Inhalt

Cover

Protagonisten



Oliver Berger

Ein Musiker, den es aus den Socken hebt


Samuel Herrmann

Beschleunigt Konstantins Pläne durch eine gute Idee


Camille Marchand

Die Übermittlerin eines wichtigen Dokumentes


Karen Meier

Sie bekommt den Auftrag ihres Lebens


Konstantin Pohlmann alias Opus Eximum

Ein Mann mit Visionen


Simon Radeberg

Kann endlich beginnen Dinge zu verändern


Igor Strawinsky

Neugierig und ohne musikalische Fähigkeiten

Prolog

Es trieb seit Äonen durch den Raum und lebte von der Wärme der Sterne und der alles durchflutenden, allgegenwärtigen Strahlung im Universum. Wenn es nicht in das Inferno einer Nova geriet oder an eine Rasse, die es mutwillig zerstörte, dann würde es ewig leben und ewig suchen, so lange bis das Universum erkalten und dunkel werden würde.

Die Alten hatten es auf die Suche geschickt um anderes Leben zu finden, mit dem zusammen sie die Sterne bevölkern und sich weiter entwickeln konnten, nur hatte sich dieser Traum nicht erfüllt. Weder es noch die wenigen anderen, die mit ihm auf die Reise geschickt worden waren, hatten je etwas entdeckt was diesem Wunsch entsprach oder nur im Entferntesten nahe kam. Und die Alten hatten nie genug Ressourcen aufbringen können, mehr als nur die Sucher in den Raum zu senden, ein jeder nur wenige Zentimeter groß und langsam. Nur die Zeit war auf ihrer Seite. Davon gab es genug.

Teil 1

Wie alles begann

1 - Die Brücke

Konstantin war ein normaler Mensch, nichts Besonderes, auch wenn er von sich natürlich glaubte einige gute Eigenschaften zu haben, die nicht alle Menschen zu bieten hatten. Eine davon war sicher diejenige, zu wissen, dass es immer andere gab, die etwas besser konnten als er, der eigene Beitrag zu etwas aber dennoch wertvoll sein konnte. Mit viel Arbeit und Geduld hatte er sich ein bescheidenes Leben aufgebaut und es dabei zu einem gewissen Wohlstand gebracht, der seine Grenzen hatte. Gute Grenzen, die ihn belehrten auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben und nur zu versuchen realistische Ideen und Pläne umzusetzen.


Diesen Abend war er wieder einmal unterwegs auf den parkähnlichen Wegen nahe seiner Wohnung, wo er nach langen Arbeitstagen gerne einmal Abstand von den Untiefen der Bedienungsanleitungen gewann, die er tagtäglich in andere Sprachen übersetzte. Großartige literarische Ergüsse gelangen dabei selten, dennoch aber hilfreiche Heftchen, die so manchem Menschen die Verwendung des Videorekorders oder der elektrischen Zahnbürste vereinfachten.


Das Gebüsch neben den Wegen war ihm vertraut, im Winter braungrün, im Frühjahr lebendig leuchtend und im Sommer oft dunkelgrün und verstaubt durch den Schmutz der Stadt.


Eines war dabei ungewöhnlich. Der Brombeerstrauch von dem so viele Passanten immer wieder leckere Beeren pflückten und sich dabei unvorsichtigerweise Kratzer durch Dornen einfingen, hatte seit seinem letzten Spaziergang vor wenigen Tagen eine ungesunde gelbliche Färbung angenommen, die von einer durch Trockenheit oder Staub verursachten abwich. Die Eigenschaft von Brombeeren, wild wuchernde und große Hecken, ja geradezu Berge aus undurchdringlichem Gestrüpp zu bilden, wurde hier deutlich sichtbar. Ein Bereich mittendrin, dort wo kein normaler Mensch hin kam ohne einen langen blutigen Kleinkrieg mit widerspenstigem Gestrüpp zu führen, hatte sich verfärbt. Es schien Konstantin seltsam, dass die Verfärbung nur in der Mitte zu sehen war, drumherum aber alles in Ordnung war. Wahrscheinlich hatte irgendein Pilz den Strauch angegriffen oder eine gefräßige Wühlmaus tat sich an den Wurzeln gütlich.


Er setzte seinen Spaziergang fort.


Es dämmerte schon und er genoss die Ruhe, die auf diesen Wegen oft einkehrte. Die weit im Hintergrund vor sich hin rauschenden Autos machten keinen störenden Lärm mehr, das Gewühl der Menschen in der Stadt war hier nicht zu sehen. Er ging die große Runde, was ihm gut tat, denn der wenige Schlaf der vergangenen Nacht machte sich bemerkbar. Er nahm sich vor, sich nach dem Spaziergang früh ins Bett zu legen und nur noch wenige Seiten des bisher mäßig beginnenden Krimis zu lesen.


Nach Ende der Runde kam er wieder auf den Beginn des Weges zurück, dahin wo der Strauch stand. Und nein, die Farbe passte nicht. Die Neugierde packte ihn, etwas, was ihm schon so manches Mal im Leben Ärger eingebracht hatte. Zum Beispiel die Sexheftchen des Vaters, die er im Nachttisch entdeckt hatte als er noch so jung war, dass er von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte. Was auch nicht das Problem gewesen wäre, wenn er nicht gerade seine Mutter gefragt hätte was denn das für seltsame Verrenkungen waren, die die Nackedeis in den Heften machten. Der Krach der Eltern und der folgende Stubenarrest war ärgerlich. In der Sommerwoche durften alle seine Freunde nämlich Schwimmen gehen und nur er nicht. Das hatte ihnen Konstantins uneingeschränkten Neid eingebracht.

Sein Hang zu unvorsichtigen Nachforschungen blieb durch diese Erfahrung allerdings ungebrochen, im Gegenteil, es hatte den Reiz des Verbotenen noch gefördert.


Diese Mal brachte es ihm ein Menge schmerzhafter Kratzer ein, einige Momente nahender Panik, bei der es kein Vor oder Zurück mehr zu geben schien und als er in dem Gestrüpp auch noch seine Hose zerriss verfluchte er nicht zum ersten Mal seine Unvorsichtigkeit und seinen Hang zu solchem Unsinn. Inzwischen war er so weit vorgedrungen, dass ein Fußgänger ihn bei seinem einsamen Kampf in der Pflanze schon gar nicht mehr sah, obwohl er nur ein paar Meter entfernt vorbei lief.


Ganz weit innen lichtete sich der Strauch, das Vorankommen wurde einfacher und ein Hohlraum breitete sich vor ihm aus. Er wirkte geradezu gemütlich und Obdachlose hätten sich hier ein gutes Versteck suchen können; nahe des Stadtkerns, dennoch gut verborgen vor den Blicken anderer und schon fast kuschelig zu nennen.

Der Geruch an diesem Ort war ungewöhnlich, vielleicht etwas Zitrone mit Mandel gemischt. Aber nein, das war es nicht, es war irgendwie undefinierbar. Konstantin ließ sich nieder und genoss sein kleines entdecktes Reich wie ein Kind, das eine Räuberhöhle aus Matratze und Handtüchern in der Ecke hinter dem Schrank im Kinderzimmer gebaut hatte.


Es gingen ihm viele Dinge durch den Kopf, seine Freundin, die ihn vor einigen Monaten verlassen hatte, ohne dass er viel Liebeskummer gehabt hatte, seine Arbeitsstelle, die ihm jahraus jahrein immerwährend ähnliche Übersetzungen auftischte. Sein Leben war sicher, gemütlich, unspektakulär und, ja er musste es zugeben, bieder und langweilig. Ein Abenteuer müsste mal wieder her, so etwas wie die Brombeere, nur nicht so klein und unbedeutend. Ein Abenteuer, das ihm das Ausbrechen aus dem Alltagsleben erlaubte und das kaum jemand anderes auf diese Weise erlebte.


Der Zitrone-Mandel Geruch lullte ihn ein und seine Gedanken schweiften ab; einen Maledivenurlaub hatte er sich schon als Kind erträumt und ohne kostspielige Freundin könnte er sich jetzt durchaus einmal einen leisten. Warum nicht das Konto plündern und schon kommenden Monat fliegen? Er schloss die Augen, driftete in Gedanken über die türkisblauen Gewässer der Malediven und der Südsee, die ihm so paradiesisch schienen... den weichen Boden auf den er sich legte, nahm er schon gar nicht mehr richtig wahr, genauso wenig wie die Kratzer, die er nur noch schemenhaft spürte.

2 - Verwirrung

Als er erwachte war er so schlaftrunken, dass ihm die Orientierung schwer fiel. Wo war er? Seine Beine gehorchten nur widerwillig, ein Arm war eingeschlafen, hing einen Moment lang taub am Körper, bevor er langsam anfing schmerzhaft wieder seine Funktion aufzunehmen... "bloß nicht den Arm bewegen" sagte er sich. Den roten Fleck im Gesicht, dort wo er auf seinem Arm gelegen hatte, nahm er dabei nur unterschwellig wahr. Wie war er nur hier her gekommen? Mitten auf einer Wiese mit hohem Gras, mildem Sonnenschein eines angehenden Frühlingstages und noch mit dem Geruch einer kalten Nacht in der Luft. Wenn er sich doch nur erinnern könnte! Da war der Spaziergang am Abend im Spätsommer und ja, der Brombeerstrauch. Hatte er sich tatsächlich durch das Gestrüpp geschlagen? Wie seltsam, seine eigenen Ausreißergedanken schienen ihm plötzlich lächerlich. Nur wegen der verfärbten Stelle im Busch war er da hinein gekrochen? Das schien ihm nicht real. Dennoch: Die Striemen und schmerzhaften Stellen an Armen und Beinen sowie die kaputte Hose halfen ihm seiner Erinnerung zu trauen. Doch wo war er?


Ein entferntes pfeifendes Geräusch, ein Sirren der unangenehmen Natur lag in der Luft, ähnlich dem von Mücken in der Nacht, genau dann wenn man einfach nur schlafen möchte. Es war sehr schwer zu orten, er hörte solche Töne sowieso kaum noch, dazu war er mit seinen dreiundfünfzig Jahren schon zu alt. Das Pfeifen eines Fernsehers, das man als Kind noch hören konnte, hatte er schon lange nicht mehr bemerkt. Mit den Hörfähigkeiten eines kleinen Kindes hätte er die Quelle des Geräusches sicher schnell ausmachen können. Jetzt nervte es nur und er wartete auf den ersten Stich, der aber nicht kam.


Als er wieder auf den Beinen war und sich umsah schien alles etwas seltsam, die Luft schimmerte als würde man eine Flüssigkeit im Auge haben, und immer noch war da das Sirren im Hintergrund, alles schien sehr unwirklich. So weit das Auge reichte nur Wiesen, durchsetzt mit einigen ungewöhnlich kleinen Brombeerbüschen, die sich aber nicht breit zu machen schienen. Schon wieder Brombeeren. Ein Zufall?


Vor dem Spaziergang hatte er gut zu Abend gegessen und deshalb war er überrascht, einen gesunden Appetit zu haben und der nächste Strauch war nicht weit. Er plünderte ihn ungeniert bis auf die letzte Beere, und jede einzelne schien besser zu schmecken als die vorherige. Nie hatte er dermaßen leckere Beeren gegessen, und so plünderte er den nächsten Strauch ebenso. Eine Wohltat diese Beeren! Er fühlte sich energiegeladen wie selten zuvor und tankte Zuversicht, dass er sich gleich zurechtfinden würde. Diese Zuversicht stieg mit dem Verspeisen der Ernte des dritten Strauches soweit an, dass er glaubte nichts auf der Welt könne ihn in seinem Tatendrang aufhalten. Es gab dabei nur ein kleines Problem: Wohin mit all seiner Energie? Es gab einfach gar nichts in seiner Umgebung, nur kniehohes Gras und kleine Brombeerbüsche.


Sein inzwischen ins Bodenlose gestiegener Tatendrang ließ ihn unruhig werden. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht und durch die schlierige Luft schien der Horizont seltsam nahe und krumm. Er hatte viele Probleme mit seinen Augen gehabt in den vergangenen Monaten, die Augenärzte wollten ihm eine Brille verschreiben oder rieten zu Kontaktlinsen, allerdings hatte er sich noch nicht durchringen können tatsächlich welche zu besorgen. Jetzt verfluchte er sich insgeheim, dass er in der Entfernung so unscharf sah. Auch wenn es erstaunlicherweise weniger unscharf war als üblich und trotz der seltsamen Schlieren in der Luft.


Ein wenig bohrte inzwischen auch der Durst, und bedenklicherweise gab es kein Wasser weit und breit. Der nächste Strauch brachte glücklicherweise Linderung durch gefühlt ein halbes Kilo weiterer äußerst schmackhafter Beeren. Was jetzt? Er hatte mit dem Pflücken der vielen Beeren offensichtlich viel Zeit verbracht denn die Sonne neigte sich dem Horizont zu und ging erstaunlich schnell unter. In seinem Kopf begann es zu rasen: Wo war er, wieso sah der Horizont so seltsam aus, was waren das für Brombeeren und wieso ging es ihm dennoch so unglaublich gut?


Das Abtauchen der Sonne unter den Horizont schien nur wenige Sekunden zu dauern und die nahende Dunkelheit streckte ihn geradezu nieder. Er fiel in einen traumlosen tiefen Schlaf.

3 - Erinnerungen

Das Erwachen war nicht schwer, das allgegenwärtige Sirren in der Luft, ohne dass sich auch nur eine einzige Mücke zeigte, sowie der bohrende Hunger und Durst trieben ihn zum Abernten der nächsten drei Büsche. Hunger und Durst verschwanden dadurch komplett. Die Sonne stand schon hoch, er musste so lange und tief geschlafen haben wie schon seit Jahren nicht mehr. Alles war so irreal und Konstantin fragte sich warum er bisher so wenig darüber in Erfahrung hatte bringen können wie er hierher gelangt und was überhaupt passiert war. Das Sirren schien sich inzwischen etwas verändert zu haben, es war weit weniger nervend und erinnerte fast an Musik. An ein Stück, das er als Kind einmal geübt hatte, nachdem er aufgrund des Ehrgeizes seiner Eltern einige Monate Geigenunterricht hatte nehmen müssen. Oskar Rieding, ein schon lange verstorbener Komponist hatte ihn Monate lang begleitet bis er dessen Opus 35 in h-Moll mühsam spielen konnte. Wieso ihm das jetzt einfiel? Das war Jahrzehnte her, ein Instrument hatte er seitdem nie wieder angerührt. Die Melodie erklang nach über vierzig Jahren das erste Mal wieder in seinem Geiste und in Gedanken strich er sanft und fast zärtlich den Bogen über die Saiten seiner Violine. Ein wunderschönes Stück, das er damals nicht zu würdigen gewusst hatte. Fis, H, Fis, E und kraftvolle Klänge des begleitenden Klaviers durchdrangen seinen Geist. Er genoss Minuten lang das Stück, sah die Noten in Gedanken vor sich und fühlte das Stück durch seinen Arm und das imaginäre Instrument zu Klang und Melodie werden. Die Sonne mild im Gesicht, die Musik im Kopf klingend und angenehme Sättigung nach den gerade verspeisten Beeren. Es ging ihm so gut wie schon seit Monaten nicht mehr, ja seit Jahren. Er genoss die Minuten, verfiel der Musik und ging über zu anderen Stücken von Rossini, Beethoven oder den damals modernen Popgruppen seiner Jugend. Er hatte die Musik immer unterschätzt, die Kraft ihres Ausdruckes überwältigte ihn so sehr, dass ihm die Tränen in die Augen traten.


Er hatte schon wieder Hunger, es trieb ihn zu den nächsten Brombeeren, er fraß eine Schneise durch die vereinzelt stehenden Büsche. Den Weg wo er her kam verfolgte er schon lange nicht mehr. Er musste schließlich essen, das Trinken war dank der vielen Beeren gar nicht nötig und irgendwie musste er ja überleben. Wie würde es weiter gehen, hier in dieser Umgebung ohne jeglichen Bezug zu seinem bisherigen Leben? War er betäubt und entführt worden? Wenn ja, dann wohin und weshalb?


Es ging ihm schlechter, die Sonne ging schon wieder unter, er musste viele Stunden die Musik rekapituliert und Ursachen für sein Hiersein gesucht haben. Die Zeit hatte er völlig vergessen, ganz zu schweigen vom ständigen Essen der inzwischen unzähligen gepflückten Brombeeren.

Eine plötzlich aufkommende Atemnot machte ihm zu schaffen und trotz der Weite der Landschaft und der wenigen Büsche fühlte er sich beengt. Er begann zu rennen, um sich frei zu laufen, doch der ihn einengende Druck und Luftmangel stieg kontinuierlich an, wurde zunehmend zur Qual. Die untergehende Sonne war dieses Mal nicht mit mit einem erholsamen Schlaf verbunden sondern mit Klaustrophobie, Angst und in Wellen ansteigendem und abfallenden Druck, der jedes Mal schlimmer wurde bis schließlich zum Unerträglichen. Diffus kroch in ihm die Erinnerung an eine furchtbare Erfahrung hervor. Er wollte schreien, atmen, sich bewegen und strecken aber auch das Bewegen und Laufen war nicht mehr möglich. Die Qual steigerte sich, bis er nach gefühlten Stunden endlich alles in einem lauten Schrei entladen konnte. Erneut fiel er in einen tiefen Schlaf.

4 - Erste Erkenntnisse

Das qualvolle Ereignis am Abend zuvor machte ihm noch zu schaffen und er fürchtete eine Wiederholung. Dennoch fühlte sich Konstantin freier denn je. Nach kurzem Zögern fraß er sich mangels Alternativen wieder wie ein Scheunendrescher durch die Beeren in den Weiten des Landes.


Vieles ging ihm mit einer Klarheit durch den Kopf, die er schon seit früher Kindheit nicht mehr zu haben glaubte. Die Schachspiele aus der Zeit mit seiner Mutter, als sie noch lebte, spielte er jetzt im Kopf mit einer Leichtigkeit nach, die ihn zutiefst überraschte. Schulstunden im Klassenzimmer aus der ersten oder zweiten Klasse, die Spiele im Kindergarten, Erklärungen seiner Portugiesischprofessorin im Studium. Die längst vergessen geglaubten Erinnerungen brannten in seinem Gehirn und die Tage vergingen wie im Fluge, während er durch die endlose Brombeerbuschsteppe rannte und seinen Hunger stillte. Seine Muskeln und sein Körper fühlten sich an wie bei hohem Fieber und sein Kopf schien zu platzen von all den Erfahrungen und Erinnerungen seines Lebens, schmerzliche wie schöne und intensive. Beleidigungen durch Mitschüler, die erste Liebe, der Unfall bei dem er glaubte sterben zu müssen, sich aber nur ein Bein brach. Er hatte nur wenig Zeit, die Dinge zu durchdenken, sie durchbrandeten seinen Kopf ohne zu fragen, ein sich davon Ablenken schien unmöglich. Durchmischt waren diese Erinnerungen mit anderen viel seltsameren Erfahrungen fast vollständiger Dunkelheit, dumpfe Geräusche und nur unklare Erinnerungen, die in klarem Kontrast zu der brillianten Wiedergabe dessen war, was er sonst erlebte. Vielleicht war es ein Kontrapunkt zum Erleben seiner Erinnerungen, damit er nicht durchdrehte oder einfach nur eine Erholung von der Anspannung, die er durchmachte. Woher diese Erinnerungen kamen, wusste er sehr genau und auch wann er sie erlebt hatte, nur das Warum blieb ihm unklar.


Zwischen Essen, Laufen und erzwungen wiederkehrenden Erinnerungen hatte er kaum Zeit normal zu denken. Er wusste nur eines: Sein Gehirn lief auf Hochtouren und grub alles aus was er je erlebt hatte. Es spielte alles in einer Brillanz durch, an die er niemals zu glauben gewagt hätte. Die ganzen Theorien über Lerntechniken, die Fähigkeiten des Gehirns sich alles Erlebte merken zu können, sowie der scheinbaren Notwendigkeit des Vergessens, um ob der der Menge des gesammelten Wissens nicht wahnsinnig werden zu werden: Alles das schien bedeutungslos, denn bei ihm passierte das ohne einen ersichtlichen Grund, ohne Training oder den Willen dazu. Die Erinnerungen belasteten ihn nicht, sie wurden umgewandelt und so gespeichert, dass er sie jederzeit und problemlos in all ihrer Klarheit abrufen und mit anderen Dingen kombinieren konnte. Und dabei von Wahnsinn keine Spur. Jedenfalls solange ihn nicht die nächsten Erinnerungen überrannten.


Sein Körper durchlief ähnliche Veränderungen: Er wurde zu einer Maschine, die lief, aß, das Gehirn versorgte und die er zusehends mehr spürte und mochte. Nie war er sich seiner Gliedmaßen und seiner Organe so bewusst. Das einseitige Essen war mit jeder Beere auf seinem Weg beginnend beim Mund bis zum Ausscheiden fast durchgängig zu spüren. Es verfolgte das völlig wertneutral und nahm es aufgrund der intensiven Erlebnisse in seinem Kopf nur nebenbei wahr. Er liebte es, seine Muskeln beim Arbeiten zu spüren, sein Herz nicht nur schlagen zu fühlen sondern es auch zu hören und fast ein Gefühl dafür zu bekommen es bewusst steuern zu können.


Es dauerte lange bis die Intensität seiner Kopfarbeit nachließ und sich nach und nach ein Zeitgefühl entwickelte. Er begann sich zu fragen ob die rapiden Wechsel zwischen Tag und Nacht einem besonderen Ort nahe des Äquators der Erde geschuldet waren und er selbst aufgrund seiner Veränderungen ein subjektiv falsches Zeitgefühl hatte, oder ob etwas anderes völlig falsch war. Jedenfalls schien er den Veränderungen, die ihn durchliefen weniger und weniger ausgeliefert zu sein und die Kontrolle wieder selbst zu übernehmen. Er konnte mehr und mehr darüber nachzudenken was ihm widerfuhr.

5 - Klarheit

Nach langer Zeit des Laufens, des Stählens seines Körpers und des Wiederkäuens von Erfahrungen, kehrte seine normale Geistesgegenwart zurück, nun verändert durch eine Klarheit ohne Gleichen.


Er hatte jegliche Erinnerung wiedergewonnen, seine Konzentration war nahezu unbegrenzt. Er bewältigte spielerisch Kopfrechenaufgaben mit etlichen Zahlen, Dutzenden Nachkommastellen, komplexen Formeln und mit allem was er in seiner Schulzeit oder seinem Studium gelernt hatte. Jegliches Wissen, Gefühl oder Erfahrung lagen ausgebreitet in seinem Kopf zur freien Verfügung vor ihm, nur darauf wartend von ihm verwendet zu werden.


Die Phasen der Erinnerungswiederkehr wurden spürbar weniger und nun mehr und mehr von den diffusen Strömungen durchzogen, die er schon seit dem Anfang hatte und noch immer nicht zuordnen konnte. Eine dieser Strömungen war die Andeutung einer reinen Empfindung ohne jegliche Verbindung zu einer Erinnerung, die jedes Mal stärker wurde und auf das Äußerste angenehm war.


In Momenten der Verzweiflung, die er von Zeit zu Zeit hatte, weil er noch immer nicht wusste wo er sich befand und was mit ihm geschah, rief er sich dieses Gefühl wieder in Erinnerung. Das Erhebende daran war die Reinheit und das Glücksgefühl der Entstehung von Neuem, die er in dieser Form vorher noch nicht gekannt hatte.


Stück für Stück sortierte sich alles zusammen, so dass er sich einen Film seines Lebens zusammenstellen konnte. Die Lücken darin wurden zusehends kleiner und ein Verdacht bezüglich der diffusen Erinnerungen wurde mehr und mehr zur Gewissheit. Die schmerzvolle Nacht kurze Zeit nach seiner Ankunft hier schien seine Geburt zu sein, die diffusen Erfahrungen, die er bisher nicht einordnen konnte, waren die Empfindungen als Fötus im Mutterleib.

Er wusste, dass nur noch wenig fehlte bis der Film seines Lebens klar und lückenlos vor ihm liegen würde.


Als dieser sich endgültig vervollständigte, wiederholte sich das angenehme Gefühl der Entstehung von Neuem in einer gewaltigen Explosion. Es gab keine dazugehörige Zerstörung, sondern nur die pure Kreation von etwas Wunderbarem. Ein Lichtblitz, der nicht blendet sondern edelster Natur ist, ein Orgasmus ohne Liebe oder Sex, der nur pure Erfüllung hinterlässt.


