruppe zu drängeln.

 

Im Nachhinein habe ich oft darüber nachgedacht was mich daran hinderte, mein übliches „Dürfte ich bitte einmal durch?“ gefolgt von einem Durchdrängeln durchzuziehen. Ich vermute, es war das mich noch ablenkende Fis und die schon unterbewusst von ihr wahrgenommene Moschusnote.

 

Einen Wimpernschlag später traf es mich wie aus heiterem Himmel, ich war wie eingefroren. Ich sah sie zunächst nur von hinten, aber dennoch: Sie war es. Sicher. Ohne Zweifel.

 

Sie sprach noch einen kurzen Moment weiter. „Mittagessen“, „zu warm „und „Postabteilung“ kam bei mir an, wegen des Umgebungslärmes nahm ich aber nur Gesprächsfetzen wahr. Vor allem nicht genug, um mir wirklich einen Reim darauf machen zu können.

 

Dann verstummte sie, und obwohl sie die Veränderung noch nicht einordnen konnte schien sie schon zu spüren, dass dieser der wichtigste Moment ihres Lebens sein würde. Auch sie bewegte sich nun nicht mehr, stand völlig still. Ich hörte einen ihrer Kollegen fragen, ob alles in Ordnung sei. Sie reagierte lange nicht, legte nur ihren Kopf etwas schief, so als wolle sie auf etwas Entferntes lauschen.

 

Dann begann sie sich umzudrehen, ganz langsam, wie in Zeitlupe. Jeder neu zu erkennende Winkel an ihr fegte durch mich hindurch, wie ein rasender Wechsel zwischen Schwerelosigkeit und der Fliehkraft in einem Karussell. Jeder einzelne dieser Winkel schien mir eine neue Perspektive des Menschens vor mir zu zeigen. Mir zu zeigen mit wem ich mein Leben verbringen würde und dass dieses von nun an ein anderes sein würde. Es würde ein vollständiges sein und nicht nur die willkürliche Aneinanderreihung von erlebten Fragmenten wie mein bisheriges.

 

So standen wir lange und sahen uns an. Wir sagten nichts, gefühlt eine oder zwei Minuten lang, oder sogar noch länger. Die Fragen ihrer Kollegen verstummten als sie bemerkten, dass wir aufeinander fixiert waren und alles andere ausblendeten.

 

Mal legte sie ihren Kopf zur Linken, mal zur Rechten, so als überlegte sie, dann schaute sie, immer noch ohne einen Ton von sich zu geben, in Richtung des Bistros und anschließend noch einmal fragend zu mir. Ich folgte ihrem Blick, nickte, und wir gingen gleichzeitig und wortlos in die angedeutete Richtung. Den ersten freien Tisch hinter der Eingangstür konnten wir von außen durch das Fenster sehen. Schon hier war klar, dass wir uns ohne Worte verstanden. Jede klassische Anstandsregel über den Haufen werfend hielt sie mir die Tür auf, ich ging hindurch und nahm Platz, sie folgte mir und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Der fragende Ausdruck des Erstaunens auf ihrem Gesicht wich nun langsam einem zarten Lächeln. Die uns durchströmende Wärme machte uns wortlos glücklich. Es schlich sich kein Deut irgendwelcher Sorgen in unsere Gedanken.

 

Erst die Bedienung durchbrach das Schweigen, was wir denn essen oder trinken wollten?

 

Nach unserer Bestellung begann sie mit einem unglaublich dämlichen Witz, einem von der Sorte, dass man eigentlich nur den Kopf schütteln konnte und der so hirnrissig war, dass er schon wieder fast gut war. Aber auch nur fast. Kurz gesagt, es war ein total misslungener Start des Gespräches, der dazu führte, dass sie schon Sekunden später einen knallroten Kopf bekam. Und es war gut, dass ihr das passierte. Mir, einem Frauen gegenüber sehr schüchternen Menschen, half es das Eis zu brechen, denn etwas so Blödes würde ich selbst im schlimmsten Falle nicht unterbieten können. Ich platzte also ohne nachzudenken damit heraus, dass ich den Witz total doof fände, sie aber die richtige sei. Für mich und natürlich für den Rest meines ganzen Lebens. Und vor Selbstsicherheit strotzend behauptete ich frech, dass auch ich der Richtige für sie sei und sie das ja schließlich schon wisse. Was wir denn jetzt machten, fragte ich, denn es änderte sich ja nun alles für uns. Noch immer mit rotem Kopf sagte sie, das wisse sie auch nicht, das müssten wir noch überlegen. Und ob wir uns nicht vielleicht unsere Namen verraten wollten?

 

So tauschten wir diese Nebensächlichkeit aus, saßen an dem Fenster hinter der Tür, aßen, lachten und tranken bis die Bedienung uns freundlich darauf hinwies, dass sie bitte abrechnen und bald schließen wolle, es sei ja schon 3:30 Uhr am Morgen.