Mit diesem Erlebnis endete das Durchlaufen seiner Erinnerungen abrupt und es gab nur noch einen Moment im Film seines Lebens wo es seinen Platz haben konnte: Den Moment seiner Zeugung.

6 - Es geht weiter

Es schien nun keine weiteren Erinnerungen zu geben, die er willenlos erfahren musste. Seine Kontrolle war perfekt: Er konnte sein Leben von seiner Zeugung an in jedem Moment rekapitulieren und sich alles in akribischem Detail in Erinnerung rufen: Empfindungen, Erfahrungen und alles was er in einem beliebigen Moment gesehen, gehört und gefühlt hatte.

Konstantin durchlief Tage der Entspannung, des freien Geistes, des absoluten Gedächtnisses und des sich Ergötzens an einem perfekt durchtrainierten Körper, dessen Funktionen er inzwischen vollständig unter Kontrolle hatte. Musik, die er in einem Film gehört hatte, spielt er im Geiste wie mit einem gewaltigen Orchester ab. Jeden Moment des Liebesspiels mit einer Frau konnte er wieder durchleben oder eine gleichartige Empfindung seines Körpers durch das Ausschütten einer Kombination von Hormonen willentlich herbeiführen. Er wusste, dass er alleine mit dieser Fähigkeit, dem Sehen und dem Verstehen des eigenen Körpers, die Medizin revolutionieren können würde.


Es war nur die Spitze eines Eisberges, den er noch gar nicht durchdenken wollte: Er traute sich kaum sein Wissen und seine Erfahrungen zu Neuem zu kumulieren und neue Erkenntnisse abzuleiten, obwohl er wusste, dass er diese Fähigkeit schon besaß. Sein Instinkt sagte ihm, der Weg würde noch weiter gehen. Er hatte in den wenigen Tagen der Freiheit neben der Erholung und Unbeschwertheit bisher nur wenig gegrübelt, aber er spürte, dass er seine Ausbildung erst begonnen hatte; bis jetzt war erst aufgeräumt und die Grundlage für Weiteres gelegt worden.

7 - Enndlin

Es roch so wunderbar und alles war wunderschön. Ein Vogel zwitscherte und der Bach ein bisschen weiter hinter ihren Füßen plätscherte über ein paar Steine. Enndlin wackelte mit den Zehen und trommelte mit den Fingern auf den Boden unter ihr, ihre Augen hatte sie geschlossen und genoss die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht. Vor zwei Tagen hatte sie im Dorf einen Mann pfeifen gehört und ihn gefragt wie das ginge. Die Töne waren so schön und das wollte sie auch machen. "Gaudete" sagte der Mann, pfiff ihr das noch einmal vor und erklärte ihr kurz wie sie die Lippen spitzen sollte, um dann durch Pusten einen Ton zu bekommen, aber sie hatte das bis jetzt immer noch nicht hin gekriegt. Sie musste wohl weiter üben und so begnügte sie sich damit das Lied zu summen.

Was Gaudete bedeutete verstand sie nicht. Wohl der Name des Liedes oder so.

Sie hörte dem Vogel noch etwas zu und fragte sich wie so kleine Vögel so laute Geräusche machen konnten und warum sie immer wieder das Gleiche sangen und nicht einfach mal eine Melodie wie Gaudete oder so.

Seit heute Morgen war sie so glücklich wie noch nie zuvor, denn die Nacht war seit Wochen die erste in der sie nicht gefroren hatte und das obwohl sie immer zwischen Papa und Mama warm gehalten wurde. Der Schnee war schon seit einigen Tagen weg. Sie liebte die Wiese beim Bach in der Nähe des Hauses, da lief sie immer hin wenn Mutter nicht aufpasste. Mutter wollte das nicht, aber sie hörte nicht auf sie. Es roch da jetzt einfach herrlich, das ganze Gras war in den letzten Tagen überall grün geworden und sie konnte das erste Mal wieder auf ihrem Lieblingsplatz auf dem kleinen Hügel neben dem Bach liegen und der Natur um sich herum zuhören. Die Sonne hatte den Boden getrocknet und ganz warm gemacht. Und es war so schön satt zu sein. Der Winter und alles Frieren, der Hunger, die Angst nicht genug Torf oder Holz zu bekommen oder dass das Feuer ausgehen könnte, waren zu Ende.


Onkel Bertram aus dem Nachbarort war vorbei gekommen und hatte Brot mitgebracht und etwas Honig. Nur einmal zuvor hatte sie Honig gegessen und den Tag vor fast einem Jahr, auch am Anfang des Frühlings, hatte sie seitdem nicht vergessen, so lecker war die klebrige Süße. Onkel Bertram erzählte auch woher der Honig kam und dass man mit den Bienen gut aufpassen musste, weil die einen sonst stechen würden. Na ja, war ja auch klar, wenn man denen was stahl wurden die eben sauer. Auch wenn sie es etwas gemein fand, den Bienen das Essen wegzunehmen, sah sie das aber nicht so eng, es gab ja Blumen genug und die Bienen konnten sich ja neuen holen. Menschen konnten die Blumen ja schließlich nicht essen, die Bienen aber schon.


Honig, fand sie, war das Leckerste auf der Welt. Nur wenn man ihn auf das frische Brot von heute Morgen tat wurde er noch etwas leckerer. Sie mochte Onkel Bertram, weil er viel wusste, meistens genug zu essen hatte und manchmal sogar noch etwas übrig hatte, so dass Mutter, Papa und sie nicht so viel Hunger zu haben brauchten. Und er konnte viele Geschichten erzählen, weil er schon Reisen gemacht hatte, sogar in Hannover war er schon gewesen und erzählte immer wieder etwas davon. Eine Woche hatte er dorthin mit dem Pferd gebraucht und noch eine Woche wieder zurück und dabei viel erlebt.


Der Winter war schlimm gewesen und ohne ihn wären sie vielleicht sogar verhungert. Als er Enndlin vor ein paar Tagen beim Dorf gesehen hatte schaute er im ersten Moment ganz entsetzt, ließ es sich danach aber nicht weiter anmerken. Er meinte nur, dass sie ja so dünn geworden wäre. Enndlin wusste, dass das was Papa im vergangenen Jahr auf dem Feld angebaut hatte, wegen des vielen Regens nicht genug gewesen war und so konnten sie eben nur wenig essen. Sie wusste auch, dass Mama und Papa sich viel Sorgen gemacht hatten und es sie nicht merken lassen wollten. Aber sie hat es natürlich doch gemerkt. Und jetzt war der Frühling da und alles war gut. Sie lachte, machte die Augen auf und schaute in den blauen Himmel. Der Himmel war auch schön. Sie guckte ihre Füße an, die ganz schmutzig vom Weg waren und wackelte wieder mit den Zehen. Sie lachte und summte Gaudete.


Konstantin war irritiert, er war ein Mädchen gewesen, das mit schmutzigen Füßen an einem Bach lag und unglaublich gute Laune hatte. Dieses warme Gefühl der Freude hinterließ sogar jetzt noch ein Wohlgefühl bei ihm und plötzlich hatte er das Bedürfnis sich ebenfalls ins Gras zu legen und sich die Sonne auf das Gesicht scheinen zu lassen. Das Lied Gaudete hatte er zuvor noch nie gehört, jedoch lag ihm das Latein aus seiner Schulzeit wieder zu Füßen wodurch er wusste, dass Gaudete so viel wie "Freuen" oder "Freut Euch" bedeutete. Und jetzt kannte er diese Melodie von einem Mädchen namens Enndlin, das vor langer Zeit gelebt hatte, wahrscheinlich irgendwann im Mittelalter oder kurz danach. So schätzte er jedenfalls anhand ihrer Erinnerungen an das Dorf, wo sie den pfeifenden Mann getroffen hatte. Ja, Erinnerungen aus dem Mittelalter.


"Enndlin, Du musst heute noch ins Dorf auf den Markt um Brot und Kohl zu kaufen."


"Ja, Mutter, ich gehe gleich, ich hole nur noch den Sack zum Tragen!" antwortete sie.


Ob Mutter misstrauisch würde, wenn sie nicht versuchte das wie üblich vor sich her zu schieben? Heute hatte sie insgeheim darauf gewartet, dass sie gehen sollte, auch wenn es ein Fußweg von einer halben Stunde war und es etwas regnete. Sie hoffte nämlich dort wieder Winrich zu treffen, der ihr dort vor zwei Wochen Kohl verkauft hatte. Jedes Mal wenn er lachte musste sie auch lachen und dabei ging es ihr gut. Sie war wirklich aufgeregt deswegen. Ob Mutter ahnte, dass sie wegen ihm jetzt sogar gerne zum Markt wollte?


Gestern hatte sie sich ein Dorn in den Fuß getreten und obgleich sie ihn sich wieder herausgepuhlt hatte tat das immer noch weh. Aber das war nicht so wichtig, sie brauchte ja nicht schnell gehen. Winrich würde wahrscheinlich den ganzen Tag da sein. Also machte sie sich auf den Weg.


Als sie schließlich dort ankam machte ihr Herz einen Sprung, er war wieder auf seinem Stand! Ob er sich an sie erinnern würde? Etwas Angst hatte sie ja schon, vielleicht war er heute ja gar nicht mehr so gut auf sie zu sprechen? Sie war so aufgeregt, dass sie sich erst gar nicht zu ihm traute und das Brot erst einmal woanders kaufte.

Ihre Wangen waren ganz heiß. Ob Winrich das merken würde? Den Kohl gab es nur bei ihm, jemand anderes bot keinen mehr an. Also hatte sie sowieso keine Wahl.


"Hallo Enndlin! Ich habe Dich schon vermisst! Wolltet Ihr die letzten Wochen keinen Kohl essen? Heute habe ich einen besonders guten für Euch. Für Dich würde ihn auch etwas günstiger machen."


Sie stand noch etwas entfernt von seinem Stand und merkte dumpf ihren Fuß wie er an der Stelle, wo der Dorn gesteckt hatte, etwas puckerte. Sie machte die verbleibenden Schritte etwas verhalten was Winrich sofort sah.

"Was ist denn mit Deinem Fuß? Willst Du Dich setzten?" Er schob Enndlin einen Holzhocker neben sich hin.

"Ich hoffe, Euch hat der letzte Kohl geschmeckt. Genau solch einen habe ich wieder für Dich. Kommst Du jetzt öfters hier vorbei? Ich fände das schön, dann hätte ich etwas Gesellschaft und mit Dir kann man sich gut unterhalten, Du bist so lustig."

Enndlin freute sich innerlich über das Kompliment und nahm sich vor, jetzt jedes Mal wenn etwas gekauft werden sollte zu Winrich zu gehen. Immer wenn er lachte, dann kräuselten sich seine Lippen so witzig. Am liebsten hätte sie mit ihren Fingern darüber gestrichen, weil sie gerne wissen wollte wie die sich anfühlten. Sie war immer noch fürchterlich aufgeregt.


"Du findest mich lustig?" fragte sie zurück.


"Ja, ich mag es eben mich mit Dir zu unterhalten."


Enndlins Aufregung legte sich langsam, sie hatte das Gefühl, er fühlte das Gleiche wie sie und war sich deshalb schon fast sicher, dass sie sich noch öfters sehen konnten.

"Ja, ich mich mit Dir auch. Dann komme ich jetzt öfters vorbei."


Winrich strahlte sie an. Jetzt war alles klar.


Erst als der Markt zu Ende ging verließ sie seinen Stand. Sie beide wollten nicht, dass sie ging, aber Mutter würde sich sonst Sorgen machen.


Konstantin kam zu sich. Es war wieder Enndlin, die Mutter hatte sie so angeredet, bevor sie sie ins Dorf geschickt hatte und Winrich auch. Er schätzte diese Erinnerung gut zehn Jahre später ein. Bei der ersten, so konnte er nur grob ahnen, war sie vielleicht sechs gewesen und jetzt vielleicht sechzehn.


Ach, und war das schön! Sie war verliebt und wusste noch nicht einmal was das ist, und niemand hatte ihr vorher erzählt wie sich das anfühlt. An ein so jungfräuliches und ahnungsloses Hineingleiten in eine Liebe war in heutiger Zeit nicht mehr zu denken. Die Medien impften Kinder schon Jahre lang mit gesellschaftlichen Ansichten und Informationen darüber was Liebe ist und wie das "funktioniert", so dass es ein unbelastetes "Sich verlieben" wohl gar nicht mehr geben konnte.


Winrich war gerade auf dem Feld und rackerte sich wie jeden Tag ab. Sie hatte gerade die Kleine an der Brust, was in der letzten Zeit immer unangenehmer wurde, manchmal biss sie regelrecht zu und das tat ganz schön weh. Aber wenigstens war sie danach meistens ruhig. Sie würde dann das Hühnchen kochen können was Winrich gestern vom Markt mitgebracht hatte. Es würde ein Festmahl werden, seit Wochen hatte es kein Fleisch mehr gegeben, es fehlte das Geld und es kamen immer wieder die Steuereintreiber vom König und wollten ihren Zehnten.

Die Kleine biss wieder zu und Enndlin zuckte zusammen. Hoffentlich würde sie bald genug haben und satt sein.


Ein seltsames Gefühl, sagte sich Konstantin. Er spürte wie Enndlin ihr Kind stillte und sich Gedanken über das Abendessen machte.


"Enndlin, komm rein, das Essen ist fertig." Enndlin hatte gerade im Schnee gespielt obwohl sie furchtbar fror, aber es war der erste in diesem Jahr und sie musste gerade nichts anderes im Haus tun, deshalb machte das Spaß. Aber wenn Mutter rief, dann war das Spielen zu Ende. Es gab Essen.


Konstantin sah durch die Augen Enndlins wie die Mutter sie rief und die schien riesig, Enndlin musste also noch ganz klein sein. Wieder also eine Episode aus ihrer Kindheit. Er machte zeitliche Sprünge kreuz und quer wie in seinem eigenen Leben zuvor. Offenbar war nun das von Enndlin dran.


Er lebte jetzt ein anderes Leben! Wow, das würde spannend werden!

8 - Das Ende

Und mit dieser Erkenntnis begann die schlimmste seiner Erfahrungen überhaupt.

Wieder brandete ein Erlebnis in seinem Kopf auf, wieder war es nichts an das er sich erinnern konnte. Die Flammen krochen näher und berührten schon die Beine und er, sie schrie vor Schmerzen. An einem Pfahl festgebunden durchlebte er das langsame Verbrennen ihres Körpers. Die qualvollen Flammen, die nicht nur das Fleisch grausam malträtierten sondern auch die Lunge, seine Augenlider und alles andere sowie die Verzweiflung, weil sie wusste, dass ihr Leben zu Ende ging. Jede Sekunde wurde zu Ewigkeiten einer furchtbareren Qual als die, die er sich jemals hätte vorstellen können. Eine der letzten Dinge die sie hören konnte waren die hasserfüllten Rufe "Hexe! Hexe! Jetzt brennt die Hexe Enndlin!"


Eine erlösende Ohnmacht und den Tod erlebte er nicht, die Erinnerung endete lediglich.


Was war nur passiert? In seinem eigenen Leben hatte er nichts Vergleichbares durchgemacht, nicht im Entferntesten. Enndlin war verbrannt worden? Konstantin zitterte noch stundenlang, denn die Erfahrung des Sterbens auf eine solch furchtbare Weise durchstehen zu müssen überforderte ihn vollständig. Der Geruch des verbrannten Fleisches wollte ihm nicht aus der Nase gehen und die schrecklichen Schmerzen verfolgten ihn.


Dennoch war ihm nur eine kurze Ruhepause vergönnt, sein Körper forderte trotz aller Kontrolle, die er inzwischen über ihn hatte, wieder seinen Tribut: Er hatte Hunger und musste den Weg zu den schier endlos zur Verfügung stehenden Büschen suchen.


Würde das jemals ein Ende nehmen und warum war er hier?

Und es nahm kein Ende, die Ereignisse setzten sich ähnlich derer der vergangenen Zeit fort, nur waren es die Erinnerungen die Enndlins, die drei Kinder aufzog, und wegen einer simplen Verleumdung in jungen Jahren einer Hexenverbrennung zum Opfer fiel.

Der Kreislauf wiederholte sich nun auf die gleiche Weise wie zuvor bei seinem eigenen Leben. Nach und nach setzten sich die Erinnerungen zu einem Film des Lebens zusammen, der schließlich zu einem Empfindungs- und Erfahrungsschatz erster Güte wurde.


Über die Gründe dafür, dass nun ein völlig fremdes Leben vor ihm ausgebreitet wurde, konnte er nach wie vor nur spekulieren.

Dass Enndlin kein Wissen hatte was in heutiger Zeit von großem Nutzen sein konnte war nicht von Bedeutung. Es störte ihn auch nicht weiter, denn es waren die Empfindungen, die ihn weitaus intensiver durchfuhren, weil er sie nicht ein zweites Mal durchspielte sondern sie völlig neu erfuhr. Er wurde zu dieser Frau und nahm ihr Leben mit allem in sich auf, zudem noch aus einem Blickwinkel, der nicht nur durch die Perspektive einer Frau bestimmt war sondern aus einem ganz anderen Zeitalter. Sein geschichtliches Verständnis änderte sich vollkommen und die unbewusste Arroganz eines Menschens aus dem 21. Jahrhundert zu glauben, fortschrittlicher zu sein als jemand aus dem Mittelalter, wich einem unbeschreiblichem Respekt vor einer Frau, die trotz Widrigkeiten schlimmster Natur ein lebenswertes Leben für sich, drei Kinder und einen Mann schuf.

Konstantin hätte nur zu gerne Nachforschungen betrieben um festzustellen was aus ihren Nachfahren geworden ist, wurde aber durch die sich fortsetzenden Erlebnisse so gefangen genommen, dass er diese Idee nicht hätte verfolgen können, selbst, wenn er Zugriff auf eine Bibliothek gehabt hätte.

Die wenigen Momente klaren Geistes brauchte er viel mehr für die Erholung und die Beerensuche, als dass er Ursachenforschung für seine Situation betreiben konnte. Er war ein Spielball der Erfahrungen, die ihn gefangen hielten. Gefühlt zogen wiederum Monate dahin während er auf diese Weise zu einem zweiten Menschen wurde. Das alles sprengte seinen bisherigen Erfahrungsrahmen vollständig.

Als Mann vor dem Spaziergang und dem Finden des Brombeerbusches hätte er die Idee, die Erfahrungen einer Frau zu durchleben als sehr erotisch empfunden. Er hatte jedoch nach der Wiedereröffnung seines eigenen Lebens und dem Erhalt der Hoheit über seinen Körper eine gewisse neutrale Position erreicht, in der er willentlich Abstand nehmen konnte. Die Erlebnisse wurden ihm dennoch auf eine Art beigebracht, dass er sie bis zur Gänze erfühlte und er jeden erotischen Aspekt durchlebte als wäre es sein eigener Körper. Er hatte höchsten Respekt Enndlin gegenüber und fragte sich warum er keine Scham fühlte trotz des so intensiven Eindringens in ihre Privatsphäre.


9 - Viele Bilder

Ihr Leben setzte sich in ihm zusammen wie sein eigenes zuvor, auch die Erinnerungen konnte er abrufen wie die eigenen. Dennoch blieben die Grenzen scharf. Seine anfängliche Angst, durch die Menge an Erfahrungen in Verwirrung zu geraten und die beiden Leben nicht mehr richtig trennen zu können, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht.


Diese Frau beeindruckte in sehr, trotz der Schlichtheit des Lebens das sie führte. Der beständige Kampf um den Erhalt ihrer Familie für den sie vielfach Opfer brachte, die nur wenige Menschen auch nur im Entferntesten in Betracht ziehen würden. Die monatlich wiederkehrenden Schmerzen der Blutungen, die manchen Frauen nur wenig Ärger bereiteten, Enndlin aber regelmäßig das Leben zur Hölle machten. Die ungerechtfertigten Beschuldigungen eine Hexe zu sein und die Tatsache, dass sich selbst ihr Mann diesen anschloss. Wahrscheinlich handelte er nur aus Angst ansonsten selbst als Hexer in Verdacht zu geraten oder man erpresste ihn mit den Kindern. Obwohl ihre Enttäuschung und Verzweiflung bodenlos war, verzieh sie ihm und verlor nicht den Glauben an das Gute. Ihr Trost war zudem, dass er sich weiterhin um die Kinder sorgen würde.


Nachdem der Verdacht von einer Nachbarin ausgesprochen und Enndlin in den Kerker geworfen worden war, hatte sie kein einziges Mal mit ihm sprechen können. Während ihres Prozesses wurde er nur kurz befragt und als er seine Verleumdung aussprach zog es ihr so sehr den Boden unter den Füßen weg, dass sie dadurch weniger fähig war sich zu verteidigen als eh schon.

Diese Farce von Prozess und der Verrat Winrichs schmerzten Konstantin unsäglich, gerade weil er die Sinnlosigkeit und den Hintergrund der Hexenprozesse kannte.


Sein eigenes Leben als Konstantin kam ihm nun unbeschreiblich seicht vor, kein Kampf, keine Mühsal, weder in Schule, Studium oder in Beziehungen war nur annähernd mit dem von Enndlin zu vergleichen. Die Freiheit, die er hatte, der Luxus, das bequeme Leben wurde ihm durch sie erstmals bewusst. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geboren worden zu sein sah er nun als ein wunderschönes Geschenk an und schwor sich, mehr aus seinem normalen Leben zu machen, sofern er jemals wieder in es zurückkehren konnte.


Würde das überhaupt passieren? War er überhaupt noch der gleiche Mensch? Nein, sicher nicht. Selbst wenn er nur Splitter aus Enndlins oder dem eigenen Leben in der Klarheit weiterhin behalten konnte, wäre schon alles verändert. Jedes Quäntchen von dem was er je gehört, gesehen oder gefühlt hatte, war noch immer präsent und würde seine Entscheidungen beeinflussen.


Er fragte sich was kommen würde, wenn das Leben Enndlins vollständig wäre. Würde noch eines folgen? Oder würde es reichen ein Kind, eine Frau und einen Mann gelebt zu haben?


Die Antwort folgte nur wenige Tage später, denn der Lebensfilm Enndlins beschleunigte sich, die Episoden wurden schneller und intensiver ohne dabei auch nur eine Kleinigkeit auszulassen. Der Mensch Enndlin vervollständigte sich zusehends in ihm, bis es wieder einen Abschluss wie bei seinem Leben gab, ein Crescendo des Lichtes, emotional eine Totale auf alles was das Universum zu bieten hatte, unbeschreiblich in seiner Intensität und mit nichts anderem in einem normalen Leben zu vergleichen. Es war ein Moment ohne Sehen, Hören, Riechen oder Schmecken, sondern ausschließlich Emotion in Perfektion. Die Erfahrung der Zeugung Enndlins erfüllte Konstantin ebenso mit Ehrfurcht wie seine eigene.


Wieder folgte eine Pause der Erholung, wenn auch kürzer. Ihn durchfuhr die nächste Lebensphase, die eines Jungens namens Jacob, der, wie sich bald herausstellte, zeitlich zwischen Enndlin und ihm selbst gelebt hatte, zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg. Hier war der Tod kurz und schmerzlos, er war ohne jegliche Empfindung. Im Schlaf platzte Jacob ein Gefäß im Gehirn. Konstantins Sicht erlaubte ihm das wahrzunehmen, Jacob hat es nie erfahren.


Bei beiden war der Höhepunkt die Erfahrung der Empfängnis, ein unvergleichliches Erlebnis bei dem das Leben aus zwei Komponenten entstand, die für sich gesehen unvollständig waren. Sie überwogen selbst die Verbrennung Enndlins deutlich und hatten nachhaltigen Einfluss auf Konstantin. Die wenige Zeit, die ihm zum freien Nachdenken blieb wurde von diesen Höhepunkten dominiert.


Die Frage was ihm geschah beschäftigte ihn noch immer. Ist er von Außerirdischen entführt worden? War er überhaupt noch auf der Erde und wieso war die Gegend und der Horizont so seltsam verzerrt?

Stand er vielleicht unter Drogen? War der Brombeerstrauch von einem Pilz befallen, der nicht wie bei Schimmel in manchen Häusern Allergien oder Asthma verursachte sondern Konstantin ins Delirium befördert hatte? Oder hatte er wie Jacob ein Aneurysma im Kopf, das seinem Gehirn einen irreparablen Schaden zugefügt hatte und er befand sich inzwischen auf einer Komastation ohne eine Chance wieder in das normale Leben zurückzukehren?


Konstantin sah kaum eine Möglichkeit in der Brombeerlandschaft auch nur irgendeine Information zu erhalten. Er hatte mit seinem sich weiterhin stählenden Körper Strecken zurückgelegt, die jeden Marathonläufer neidisch machen würden, selbst wenn Strecken und Zeitabläufe noch immer genauso wenig einzuschätzen waren wie bei seiner Ankunft.


Jacobs Leben war kurz, und die Erfahrungsperiode für Konstantin noch kürzer. Der Prozess beschleunigte sich, er nahm die filmischen Ausschnitte immer schneller wahr und offenkundig hatte sein Gehirn inzwischen Übung darin, sie wie eine Maschine zu verarbeiten, ohne ihm auch nur eine einzige Erfahrung zu ersparen, sei sie noch so angenehm oder qualvoll.


Nach Jacob kam Hans aus dem 18. Jahrhundert, Pierre aus Frankreich und die Leben nahmen keine Ende. Sie schienen willkürlich der Menschheitsgeschichte entrissen worden zu sein. Eine Hoffnung Konstantins, nur ein Leben zu finden, das parallel zu einem ihm schon bekannten stattfand, erfüllte sich nicht. Es wurden immer mehr. Das brutale Leben von Neandertalern musste er ebenso durchstehen wie das eines reichen Händlers der Hanse der schon im Elternhaus in Luxus aufgezogen wurde und ihn bis zum Lebensende nicht missen musste.


Konstantin starb im wahrsten Sinne des Wortes tausend Tode mit allen erdenklichen Qualen, die ein Mensch nur durchmachen konnte. Dem gegenüber gab es eine Unzahl an Dingen die ihn beeindruckten, wie Momente der Liebe, des Genusses, der Macht, des Gewinnens, des Friedens und der Erholung. Alles stürmte ohne Rücksicht auf ihn ein.


Von Zeit zu Zeit hatte er auch Phasen mit unklaren Empfindungen und Erinnerungen, die er nach einigen Überlegungen als die Wahrnehmungen von Tieren und Pflanzen einordnete. Diese blieben meistens eher kurz und wenig informativ. Doch Ausnahmen kamen vor und bescherten ihm manchmal äußerst intensive Erlebnisse. Augenscheinlich war auch nicht-menschliches Leben ein Teil des Ganzen.


Wie lange ging das nun schon so? Der Wechsel zwischen Tages- und Nachtphasen war ihm schon seit seiner Ankunft in der Brombeerumgebung seltsam vorgekommen. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt und eine Schätzung über seine wahre Aufenthaltsdauer hier traute er sich weniger denn je zu. Irgendwann hatte er die Tag/Nachtwechsel gezählt und wenngleich sein Gedächtnis ihn nicht im Stich ließ, war die Anzahl von 3951 Tagen gefühlt keineswegs mit den gemachten Erfahrungen überein zu bringen.


Was bestimmend wurde, ist, dass sich mit der Zeit auch ein Ablauf über alle Leben hinweg zusammensetzte; wie bei ihm selbst kam ein Puzzleteil zum anderen, bis die Geschichte aller durchlebten Menschen sich zu einem Gesamtwerk vervollständigte. Und niemals überlappte sich auch nur eines mit einem anderen.


Konstantin spürte auch warum, wollte es aber trotz der sich immer stärker manifestierenden Zusammenhänge lange nicht wahrhaben. Selbst wenn er dafür keinen Beweis sah, wusste er irgendwann, dass der Grund für die fehlenden Überlappungen in den Leben nur einer sein konnte. Es konnte sie nicht geben, weil es seine eigene Geschichte war, die Geschichte seiner Seele, die durch die Jahrhunderte zog, einen Körper nach dem anderen belebte und keine Erfahrung ausließ, die ein Mensch auf der Erde nur machen konnte. Und diese Geschichte war sehr viel länger als er jemals erwartet hätte.

10 - Konvergenz

Als das Zählen der Tage Konstantin zum zehntausendsten Tag brachte, wurde ihm klar, dass er nicht den Zeitablauf wie in seinem ursprünglichem Leben haben konnte. Er hätte demnach schon fast dreißig Jahre hier verbringen müssen, die Zeit kam ihm aber eher wie wenige Monate vor, wahrscheinlich auch durch seine inzwischen atemberaubend umfangreiche und präzise Erinnerung, die ihn nicht eine einzige Minute in der Brombeerwelt vergessen ließ.


Die Leben rauschten an ihm vorbei wie ein Wasserfall. Brauchte er anfangs für sein eigenes und das Enndlins noch Monate, so waren es jetzt nur noch Stunden. Auch wenn die Erinnerungen aus den frühesten Leben nur dumpfe Emotionen aus prä-Neandertaler-Zeiten waren, spürte er, dass es kaum noch Lücken gab. Das Zusammensetzen der Leben in eine Reihenfolge war allerdings schwierig, insbesondere weil die Epochen ohne Zeitrechnung die mit einer solchen weit überwogen.


Erstaunlicherweise gab es zwischen Leben immer eine Pause. Soweit es ersichtlich war, reichten sie von wenigen Minuten bis teils einigen Wochen oder gar Jahren, sein Seelenfilm war deshalb nicht lückenlos. Woher das kam war ihm nicht klar, aber vielleicht nahm sich seine Seele zwischen zwei Leben immer eine Auszeit zur Erholung? Er schmunzelte bei dieser Vorstellung, er sponn sie so weiter, dass seine Seele zur Schule ginge und eine Unterrichtsstunde nach der anderen absolvieren musste, um irgendwann den Abschluss zu bekommen. Und zwischen den Stunden gab es ja bekanntlich Pausen. Sein Zugriff auf inzwischen Äonen von Lebenszeiten, Glaubenskriegen, atheistisch und fromm gelebten Zeiten unter unterschiedlichsten Religionen und Sekten stellte eine so große Anzahl an Theorien zur Verfügung, dass ihm fast schwindelig wurde.


Die zur Schule gehende Seele gefiel im abseits der offiziellen Religionen einfach zu gut. Die Seele, vielleicht ein Splitter Gottes oder Allahs, auf die Erde gesandt um durch das Sammeln von Erfahrungen, Emotionen und Taten weiser zu werden, an Kraft und Umfang zu gewinnen und irgendwann zu der höheren Wesenheit zurückzukehren. Der Mensch als ein Teil dergleichen, die Erlangung der Erkenntnis, die Wiedergeburt mit der Erlösung bei der Rückkehr?

Viele Aspekte ließen sich mit einer Unzahl an Aussagen in diversen Religionen kombinieren, so dass sich ein stimmiges Bild ergeben könnte, wenn man nur die Details nach eigenem Ermessen interpretierte.


Das Wiedererleben blockierte ihn völlig und die Pausen zwischen den Lebenswiederholungen blieben kurz. Sie waren gerade lang genug, damit er sich weiterhin mit nahrhaften Beeren sättigen konnte oder um zu solch esoterischen Überlegungen zu kommen. Sie aber zur Gänze zu durchdenken oder gar um von seinen inzwischen gesammelten Informationen sinnvollen Gebrauch machen zu können, war mangels Zeit so gut wie unmöglich. Was sollte er hier auch damit anfangen zwischen Gras und Büschen in den endlosen Weiten, wo es nichts anderes zu geben schien?


Dennoch spürte er, dass er sich einem Wendepunkt näherte; Lücken gab es kaum noch und die Zeit verrann schneller und schneller.


Da war es, das letzte Leben nach 8394 anderen, wie er sich mit Leichtigkeit bestätigte und er hatte keinen Zweifel an der Richtigkeit dieser Zahl.

Eine Tochter von Wüstennomaden vor tausenden von Jahren. Trotz der unzähligen Leben, die er nun kannte, war es ein wunderschönes. Einfach, erfüllt und kurz, ähnlich wie Jacobs.


Und wieder war die Zeugung die letzte Erfahrung so wie eine Belohnung zum Abschluss.


Die Wucht dieser Entstehung des Lebens überwältigte ihn nicht weniger als das erste Mal, als sei es das Wichtigste was das Universum zu bieten hat und das es überhaupt geben kann.

Ob Zufall, göttlicher Herkunft oder eine Laune der Natur, es war uneingeschränkt das Wunderbarste was Konstantin kannte und er war dankbar dafür.


Er ergab sich nun dem was kommen würde.

11 - Der Übergang

Eine sanfte Entspannung legte sich über seinen Geist und er wusste, dass er sich treiben lassen konnte. Ob seine Augen geschlossen waren oder offen war unbedeutend; er trieb über einem Meer an Leben, Emotionen, Erlebnissen, guten und schlechten Momenten, der Bosheit, Aufopferung, Beschränktheit, Weitsicht sowie Gesundheit und Krankheit. Alles gehörte zusammen, ein Ausgleich der Zeiten über alle Leben war der Lohn der Zeit in der Brombeerwelt. Für jede schreckliche Erfahrung gab es auch gute und der Wechsel zwischen ihnen machte es interessant und vollständig. Leben der Enthaltsamkeit, des Überschwanges, des Krieges oder Liebe rundeten alles ab.

Konstantin blickte auf alles hinab und sah in einem Zustand der Ausgeglichenheit und absoluten Neutralität das Wesen dieser Zusammenhänge und empfand dieses als einen Schatz der wahrscheinlich noch nie einem Menschen so zu Gute gekommen war. Das Warum blieb ihm noch immer unklar in seinem Schweben über dem Ganzen. Er war noch immer der Konstantin der nach einem Arbeitstag Entspannung bei einem Spaziergang gesucht hatte und der nicht ungewöhnlicher war als die meisten anderen Menschen auch.


Die Zeiten zwischen den Leben konnte er jetzt wahrnehmen. Es war ein Suchen der Seele nach Orten der Erkenntnis. In der Zeit ohne einen Körper, der durch seine Bedürfnisse, Empfindungen und Emotionen Einfluss nehmen konnte, war für die Seele die Entscheidung für den nächsten Lebenszyklus ausschließlich von dem zu erwartenden Erkenntnisgewinn geprägt. Der jeweilige Mensch lebte sein Leben meistens unabhängig von der Seele, die in ihm wohnte. Sie leitete ihn in seinen unterbewussten Handlungen und gab Richtungen und Tendenzen vor, ohne ihn jedoch konkret zu steuern. Dennoch gab es kaum jemanden, der sich ihrer nicht in irgendeiner Form bewusst war oder sie zumindest erahnte. Manchmal fanden sich sogar Zugänge zu ihrem Erfahrungsschatz, die als Zustände der Erleuchtung betrachtet wurden. Die Seele formte auch den Menschen durch ihre Erfahrungen, die teils heftige Spuren in ihr hinterlassen hatte. Im Körper oder Geist des Menschen konnte sich das in Form von Krankheit, Gewohnheiten, Intelligenz, Intuition oder einer Anzahl anderer Eigenschaften äußern, Körper und Geist spiegelten den Zustand der Seele wider.


Konstantin war sich seiner Situation bewusster als je zuvor, alles war Klarheit in Perfektion und Grenzen in Wissen und Erfahrungen sah er praktisch keine mehr. Nach dem Ende der Rekapitulation aller Leben hatte er nun die Ruhe davon Gebrauch zu machen. Jede Frage, die sich im stellte konnte er entweder aus seinem Gedächtnisspeicher abrufen oder die Antwort nahezu zeitverlustfrei aus seinem Wissen ableiten.

Er sah auch keine Schranken mehr in der Komplexität einer Aufgabe; er traute sich zu, ein jedes Schachspiel mit Leichtigkeit in fast allen Zügen von Anfang bis Ende zu durchdenken, was selbst den leistungsfähigsten Computern derzeit nicht gelang, da es galt zu viele Varianten durchzurechnen.

Die erste Frage, die zu beantworten war, war "warum?". Er hatte den Zugriff auf den universellen Wissenspool erlangt, den sich die Menschen durch ihre Seelen teilten. Und nicht nur den der Menschen sondern auch der Tiere und aller anderen lebenden Wesen. Nur noch wenig erstaunt stellte er fest, dass seine Seele schon vor den Durchgängen durch sich bewusste Wesen wie Menschen und Tiere, eine Unzahl an anderen Wesen durchlaufen hatte wie auch Pflanzen und Mikroben. Auch sie hatten ihre Spuren hinterlassen.


Was war seine Aufgabe und weshalb schwebte er gedanklich über allem was er erfahren hatte, und was hatte ihn hierher gebracht?

Teil 2

Musik

1 - Die Rückkehr

Konstantin schlug seine Augen auf, genau dort wo er kurz zuvor weggetreten war. Trotz all der erlebten Dinge und der Erleuchtung, die ihn ereilt hatte, war er erstaunt darüber, dass es offensichtlich nur Minuten gedauert haben konnte, was ihm wie Jahre erschien. Der Pilz auf den Brombeeren, möglicherweise eine Mutation eines Schimmelpilzes, hatte seinen Blutkreislauf in der Lunge beginnend infiltriert und eine Kaskade von Prozessen ausgelöst, die sich einer Explosion gleich ausgebreitete. Erst von der Lunge ins Blut und anschließend weiter im Kopf durch Synapsen, Neuronen und Dendriten. Die Leistungsfähigkeit seines Gehirns hatte sich so in kürzester Zeit stark verändert und daraus folgende Hormonausschüttungen hatten sogar seinen Körper beeinflusst. So gut hatte er sich noch nie zuvor gefühlt.


Die Brombeerwelt hatte etwas mit ihm gemacht, keine Erfahrungen mehr, die er zu verpassen glaubte, keine Ängste, die wie ein Alpdruck auf ihm lasteten, die ihm die Sinne vernebelten, seine Ideen fraßen oder seine Kreativität in Ketten legten.

Wahrscheinlich war jene Welt nur ein Schutzmechanismus seines Gehirns gegen die Gifte des Pilzes oder gegen eine Überlastung gewesen, dennoch war sie der Weg aus den Fesseln seiner Grenzen.

Er war frei in jedem seiner Gedanken, nichts Äußerliches mehr, was ihn in seinen Überlegungen bremste.


Wenn er nicht jede dieser Änderungen in einem gefühlten zeitlichen Ablauf von Jahren erlebt hätte, wäre er jetzt wahrscheinlich wahnsinnig. So sah er das Ganze gelassen; da er im Detail wusste was und wie es sich geändert hatte, überraschte es ihn nicht, dass er jetzt ein anderer Mensch war.


Es war auch nicht mehr von Bedeutung wie alles zustande gekommen war oder warum, oder ob es nur ein zufälliges Zusammenspiel seiner Gehirnchemie und des Schimmels war. Das war Geschichte. Es gab nun anderes zu tun.


Ja, es gab anderes zu tun, sogar außerordentlich viel. Die Menschen und die Welt brauchten Hilfe. Es gab so viel zu tun, dass er die Komplexität und den Umfang dieser Aufgabe fürchtete.


Und bei all den vielen Lebensepisoden auf die er nun zurückblicken konnte ließ ihn eines nicht mehr los. Enndlin. Enndlin. Diese Frau, ihr Lebensgeist. Er war sie, sie war er. Was und wer war er nicht alles gewesen, was hatte er nicht alles erlebt. Aber diese bescheidene Person mit ihrem schlichten Leben dominierte alles andere. Ihr Gedankengut, ihre Kraft zu verzeihen war es, die er der Welt vermitteln wollte.


Aber sollte er sich zum Herrscher der Welt machen und alles Sinnvolle durchsetzten? Er hatte in so vielen Leben das Beeinflussen und Manipulieren von einzelnen Menschen, Menschengruppen und ganzen Völkern erlebt, dass ihm das plötzlich ein Leichtes schien.


Oder im Geheimen die Fäden ziehen und Dinge in Bewegung setzten, die durch ihre Auswirkungen alles veränderten?

Er könnte auch als Berater wissenschaftlicher Akademien agieren und dadurch einen beträchtlichen Fortschritt bewirken.


Andererseits könnte er sich das Leben einfach machen, ein wenig nachdenken, eine schöne kleine Erfindung patentieren, sich zur Ruhe setzte und den Gang der Welt als reicher Mann beobachten.


Die Brombeerwelt war schon jetzt nur noch eine Episode in der endlos erscheinenden Sequenz seiner Erfahrungen, deshalb verließ er die Aushöhlung des Strauches und setzte seinen Weg nach Hause fort. Er aß zu Abend, legte sich ins Bett und wollte erst einmal eine geruhsame Nacht durchschlafen. Kurz bevor er jedoch in das Land der Träume hinüber driftete wusste er nur eines sicher. Sie würde noch eine wichtige Rolle spielen, fast allgegenwärtig war sie in seinen Gedanken. Enndlin, Enndlin, Enndlin...

2 - Der Plan

Als er am Morgen erwachte hatte sein Plan noch immer nicht vollständig Gestalt angenommen. Der große Herrscher, der wissenschaftliche Berater oder das reiche und heimlich die Welt beobachtende Genie waren aber vom Tisch. Er wollte subtiler vorgehen und die Menschen die Sache selbst erledigen lassen - natürlich nicht ohne Einfluss zu nehmen.


Eine erste Überlegung, Patente für Erfindungen anzumelden, verfolgte er nicht weiter, trotz einer Unmenge von Ideen für spektakuläre Verfahren, die er aus dem Ärmel hätte schütteln konnte. Es würde zu viel Zeit und Geld kosten, sie anzumelden, sie mussten regelmäßig verlängert werden, die Rechtsprechung wurde in vielen Ländern unterschiedlich gehandhabt und ein Verfolgen von Patentverletzungen war ein mühseliges Unterfangen. Sie nur zu besitzen half erst einmal wenig, denn sie mussten von Firmen lizenziert und umgesetzt werden, damit Einkünfte zu erwirtschaften waren. Sie waren eine Option für später und davon abgesehen mochte er sie schon aus Prinzip nicht. Sie behinderten die Verbreitung von Ideen, Wissen und Know How und standen somit seiner eigentlichen Intention im Wege. Er wollte seine Pläne und Ideen so schnell wie möglich verbreiten und als Allgemeingut zur Verfügung stellen.


Eine seiner ersten Erfahrungen in der Brombeerwelt war die Erinnerung an ein eingängiges Violinkonzert sowie die erste aus Enndlins Leben, wie sie so gerne das Stück Gaudete pfeifen wollte. Das brachte ihn auf eine Menge Ideen; er würde Enndlin auf einer ungewöhnlichen Art und Weise gedenken.


Schnell reifte in ihm ein verrückter Plan heran. Seine Ziele anzusteuern und das nötige Geld zu beschaffen war viel einfacher. Eine kleine Komposition die eingängig war und die Herzen bewegte. Ein Lied, das unter die Haut ging, melodisch war, dem aktuellen Musikgeschmack entsprach, dennoch aber genug Tiefgang hatte, um nicht kitschig zu sein. Musik bestand nicht nur aus Crescendos, Ritardandos, Tempi oder Tonarten, sondern sie hatte viel mehr Möglichkeiten, etwas auszudrücken. Informatiker oder Mathematiker würden sagen, der Parameterraum für eine Komposition war enorm groß.


Er war nicht nur ein einziges Mal Musiker oder Musikerin gewesen sondern auch ein Komponist, wenn auch ein vergessener, dessen Werke nie beeindruckt hatten. Das Handwerkzeug hatte er jedenfalls ebenso wie die Geschichte und die Emotionen, die wiederzugeben waren. Er rief sich Melodien in den Sinn, die ihn bewegten, analysierte den Eingang der Töne über das Trommelfell, die Flimmerhärchen, Hammer, Amboss und Steigbügel und die Erregung in seinem Gehirn nachdem die Synapsen die Informationen aufgenommen hatten, die sensorischen Neuronen feuern ließen und ihre Informationen ins Gehirn weiterleiteten. Er verfolgte die Welle der Signale, wie sie sich durch das Gehirn bewegte und Folgen bis zum Ausschütten von Endorphinen und Stoffwechseländerungen hatte. Er erkannte die Möglichkeiten der Manipulation durch geeignete Musik.


So konstruierte er Note um Note, Verzierungen, Texte und Zusammenstellungen von Instrumenten, so dass sogar unterschiedliche Empfindungen aus beiden Ohren im Gehirn die von ihm gewünschten Wechselwirkungen entfalteten.

Ton um Ton schrieb er Enndlins Leben nieder, wobei er sich die Phasen ihres - und seines damaligen - Lebens vor Augen führte und unmittelbar spürte wie diese umzusetzen waren.


Ihre Erfahrungen von Geburt an, ihr unbändiger Lebenswille und der langwierige Kampf um Familie und ein gutes Leben sowie der ungerechte, traurige Tod fanden durch seine Niederschrift ihre Entsprechungen in Noten und Klang. Er schuf nicht nur ein einfaches Lied, wie er zunächst erwogen hatte. Es könnte niemals genug sein, um auch nur ansatzweise dem gerecht zu werden was Enndlin verdient hatte. Seine eigenen Emotionen aus ihrem Leben in dem Werk zu verewigen, um ihr zur Gänze gerecht zu werden, erhielt plötzlich höchste Priorität. Seine neuen Fähigkeiten wollte er nicht mit Halbheiten verschwenden, sondern alles in einer unübertroffenen Perfektion erledigen.


In seinem Arbeitsfluss verschattete nichts sein Denken, es gab keine Grenzen im Erschaffen eines Klanges oder einer Harmonie. Er gebar eine Sinfonie der Emotionen Enndlins Lebens als komplexes Werk der Töne. Ein Hauch hier, ein Klingen dort, verbunden durch Glissando, Ligatur oder ein Staccato der flammenden Gefühle ihres ersten Kusses. Ein leises Trommeln im Hintergrund, ihr ruhig schlagendes Herz, bevor sie an Winrich denkt, später ein rhythmisches Klopfen, sich bis fast ins Unerträgliche steigernd, bevor sie auf dem Markt auf ihn zu kommt.


Wie leicht ihm diese Dinge fielen. Mit der Erfahrung von Musikerinnen und Musikern der vergangenen Jahrhunderte, dem Musikempfinden so vieler Menschenleben, den tiefsten Emotionen aus Enndlins Dasein und dem akribischen Verfolgen der Auswirkungen jeder einzelnen Note bis in die Tiefen des Gehirns, schuf er das Lied seines Lebens.


So schrieb er wochenlang mit nur wenigen Pausen für Schlaf, Essen und Erholung. Von Zeit zur Zeit erlaubte er sich etwas Abwechselung durch Jogging, einen Spaziergang oder Schwimmen. Er komponierte weiter und weiter, vertonte Schritt für Schritt Enndlins Leben. Dabei optimierte und perfektionierte er nicht nur seine Fähigkeiten in der Schöpfung eines musikalischen Opus, sondern auch die der neuromelodischen und neuromusikalischen Programmierung. Menschen, die diese Musik hörten, würden sie nicht nur hören, sie würden sie auch erfahren, an ihr lernen und durch sie einen neuen Blick auf das Leben entwickeln.


Es würde nicht nur ein Hit werden der sich ein wenig in den Charts tummelte und bald durch einen anderen abgelöst würde. Nein, jede Note, jeder Takt, jede Phrase würde eine lange Zeit unübertroffen sein und Einfluss auf die Menschen nehmen.


Parallel dazu schrieb er Begleitinformationen, die detailliert festlegten, was und wie umgesetzt werden sollte, wo welche Instrumente positioniert sein mussten und wie weit sie voneinander entfernt zu sein hatten. Auch legte er schon fest wofür etwaige Gewinne eingesetzt werden durften und sollten. Ihm schwebte dabei eine Stiftung vor, die treuhänderisch das Geld für gute Zwecke verwenden durfte und sollte.

Auf diese Weise kreierte er zunächst die ersten beiden und den letzten Satz Enndlins Lebens. Alle weiteren komponierte er schon im Kopf, verschob die Niederschrift aber aus Zeitgründen auf die Zeitpunkte, wenn sie benötigt werden würden.

Jetzt wollte er erst einmal beginnen seine Pläne umzusetzen.


Abschließend wählte er noch den einzigen international verständlichen Namen den er sich für seine Komposition vorstellen konnte: "Enndlins Life"

3 - Die Suche

Konstantins physische Fähigkeiten waren begrenzt, er konnte nicht beliebig schnell telefonieren, schreiben, Wege zurück legen oder mehrere Dinge gleichzeitig tun. Auch das Manipulieren seiner Physis durch seinen Geist hatte biophysikalische und chemische Grenzen, sprich, er würde essen, schlafen und seine Notdurft erledigen müssen wie jeder andere Mensch auch. Ein wenig freie Zeit zum Genießen des Lebens und dem Ausfeilen seiner Pläne wären ebenso wichtig, denn um sich vollständig für sein Ziel aufzuopfern hatte er zu viel Spaß am Leben selbst. Er würde sich also Hilfe organisieren müssen um alle seine Ziele umsetzen zu können.