 

Erst jetzt merkte ich meine furchtbare Müdigkeit, ich war sechs Uhr morgens aufgestanden, der Arbeitstag, die inhaltlich anstrengende Unterrichtsstunde und das Treffen hatten Spuren hinterlassen. Als sie sagte „Komm, lass uns zahlen und gehen, ich wohne dort drüben.“ war ich erleichtert. Mein unterbewusst durch stundenlanges Lächeln dauerverspanntes Gesicht brauchte dringend Entspannung.

 

Bei ihr angekommen sagte sie nur „Gehen wir schlafen, ich bin so müde!“ Sie zog sich zügig vor mir aus und ihren Schlafanzug an, während ich es überrumpelterweise in der Zeit nur schaffte mich bis auf T-Shirt und Unterhose zu entkleiden. Sie drückte mich in genau diesem Zustand ins Bett, schob an mir herum, bis ich mich mit dem Rücken zu ihr befand, an den sie sich sogleich kuschelte. Das letzte was ich vor dem Einschlafen hörte, war, dass sie die Zudecke über uns zog, das Licht aus machte sowie ein zart gehauchtes „Schlaf gut!“.

 

Die wohlige Wärme ihrer Gegenwart, die Sicherheit sie nie wieder zu verlieren und meine erschlagende Müdigkeit ließ mich einschlafen wie ein Baby, ohne auch nur an den Versuch zu denken mit ihr schlafen zu wollen.

 

 

Ich wurde erst wach, als ich im Begriff war meine restlichen Kleidungsstücke zu verlieren, und sehr schnell sehr aufgeregt, als das letzte davon aus dem Bett flog. Bevor ich wirklich wusste wie mir geschah hatte sie mich in dem von ihr gewünschten Zustand. Sie kletterte ohne zu zögern über mich und schob sich auf mich ohne meine Zustimmung auch nur in Betracht zu ziehen. Nahezu unvorbereitet in ihre heiße feuchte Hitze einzudringen überrollte mich mit einem Schwall von genießender Hilflosigkeit und dem Unwillen sich gegen das Paradies zu wehren in das ich ungefragt gezerrt wurde. Es war ohnehin klar, dass ich weder zaudern noch irgendeinen Widerspruch von mir geben würde.

 

Der Sex war ebenso heftig wie kurz. Ich war üblicherweise eher der gemütliche Typ im Bett und manchmal sogar etwas später dran als die Frauen mit denen ich schlief. Hier kam sie aber schon nach wenigen Sekunden was mich so erregte, dass es bei mir kaum länger dauerte und ich in ihr explodierte ohne eine Chance zu haben irgendetwas dagegen tun zu können.

 

Sie, eine eher zierliche Frau, flüsterte mir leise ins Ohr „Gut so“ und zog die nur noch mit einem Zipfel auf dem Bett liegenden Decke wieder über uns. In der Position in der ich in ihr gekommen war, blieb sie auf mir liegen und rührte sich schon kurze Zeit später nicht mehr. Nur ihr leicht schnurrender Atem zeigte mir, dass sie noch lebte.

 

Obwohl durch die Ritzen der Jalousie die recht hoch stehende Sonne zu sehen war, genoss ich noch etwas diesen Moment der endlosen Entspannung und Stressfreiheit, umarmte den schon wieder schlafenden Körper auf mir und schlief selbst wieder ein.

 

 

Wie lange wir so lagen weiß ich nicht, der Druck des auf mir lastenden Körpers machte mich irgendwann wach. Vorsichtig schälte ich mich unter ihr heraus, und sie nuschelte leise, das Bad sei hinter dem Schrank links. Danach könne ich ja Frühstück machen.

 

So ging ich in das Bad, nahm eine heiße Dusche und war mit mir im Reinen wie nie zuvor. Alles war richtig so wie es war. Nach dem Abtrocknen schaffte ich es irgendwie, mich in ihren, mir viel zu kleinen Bademantel zu zwängen und in die Küche zu gehen.

 

Nachdem ich den halben Inhalt des Kühlschranks auf den Tisch geräumt und die Suche nach Besteck, Geschirr, Toaster und allen anderen Frühstücksutensilien abgeschlossen hatte, schwebte sie wie ein Engel der Glückseligkeit in den Raum. Eine Welle der Wärme durchfuhr mich und das süß gurrende „Guten Morgen!“ machten mich einfach nur glücklich. Wir genossen das erste Frühstück unseres gemeinsamen restlichen Lebens.

 

Wir dachten keinen Moment an unsere Arbeit, bei der wir unentschuldigt fehlten. Bei den wichtigen Dingen des Lebens muss man eben Prioritäten setzen.

 

Schon wenige Tage später zogen wir zusammen.

 

 

Gerade jetzt kuschelt sie sich erneut an meinen Rücken, und dabei denke ich wieder mit einem Wohlgefühl an das Fis mit der Moschusnote welches mir bis heute, 34 Jahre später, noch unverändert im Gedächtnis ist.

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Tag der Veröffentlichung: 07.03.2022

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