Es war Samstag und er ging der Einfachheit halber durch die überfüllte Stadt. Er wollte sich inspirieren lassen und sehen ob er sich vorstellen konnte andere Menschen in seine Pläne direkt mit einzubeziehen.

Schnell war ihm klar, er würde sich Helfer suchen, die für seine Zwecke fähig genug waren und von sich aus den Willen zur Veränderung mitbrachten. Auf diese Weise minimierte er die Notwendigkeit einer Manipulation anderer, etwas das er schon vor der Chemieattacke des Strauches auf sein Hirn nicht gemocht hatte.


Im Gewühl der Stadt begann er seine neuen Fähigkeiten auszuspielen, er streifte durch die Köpfe der Menschen und fand erstaunlich wenig vor; die meisten gingen im Allgemeinen nur die Dinge durch, die sie gerade vor sich hatten, ärgerten oder freuten sich über etwas, das gerade anfiel, wälzten aber nur selten tiefgehende Probleme.


Er lernte zu spüren, was er wissen wollte, ob ein Mensch verbittert war, mit viel Kampfgeist aufwarten konnte, von Äußerlichkeiten in seinen Handlungen gehemmt wurde, oder einen klaren Kopf und Lust auf Abenteuer hatte.


Die Jahrhunderte, sogar Jahrtausende lang erlernte Menschenkenntnis half ihm, es war fast wie die Fähigkeit zum Gedankenlesen. Nicht, dass er konkret gewusst hätte was jemand dachte, nein, es war anders. Es waren die Details, die viel über die Menschen aussagten. Sein Geruchssinn war seit seiner Transformation extrem analytisch, es gab kaum noch gute oder schlechte Gerüche sondern nur noch welche, die ihm Wege wiesen und Information vermittelten. Er stellte sich vor, ein schnüffelnder Hund zu sein, der sich mit Hilfe seines Geruchssinns orientierte. Nein, er stellte es sich nicht nur vor, er erinnerte sich an eine Episode, als er ein einem Hund oder Wolf sehr ähnliches Tier war.

Er konnte riechen, wie lange Leute ihre Kleidung trugen, wann sie sich zuletzt geduscht hatten, ob oder welche Deodorants sie verwendeten, wie viel sie körperlich gearbeitet und was sie Stunden zuvor zu sich genommen hatten.


Die Gerüche der Stadt hafteten den Menschen an. Sie verrieten genauso in welchen Stadtteilen, Straßenbahnen, Kaufhäusern, und Restaurants sie gewesen waren wie auch ob oder wann sie mit jemandem geschlafen hatten.


Dann das Verhalten; wich jemand in einem Gedränge anderen aus, nahm er Rücksicht, drängelte er sich durch, half er anderen oder ignorierte er sie. Und die Kleidung, deren Marke und Abnutzungsgrad, die Frisur.

Am meisten sah er durch die Körpersprache, die Bewegungen, die Mimik, die Augen und wie oder ob sie die Umgebung beachteten. Der Trainingszustand des Körpers, die Hände und Finger, die Struktur der Haut. So erfuhr er viel mehr als nur, ob jemand im Freien arbeitete, rauchte oder Erkrankungen hatte.

Und da war noch die Stimme, die, je nach dem wie viel ein Mensch sprach, unterschiedlich klang und damit Hinweise darauf gab wie oft oder in welchem Kontext sich jemand aufhielt. Schon das schlichte Summen eines Liedes erzählte eine umfangreiche Geschichte über den aktuellen Gemütszustand und die musikalische Vorbildung.


Beim Vorbeigehen erfasste Konstantin schon in Sekundenbruchteilen genug um sie einschätzen zu können, welche Berufe sie ausübten, wie glücklich sie damit waren, in welchem Ausbildungs-, Gesundheits- und Gemütszustand sie sich befanden, wie sie ökonomisch positioniert waren, wo sie in den Stunden zuvor gewesen waren und was sie getan hatten. Die direkte Konzentration auf einen Menschen verriet ihm noch eine Unzahl weiterer Details, die sich durch seine Intuition zu einem nahezu vollständigen Bild ergänzten.


Aus den ihn umfließenden Menschenmassen suchte er sich auf diese Weise zwei Kandidaten.


Das Summen eines komplizierten Musikstückes, das nur ausgebildete Musiker so takt- und tongenau singen oder spielen konnten, lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine junge Frau. Die Musik würde in seinen Plänen schließlich eine zentrale Rolle spielen und so setzten sich erste Puzzleteile für seinen Plan zusammen.


Als zweites kam der schmutzbespritzte Mann, den Konstantin bei einer kleinen "Rettungsaktion" einer alten Dame beobachtet hatte; dessen Charakter lag dadurch wie ein offenes Buch vor ihm. Es gefiel ihm was in diesem Buch stand.


Seine kurzen analytischen Beobachtungen zeigten ihm, dass er bei den beiden richtig war.

Da der Mann in ein Bistro ging und erst einmal nicht weg lief, sprach er die Frau zuerst an. Seiner Einschätzung nach war sie Musikerin und was konnte besser passen um Enndlins Life ins Leben zu rufen?

4 - Der Helfer

Simon lachte in sich hinein, denn das letzte Mal, dass er so ausgesehen hatte, war schon gut dreizehn Jahre her, als er im Urlaub während einer Wanderung ausgeglitten und durch den Schlamm gerutscht war. Die Fahrt im Bus zurück in sein Hotel hatte er noch in sehr guter Erinnerung, weil er mit seiner hellen Hose und den riesigen Schlammflecken darauf bei allen anderen Fahrgästen für Amüsements gesorgt hatte. Seine gute Laune war damals eben so ungebrochen wie heute, schließlich konnte er ja nichts dafür und wenn andere Spaß daran hatten - na, um so besser! Der Grund für die Schlammschlacht heute war allerdings ein anderer. Es war die ältere Dame, die mit ihrem Rollator die Straße überqueren wollte, wegen des Verkehrs aber etwas hilflos aussah. "Kann ich ihnen behilflich sein?" fragte er und schon ihr glücklicher Blick war Lohn genug für seine Frage. "Ja, das wäre sehr nett!" antwortete sie. "Ich sehe so schlecht und es ist so viel Verkehr." Mit vorgestrecktem Arm hielt Simon kurzerhand das nächste Auto an und damit war das Problem schon erledigt. Er stand auf der anderen Seite noch einen Augenblick mit dem Rücken zur Straße und hatte schon die große Pfütze vergessen, um die er die Dame noch mit herum bugsiert hatte.

Einen Lastwagen später klebte die Hälfte eben dieser Pfütze an seiner Hose, was ihm ein ähnliches Aussehen verschaffte wie damals in seinem Urlaub. Die Frau hatte nichts davon abbekommen, soweit reichte die Fontäne nicht. Sie rollerte schon weiter und bemerkte seine Dreckdusche nicht einmal.

Seine erste Idee, nach Hause zu gehen und sich umzuziehen, verwarf er kurzerhand. Sollten die anderen doch von seinem Malheur erfahren, er war stolz darauf. Die Hose käme am Abend so oder so in die Wäsche.

Zudem lenkte ihn dieser Vorfall von seiner inneren Wut ab, er kochte wieder einmal. Sein Job als Lärmschutzbeauftragter in einer Firma, die seinem Willen aus Kostengründen fast nie nachgab, kostete ihn momentan sämtliche Kraft. Trotz zahlreicher guter Argumente und viel Überzeugungswillens sah er kaum noch Chancen wirklich etwas Nutzbringendes auf den Weg zu bringen. Er wollte etwas bewegen und verbessern, jedoch ein realistisches Ziel gab es für ihn in der Firma weniger denn je. Die Fokussierung auf todgeweihte Projekte brachte ihm nichts mehr und zu allem Überfluss war er zur Zeit ohne Partnerin, ihm fehlte eine Frau die Ausgleich schuf. Dennoch störte ihn das gerade in diesem Moment wenig. Die, so war schon immer seine Überzeugung, würde sich im Leben finden ohne dass er sie suchen musste.

So ging er in sein Lieblingsbistro um die Ecke, fragte nach einer Plastiktüte zum Unterlegen, einem Kaffee und der immer für die Gäste ausliegenden Tageszeitung.

5 - Die Helferin

Karen war unbeschwert wie schon lange nicht mehr, sie hatte nach einem Studium der Musik gerade ein weiteres in Angewandten Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen. Aus Faszination der Musik gegenüber hatte sie diese als erstes Studienfach ausgewählt, aber deutlich die Härte der Auswahl von Berufsmusikern und die Anforderungen in der Arbeitswelt an sie unterschätzt.

Sie plante nach ihren Einkäufen Bewerbungen an einige Firmen in der Musikbranche zu schreiben, wobei sie sich durch ihr Zweitstudium jetzt deutlich bessere Chancen ausrechnete. Sofern sich nur ein Schimmer einer Chance ergab, würde sie ihren neuen Job mit der Musik verknüpfen. Mit neuen Aufgaben vor Augen hatte sie gute Laune, summte vor sich hin und schaute sich um, wo sie etwas essen und trinken könnte. Leider war sie fast pleite und das Bistro gegenüber gehörte sicher nicht zu den ganz billigen.


"Guten Tag, hätten sie einen Moment Zeit?"


Im ersten Moment fühlte sie sich genervt, weil sie gerade so gar nicht auf eine Anmache vorbereitet war und das schien ihr eine zu werden. Davon abgesehen schätzte sie ihn auf gute fünfzig Jahre was ihr sowieso viel zu alt war. Allerdings sah er gepflegt aus und die Anmache war nicht eindeutig genug, um einen Korb zuzulassen ohne das Risiko einzugehen, dass er vielleicht etwas ganz anderes wollte.


"Ich würde Ihnen gerne einen Vorschlag unterbreiten."


Irgendwie hatte er sie überrumpelt, wie ihr Ex-Freund auch, mit dem sie jetzt schon seit Monaten nicht mehr zusammen war. Als der sie angesprochen hatte war sie nicht schnell genug gewesen, um sich zur Wehr zu setzten und er hatte sie eingewickelt. Das, so nahm sie sich vor, würde ihr heute nicht passieren.


"Danke, nein."


"Nein? Sind sie denn gar nicht neugierig darauf was der Vorschlag beinhalten könnte?"


Da er nachhakte ging ihre gute Laune rapide den Bach hinunter und so platzte sie mit der patzigen Bemerkung heraus


"Nein, ich habe keine Lust auf eine Fotosession, die sich hinterher als Pornofilm entpuppt!"


Das Schmunzeln des Mannes war schlichtweg entwaffnend.


"Und wenn es ein neuer Job in der Musikbranche wäre?"


Jetzt war sie völlig perplex, darauf war sie nun gar nicht gefasst. Woher konnte er wissen, dass sie Musik studiert hatte oder in dem Bereich einen Job suchte? Nein, das war unmöglich, es sei denn er hatte sie irgendwann einmal an der Uni oder bei einem ihrer Studienkonzerte gesehen. Wahrscheinlich also nur ein Zufall.

Aber was, wenn er tatsächlich etwas Interessantes anzubieten hätte?


"In der Musikbranche? Woher wollen sie wissen, ob ich etwas von Musik verstehe? Worum ginge es denn und warum gerade ich?"


"Nun, das ist kompliziert und die Details sind es noch mehr. Was halten sie davon, dass ich ihnen das bei einem Kaffee und einem Happen zu Essen genauer erkläre? Wir könnten dort in das Bistro gehen, selbstverständlich auf meine Rechnung."


Jetzt hatte er sie am Schlafittchen, denn sie war neugierig, aber so was von! Und sie hatte Hunger. Würde er ihr am Ende doch eine Fotosession vorschlagen? Sie war selbstbewusst, aber für so etwas hielt sich nicht für attraktiv genug. Allerdings wurde beim Film so mancher Star und manches Sternchen mit Schminke zu jemand völlig anderem. Ganz zu Schweigen davon, dass sie so etwas sowieso nicht mitmachen würde.

Sie überlegte einen Moment und sagte sich, dass sie nichts zu verlieren hätte. Außerdem war das Bistro so gut besetzt, dass es voll zu sein schien und sie vielleicht gar keinen Platz finden würden. Aber das Wetter war gut und zu versuchen sich ein Essen und Kaffee spendieren zu lassen konnte ihr bei ihrer knappen Kasse nur Recht sein.


Auf dem Weg dorthin stellte sich der Fragesteller als Konstantin vor. Trotz ihrer Neugierde auf sein Angebot fand sie seine Pleite unglaublich witzig als er feststellte, dass kein Tisch mehr frei war. Aber die Überraschungen nahmen kein Ende. Damit, dass er einen völlig verdreckten Mann ansprach, der alleine an einem Vierertisch saß, rechnete sie nicht.


"Entschuldigung, ist hier noch Platz?"


Der Angesprochene namens Simon freute sich über Gesellschaft. Wie sich im Nachhinein herausstellte, war die Hose perfekt, um ein nettes Gespräch zu beginnen.

6 - Der Start des Ganzen

Konstantin hielt nichts von Lügen, zumindest dann, wenn sie in irgendeiner Form vermeidbar waren. Er fragte sowohl Karen als auch Simon rundheraus, ob sie auf der Suche nach einem Job wären. Die Direktheit seiner Anfrage sicherte ihm alle Aufmerksamkeit. Sie rückten schnell zusammen als er die Grundzüge seiner Pläne erläuterte.


Er ließ den beiden nur wenig Chance seinem Überzeugungswillen zu entkommen, selbst, wenn sie gewollt hätten. Durch ihren geheimen Wunsch etwas zu verändern hatte er sie fest an der Angel.


Er lud Simon und sich zu Karen ein, um den beiden zu demonstrieren womit sie beginnen würden. Er spielte nur kleine Passagen und lediglich die Klavierstimme auf dem Instrument von Karens Vater, weil er selbst keines hatte. Es war das erste Mal in seinem jetzigen Leben, dass er Klavier spielte, wobei allerdings seine Erinnerungen von früher absolut klar und deutlich waren. Dennoch waren seine Finger die Bewegungen weniger gewohnt als erwartet und nur sehr schwer dazu zu bewegen die Noten umzusetzen. Es schmerzte ihn, die Töne aus "Enndlins Leben" nur mangelhaft zu hören.


Dennoch waren Simon, Karen und ihr Vater, der als Gast dem Spiel beiwohnte, still geworden. Sie sagten lange nichts, zu beeindruckt waren sie schon durch das Wenige was sie gehört hatten.


Dann begann er Simon zu beauftragen, Anträge für eine Stiftungsgründung zusammenzustellen und Karen sollte fähige Musiker für die Umsetzung von Enndlins Life anwerben.


Konstantins Ersparnisse waren begrenzt, aber einen Monat konnte er die beiden bezahlen und eventuell anfallende Gebühren würde er auch noch zusammenbekommen.


Schlimmstenfalls würde er einen Streifzug durch einige Spielhöllen, Kasinos oder die Pferderennbahn machen, um dieses Problem zu beseitigen. Er konnte dieses "Geld verdienen" leicht auf viele verschiedene Orte verteilen um einerseits nicht aufzufallen und andererseits niemanden zu sehr zu schädigen. So war er sich sicher, das Startkapital sowie die Gehälter für Karen, Simon und sich selbst einige Zeit finanzieren zu können.

7 - Karen

Sie wusste zu kämpfen, das hatte sie in ihren Studien gelernt. Sie hatte auch gelernt zu verlieren und ihre Grenzen zu erkennen, als sie nach ihrem Musikstudium versucht hatte einen Fuß auf die Erde zu bekommen. Die Konkurrenz war in diesem Gebiet so stark, dass sie kaum eine Chance hatte. Deshalb gab sie Unterricht in Oboe und Klarinette was ihr zwar Spaß machte, aber keine Erfüllung verschaffte. Das zweite Studium war weniger spannend, dafür jedoch so neu für sie, dass sie es nie bereut hatte, sich von ihrem eigentlichen Steckenpferd abzuwenden. Die letzte Diplomprüfung hatte sie vor einer Woche abgeschlossen, die Arbeit hatte sie gerade in der Verwaltung abgegeben. Jetzt hatte sie eigentlich vor gehabt, sich eine kleine Pause zur Orientierung zu gönnen und sich in Ruhe umzusehen, wo es Möglichkeiten gäbe, sich einzubringen und ein Auskommen zu finden.


Diese Pause schien zu enden bevor sie begonnen hatte, dafür hatte Konstantin gesorgt. Ein seltsamer Mensch war das. Niemand in den sie sich verlieben konnte, und als er sie mitten auf der Straße ansprach und fragte ob sie an Großem mitwirken wolle, hielt sie ihn zunächst für zu verrückt um darauf einzugehen. Es war eher eine Verwegenheit, die sie erfüllte und reizte, mehr zu erfahren und herauszufinden, was sich hinter seiner Frage wirklich verbarg. Er forderte nichts was sie als Gefahr oder Bedrohung empfand und neben den Einkäufen, die sie normalerweise liebte, hatte sie nur wenig anderes zu erledigen gehabt und dass sie das an dem Samstag nicht mehr schaffte, war unwichtig, sie hatte eh kaum noch Geld gehabt.

Konstantin war Übersetzer für Benutzungshandbücher, ein Mensch der Pläne hatte und sie überredet hatte bei diesen mitzuhelfen. Das Gespräch mit ihm hatte sie auf eine Weise in seinen Bann geschlagen, der sie sich nicht entziehen konnte. Sie fühlte sich ihm auf angenehme Weise ausgeliefert. Obwohl er zunächst mit keinem Wort erwähnte hatte was er wirklich plante, flößte es ihr schon nach wenigen Sätzen Angst ein, möglicherweise etwas von dem zu verpassen was er vor hatte. Sie war trotz einfacher Worte von seinen Vorschlägen gebannt und würde sich auf nichts anderes mehr konzentrieren können bis sie genau wusste was unter seiner Fuchtel ablaufen würde. So hatte sie sich entschlossen, etwas zu riskieren und ihre anderen Pläne vorerst auf Eis zu legen.


Als er sie und Simon kurze Zeit später nach der Unterschrift des Vertrages bat, das Klavier ihres Vaters spielen zu dürfen und im Anschluss erste Pläne zu besprechen, war sie zum Zerreißen gespannt.


Und dann diese Musik, diese erbarmungslos emotionale und aufregende Musik, so wie sie zuvor noch nie welche gehört hatte. Der Ausdruck, das Erleben, das Aufbrausen, die ruhigen Phasen mit Erholungen und das dramatische, schmerzvolle Ende, das Trauer und Entsetzen vermittelte. Und doch die Hoffnung, die man danach mit sich nahm und wusste, dass es im Guten weiter ging. Alles was es ihr sagte, das Glück, der Schmerz, die Verzweiflung, die es auf sie übertrug, waren wie die letzte Umarmung eines geliebten Menschen, den man nie wieder sehen würde. Und schließlich, dass man nicht wahrhaben wollte, dass die Musik zu Ende war, das normale Leben aber weiter ging.


Konstantin sagte, dieses Stück sei ein sehr kleines Fragment der zu veröffentlichenden Sätze und nur der Anfang ihrer Projekte. Es würde unter anderem dazu dienen für Folgeprojekte das Kapital zu beschaffen, um damit dann einige große Dinge in Bewegung zu setzten. Ebenso wären eine Anzahl an Bedingungen an die Veröffentlichung geknüpft, die zu erfüllen wären.

Es versetzte Karen in Erstaunen, dass die großen Projekte erst durch das Stück möglich werden sollten, denn sie hielt das Stück selbst schon für ein solches. Als Musikerin hatte sie die Fähigkeit die wenigen gehörten Fragmente von Enndlins Life, so nannte sich das Stück, schnell aufzunehmen. Sie hatten sich in ihren Kopf gebrannt und sie würde bis zur Erschöpfung arbeiten um dafür zu sorgen, dass es die beste Umsetzung erfuhr, die Musiker nur leisten konnten.


Hier war sie jedenfalls richtig, das spürte sie. Und sie war gespannt auf das, was für Konstantin "groß" bedeuten würde, wenn nicht dieses Stück.

Erstaunlich war, dass es, wie manche Bücher auch, unter einem Pseudonym geschrieben worden war. Ihre erste Vermutung, dass Konstantin der Autor wäre, hatte sie verworfen als sie sein mäßiges Klavierspiel hörte und er zudem verneinte, der Komponist zu sein.

Momentan schien der Urheber also unerkannt bleiben zu wollen.

8 - Simon

Nach dem Kaffee und dem Lesen der Tageszeitung in seinem Lieblingsbistro vor einigen Tagen war alles anders geworden. Die Jobanzeigen in der Zeitung hatten nichts enthalten was ihn direkt ansprach, aber wenn er es darauf angelegte hätte, wäre eine der vielen Stellenangebote darin sicher für ihn in Frage gekommen. Aber das hatte sich von selbst erledigt.


Dieser Mann, Konstantin Pohlmann, der mit Karen Meier zusammen neben ihm im Bistro aufkreuzte und nach dem freien Tischplatz fragte, riss ihn komplett aus seinem bisherigen Leben. Es war plötzlich alles so klar und es gab so gar keine Möglichkeit sich seinen Vorschlägen zu entziehen. So sehr, dass es ihn erschreckt hätte, wenn er nicht schon jetzt seinen Arbeitsvertrag als dessen zukünftiger Assistent in der Tasche hätte. Am Montag würde er der Firma kündigen, die ihn so ohne Sinn und Verstand ausbremste. Was Konstantins Pläne auch immer wären, sie würden sinnvoller sein als seine bisherige Arbeit als Lärmschutzbeauftragter.


Und dann die Wucht des Stückes, sie ließ ihn immer noch schaudern. Das Klavierspiel begann zwar grottenschlecht und wurde während des Vorspielens nur wenig besser, aber darum ging es nicht. In den kleinen Spielpausen erwähnt Konstantin, dass er schon sehr lange nicht mehr gespielt hätte. Wenn Simon darüber nachdachte, dass sie nur dieses miese Geklimpere auf dem Klavier gehört hatten und abschätzte was es noch an Potential zur Verbesserung gab, dann glaubte er schon jetzt, dass es ein Werk der Superlative werden würde, nein, er war sich dessen sicher, weil alles daran neu war. Noch nie war er durch Musik so berührt und emotional aufgewühlt worden, sogar schon ohne den Text und ohne die vollständige Besetzung. Es würde die Musik revolutionieren.


Er würde noch einmal genauer bohren müssen woher dieses Werk kam, denn Konstantin schien nicht im Stande zu sein, so etwas zu erschaffen. Ein Übersetzer von Benutzungshandbüchern mit einer musikalischen Vorbildung, die angeblich nur aus etwas Musikunterricht in der Kindheit bestand, konnte niemals so etwas zaubern. Und er schien nicht im geringsten damit herausrücken zu wollen wer der Schöpfer war, der sich hinter dem Pseudonym Opus Eximum versteckte.

9 - Konstantin

Nach dem radebrechenden Spiel von Enndlins Life sagte niemand etwas, bis er begann, die Aufgaben zu verteilen. Beide folgten widerspruchslos und ohne Fragen; sollte es vorher noch Bedenken gegeben haben hatte er sie spätestens jetzt beseitigt.


Neben der Gründung einer Firma für Übergangsarbeiten waren Karen und Simon, seine beiden guten Seelen, wie er sie insgeheim schon bald nannte, kurz darauf auf der Suche nach fähigen Musikern, die die Kapazität hatten, das Stück kraftvoll umzusetzen, und nach einer kleinen Plattenfirma, die es Schritt für Schritt veröffentlichen sollte.


Von Anfang an hatte er Enndlins Life als etwas dargestellt, was er im Auftrag weiter gab, und selbst Karen und Simon erfuhren nicht, dass es aus seiner eigenen Feder stammte. Das würde sowieso weder seinem Bekanntenkreis noch den beiden plausibel erscheinen, da seine Geschichte und Ausbildung niemanden glauben lies, dass er zu so etwas fähig sein könnte.


Dennoch würde es schwierig werden, die Quelle von Enndlins Life geheim zu halten. Es war seinen Plänen nicht zuträglich im Rampenlicht zu stehen oder von Paparazzi gejagt zu werden, denn langfristig wollte er aus dem Geheimen heraus Weichen Stellen, die einiges in der Welt veränderten, ohne allerdings, dass sein Einfluss sichtbar wurde. Auf der einen Seite benötigte er ein gewisses Grundkapital mit dem er alles in Gang setzten konnte. Und mit einem Paukenschlag aufzutreten war gänzlich ungeeignet, da er so viele Menschen neugierig machte. Das Stück war eine Nummer zu groß wie er inzwischen anhand von Karens und Simons Reaktionen merkte. Sie bezeichneten es als bahnbrechendes Werk und ließen keinen Zweifel daran, dass sie das wirklich so meinten. Jetzt einen Rückzieher zu machen würde ebenfalls nur Fragen aufwerfen, die er kaum beantworten würde können. Oder vielleicht doch? Bisher wussten nur die beiden und Karens Vater, dass er der Überbringer des Stückes war, aber nicht woher er es hatte oder gar, dass er es selbst komponiert haben könnte. Er würde die beiden alles damit zusammen hängende erledigen lassen und seinem Wunsch Nachdruck verleihen, nicht mit Enndlins Life in Verbindung gebracht zu werden. Auch Karen und die Musiker sollten zunächst unbekannt bleiben, um in Ruhe die Vertonung vornehmen zu können.


Sicher, zunächst einmal schien ihn die Musikidee von seinem Weg abzubringen, die Welt zu verändern aber er erlaubte sich diesen Exkurs, weil er viele Möglichkeiten bot. Zum Ersten würde es eine nahezu unerschöpfliche Geldquelle für seine Pläne sein. Und die mit den einzelnen Sätzen des Werkes gekoppelten Abschnitte der Stiftungssatzung erlaubten ihm viele Möglichkeiten der Steuerung des Geldflusses, ohne dass es direkt auf ihn zurückfallen würde. Schlimmstenfalls konnte er etwas über Karen, die Musiker oder die Stiftung durchsickern lassen, um von seinen anderen Aktivitäten abzulenken. So hätte er dann genug Zeit um andere Wege zu suchen mit denen er seine Strategie umsetzen konnte.


10 - Das Ensemble

Nachdem Konstantin ihr Enndlins Life mit allen Stimmen zur Verfügung gestellt hatte war sie zunächst erschreckt. Sie hatte neben ihren Instrumenten auch ein gesundes Maß an Komposition und Dirigieren studiert, aber das hier würde harte Arbeit werden. Sie plante einige Reisen auf denen sie Studenten für das Ensemble suchen wollte. Parallel dazu würde sie deshalb noch viel zu tun haben. Sie arbeitete sich Takt für Takt voran und spielte alle Instrumente durch, um sich die melodischen Zusammenhänge zu verdeutlichen.


Dabei passierte etwas, was sie nicht erwartet hatte. Ständig musste sie das Spiel absetzen und sich immer wieder erholen, weil es sie innerlich ohne Ende aufwühlte, diese Klänge zu hören. An das normale Abspielen der Noten war nicht zu denken, man konnte sie nicht einfach hören und dann zu etwas anderem übergehen, sondern musste Klang um Klang, Takt um Takt verarbeiten, viel heftiger als einen intensiv gespielten Film.


Eine kleine Plattenfirma namens "Music Science" ganz in der Nähe machte einen guten Eindruck und sie und Konstantin hatten eine kleine Passage geprobt und dort vorgespielt. Danach konnte sie gar nicht glauben wie leicht es gewesen war diese Firma an Bord zu holen. Das kleine Zusammenspiel von ihr und Konstantin war technisch furchtbar unprofessionell und unausgereift gewesen und hatte ihr zunächst beträchtliche Sorgen bereitet. Sie fürchtete anfangs, dass Music Science nicht darauf eingehen würde, und womöglich auch nicht auf ihre weiteren Forderungen nach der Suche und Bezahlung eines eigenen Ensembles sowie der Geheimhaltung der Quelle des Stückes.


Aber so klein die Plattenfirma auch war, so wenig war sie dumm. Sie erkannte sofort das Potential, sagte nahezu allen Bedingungen zu und erklärte sich bereit die Musiker zu finanzieren, Probenräume zur Verfügung zu stellen und zu gegebener Zeit die Aufnahmen zu machen. Die Stiftungssatzung des Werkes erforderte die Berücksichtigung vieler Kleinigkeiten und ließ Music Science weniger als die üblichen Gewinnmargen, aber nichts davon stellte sich als Hürde heraus. Das Wenige wobei die Firma ein Veto einlegte, war gut begründet und konnte schnell bereinigt werden. Sie lenkte vermutlich deshalb so schnell ein, weil es klar war, dass es um viel Geld gehen würde, um sehr viel. Der einzige verbleibende Schmerzpunkt, dass nur etwas veröffentlicht werden sollte dessen Urheber bekannt war, konnte letztlich durch eine Klausel im Vertrag beseitigt werden, die Konstantin, Simon und Karen haften lassen würde, sollte der unbekannte Urheber plötzlich seine Rechte einklagen.

Es war nicht das erste Mal, dass Karen auffiel, dass immer wenn Konstantin persönlich aktiv wurde, alle Schwierigkeiten wie von Zauberhand verschwanden.


Ärgerlicherweise waren ihr die Kontakte zum Studiengang Musik ihrer alten Uni kaum noch von Nutzen. Zwei ihrer Professoren waren seit drei Jahren emeritiert, so dass sie über die derzeitig fähigsten Studenten kaum noch Überblick hatten und die aktuellen Koryphäen schienen sie nicht wirklich ernst zu nehmen. Sie befürchteten entweder, dass gute Studenten durch jemanden gebunden werden könnten, der von sich selbst zu überzeugt war und außer Geld nichts Brauchbares zu bieten hatte, oder sie wollten sich selbst die Studenten für anderes vorbehalten. Es war erst wieder die Rückfrage bei Konstantin, die Fortschritt brachte. Er überredete Music Science kurzerhand zum Ausloben attraktiver Förderungen für Musikstudiengänge sofern sich dort fähige Studenten fanden, die vorgeschlagene Stücke hochqualitativ ausspielen konnten. Selbst hochrangige Professoren wurden bei solchen Geldern schnell weich wie Karen schmunzelnd aus ihrer Erinnerung an ihr eigenes Studium wusste.


Enndlins Life war nicht nur melodisch oder durch seinen Text ein ungewöhnliches Werk sondern auch durch die Zusammensetzung seiner Stimmen. Während so manches Lied gewisse Instrumente zur Begleitung verdammte oder nur in wenigen Abschnitten zur Geltung kommen ließ, war das hier anders. Viele andere Stücke hatten auch wunderschöne melodische Grundzüge, nur verdarb die Masse an zusammengepackten oder zu lauten Instrumenten oft Harmonien und somit das Feine und Schöne. Mehr war nun einmal nicht das Gleiche wie besser.

Nicht jedoch hier. Jede Stimme konnte nahezu vollständig für sich gespielt werden ohne dabei an Geltung zu verlieren. Die Stimmen aus Enndlins Life konnten solo ebenso gut gespielt werden wie auch durch ein ganzes Orchester. Wie diese Abstimmung so starker Einzelstimmen miteinander funktionierte und dass sie sich trotz ihrer jeweils eigenen Mächtigkeit ergänzten und nicht übertönten oder gar ausspielten, war für Karen ein Rätsel.


Sie musste dieses Rätsel nicht lösen, selbst wenn es sie wurmte dass sie trotz ihres Musikstudiums und ihrer eigenen Talente anerkennen musste, dass Enndlins Life einer Kategorie entstammte, die Welten von ihren eigenen Fähigkeiten entfernt war.


Dennoch, der Gedanke, dieses Stück als erster Mensch direkt nach der Komposition in den Händen zu halten und umzusetzen ließ sie die Aufregung im Bauch bei jeder Seite erneut spüren. Welcher Schatz würde sie in den nächsten Noten, im nächsten Takt erwarten und wie war er möglichst eingängig auszuspielen?

Das Ziehen im Bauch, diese Aufregung, blieb das ganze Stück durch bestehen. Wer kannte nicht dieses Gefühl der Anspannung und das Bedürfnis deshalb auf Toilette laufen zu müssen? Wie das Abenteuer, auf einem Dachboden zu stehen und längst vergessene Dinge zu finden, wo in jeder Tüte, in jedem Karton, in jeder Truhe ein altes Geheimnis warten konnte? Jede einzelne Note war wie ein Schatz, wie ein Geheimnis das es zu ergründen gab. Wie ein Brief aus vergangenen Generationen oder von Urgroßeltern, der geschrieben wurde, als man selbst noch lange nicht auf der Welt war.

11 - Ein Vorspielen

Professor Danken war immer wieder für eine Überraschung gut. Diese verbarg sich heute in einer Bemerkung, die er am Ende der Harmonielehre-Vorlesung fallen ließ.

"Laura und Oliver, kommt doch bitte gleich einmal bei mir vorbei!"

Laura zuckte zusammen. Mitten aus der Masse herausgerufen zu werden hatte sie in dem Moment nicht auf dem Plan genauso wenig wie sie eine Idee hatte was er wollte.


"Und für alle anderen: Das Ende des Semesters steht bevor und ich weiß, dass viele Prüfungen haben. Für die wenigen von Euch die die Ruhe haben, um in den Semesterferien etwas anderes auszuprobieren, habe ich einen Tipp. Heute am frühen Nachmittag um 14:30 Uhr gibt's einen kleinen Test für einen eventuellen Ferienjob. Wer sich also vorstellen kann, die kommenden Monate voll 'reinzuhauen und vor lauter Arbeit zu nichts anderem mehr zu kommen, der oder die kann sich in Raum 14b melden. Vorzugsweise nur Bewerber mit einem bisherigen Notenschnitt besser als 1,5!"


Laura vermutete, dass sie wohl eine der ganz wenigen war, für die dieses Angebot überhaupt in Frage käme, denn die meisten ihrer Kommilitonen brachen derzeit unter Stress fast zusammen, weil sie wegen der Prüfungen in Theoretischer Harmonik ohne Ende büffeln mussten. Hier war es das Fach in dem am stärksten gesiebt wurde, es war der Killer in diesem Studiengang. Daher erwartete sie nur wenige Meldungen in 14b.

Vorausschauenderweise hatte sie diese Klausuren schon vorletztes Semester durchgezogen und war bei dem Monate langen Büffeln fast vor die Hunde gegangen. Sie hatte sich völlig übernommen und anschließend ein gutes halbes Jahr gebraucht um sich davon wieder zu erholen. Es gab nur zwei Versuche und fast alle fielen im ersten durch. Sie fuhr jetzt ihren Lohn ein, weil sie die große Hürde schon hinter sich gelassen hatte. Sie konnte die Semesterferien ruhig angehen und brauchte möglicherweise nicht einmal arbeiten, weil sie finanziell gerade ganz gut da stand. Deshalb war sie sich noch nicht sicher, ob sie sich melden würde, denn sie sehnte sich eher nach etwas Erholung.


Als sie und Oliver bei Professor Danken ankamen, erklärte er ihnen dann schnell worum es ging.


"Schön, dass Ihr da seid. Ich will nur sicher stellen, dass Ihr Euch dort um 13:30 Uhr einfindet, das ist der Termin an dem ich ein paar meiner Favoriten schicken möchte. Ich denke, Ihr habt dann eine gute Chance Euch dort einen Job zu angeln, also lasst Euch das nicht entgehen, egal, ob Ihr gerade Stress habt oder nicht, verstanden? Es kann sein, dass Ihr solch eine Möglichkeit so schnell nicht wieder bekommt."


Oliver fragte: "Worum geht es denn, was passiert denn da so Besonderes?"


Professor Danken sinnierte einen Moment, legte den Kopf schief und schaute die beiden mit zusammen gekniffenen Augen an.


"Das werdet Ihr dann schon merken, also geht dort hin, klar?"


Laura und Oliver nickten gehorsam und waren dann entlassen.


"Wow, das klingt ja spannend, weißt Du worum es geht?" fragte Oliver Laura.


"Nein, keine Ahnung, klingt etwas mysteriös."


Neben Oliver war sie tatsächlich die einzige, die sich überhaupt für den Test meldete und kam direkt nach ihm an die Reihe. Sie kannte ihn oberflächlich und malte sich gegen ihn nur wenig Chancen aus, weil er ziemlich gut zu sein schien. "Aber sei's drum", sagte sie sich, sie hatte nichts zu verlieren und gönnte ihm den Job. Als er jedoch blass um die Nase aus 14b herauskam und mit den Worten "Viel Spaß bei der Prüfung" an ihr vorbei ging und sich ein paar Meter weiter setzte, wurde ihr etwas flau im Magen. Eine Prüfung hatte sie nicht erwartet. Und sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihn nichts so schnell aus der Fassung brachte und er fähig genug für fast jede Herausforderung war. War die Prüfung so schlimm oder hatte er einen schlechten Tag gehabt?


Als sie eintrat wunderte sie sich erneut. Nach der Ankündigung ihres Professors hatte sie diesen dort erwartet, aber sie fand nur eine dunkelhaarige Frau vor, die auf einen kleinen Berg Noten starrte. Ihr Kopf ruckte erst hoch als Laura Hallo sagte.

"Ach, schön, dass Sie hier sind!" sagte sie mit einem plötzlich strahlenden Lachen im Gesicht. "Ich hatte schon befürchtet, es gäbe nur einen Bewerber. Ich bin übrigens Karen Meier."

Laura stellte sich vor und fragte, um was für einen Job es sich handele, es war ihr ja noch nicht einmal klar, ob es überhaupt um Musizieren ginge. Es gab immer wieder Angebote die lediglich das Korrigieren von Klausuren unterer Semester oder dem Recherchieren irgendwelcher Informationen zum Inhalt hatten.


"Wir wollen besondere Musik machen. Und welches Instrument spielen Sie?" fragte Meier.


"Harfe im Hauptfach. Und seit ich etwa fünf bin. Als Zweitinstrument Klavier."


"Sehr schön, Harfe und Klavier brauchen wir noch! Sie können von Glück reden, dass es nicht Violine ist, denn die Position hätte Ihnen sonst möglicherweise Herr Berger vor der Nase weggeschnappt."


"Ach wirklich? Als er mir eben entgegen kam sah er nicht so aus als ob er mit dem Prüfungsverlauf so glücklich gewesen wäre."


Meier lachte auf. "Ja, dass kann ich mir denken, aber Prüfung trifft es nicht so ganz. Und glauben Sie mir, das hat nichts zu sagen.

Hmm, Harfe, Harfe, Harfe, hier ist es! Schauen Sie sich doch bitte das hier an und spielen mir nebenan in 14c dann in etwa 10 Minuten vor. Ist das in Ordnung?"


"Ja, natürlich!" sagte Laura. Karen drückte ihr die Noten in die Hand und verschwand mit der Frage, ob sie auch einen Kaffee trinken wolle. Ob sie das "Ja, gerne!" noch mit bekam wagte Laura jedoch zu bezweifeln.


Auf dem Instrument im Nachbarraum hatte sie schon oft gespielt, es war zwar nicht hochklassig, tat aber sein Werk. Sie kannte es jedenfalls gut und verbuchte das erst einmal als kleinen Pluspunkt. Vielleicht würde sie einige Monate lang endlich einmal mit dem Musizieren Geld verdienen können.


Wie üblich bei neuen Stücken begann sie das Blatt ohne vorheriges Durchlesen abzuspielen. Beim zweiten Mal wusste sie dann normalerweise schon wie alles zu akzentuieren und zu interpretieren war. Durch Jahrzehnte langes Training machte sie das inzwischen wie im Schlaf. Doch nach wenigen Takten flog sie komplett aus der Kurve, diese Klänge, dieser Rhythmus, was war das? Es war als zöge es ihr den Magen hoch, sie wollte während des Greifens der Saiten aufstehen und tanzen, eine Pirouette drehen, eine Gänsehaut rieselte ihr den Rücken herunter, so sehr, dass sie schon in der zweiten Zeile aus dem Konzept war. Wie sollte das gleich gehen, wenn das so weiter ginge? Noch nie hatte ein Stück sie so durcheinander gebracht. Gewappnet durch die erste Erfahrung begann sie von Neuem, spielte gegen ihren Körper an, der sich fast selbstständig machte um mit der Musik zu schwingen, musste die Beine zwingen nicht aufzustehen, die Stimmbänder bremsen nicht mit zu summen und verdrängte Erinnerungen, die sie durchfluteten, wenn die Noten zu Klang wurden.


Mit Schreck fuhr sie herum als jemand sie an der Schulter berührte, fast verschüttete sie den Kaffee der ihr von Karen Meier vor die Nase gehalten wurde und als sie diese dabei anstieß.

"Sachte, sachte, der ist heiß..! Hier Ihr Kaffee."


Und noch immer pulsierten die gerade gespielten Passagen in ihrem Körper, diese Musik, von der sie wusste, dass sie sie ihr Leben lang nicht vergessen würde.


"Na dann spielen Sie mal vor!"


Heiße Wellen des Schrecks durchfuhren Lauras Körper, denn sie war nicht weit genug für ein Vorspielen, wie sollte das so schnell gehen? Sie hatte bisher nur ein paar Takte durchgespielt und das mit Problemen, die sie bei solch einfachen Noten schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt hatte. Sie nahm sich noch einen Moment, sammelte sich, trank einen Schluck Kaffee so heiß, dass sie sich fast die Zunge verbrannte und dann musste sie wohl oder übel beginnen.


Die zuvor etwas geübten Abschnitte gelangen ihr noch ganz gut, danach brach die Musik über sie herein und die Emotionen aus ihr hervor.


Als sie mit Tränen in den Augen den Raum verließ, wusste sie nicht einmal mehr genau, ob sie überhaupt etwas Vernünftiges auf die Reihe gebracht hatte. Es kam ihr vor als hätte sie in Trance irgendetwas anderes gespielt. Sie fühlte dass gerade die Chance ihres Lebens an ihr vorbei gestrichen war ohne, dass sie sie hätte ergreifen können.


Was war das nur für ein Stück? Jetzt erinnerte sie sich, etliche Male hatte sie abbrechen müssen, an ein kontinuierliches Durchspielen der zunächst so leicht erscheinenden Noten war nicht zu denken gewesen. Seit Jahren war sie nicht mehr so aus dem Konzept geraten. Karen Meier würde sie für eine Anfängerin halten.

Und dass es Oliver womöglich ähnlich gegangen war tröstete sie dabei nicht.


Der wartete auf sie vor dem Raum und er als ihre Tränen sah, war alles klar. In einem Anflug von Trost nahmen sich beide kurz in die Arme.


"Ich hab's vergeigt" sagte sie als zweideutige Anspielung.


"Ich auch" erwiderte er. "Laura, glaub mir, es rumort immer noch in mir, ich habe keine Ahnung wie ich die paar Noten so komplett verhauen konnte. So schlecht habe ich seit bestimmt einem Jahrzehnt nicht mehr gespielt. Es ist zum Heulen!"

Ja, ihm war wirklich zum Heulen zu Mute. Dennoch durchfuhren ihn als Kontrast dazu noch immer Wogen der Wonne, wenn er an das zarte Rauschen des Pianissimos gefolgt von den Crescendi dachte, es war fast wie ein Orgasmus.

Und die Chance an dem Stück mit zu arbeiten hatten beide jetzt offensichtlich verpasst. Er gestand sich ein, dass er den Trost genauso brauchte wie Laura.


Hinter ihr sah er die Tür zum Probenraum sich ein weiteres Mal öffnen und Karen Meier an sie heran treten. Laura drehte sich um und sah wie Oliver auch auf Meiers Gesicht ein breites Grinsen. Sie schien ihren Spaß an dem Debakel der beiden gehabt zu haben.


"Das Stück ist harter Tobak, was? Ich erzähle lieber nicht wie es mir ergangen ist als ich das erste Mal versucht habe "Enndlins Life" zu spielen! Nach meiner Erfahrung werden Sie, ach was, ich sage einfach mal "Ihr", werdet Ihr Euch erst nach zehn oder 15 Anläufen langsam auf das saubere Spielen konzentrieren können. Vorher hat man keine Chance, ich habe es jedenfalls nicht schneller geschafft. Deshalb lasst Euch von der Tatsache nicht entmutigen, dass Ihr jetzt sicher meint, eben kaum etwas zu Stande gebracht zu haben. Das stimmt nämlich nicht. Für das erste Spielen habt Ihr Euch besser geschlagen als fast alle Kandidaten von anderen Unis vor Euch. Anders gesagt: Ihr habt jetzt noch zwei Tage zum Packen, am Samstag solltet ihr bei der Firma Music Science nahe Hamburg aufschlagen und Sonntag geht es mit den Vorbesprechungen los. Danach könnt Ihr Euch darauf verlassen, dass Ihr zwei Monate richtig zu tun habt und dabei gut Geld verdient. Und eines könnte Ihr mir glauben: Das was Ihr bisher vom Stück zu sehen bekommen habt war keine spezielle Auswahl sondern das gesamte Stück ist so - von Anfang bis Ende."


Sie drückte ihnen zwei Umschläge in die Hand. "Ruft durch falls ihr nicht dabei sein wollt, die Nummer ist da drin, und natürlich alles andere was ihr sonst noch wissen müsst. Bis dann bei Music Science!"


Und damit verschwand sie.


Die beiden blieben perplex zurück. Sie waren dabei? Und das gesamte Stück war so? So etwas konnte es doch nicht geben.


Und der Witz war gut, von wegen "Ruft an falls Ihr nicht dabei sein wollt". Kein Musiker der Welt wäre so dämlich ein solches Angebot abzulehnen. Beide schauten sich erleichtert an und sagten wie aus einem Munde: "Gehen wir was trinken, bevor wir packen?"

12 - Die Zusammenstellung

Karen ließ sie kleine Abschnitte von einzelnen Studierenden spielen oder auch zusammen in kleinen Ensembles. So konnte sie gut bewerten was die Fähigkeiten der einzelnen Personen und auch die der Ensembles waren. So reiste sie vier Wochen lang von einer Musikhochschule zur nächsten, um schließlich sieben Stimmen auszuwählen. Klavier, Schlagzeug, Violine, Gesang, Oboe, Cello und Harfe. Gitarre und E-Gitarre würden bestimmte Teile noch ergänzen.


Und ein wenig schadenfroh war sie ja schon, das war ihr bis dato gar nicht klar gewesen. Sie hatte es genossen zu sehen wie alle von dem Stück genauso überrumpelt wurden wie sie selbst anfangs. Selbst die besten, ja vielleicht sogar hauptsächlich die, scheiterten anfangs am schlimmsten, wahrscheinlich weil sie das Stück am schnellsten und intensivsten erfassten.


Die einzelnen Stimmen des ersten Satzes hatte sie inzwischen an Personen vergeben, die bis auf die Harfenstimme und die Violine noch nichts voneinander wussten, weil sie entweder von verschiedenen Hochschulen oder aus unterschiedlichen Studiengängen kamen. In späteren Sätzen würde neben einer Querflöte und Trompete auch noch ein Chor benötigt werden, aber das hatte noch Zeit, insbesondere, weil sie bisher sowieso nur die Noten des ersten Satzes von Konstantin bekommen hatte.


Der Vertrag zur Geheimhaltung der Urheber und des Ensembles stieß bei allen Beteiligten erstaunlicherweise auf Verständnis, als klar wurde, dass es die weiteren Sätze nur dann unter ihrer Teilnahme geben würde, wenn alle Klauseln erfüllt wurden und nicht durchsickerte wer das Stück spielte oder wer der Komponist war.

Alle hatten bedingungslos unterschrieben.


Sie ahnte, dass die erste Probe ein Chaos werden würde, wenn sie sich nicht perfekt vorbereitete. So nahm sie sich nur die ersten vierzig Takte der über achthundert vor. Music Science hatte ihr von normalen Studioaufzeichnungen erzählt, bei denen nur ein oder zwei Minuten Aufzeichnung schon viele Tage im Tonstudio bedeuten konnten. Die erste Minute musste also sitzen. Und das waren in diesem Fall genau vierzig Takte.


In drei Wochen würde es so weit sein. Dann würden sie alle zusammen beginnen für die ersten Aufnahmen. Als Musikerin hatte sie die Fähigkeit, die Noten des Stückes beim Lesen im Geiste zu hören, aber die Vielfalt des Zusammenspiels des ganzen Ensembles ahnte sie eher als dass sie es vollständig erfasste. Sie erwartete Gewaltiges.

13 - Oliver

Nachdem Karen ihn mitten aus seinem Studium her angeworben hatte, um bei dem Vertonen des Stückes Enndlins Life mit zu helfen war alles anders geworden. Der Komponist oder die Komponistin, das Pseudonym "Opus Eximum" ließ nicht auf das Geschlecht schließen, hatte eine dominante Art, seine Vorstellungen über die Wiedergabe durchzusetzen. Es gab kaum eine Note ohne akribische Anweisungen, wie sie zu spielen war, ob Pianissimo bis Fortissimo, die Strichart, mit Akzent, gebunden, mit welchem Finger und so weiter. Es nervte ihn, dass die Noten durch die Unmenge an Symbolen, Verzierungen und anderen Annotationen so schwer zu erfassen waren, zudem verkleinerte es den Spielraum für eigene Interpretationen auf ein Minimum. Gerade das war auf der Violine eine seiner Paradedisziplinen und entfiel somit fast vollständig. Die erste Seite, die Karen ihm beim Test gegeben hatte, war von der Komplexität also keineswegs repräsentativ gewesen. Dennoch hatte Karen mit einem Recht behalten. Emotional erschöpfte ihn das Üben des Stückes so sehr, dass er kaum eine Chance hatte irgendeine Passage aus dem Stegreif normal zu spielen. Wie beim Vorspielen auch konnte man die aufbrausenden Emotionen beim Spielen kaum im Zaum halten und erst nach vielen Wiederholungen alles im Detail umsetzen, weil alles an seinen Emotionen zerrte, er wollte diese Rhythmen ausleben wie ein mit XTC vollgedröhnter Tänzer in der Disco. Und bei so etwas spielte es sich nun einmal nicht vernünftig.


Schon seit dem ersten Vorspielen fühlte er sich dem Stück auf eine Weise verbunden, die er in seiner musikalischen Karriere immer gesucht und noch nie in diesem Maße gefunden hatte. Trotz seiner nun schon fast 25 Jahren Erfahrung mit verschiedenen Instrumenten und in den vergangen Jahren dem intensiven Studium der Violine, hätte er viele Passagen anders und mit weniger Verzierungen intoniert und wichtige Komponenten wären nicht auf die gewollte Weise zum Ausdruck gekommen. Diese Komposition wich in enorm vielen Details von Konventionen ab, so sehr, dass es schon erschreckend war. Wie jemand so wenig auf übliche Techniken setzte und so viele eigene Varianten einbringen konnte, war ihm schleierhaft. Technisch zunächst mäßig anspruchsvoll wurde es nach und nach zu einem Alptraum, die Anweisungen in der Komposition präzise umzusetzen. Glücklicherweise liebte er es Neues zu lernen, und dieses Stück strotzte davon. Eine Woche blieben ihm noch bis zur ersten Probe, er würde bis dahin kaum Zeit für anderes haben.

14 - Die erste Probe

Karen hatte hart gearbeitet. In jeder freien Minute ihrer Reisen hatte sie das Stück studiert, sich eine Vorstellung der gemeinsam klingenden Instrumente gemacht und einen Willen entwickelt wie sie es umgesetzt haben wollte. Sie würde alles steuern, beurteilen und korrigieren müssen wo etwas nicht stimmte. Nebenbei arbeitete sie noch viele theoretische Aspekte des Dirigierens durch, um ihr Studienwissen aufzufrischen und Details zu berücksichtigen. Es war zwar nicht ihre Aufgabe aktiv zu dirigieren, weil das Ensemble war gerade noch klein genug war, so dass es gemäß Begleitinformationen auch ohne gehen sollte. Dennoch musste jemand das Wort und die Bestimmungsgewalt haben, um alles in geordneten Bahnen zu halten.

Glücklicherweise gab es zu fast jedem Takt für sie als quasi-Dirigentin akribische Anweisungen wie die Instrumente zueinander angeordnet sein mussten und wie ihre Wechselwirkungen sein sollten. Sie hatte also neben den Noten klare Vorgehensweisen, um das Letzte aus dem Stück heraus zu holen.


Glücklicherweise hatte Konstantin sie im Wesentlichen mit nur einer einzigen Order auf die Suche nach Musikerinnen und Musikern geschickt. Kein Wort von Spielfähigkeiten oder Instrumentenbeherrschung hatte er verloren, sondern er wollte nur eines: Sie mussten diszipliniert arbeiten können und alles andere war Karens Bier. Und sie sollte sich strikt an die Begleitinformationen halten, da wäre alles Wichtige festgehalten.


Jetzt ging sie mit gemischten Gefühlen in die erste Probe und war froh, dass sie Konstantins Aufforderung bei ihrer Suche Folge geleistet hatte. Ohne Disziplin bei der Umsetzung ihrer Anweisungen würde es ewig lange Diskussionen darüber geben wie etwas zu klingen hätte. Durch das Verfahrensbuch hatte Opus Eximum kaum etwas dem Zufall überlassen und durch diszipliniertes Arbeiten würden sie das Werk in den Griff bekommen. Sie nahm sich vor, sich die Butter nicht vom Brot nehmen zu lassen.


Dennoch hatte sie sich immer wieder gefragt warum sich Konstantin gerade sie herausgesucht hatte und nicht professionelle Musiker, die nachweislich Berufspraxis vorzuweisen hatten. Wie konnte er einer bis dato für ihn Fremden einfach so eine so zentrale Aufgabe bei einem solchen Stück anvertrauen? Ein Mal hatte sie ihn darauf angesprochen, aber er war ihr geschickt ausgewichen und sagte, dass sie das schon hinbekommen würde, Opus Eximum hätte daran genauso wenig Zweifel wie er. "Hmm, der ist also immer gut über alles informiert ohne sich je blicken zu lassen", dachte sich Karen insgeheim.


Jetzt war sie mittendrin und begann den Anweisungen aus dem Verfahrensbuch zu folgen, wer wo sitzen sollte, wo die Mikrophone stehen sollten und so weiter. Stunden später hatten sie die Anordnung der Plätze hergestellt, sich aufeinander eingestimmt, für genug Licht gesorgt, die Stühle mit Kissen bequem genug gemacht, Kaffee und Snacks standen jederzeit griffbereit und viele Abläufe geprobt.


Music Science hatte sogar für gute Mahlzeiten gesorgt. Sie wollten das Beste und würden dafür auch etwas springen lassen, jede gute Note konnte für die Firma schließlich bares Geld bedeuten. Die Aufnahmen waren noch weit entfernt, aber die Angestellten hörten trotzdem schon zu. Tontechniker machten im Hintergrund wie nebenbei Testaufnahmen, angeblich zum Justieren von Instrumenten und zum Sammeln von Erfahrungen.


Karen lächelte in sich hinein als sie nach einer Weile begriff was wirklich passierte: In Music Science brodelte es, die Neugier auf die ersten Klänge war unverkennbar und niemand wollte etwas verpassen. Jeder Vorwand wurde genutzt um erste Melodiefetzen zu erhaschen.


Selbst als sie die ersten zehn Takte über die Schmerzgrenze hinaus wiederholten, verschwanden die Zaungäste nicht. Diese Wiederholungen waren enorm anstrengend, wurden aber unbedingt benötigt. Erst dadurch bekamen sie langsam ein Gefühl füreinander, für das Stück und was es bedeutete, es in Harmonie zu spielen.


Sie war überglücklich, dass sie sich dabei hatte durchsetzen können. Ohne die unumstößliche Anweisung dieser Wiederholung im Verfahrensbuch hätte sie so etwas mit Sicherheit nicht gewagt, sie hätte zu sehr den Widerspruch der Musiker gefürchtet. Opus Eximum war ein Genie, das jeden dieser Aspekte vorhergesehen hatte und nichts dem Zufall überließ.

Zwar hatte sie nur ein Drittel dessen geschafft was sie sich vorgenommen hatte, dafür war dieses Drittel aber fantastisch.

Völlig erschöpft und dennoch mit einem solchen Hochgefühl nach einer ersten Probe erfüllt zu sein, war ihr in ihrer musikalischen Laufbahn bis heute noch nie gelungen. Jetzt wusste auch sie warum: Sie hatte noch nie an einem Werk solcher Kategorie gearbeitet. Und Music Science hatte das auch spitz gekriegt. Sie schrieben Geschichte.

15 - Enndlins Life Birth

Dennoch ging sie die kommenden Wochen durch ein Wechselbad der Gefühle, es war ein mühseliger Kampf Note um Note, Takt um Takt. Nicht zuletzt nagten die ständigen Zweifel an ihr, ob sie dem Stück gerecht wurde. Was wäre wenn Opus Eximum oder stellvertretend Konstantin irgendwann einschritt und sagte, dass ihm ihr Stil nicht passte? Oder sich doch noch für langjährig erfahrene Vollprofis entschied, möglicherweise weil Music Science das so wünschte? Aber keine Rückmeldung, keine Kritik, obwohl er doch immer unbekannterweise trotzdem auf dem Laufenden war. Nur Konstantin schaute hin und wieder rein, ließ sie aber ohne Kommentare weiter arbeiten.


Häppchenweise arbeiteten sie sich durch das Werk und waren allesamt durch die Gewalt dieser musikalischen Schöpfung beeindruckt. Ihr größtes Problem war anfangs tatsächlich das was während des Vorspielens von Laura und Oliver bei der Anwerbung genauso aufgetreten war wie bei allen anderen: Sie durften sich nicht beeindrucken lassen von dem was sie spielten. Und das war leichter gesagt als getan, insbesondere weil augenfällig wurde, dass die emotionale Ausstrahlung des Stückes sogar zur Pärchenbildung führte. Diese sorgte für viel Ablenkung und zwar nicht nur bei den entstehenden Pärchen. Aber es könnte schlimmer laufen, dachte sich Karen, besser als dass es Streitigkeiten gibt.


Jeden Tag merkte sie mehr und mehr, dass sie eine Intuition für das Stück entwickelte, die sie nie für möglich gehalten hätte. Diese setzte sie in eine endlose Liste von Details um mit denen sie das Ensemble dann noch Wochen quälte bis auch jede noch so unwichtig erscheinende Note im wahren Sinne des Wortes stimmig war.


Mit großer Begeisterung schwärmte Karen davon Konstantin vor, der schmunzelte musste, wenn er daran dachte woher sie diese Intuition hatte, die auch er sehr genau bei ihr spürte. Es war jetzt fast so sehr ihr Stück wie auch seines. Er hatte noch so einiges gedreht und sich Wege der Einflussnahme überlegt und verschafft, die ihn selbst überraschten und bei denen er nicht erwartet hatte, dass sie so gut funktionierten. Es bedurfte noch viel Arbeit, um sie zu optimieren, aber die ersten Versuche hatten gezeigt, dass er auf dem richtigen Weg war. Dennoch war er erstaunt, was insbesondere Karen leistete. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, musste er einsehen, dass sie noch viel mehr aus dem Stück heraus holte als erhofft. Sie ging inzwischen recht rücksichtslos mit dem Ensemble um, wenn es darum ging voran zu kommen oder wenn ihr noch etwas nicht hundertprozentig gefiel. Und von so etwas wie einer vierzig Stunden Woche hatte sie offenbar auch nie etwas gehört. Da aber nach Stunden gezahlt wurde gab es kein Gemurre. Aus Sicht von Studenten war es zudem eine kaum zu überbietende Möglichkeit in verhältnismäßig kurzer Zeit gut zu verdienen und das auch noch bei erstklassiger Musik.


Nach wochenlanger Arbeit mit zehn bis zwölf Stunden-Tagen im Tonstudio hatten sie sich dann irgendwann entschieden den Schnitt zu nehmen, den sie sich so hart erarbeitet hatten und der sie zu einer Gemeinschaft, ja fast zu einer Familie zusammengeschweißt hatte. Music Science hatte daraufhin nicht mehr lange gefackelt und in der Firmengeschichte die bisher größte Erstauflage gemacht. Bei einem normalen Stück hätten sie niemals so viel auf eine Karte gesetzt, aber dieses Mal gab es keine Bedenken, gleich mit einer Maximalauflage zu starten.


Nun warteten sie alle gespannt auf die Ergebnisse der Platzierungen in den Hitlisten.


Innerlich jedoch trieben Karen Ängste um, war sie vielleicht zu enthusiastisch wegen des Stückes? Würden andere Menschen es genauso gut finden und die gleichen Gefühle haben, die durch den Körper zögen, wenn sie es hörten? War sie gut genug, hatte sie aus diesem Wunder der Musik eben genau das gemacht oder hatte sie es versaut, weil sie die Bedeutung der Noten nicht im Sinne Opus Eximums umsetzte? War nur eine minderwertige Vertonung herauskommen? Sie war schließlich kein Kleiber, Bernstein oder Karajan.


Bis auf Karen schien allerdings niemand an einem Erfolg zu zweifeln und am wenigsten Music Science, was als Firma bei der Angelegenheit am meisten investiert und zu verlieren hatte. Aber wie würde er aussehen? Würden sie es vielleicht sogar an die Spitze der Charts schaffen?


Dann kam die Nachricht. In einigen Charts waren sie auf Anhieb auf dem ersten Platz eingestiegen, bei anderen hatte offenbar nur die erst sehr kurze Zeit seit der Veröffentlichung den gleichen Platz verhindert.


Die Musikerinnen und Musiker, Simon, Konstantin sowie die Angestellten von Music Science strahlten Karen an und gratulierten ihr, während sie wegen der Tränen in ihren Augen meistens gar nicht mehr sah, wer ihr denn gegenüber stand oder sie drückte. Die Erleichterung überrumpelte sie so sehr, dass sie sich nur noch setzen und nicht einmal mehr Danke sagen konnte. Nach all den Strapazen konnte sie nicht anders, sie heulte sich die Seele aus dem Leib. Alles war gut, alles. Erst nachdem sie sich beruhigt hatte, nahm sie das Gebrüll, das Lachen und die spontane Partie im Hintergrund wahr, es knallten die Sektkorken.


Wie sich später herausstellte, waren sie nach der ersten Woche des Vertriebs in 47 Ländern die Nummer Eins, was alle Erwartungen grandios übertraf. Es lag es nur an zwei Dingen, dass es nicht noch mehr waren. Einerseits waren es die begrenzten Möglichkeiten von Music Science, die Tonträger weiterzuleiten und die Verbreitungsgenehmigungen schnell genug zu versenden. Andererseits war es die fehlende Infrastruktur mancher Länder, die die Verbreitung bremste.


Alles war vorbei, sie saßen zusammen, genossen, dass sie Musikgeschichte schrieben und freuten sich auf Reisen, das Ausschlafen, oder die plötzlich finanzierbaren Tauchausflüge auf die Malediven. Insgeheim waren alle Stolz darauf dabei zu sein.


Bei der letzten Runde Sekt, kurz bevor alle aufbrachen, erhob sich schließlich Konstantin nachdem er sein Handy weg legte:


"Opus Eximum lässt Euch allen ein großes Dankeschön ausrichten für die unermüdliche Arbeit und das Durchhaltevermögen, die akribischen Anweisungen von Karen und aus den Begleitinformationen so toll umzusetzen.

Wie manche ja wissen, ist „Enndlins Life“ nicht ohne Grund der Name des Werkes, es repräsentiert das Leben Enndlins. Was bisher nicht bekannt gemacht wurde, ist, dass das bis jetzt veröffentliche Stück nur der erste Satz ist und in etwa das erste Lebensjahr repräsentiert.

Er oder sie, ich darf das Geschlecht von Opus Eximum nicht verraten, hat mir mitgeteilt, sich mit diesem Satz angeblich erst "warm komponiert" zu haben. Enndlins Life ist viel länger, sie hat eine Jugend, Familie und Kinder, ein Leben mit vielen Etappen, die alle noch zu vertonen sind. Es gibt also noch zahlreiche Folgesätze. Erholen wir uns jetzt und machen Urlaub. Es kommt nämlich richtig was auf uns zu, wir haben gerade erst begonnen und der Löwenanteil liegt noch vor uns. Wenn Ihr wollt, seid Ihr selbstverständlich alle weiterhin mit dabei und habt damit jetzt einen festen Job."


Konstantin war sehr gespannt wie die Reaktionen sein würden. Niemand hatte auf dem Plan, dass es mehr als das bisher geprobte und veröffentliche Stück geben könnte, viele glaubten noch immer an ein zeitlich begrenzten Job.

Einen Moment lang waren alle still, niemand hatte ihn bei seiner Ansage unterbrochen oder dazwischen geredet.

Erst nach einigen Sekunden kam von einem Music Science Angestellten, der im Hintergrund stand, der Spruch "Nee, echt?"


Konstantin konterte nur: "Ja, echt."


Dann brüllte es aus der Gruppe nur noch "Jetzt machen wir Paddiiii!"

Teil 3

Die Erfindung

1 - Auswirkungen

Simon gefiel es immer wieder zu sehen wie Menschen reagierten, die Enndlins Life das erste Mal hörten. Erst kam das Hinhören, dann die Veränderung der Aufmerksamkeit, häufig ein offen stehender Mund, manches Mal ein paar Tränen der Rührung und nach dem Ende eine Weile, in dem noch Stille ohne Bewegung herrschte, so gefangen von dem Nachklang. Bisher hatte er niemanden gesehen, der sich dieser Musik entziehen konnte. Sie war mit 18 Minuten auch so lang, dass man sie sich nicht "über" hörte. Man sah, das sich einiges in den Köpfen tat, dass sie über vieles nachdachten und Erinnerungen wach wurden. Enndlins Life wurde normalerweise höchstens ein oder zwei Male am Tag gehört, weil es viel Kraft kostete, kein Takt ging spurlos an einem vorbei, viele Hörer waren danach auf gewisse Weise erschöpft. Die Wirkung würde daher nicht so schnell verebben.

2 - Die Presse

Sie war stolz auf ihre Arbeit, auch wenn die vergangenen Monate sie enorm Kraft gekostet hatten. Der Stress fiel langsam von ihr ab und das erste Mal seit ihrer Kindheit hatte sie genug Geld, um sich einen richtig schönen Urlaub zu gönnen. Gerade eben hatte Konstantin ihr in allem Vertrauen die Noten des zweiten Satzes von Opus Eximum zu kommen lassen.

Seine Ankündigung, dass die Folgesätze noch was drauflegen würden schien ihr sogar noch untertrieben zu sein. Er war nicht nur noch etwas länger sondern schon das erste Spielen beliebiger herausgegriffener Fragmente brachte sie regelrecht aus der Fassung, es fegte jegliche ihrer Empfindungen hinweg und brachte sie emotional auf eine völlig neue Schiene. Nach manchen Stellen wollte sie kopflos flennen, bei anderen wäre sie am liebsten auf die Straße gestürzt und hätte sich den nächstbesten scharfen Mann ins Bett gezerrt. Sie grinste breit als sie sich vorstellte wie es dem Ensemble ergehen würde wenn, wenn sie diese Passagen das erste Mal probten. Vielleicht sollte sie mit Konstantin vorher Rücksprache halten, um Maßnahmen zu ergreifen, die etwaige Elternpausen neun Monate später vermied.


Sie brauchte ansonsten noch nichts Wesentliches vorzubereiten, da alles bereits arrangiert war, damit es in fünf Wochen mit dem zweiten Satz weitergehen konnte. Sie würde sich ihn im Urlaub stressfrei ansehen können.


Darüber hinaus hatte sich Music Science als Glücksgriff erwiesen. Sie war zwar nur eine kleine Firma, aber das machte alles leichter; die Wege waren kurz, es war klar, wer wofür zuständig war, und momentan federte sie komplett alles ab was nach der Veröffentlichung geschah. Die strikte Anweisung absolut nichts über die Quelle von Enndlins Life oder die Musiker preiszugeben hatte bisher hervorragend funktioniert. Die Firma hielte sich drakonisch an die Vertragsklauseln, da es nur dann Folgeaufträge geben würde, wenn nichts durchsickerte.


Abgesehen von der sehr guten Bezahlung an alle Beteiligten wurden neugierige Journalisten von Music Science auf geschickte Art gehandhabt. Kurz nach dem Beginn der Proben war eine neue Stelle als Pressesprecherin geschaffen worden. Die junge und bildhübsche Frau hatte sich aus einigen hundert Bewerberinnen und Bewerbern mit großem Vorsprung als die Nummer eins herauskristallisiert. Konstantin hatte es sich zwar nicht nehmen lassen bei der Auswahl mit zu mischen, aber auch ohne ihn hätte sie zweifellos die Stelle erobert. Sie machte einen naiven Eindruck, verdrehte mit ihrer Art allen den Kopf und die Presse riss sich um sie. Wer sie aus den Vorstellungsgesprächen kannte wusste aber, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte und jeden über den Tisch zog, der nicht mit allen Wassern gewaschen war. Sie wickelte die Presse um den kleinen Finger und war für den Job wie geschaffen. Music Science, die Musiker, und allen voran Konstantin, Karen und Simon lachten sich bei jedem ihrer Interviews schlapp. Aus kleinsten Vorkommnissen, die sie sich schon während der Proben vorausschauenderweise notiert hatte, machte sie große Geschichten, mit denen sie eine nach der anderen die Presse fütterte. Eine umgekippte Kaffeetasse über einem Notenblatt schlachtete sie genauso aus wie ein Husten einer Sängerin, das Toningenieure angeblich für ein tolles Teil des Stückes hielten und sich wunderten, dass es bei einer Folgeaufnahme nicht wiederholt wurde.


Bei einem anderem Interview spielte sie auf ein Vorkommnis an, bei dem eine Passage geübt wurde, die für alle völlig neu war und "emotionale Wellen" auslöste. Alle im Team erfuhren damals, dass nicht nur die Saiten von Harfe und Violine zusammen klangen sondern auch die Herzen derjenigen, die sie spielten. Deutlich wurde das dadurch, dass sie bei der folgenden kleinen Pause im Nebenraum zusammen erwischt wurden. Die Sprecherin ließ allerdings offen, wobei, das wurde der Phantasie der Zuhörenden überlassen.


Man ertappte sie bei keiner einzigen Lüge, aber mit echten Fakten geizte sie wie die redegewandtesten Politiker. Die Regenbogenpresse hing ihr an den Lippen, sie selbst suhlte sich im Rampenlicht und verschaffte Music Science zusätzlich reichlich Einnahmen durch Interviews, Auftritte in Fernsehshows und Presseartikel. Sie schaffte Aufmerksamkeit für Enndlins Life ohne dazu Namen oder Orte zu nennen.


Karen fragte sich wie lange das funktionieren würde. Aber selbst wenn nicht: Was durchsickern konnte waren ihre Namen, die der Beteiligten, oder der Musiker, was natürlich erheblichen Stress durch die Medien bedeuten würde. Das eigentliche Geheimnis, nämlich wer der Schöpfer dieses unfassbaren Werkes war, würde verborgen bleiben. Sie hatte eine unterschwellige Ahnung wer es sein könnte, wagte es aber nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Dennoch ging alles was in Bewegung geriet von Konstantin aus, so auch dieses Stück. Seine musikalischen Fähigkeiten schienen zwar nicht im Geringsten die Basis für eine solche Komposition zu bieten, aber wenn er sie verbarg, dann würde alles passen. Alles was mit ihm zu tun hatte funktionierte zu reibungslos, als dass es Glückssache sein konnte, keine Hürde schien hoch genug, um ein ernsthaftes Problem zu sein. Sie würde die Augen offen halten, etwas Geheimnisvolles spielte im Hintergrund mit.

3 - Wie geht es weiter?

Schon bei der Komposition des ersten Satzes hatte ich die Wirkung des Liedes abgeschätzt und mir die sich daraus ergebenden Möglichkeiten vor Augen geführt. Mit Musik kann ein Mensch manipuliert werden und davon machte ich insbesondere in den noch folgenden Sätzen reichlich Gebrauch. Im Kopf hatte ich schon längst das gesamte Leben Enndlins in Noten gegossen und nur selten passte ich noch etwas an, Enndlins Life war schon vom ersten Entwurf an perfekt. Je nach Bedarf würde ich nur noch den gerade benötigten Satz niederschreiben.

Mein Grundsatz, Menschen nicht zu manipulieren ging dabei baden, jedoch war mir die Art der Manipulation wichtig. Mein langfristiges Ziel war, die Welt zu verbessern und dazu würden viele Schritte vonnöten sein, insbesondere der Versuch, Emotionen wie Hass, Gewaltbereitschaft, Ignoranz, und Machtgier in andere Emotionen umzumünzen und deren Energie nutzbringend einzusetzen. Solche Emotionen sind stark und es gibt viele Gründe sie zu entwickeln. Oft werden sie von Eltern an Kinder weitergegeben oder von Cliquen an deren Angehörige. Wie die typische Spirale der Gewalt, die meistens nur durch guten Willen, Vergebung und gute Kommunikation zu durchbrechen ist. Menschen dazu zu bewegen zu verstehen wie Gewalt entsteht, worauf sie basiert und sie möglicherweise sogar ohne Gegengewalt zu ertragen, um sie letztendlich zu beenden, ist ein schwieriges Unterfangen. Dazu muss die Hoffnung geschaffen werden etwas zu verbessern und genügend Wille vorhanden sein, um eventuell sogar noch weitere Gewalt mit Geduld zu ertragen. Oft ist nur so das Ziel einer langfristigen Änderung zu erreichen. Enndlins Life war mein erster Versuch in Menschen den Samen zu sähen, für Gewaltfreiheit einzutreten und Gewalt und Ungerechtigkeit nicht mit Gleichem zu beantworten, sondern den Versuch zu wagen die Ursachen zu verstehen und zu beseitigen. Satz für Satz wird diese Idee dann untermauert und im letzten wird die schreiende Ungerechtigkeit aufzeigt, die das schließlich auf die heutige Zeit projiziert. Es legt den letzten Stein des Fundamentes, auf dem die Menschen die Kraft und den Mut aufbringen gegen so etwas einzutreten. Ich ließ mir die Reaktionen von Zuhörenden durch den Kopf gehen und war selbst überrascht über die Wirksamkeit meiner ersten Versuche. Die Musik schien ein weit besseres Werkzeug zu werden, um mein Ziel zu erreichen als nur zum Verdienen von Startkapital.


Den Siegeszug von Enndlins Life – Birth, so wurde der erste Satz von nun an intern genannt, genoss ich einige Tage, machte mich aber, während Simon, Karen und die Musiker ihre Freizeit genossen, an den nächsten Schritt meiner Pläne. Es galt jetzt Probleme zu lösen. Was bewegte die Welt und verursachte die meisten Schwierigkeiten? Was war die Ursache von Kriegen? Die menschliche Natur, die Hindernisse, mangelnde Ausbildung, oder die ungleich gewichtete Verteilung von Rohstoffen und Reichtum in der Welt? Politische Strukturen, Religionen, Kapitalismus oder Diktaturen? Waren diese nicht oft nur ein Resultat der Gegebenheiten und durch viele kleine und größere Einflüsse eher zufällig entstanden?

Und was noch viel wichtiger war: Wie konnten diese Strukturen aufgebrochen, beseitigt oder verbessert werden? Wie kann man ungerechten politischen Systemen, wie beispielsweise Diktaturen, die Grundlage entziehen und dabei eine bessere Basis schaffen, die Nachfolgediktaturen erschwert?


Ich zog Folgerungen nach dem Durchschweifen der Geschichte, soweit ich sie in großen Teilen sogar selbst erlebt hatte und deren Ergänzung durch mein faktisches historisches Wissen erstaunten mich nicht sehr. Ungerechte Systeme, Oligarchien, oder Despotismus hatten in den meisten Fällen erst Fuß fassen können, weil grundsätzliche Dinge in einer Gesellschaft nicht vorhanden waren oder nur unzureichend funktionierten, Aufklärung fehlte, Informations- und Pressefreiheit nicht existierte oder kaum möglich war, weil sie aufgrund von noch gar nicht oder nur sehr wenigen vorhandenen Medien zu leicht manipulierbar waren.

Die Macht der Herrschenden in der Welt jetzt direkt zu brechen konnte nicht meine Aufgabe sein; als einzelner Mensch wäre ich auch zu anfällig, wenn ich persönlich als Gegenspieler irgend einem dieser Leute bekannt würde. Das vermied ich schon im Ansatz durch die Geheimhaltung meines ersten Eingriffs, der Komposition. Und ich würde auch im Weiteren dafür sorgen, dass das so blieb. Zudem ist die menschliche Gesellschaft ein extrem und zu komplexes System, um nur an einer Schraube einfach geändert zu werden. Dennoch wollte ich versuchen weitere wirkungsvolle Hebel umzulegen.


Wie konnte also mein nächster Schritt aussehen? Die Grundlage für so manchen Krieg zu beseitigen wäre ein Schritt wie auch die Verschmutzung der Umwelt und den Treibhauseffekt zu reduzieren, nicht zuletzt auch weil sie sonst langfristig enorme Probleme schaffen würden. Die Welt war hungrig nach Energie und die mächtigen Länder der Welt ließen eine Einschränkung aller ihrer Ressourcen wie beispielsweise Öl in keiner Form zu. Eine Unmenge kleinerer und großer Kriege sowie die Unterstützung lokaler Konflikte durch Geld, Waffen oder politische Instrumente hatte diese Ursache und würde sie auch in Zukunft sein.

Meine Pläne konkretisierten sich daher zusehends: Als Nächstes stand eine Erfindung auf dem Plan.

4 - Ernüchterung

Und das war einfacher gedacht als getan. Meine ersten Überlegungen galten der Verbesserung von Energiequellen, so dass sie Öl und Gasverbrauch deutlich reduzierten und insbesondere auch technologisch weniger entwickelten Ländern hilfreich sein konnten. In zwei Tagen entwickelte ich eine Unzahl bahnbrechender Ideen, die Lösungen für die meisten Probleme fielen mir geradezu in den Schoß. Ich war enorm stolz auf die Genialität und den Fortschritt den sie bringen konnten. Insbesondere bei vielen meiner Gleichungen und Ansätzen, die auf die Kernfusion abzielten, hatte ich in meinem Kopf grandiose Antworten für kosmische Rätsel, physikalische Phänomene und mathematische Probleme entwickelt. Dagegen sah Einstein wie ein Erstklässler aus.


Ärgerlicherweise haben die Dinge ihre Komplexität. Komplexe Fragestellungen lassen einfache Lösungen oft schlichtweg nicht zu. Es würde Jahrzehnte dauern alle Herleitungen, Beweise und Experimente in einer Form zu veröffentlichen und nachvollziehbar zu machen, so dass praktikable Anweisungen und Ergebnisse dabei heraus kamen, die technisch auch moderat aufwändig in der Umsetzung blieben. Als ich zu diesem Schluss kam war ich urlaubsreif. Wem würde dieses Wissen nutzen, wenn ich ein alter Mann wäre, nachdem ich damit fertig wäre sie aufzuschreiben, zu veröffentlichen und nur eine Hand voll Menschen im Stande sein würde sie zu verstehen?

Meine erste Idee, die Kernfusion so zu revolutionieren, dass sie nahezu unbegrenzte Energie liefern konnte, war zum Scheitern verurteilt, meine gefundenen Lösungen hin und alle Genialität her. Auch die Investition einer weiteren Woche führte mich in die Sackgasse der enormen Komplexität der Lösungen und der langen Wege zu einer einfachen Umsetzung und leichten Nutzung. Das Wissen und Verständnis alleine um einen gangbaren Weg reichten nicht, die Kraftwerke würden auch gebaut werden müssen und das dauerte mir zu lange.


Auch ich fuhr in den Urlaub.

5 - Die Erfindung

Das Baden bekam mir gut und das Schnorcheln hatte mich schon immer in seinen Bann geschlagen. Selbst wenn ich nur über ein paar größere Felsbrocken oder etwas vulkanisches Gestein hinweg paddelte, begeisterte mich das.

Mein Neffe pflegte nach einem Computerspiel gerne zu sagen, dass ihm dort "eins draufgebraten" worden wäre. Genau so fühlte ich mich abends als ich zu Bett ging und mich mein Rücken wegen eines entsetzlichen Sonnenbrandes quälte. Die Sonne hatte in ihrer Allgegenwart heute mir "eins draufgebraten". Das holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück, denn all meine überfliegende Genialität hatte mich das im kühlenden Wasser nicht spüren lassen. Sie würde nur dann zu etwas nutze sein, wenn ich sie in etwas Konkretes und Einfaches umsetzen konnte, das alle Menschen erreichte. Wenn ich selbst etwas so Naheliegendes wie einen Sonnenbrand nicht bemerkte, obwohl ich natürlich sehr genau um das Risiko wusste, sollte ich möglicherweise in eine ganz andere Richtung denken. Sicher, ich konnte meinen Stoffwechsel gut genug kontrollieren, um den Sonnenbrand kurzerhand zu beseitigen, aber ich entschied mich dagegen; ich musste mich an der Realität orientieren und wie ein normaler Mensch bleiben, um die Notwendigkeiten normaler Menschen zu verstehen und damit ich für den Alltag Nützliches schaffen konnte. Ein weiteres Zitat, in diesem Falle eines meines Vaters, ließ mich meine Arroganz ein weiteres Mal spüren: "Man kann ruhig dumm sein, man muss sich nur zu helfen wissen".

Denn viele Menschen kamen in dieser Welt sehr gut klar und leisteten exzellente Beiträge zur Gesellschaft ohne ein abgeschlossenes Studium zu haben oder gar genial zu sein. Sie machten viele kleine und große Dinge die ihm Leben nötig und hilfreich waren. Intelligenz ist dabei zweitrangig und konnte einer pragmatischen Lösung sogar im Wege stehen.


Meine schmerzende Haut auf dem Rücken zeigte mir das so Naheliegende. Das meiste Öl und Gas in der Welt wurde stumpf und ineffektiv verbrannt, verfahren oder verheizt, die Atmosphäre wurde durch das entstehende Kohlendioxid aufgeheizt, die Vorräte neigten sich dem Ende zu und riesige Probleme bahnten sich dadurch an. Die ganze doch so wichtige Energie, die in Öl und Gas steckte, kam aus einer ganz anderen Quelle. Beide waren nur deshalb so beliebte Energieträger, weil sie die Sonnenenergie enthielten, die in Millionen von Jahren durch Pflanzen in chemische Energie umgewandelt worden war. Die Sonne bestrahlte die Erde mit Energie im Überfluss und die Menschen machten kaum etwas daraus, noch nicht jedenfalls. Das würde sich jetzt ändern.


Die Nacht über lag ich wach und entwickelte meinen Plan. Keine Kraftwerke, keine Leitungen, kein ineffektiv in Autos oder Heizungen verbranntes Öl mehr. Keine Kriege, Handelsboykotte, Repressionen oder hohe Ausgaben für Heizungen wegen versiegender Ölreserven mehr. Ich würde dafür sorgen, dass Menschen sich die Energie dort sammelten wo sie sie benötigten, es gab ja schließlich genug!

6 - Die Enndlins Life Stiftung

Karen und Simon waren wieder durch Vorbereitungen in Beschlag genommen, als der zweite Satz, Enndlins Life - Youth, seine Schatten voraus warf und die Nachwirkungen des ersten Stückes ihre Verwaltung erforderten. Karen und Music Science hatten das Ganze allerdings so gut in Griff, dass Konstantin es wagte, Simon aus dem Musikbereich abzuziehen und vollständig auf die Realisierung der Stiftung anzusetzen, die er schon während der Komposition in den Begleitinformationen unter anderem als „Verbraucher“ für die Gewinne aus dem Stück aufgeführt hatte. Die Veröffentlichung des zweiten Satzes würde auf diese Weise kaum länger dauern. Außerdem sprudelten die Einnahmen gut und sie würden viel Zeit haben sehr viel Geld auszugeben bevor es knapp wurde. Den nächsten Knaller nachzulegen hatte deshalb Zeit.

Karens Interesse an Chemie und Technik hatte seine Grenzen, sie ging dafür in der Musik auf und war darin vollständig in ihrem Element. Man merkte ihr an, dass sie die ökonomische Seite deutlich weniger interessierte, aber sie betrachtete es als Ehrensache diese mit zu erledigen, sofern Music Science das nicht abfederte. Sie hatte das schließlich aus gutem Grund studiert.


Konstantin beauftragte Simon mit der Beschaffung eines großen Geländes mit mindestens einigen ungenutzten aber schon existierenden Räumlichkeiten. Darin sollte es genügend Platz für Laboreinrichtungen und eine Anzahl von Apparaturen und Chemikalien geben.

Darüber hinaus trug er diversen Forschungsgruppen der naheliegenden Universität Drittmittelprojekte an und stellte Förderung für das Lösen spezifischer Aufgaben in Aussicht. Für die Leitungen der Forschungsgruppen war das natürlich ein gefundenes Fressen. Es gab neue Laboratorien und Apparaturen quasi geschenkt, ohne lange Anträge schreiben zu müssen, direkte Förderungen aus dem Topf der Enndlins Life - Stiftung sowie eine große Anzahl an Promotions- und Postdocstellen.


Konstantin hatte viel Zeit in die Strukturierung der Arbeitsaufgaben investiert, die Simon zu verteilen hatte. Nicht zu komplex um ernsthafte Hürden zu schaffen und nicht zu einfach um langweilig oder nicht mehr veröffentlichungswürdig zu sein.

Er ließ durch Simon nun eine Anzahl an neuen Produktionswegen und chemischen Apparaturen in Auftrag geben, die es in dieser Zusammenstellung bisher nicht gab. Viele Promovierende hatten auf diese Weise klare Arbeitswege und Organisationsaufgaben mit kleinen und überschaubar zu lösenden Problemen, die hervorragend für Veröffentlichungen taugten. Die Promotion rückte für sie so in greifbare Nähe.


Bei den Enndlins Life Noten gab es klare Vorgaben, die die Forschungsförderung zum Inhalt hatten und wie diese aus den Enndlins Life Verkäufen zu finanzieren waren. Sie dienten somit als Satzung der Stiftung, zu deren Geschäftsführer Simon nun wurde. So versteckte Konstantin hinter der Enndlins Life - Komposition, woher die Aufträge der Stiftung kamen und wer sie formulierte.


Konstantin hatte ein komplexes Netz von Angestellten erdacht, die an verschiedenen Orten, Universitäten und Forschungseinrichtungen angestellt wurden sowie sprachlich und fachlich wenige Gemeinsamkeiten hatten. Simon sorgte nur für die grundlegende Schaffung der wichtigsten Strukturen, während die neuen Stellen die Aufträge in unterschiedlichen Teilen er- und überarbeiten würden, in etliche Sprachen übersetzten, die technische Redaktion vollzogen, sie dokumentierten, bewerteten, ausschrieben und vergaben. Dieses Netz zu erdenken hatte Konstantin viel Spaß gemacht; schließlich war der einzige Zweck die Verschleierung der Quelle der Ideen, die durchweg von ihm selbst stammten. Selbst Simon würde das langfristig nicht überschauen, da war Konstantin sich sicher. Und selbst wenn: Simon kannte Konstantins Neigung sich aus der Sache herauszuhalten und teilte sie sogar.


Im Hintergrund blieb Konstantin als technischer Mitarbeiter und Redakteur dicht am Geschehen, ohne als der eigentliche Drahtzieher der Angelegenheit bekannt zu sein. Er schleuste seine Ideen in kleinen Einzelteilen in viele Dokumente ein, die noch eine Anzahl an Arbeitsschritten bei anderen zu durchlaufen hatten. Er sorgte in der Dokumentbearbeitung zudem bewusst für etwas, das in Büros und in qualitätsgesicherten Entwicklungen ein Tabu ist: Durch einen unscheinbaren Fehler in der zentralen Software für die Dokumentverwaltung wurde es mittelfristig unmöglich, entscheidende Zeitpunkte und Autoren von Änderungen an Dokumenten korrekt nachzuvollziehen. Das System vergaß die Geschichte der Dokumente zwar nicht, brachte sie aber auf eine Art und Weise durcheinander, dass es nicht auffiel. So verschleierte Konstantin, dass er die ursprünglichen und zentralen Änderungen zu verantworten hatte.


Es erfüllte ihn mit Stolz, dass die finalen Ausschreibungen immer exakt seinen Wünschen entsprachen, es aber offenkundig die Stiftung war, die diese als Gesamtwerk erstellte. Die viele Kleinarbeit der eigentlichen Vergabe, der Umsetzung, die finanziellen, rechtlichen und versicherungstechnischen Aspekte im Zusammenspiel mit der Erstellung der Ausschreibungen ließ Konstantins Einfluss unter "Ferner Liefen" erscheinen.

So wurde seine Idee schon bald Wirklichkeit. Interessanterweise waren das Vorhersehen und rechtzeitige Beseitigen von Blockaden in den Abläufen das, was die meiste Aufmerksamkeit erforderte. Alles andere delegierte er oder ließ es delegieren, so dass er seine Vision schon nach guten sechs Monaten gekommen sah.

7 - Die Pampe

Die Pampe quoll pechschwarz und klebrig aus dem Konverter. Außer ihm selbst ahnte niemand, dass sie ein erster großer Schritt zur Lösung vieler Probleme der Welt war. Die wichtigsten Veröffentlichungen würden schon in wenigen Wochen eingereicht sein, die ersten Nutzungstests begannen morgen.


Die Forschungsgruppenleitungen und das von Konstantin sorgfältig erdachte Netz der Stiftungsangestellten hatten die Laboratorien und die Abläufe inzwischen so weit im Griff, dass Simon mit der Organisation der ersten "Solar Power"-Konferenz der Stiftung seinen nächsten Auftrag bekam. Er lud ein, Beiträge zu Solarenergieforschungen zu bringen. Der mangelnde Bekanntheitsgrad der Stiftung sowie der drohenden Mangel an bekannten Teilnehmenden wurde durch die Einladung und generöse Bezahlung namhafter Personen aus allen Bereichen der Solarwirtschaft und Forschung kompensiert.


Keiner dieser Redner erwartete, dass seine Forschungen und Vorträge so gut wie überflüssig waren und angesichts der Ergebnisse aus der Enndlins Life - Förderstiftung Makulatur werden würden. Da aber alles von Rang und Namen diese Ergebnisse direkt präsentiert bekommen würde, wäre die schnelle Verbreitung gesichert.


Im Hintergrund hatte Konstantin für einen perfekten Aufbau gesorgt: Insgesamt dreißig Vorträge, durchmischt mit Gastrednern, die die Probleme und Ansätze der derzeitigen Solarenergieforschung vorstellten. Dazwischen eingereiht die Lösungen der Promovierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden, die schrittweise den Produktionsprozess, den chemischen Aufbau bis zur Verwendung und Anwendung der "Solar Paste" beschrieben. Die Vorträge und Veröffentlichungen der Konferenz wurden anschließend im Netz veröffentlicht.


Einfacher ging es kaum: Eine Bahn pechschwarze Solar Paste als Anstrich als Anode, das Aufkleben von elektrischen Abnehmerfolien an den Enden der Bahnen auf die noch feuchten Paste, dann das Trocknen lassen des Anstriches und abschließend darauf ein zweiter durchsichtiger Anstrich als Kathode und fertig war das Solarkraftwerk.

Teil 4

Folgen

1 - Fragen und Ergebnisse

Igor Strawinsky stellte normalerweise nie die Frage warum er gerade die Aufträge bekam, die er bekam, das war in seiner Abteilung auch nicht üblich. Offensichtlich fanden seine Vorgesetzten es dieses Mal witzig, ihm wegen seines Spitznamens "der Komponist" einen Job zu verpassen.

Üblicherweise war es seine Aufgabe, irgendwelche Hintermänner in den USA zu ermitteln, die für Entscheidungen mit gewisser Tragweite verantwortlich waren. In vielen Fällen waren das nicht einmal Personen, sondern Firmen oder deren Manager, die mit Hilfe von Strohmännern und viel Geld Entscheidungen und Geschäfte manipulierten. Deren Ziel war meistens, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen oder an politischem Einfluss zu gewinnen. Oder es waren im Geheimen agierenden Drogenbosse oder Terroristen, bei denen Väterchen Russland wissen wollte, ob sie durch ihre Aktionen dem Land oder irgendwelchen Bonzen gefährlich werden konnten, oder ganz im Gegenteil, Pläne gegen einen Feind schmiedeten. So war es schon öfters vorgekommen, dass man von Anschlägen wusste, sich aber entschieden hat, sich das Ganze lieber anzuschauen anstatt sich einzumischen. Bisweilen räumten sich unbequeme Zeitgenossen gegenseitig aus dem Weg oder dem Klassenfeind wurde netterweise eines ausgewischt.

Andernfalls konnte er auch mal eine „Dienstreise“ aufgedrückt bekommen bei der er dann dafür Sorge zu tragen hatte, dass die entsprechenden Personen nicht weiter störten. In den meisten Fällen hieß das natürlich kurzen Prozess zu machen.

Seine neue Aufgabenstellung lautete nun, denjenigen zu ermitteln, der Enndlins Life komponiert hatte und vermutlich die gleichnamige Stiftung zu verantworten hatte.


Sein Namensvetter und Komponist Igor Strawinsky hatte russische Wurzeln und wanderte später nach Frankreich und in die USA aus. "Trefflich passend" meinte sein Chef, denn einige "Quellen" bei den "Kollegen" auf der anderen Seite der Welt bei der NSA hatten berichtet, dass die USA wegen dieser Stiftung nervös wurde. Nicht, weil jemand ein bahnbrechendes Werk komponiert hatte, sondern weil die Stiftung mit der Solar Paste einige Unternehmen in den USA mächtig ins Straucheln brachte. Wie es schien waren zwei Strohpuppen isoliert worden, Simon Radeberg und Karen Meier, bei denen es aber wohl schon sicher schien, dass sie nur im Auftrage handelten.


Igors Aufgabe, in diesem Kontext Informationen zu sammeln, stellte sich nach einiger Zeit als Alptraum heraus, denn alle seine Versuche und Ermittlungen verliefen im Sande. Er hatte sich schon tief in die Verwaltungssoftware der Stiftung gehackt und ihm lagen sämtlich Daten, Anträge und Planungen derselben vor. Die eigentliche Entstehungsgeschichte der Solar Paste schien eine grandioser Zufall zu sein, bei dem die Arbeiten von gut zwanzig Studenten aus verschiedenen Stiftungsabteilungen einfach nur perfekt zusammen liefen. Sie hatten auf den ersten Blick nur wenig miteinander zu tun, aber in der richtigen Reihenfolge gelesen fiel einem anschließend wie Schuppen von den Augen, wie man die Solar Paste brauen konnte.


Die Stiftung hatte mit ihrem Lied und der Solar Paste so viele Änderungen in der Energiewirtschaft verursacht, dass sowohl Gaskonzerne als auch die Regierung Einflussmöglichkeiten und Geldquellen schwinden sahen, weil die Abhängigkeit von Gas stark abnahm. Die Einnahmen der Konzerne, die Steuern sowie die Möglichkeit, anderen Staaten durch die Abhängigkeit von der Energie gewisse Positionen aufzudrücken, schwand dahin. Der kausale Zusammenhang mit der Enndlins Life - Stiftung war nicht zu übersehen.

Deshalb würde Igor weiter wühlen müssen. Er hatte genug Informationen, um zu erkennen, dass es eine Strategie hinter dem Aufbau der Stiftung und der anliegenden Institute gab, fast nichts war überflüssig gewesen auf dem Weg zur Solar Paste. Die neueren Arbeiten vieler weiterer Post-Docs, Diplomanden und Studenten hingen auch nur oberflächlich zusammen und bisher war noch nicht ersichtlich, was daraus resultieren würde und ob überhaupt eine Neuerung vom Niveau der Paste folgen würde. Sein persönlicher Kandidat war Konstantin Pohlmann, allerdings war dessen Hintergrund schlichtweg nicht ausreichend für solche Erfindungen. Er war von Beginn an dabei, schien derzeit aber mehr und mehr in der Versenkung zu verschwinden.

2 - Konstantin

Konstantin machte wieder einmal Urlaub und ließ den Dingen ihren Lauf. Karen würde in zwei Wochen den nächste Satz aus Enndlins Leben schleifen, hatte schon gute Vorarbeit geleistet und die Musiker waren in dem Stück schon fast fit. Diese fürchteten zwar Karens Pedantismus, den sie aus dem ersten Satz in Erinnerung hatten, wünschten sich ihn aber auch, weil sie wussten, wie das Ergebnis davon profitieren würde.


Konstantin schmunzelte als er die ersten Berichte im Internet und in populärwissenschaftlichen Journalen las. Die Solar Paste wurde bereits als die Lösung der Energieprobleme der Welt propagiert, was allerdings sogar er selbst als übertrieben wertete. Aber es kam nahe heran. Die Eigenschaften, die er sorgfältig erdacht hatte waren schon bestechend. Sie war ungiftig, umweltschonend, einfach und ohne große Technologie in jedem Land der Welt in großen Mengen herzustellen. Sie konnte überall aufgetragen werden: Zwei Anstriche eines möglichst großen Streifens, zwischen denen zwei Elektroden an den Enden auf die feuchte Paste geklebt wurde. Diese setzte Solarenergie zu nahezu 100% in elektrische Energie um, selbst noch so schwaches Licht erzeugte Strom.


Die getrockneten Anstriche waren höchst robust, so dass sie auf Dächer, Gehwege, Parkflächen, Hauswände und sogar Straßen gestrichen werden konnten. Alle wurden auf diese Weise zu Stromproduzenten, schon auf den verwendeten Wellenlängen herkömmlicher Solarzellen etwa vier Male leistungsfähiger, darüber hinaus aber noch auf einem wesentlich breiten Wellenlängenspektrum. Zu Guter Letzt waren sie viel billiger, großflächiger und es waren keine Anbringungen nötig.


Sicher, sie war tief schwarz und damit etwas gewöhnungsbedürftig, aber jeder dieser Streifen oder Flächen speicherte und lieferte kostenlos Strom. Dieser wurde durch die Paste wie in einem leistungsfähigen Akkumulator gespeichert, um sonnenarme Tage überbrücken zu können, oder wenn ein Verbraucher angeschlossen war, direkt an diesen abgegeben. Ein normal gestrichenes Dach eines Einfamilienhauses lieferte damit nicht nur genügend Strom für übliche elektrische Verbraucher sondern auch für elektrisches Heizen. Gas- oder Ölheizungen und deren Tanks wurden so überflüssig. Die Kabel für die elektrische Versorgung blieben bestehen, um überschüssigen erzeugten Strom ins Netz für größerer Verbraucher einzuspeisen. Die Kombination aus elektrischem Speicher und Solarenergiesammler machte auch die Nutzung zusätzlicher gesonderter Wärme- oder Akkumulatorspeicher für die Nacht überflüssig.


Konstantin sah schon nach Kurzem, dass begonnen wurde, etliche Flächen schwarz zu streichen. Autos wurden gestrichen ebenso wie Straßen, Dächer, Gehwege, Parkplätze und Hauswände.

Schwarz wurde modern. Und seine Solar Paste trat den Siegeszug um die Welt an.

3 - Konsequenzen

Die Solar Paste hatte natürlich ihre Grenzen, sie konnte nicht alle Energieprobleme auf einen Schlag lösen. Und es gab eine Menge gesellschaftlicher Folgen. Schon nach wenigen Monaten wurde klar, dass die meisten Energiekonzerne viele Kraftwerke wegen Unrentabilität würden abschalten müssen. Längerfristig wurde sichtbar, dass die Energieknappheit kein zentrales Thema mehr sein würde wodurch der Druck der Gesellschaften gegen Atomenergie neuen Wind in die Segel bekam. So wie es kaum noch Argumente gegen vorgezogene Abschalttermine für Atommeiler gab, so kamen Kohleproduktion und Kraftwerke in die Schusslinie, weil Umweltschutzverbände begannen, diese nicht zum ersten Mal als Dreckschleudern der Nation zu verdammen.

Die meisten Konzerne waren nicht dumm und versuchten daher die neuen entstehenden Sparten auszunutzen. Sie entwickelten beispielsweise Wechselrichter, deren Bedarf sprunghaft stieg, weil die erzeugte Gleichspannung aus der Solar Paste nicht verwendbar war, um konventionelle Wechselstromgeräte zu betreiben. Auch die Vernetzung und Einspeisung großflächiger Anwendungen in das existierende Stromnetz wurde bald durch die Energiekonzerne übernommen. Dennoch waren Massenentlassungen nicht zu vermeiden. Nicht, dass Konstantin davon überrascht gewesen wäre, aber die Konsequenzen in den Medien zu verfolgen und selbst im eigenen Bekanntenkreis von zunehmend mehr Betroffenen zu hören, machte ihn nachdenklicher als erwartet.


Die Integration größerer Flächen wie Autobahnen, Straßen, Fußwege und Dächer würde Jahre benötigen und Großindustrie mit hohem Energiebedarf würde nicht auf Elektrizität umsteigen solange das Energienetz potentiell nicht genug her gab und abhängig und Unwägbarkeiten wie der scheinenden Sonne war. Die Abschaltung vieler Kraftwerke würde sich daher noch über Jahre hinziehen.


Auch war die Solar Paste nur eingeschränkt für sehr energieintensive Geräte zu gebrauchen. Flugzeuge schwarz mit Paste zu bestreichen reichte nicht für deren Betrieb, denn die gespeicherte elektrische Energie der Paste war zu gering für die energiehungrigen Triebwerke. Ebenso konnten ausschließlich durch die Paste betriebene Autos zwar gewisse Strecken fahren hatten aber bei schlechtem Wetter, im Winter, bei geringerer Sonneneinstrahlung oder in nördlicheren Breiten keine akzeptablen Reichweiten mehr.

Insbesondere würde es Glückssache bleiben ob genug Sonne schien. Viele Großverbraucher und Großverschmutzer der Umwelt würden daher nur langsam verschwinden, und der laute und schmutzige Straßenverkehr nur langsam ruhiger und sauberer werden.


Bei dem Entwurf der Solar Paste hatte Konstantin viele Aspekte berücksichtigen müssen, die ihre Anwendbarkeit und Kapazität betrafen. Im war wichtig, dass Anwendungen im zivilen Bereich möglichst einfach waren, militärische dabei aber erschwert wurden. Wenn die Paste enorme Energiemengen hätte vorhalten können, die man in Bruchteilen von Sekunden abrufen könnte, dann würden eine Menge Waffensysteme davon Gebrauch machen. Nein, die Paste musste ihre Grenzen haben, ihre Speicherkapazität musste sehr hoch aber nur gemäßigt abrufbar sein. Ganz zu schweigen davon, dass Konstantin nicht einmal sicher war, ob physikalische Gesetze ihm bei einer deutlich höheren Kapazität nicht sowieso Grenzen diktiert hätten.

Deshalb gab es noch eine Menge von Anwendungen, die weiterhin von Öl und Gas abhingen und das noch lange tun würden, sofern es nicht eine weitere Erfindung gab, die Abhilfe schaffte.

4 - Erweiterung

Enndlins Life - Youth, der zweite Satz, hielt Karen und die Musiker nun schon seit einigen Wochen in Atem, aber sie waren nach der Pause so gut vorbereitet, dass der Schliff des Stückes nicht wie beim ersten Mal fünf sondern nur zwei Wochen benötigte. Auch die Veröffentlichung ging wesentlich flüssiger von statten als beim ersten Mal. Music Science war deutlich besser organisiert, nicht zuletzt, weil die Einkünfte aus dem erstem Satz Wirkung zeigten und viele Abläufe durch zusätzliches Personal beschleunigt wurden.


So war Konstantins Hauptaugenmerk schon längst wieder auf die nächsten Lösungen für das Energieproblem gerichtet während das Stück in die Veröffentlichung ging und noch heftiger einschlug als die erste. Die bereits zur Entwicklung der Solar Paste etablierten Labore wurden um einige Prozessketten erweitert, neue Doktoranden waren schon während der Solar Paste Entwicklung angestellt und neue Forschungsprojekte organisiert worden.


Während Solar Paste noch ein einfacher und im wesentlichen chemisch basierter Entwurf war, forderte der zweite Konstantins Fähigkeiten auch im physikalischen Bereich noch intensiver. Es gab genug elektrischen Strom durch Solar Paste aber er war durch Witterungsverhältnisse und begrenzte Speicherkapazitäten nicht ausreichend und nicht überall verfügbar. Das Ungleichgewicht der großen erzeugten Strommenge zu bestimmten Zeiten gepaart mit der Unmöglichkeit, sie in mobilen Entitäten wie Flugzeugen und Autos einsetzen zu können, verhinderte den Ersatz vieler öl- und gasbetriebener Maschinen. Deshalb waren nun elektrische Speicher vonnöten, die ausreichten, um Flugzeuge, Autos und größere industrielle Anwendungen zu betreiben.


Der Entwurf lief bald auf einen neuartigen und höchst leistungsfähigen Energiespeicher hinaus, der in kürzester Zeit geladen werden konnte. Auch hier legte Konstantin Wert auf die begrenzte Abgabefähigkeit der Energie. Alles schlagartig in Sekundenbruchteilen abrufen zu können würde andernfalls zum Bau von Waffen einladen.


Es würde ein Zwischending zwischen einem Superkondensator und einem Akkumulator sein und keine Alterung aufweisen. Das Gewicht, das Flugzeuge oder Autos an Treibstoff transportieren mussten, als maximales Akkugewicht anzunehmen half Richtwerte festzulegen, die er noch unterbot, um die Umstellung attraktiv zu machen. So entwarf er einen Akkumulator, der etwa 20 KWh pro Kilogramm Gewicht bot, was herkömmliche Akkumulatoren rund um das hundertfache übertraf. Wenn ein Auto beispielsweise einen nur 20 Kilogramm schweren Akkumulator transportierte, hatte es spürbar höhere Reichweiten als bei Benzinbetrieb. Da Motor, Getriebe und Schaltungen bei reinen Elektroautos zudem einfacher und leichter ausfielen, würde die Umstellung Kosten einsparen und schnell auf große Akzeptanz stoßen. In der Flugzeugentwicklung würde Konstantin es den Flugzeugingenieuren überlassen, geeignete elektrische Triebwerke zu entwickeln. In der Industrie würde der Bau von Klein- und Großakkumulatoren bald neue Zweige eröffnen, ebenso wie die Vernetzung mit dem existierenden Solar Paste Netz. Konstantins Schätzung nach würde sich schon nach wenigen Jahren der größte Teil der Industrie auf elektrischen Betrieb umgestellt haben während Solar Paste-Flächen dramatisch erweitert würden. Allein die Autobahnen Deutschlands boten über hundert Quadratkilometer Fläche, bei der ein Solar Paste-Belag keine Probleme machte. Schon diese Fläche reichte zur Deckung des Energiebedarfs des ganzen Landes aus. Hausdächer lagen in einer ähnliche Größenordnung sowie Gehwege, städtische und Bundesstraßen boten weitere riesige Flächen zur Energiegewinnung. Obwohl die Energieausbeute wegen des schlechten Einfallswinkels oft geringer war, lohnte sich das Streichen von Haus- und Lärmschutzwänden dennoch. Die Politik hatte ausnahmsweise angesichts der schon mittel- und langfristig absehbaren positiven Effekte den Anstrich großer Flächen in Auftrag gegeben, insbesondere weil dadurch die Abhängigkeit zu anderen Ländern in Bezug auf Öl, Gas oder Kohle bald entfallen würde. In wenigen Jahren würde es kaum noch durch herkömmlichen Treibstoff betriebene Technik geben.

Der Bedarf der chemischen Industrie an Kohlenwasserstoffen würde demgegenüber noch lange ungebrochen sein. Durch die weltweite Umstellungen auf elektrische Energie rückte die Öl- und Gasknappheit jedoch in weitere Ferne und waren somit nicht mehr Konstantins Problem.


Die nächste Konferenz, ganz ähnlich wie sie sie für die Solar Paste organisiert hatten, schlug dieses Mal ein wie eine Bombe. Die Enndlins Life - Stiftung war durch die Veröffentlichung der Solar Paste weltweit in den Blickpunkt gerückt, so dass die Ergebnisse dieses Mal schon am Tag nach der Konferenz in den Medien große Wellen schlugen. Viele schlaue Firmen und Konzerne warteten vermutlich schon darauf, die nächste Idee der Stiftung umzusetzen. Akkumulatorprodukte basierend auf der neuen Technologie wurden schon wenige Wochen nach der Konferenz auf dem Markt angeboten und revolutionierten die Autoindustrie.


Nun konnte Konstantin 11 Monate nach dem Brombeerbuscherlebnis das erste Mal richtig pausieren und sich in Ruhe die Entwicklung seiner Eingriffe in die Wirtschaft anschauen. Er analysierte akribisch, ob sie die Auswirkungen hatten, die er beabsichtigte.

Er ließ sich Zeit damit, er hatte es sich schließlich verdient.

5 - Samuel

Als er vor Monaten bei Music Science angefangen hatte waren Zweifel in seinem Leben noch allgegenwärtig. Einige Zeit lang hatte das auch keine Änderung erfahren. Gerade aus dem Wirtschaftsstudium in diese kleine Klitsche gegangen und schnell hatte er mit Covern, Plattenlabeln, Urheberrechten, Tantiemen und einem Haufen Papierkrieg zu tun.

Schon seit dem Beginn seines Studiums hatten ihn diese Zweifel an ihm genagt und mangels Alternativen hatte er einfach nur weiter gemacht. Und gemacht und gemacht ohne je glücklich zu sein mit dem was er studierte oder arbeitete.

Vor einiger Zeit jedoch hatte sich das grundlegend geändert. Pohlmann, Meier und Radeberg hießen sie, die das Stück vermarkten wollten und dabei mit so ziemlich den seltsamsten Forderungen gekommen waren, die eine Plattenfirma zu hören bekam. Music Science sollte das Stück nicht nur in den Studios aufnehmen und vertreiben, sondern auch noch die Musiker finanzieren, Förderungen für Studiengänge ausschreiben, die meisten Gewinne an eine gemeinnützige Stiftung vermachen sowie diversen anderen Schnickschnack mit machen, mit dem sie eigentlich gar nichts zu tun haben sollten oder wollten. Und die Musiker auch noch gratis durchfüttern! Was war denn das? Als ob die sich nicht selbst etwas zu essen organisieren könnten.

Und dann kam das frechste: Der Gewinnanteil für die Firma sollte auch noch deutlich unter dem normalen Prozentsatz liegen.

Und der Komponist? Der lief unter einem Pseudonym und war nicht zu erreichen. Auch das noch!


Und jetzt saß er hier und badete das aus - und hatte Spaß daran. Die Music Science Angestellten fraßen sich bei den Speisen die der Catering Service jeden Tag heranschaffte gleich mit durch und der Rubel rollte. So etwas hätte er wirklich nicht erwartet: Er saß um drei Uhr morgens im Büro, nachdem er im Bett ins Grübeln gekommen war und deshalb nicht mehr schlafen konnte. Seine Arbeit hatte ihn gepackt und er managte in freiwilligen Überstunden die Vermarktung von Enndlins Life.


Und er hatte eine Idee! Nach Stunden des Grübelns wusste er jetzt auch wie er sie umsetzen konnte. Morgen früh schon würde er zur Chefin gehen und versuchen sie zu überreden. Nur ein kleiner Zusatztext auf den Covern der verkauften Enndlins Life-Sätze würde es sein sowie das Einrichten eines Spendenkontos.


Schon jetzt konnte er sich das Grinsen nicht mehr verkneifen, er konnte nicht mehr schlafen, war völlig übermüdet, aber das Grinsen ging nicht mehr weg. Und bis auf die Chefin und dem Technischen Redakteur würde es in den kommenden Wochen erst einmal niemand offiziell erfahren.

Er fing an zu Lachen. Ja, genau das war's!

6 - Der bittere Beigeschmack

Konstantin wusste natürlich, dass so einiges nicht mit rechten Dingen zuging; seine Stiftung hatte schon kurz nach der Solar Paste einige Maulwürfe bekommen, die Zwischenergebnisse durchsickern ließen bevor sie veröffentlicht wurden. Es waren eine Menge Nationen als Wissenschaftler bei der Stiftung angestellt und er hatte Sorge getragen, dass sie für die Arbeiten bestens geeignet waren. Er hatte bei ihrer Anstellung schon gespürt, dass sie irgendwelche Leichen im Keller hatten und deshalb diese Forschungsspionage erwartet. Es war ihm nur recht; die Stiftung arbeitete mit offenen Karten und die Entwicklungen und Aufbauten wurden in ihrem Entwurf so weit mit protokolliert, dass die Entstehung der Forschungsergebnisse kontinuierlich nachgewiesen werden konnte. Kaum eine Firma oder Konzern hätte eine Chance gehabt sie sich unter den Nagel zu reißen oder gar als die ihren auszugeben bevor die Stiftung sie bekannt gab. So sorgte Konstantin dafür, dass keine Patente oder andere Ansprüche auf die Arbeiten angemeldet werden und so Blockaden in der Verbreitung entstehen konnten. Daher leisteten die Spione sogar einen Beitrag bei der Verbreitung der Ergebnisse, es entstand kein Nachteil durch sie.


Der minimale Softwarefehler und das Netz der Angestellten, die die Dokumentüberarbeitungen vornahmen und so seinen Einfluss auf die neuen Errungenschaften verschleierte, leisteten ganze Dienste. Niemand ahnte auch nur, dass er dahinter steckte. Er beobachtete Simon bei jeder sich bietenden Gelegenheit und selbst der schien nichts davon zu bemerken.


Nach der Veröffentlichung der neuen Akkumulatortechnologie stand die Stiftung im Mittelpunkt der weltweiten Forschung und alle Blicke ruhten auf ihren neuesten Entwicklungen. Es gab etliche Anfragen für Interviews und noch viel mehr neugierige Journalisten, die wissen wollten wer denn nun für diese bahnbrechenden Entwicklungen verantwortlich sei. Enndlins Life, die Solar Paste, jetzt die Superakkumulatoren und niemand, der dahinter steckte? Es wurde schon über Nobelpreisnominierungen gemunkelt, aber es fand sich niemand konkretes, der auszuzeichnen wäre. Dahinter steckte auch die Stiftung, die auf Basis des ungewöhnlichsten Werkes der Musikgeschichte gegründet wurde und dessen Urheber sich hinter dem Pseudonym Opus Eximum versteckte.

Die Fragen begannen ungemütlich zu werden, nicht nur weil alle die ersten sein wollten, die das Geheimnis lüfteten. Selbst der dümmste Journalist witterte inzwischen, dass es sich um keinen Zufall mehr handeln konnte.


Nichtsdestotrotz waren Pressewirbel und Forschungsspionage nur zwei ungünstige, aber auch erwartete Seiten der Angelegenheit. Neben den Journalisten zeigten die Maulwürfe, dass sich inzwischen eine Schwierigkeit manifestierte, die Konstantin nur begrenzt kontrollieren konnte und die er als ernste Gefahr für sein ganzes Projekt ansah.


Geheimdienste wurden spätestens jetzt auf die Stiftung aufmerksam, denn sie hatte beträchtliche Bewegung in die Weltwirtschaft gebracht sowie große Kapitalflüsse, neue Technologien und politische Machtspiele verändert. Diese hingen nicht nur stark von Geldquellen ab, die mit Öl und Fahrzeugindustrie zu tun hatten. Einige sehr reiche Menschen und Großkonzerne hatten mächtig Federn gelassen und ihre Lobbys schmolzen dahin. Insbesondere die kapitalistischen Länder, die durch solchen Lobbyismus stark beeinflusst wurden, hatten Instabilitäten zu verzeichnen. Viel Macht verschob sich in diesen Systemen, was das Risiko barg, dass Dinge in Bewegung gerieten und unkontrollierbar wurden. Selbst Konstantin traute sich nicht zu, die Mechanismen, die dort mitspielten, vollständig zu durchschauen. Sicher hätte er das können, wenn er alle Informationsquellen ausgenutzt und viel Zeit investiert hätte. Aber selbst wenn er negative Veränderungen absehen würde, wäre unklar, ob sie dann noch zu vermeiden wären. Und es wäre seinen weiteren Plänen nicht zuträglich, sich um die Stabilität irgendeines Landes kümmern zu müssen, anstatt seine eigene Pläne zu verwirklichen. Mit denen meinte er nämlich mehr erreichen zu können.


Geheimdienste betrieben Data-Mining auf höchstem Niveau und konnten Zusammenhänge ermitteln, zu denen selbst Großkonzerne nicht die Mittel aufbrachten. Informationen zu verknüpfen, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten, um Schlüsse auf Urheber zu ziehen, war das tägliche Brot solcher Dienste. Konstantin war sich nicht sicher, ob sie ihm trotz seiner wohl durchdachten Verschleierungstaktik auf die Schlichte kommen würden. Computersysteme und Algorithmen konnten mit schierer Rechengewalt Dinge verknüpfen, die selbst er nicht durchschauen konnte.


Und was würde dann passieren? Je nach dem, wie die herrschenden Strukturen die Unruhe im System bewerteten, die er oder die Stiftung verursachten, gab es unterschiedliche Möglichkeiten.

Als Risikofaktor könnte man ihn einfach eliminieren, oder ihn zwingen seinen Einfluss zu beenden. Oder, wenn man seine Fähigkeiten richtig erkannte, würde man ihn vielleicht entführen, um ihn zur Waffen- oder Technologieentwicklung oder noch anderen Dingen zu erpressen, die dann wahrscheinlich nur einer Seite zu Gute kämen.


Keine dieser Aussichten war rosig und Geheimdienste waren schlau, sie waren sehr schlau. Insbesondere war ein Problem, dass alles was Konstantin unternahm, um unerkannt zu bleiben bei genauerer Analyse auf ihn hindeuten konnte. Wenn er beispielsweise dafür sorgen würde, dass Trojaner, Spionagesoftware, Wanzen oder andere Spähversuche auf die Stiftung ins Leere liefen, dann würde ein jeder Geheimdienst erst recht neugierig werden, woran diese scheiterten. Das würde die Erhöhung der Überwachungsintensität geradezu provozieren und weitere Rückschlüsse erlauben, die Wege zu ihm aufzeigen könnten.


Konstantin wusste, dass er verletzlich war; er konnte erpresst, getötet, entführt, gefoltert oder anderweitig aus dem Verkehr gezogen werden. Genügend seiner Erinnerungen zeigten ihm das nur zu deutlich und die Mächtigen der Welt waren noch nie zimperlich gewesen. Sicher, er hatte genug Kontrolle über sich, um alle körperlichen Folterungen im schlimmsten Falle durch Selbstmord zu beenden, allerdings wäre er, wenn er erst einmal in die Mühle von CIA, NSA, KGB und Konsorten geraten wäre, nicht mehr im Stande seine Pläne zu beenden.


Also, was tun? Er ging im Detail verschieden Varianten durch.


Er könnte die Bombe platzen lassen, seine Fähigkeiten offenlegen und den zweifelhaften Schutz der Öffentlichkeit suchen, in der Hoffnung, dass sich dann niemand an ihm vergreifen würde. Oder er könnte versuchen sich in einen anderen Menschen umzuwandeln, so skurril die Idee auch klingt. Seine geistigen Möglichkeiten zur Manipulation seines Körpers würden ihm eventuell tatsächlich erlauben sein Äußeres vollständig zu verändern, wenn er sich nur intensiv genug damit beschäftigte. Noch ein Weg könnte sein, nach der Veröffentlichung einiger Neuerungen unterzutauchen und zu versuchen indirekt fortzufahren, nachdem er genügende Kontakte aufgebaut und Kanäle geschaffen hätte durch die er Informationen an die Stiftung weiterleiten könnte.

Keine dieser Ideen schien ihm tragfähig genug, er würde immer in die Passive gedrängt sein und direkte Eingriffe wären nur wenige Male durchführbar, bevor er wieder Versteck spielen müsste. Oder er würde ständig mit der Suche nach Lauschern, Intrigen oder Spionen beschäftigt sein, was ihn wieder von seiner eigentlichen Intention ablenken würde.


So entschied er sich für einen weiteren Weg, den er erst besser beherrschen und verstehen musste. Er war sich noch nicht einmal sicher, dass das ausreichen würde, obwohl einige seiner Versuche an Karen und Simon schon gute Ergebnisse zeigten, ohne dass die beiden sich dessen bewusst wären. Er begann in sich hinein zu lachen. Das könnte etwas sein mit dem man wirklich Furore machen könnte. Nun, für weitergehende Versuche würde er sich ins Bett legen müssen.

7 - Astralwanderung

Er entspannte sich und ging die Funktionen seines Körpers durch; die vergangenen Monate hatte er sich in eine Mühle begeben, die hauptsächlich aus Arbeit und Stress bestand, um seine Pläne in die Wege zu leiten. Er kehrte zurück zu dem letzten Moment, bevor er nach seinem Aufenthalt in der Brombeerwelt wieder in das normale Leben zurück fand. Der Blick auf den universellen Wissenspool der Wesen der Erde beeindruckte ihn noch immer ungemein, es gab nahezu nichts was er nicht in irgendeiner Form durchdenken konnte. Seine körperliche Existenz hatte ihn die vergangenen Monate so sehr gefesselt, dass er seine Möglichkeiten nicht annähernd ausnutze. Er schaute sich seinen Körper von außen an, betrachtete sein eigenes Gehirn als wäre es aus Glas und doch aus Fleisch und Blut, nahm wahr wie sein Herz schlug, der Sauerstoff in seiner Lunge vom Blut gebunden und Kohlendioxid abgestoßen wurde. Wie aus Spaß begann er aufzuräumen, kleine Narben zu beseitigen, Verkalkungen aufzulösen, Schadstoffe aus dem Gewebe zu entfernen und sicherzustellen, dass sie von den Nieren mit dem Harn ausgeschieden wurden. Dieser Hausputz gefiel ihm, einfach mal sauber machen und sich gleich viel besser fühlen! Nach einigen Stunden hatte er sich bis auf die Zellebene vorgearbeitet und entrümpelte gleich noch Unmengen an degenerierten Zellen und mehrere Zysten. Sogar einen Minitumor fand er in seiner rechten Niere, zwar einen gutartigen, aber auch den entfernte er. Die ganze Nacht stand er oft auf, trank ein oder zwei Gläser Wasser, ging zur Toilette bis er am frühen Morgen mit dem sechsten Gang ins Bad die größte Säuberungsaktion abschloss, die sein Körper in seinem Leben erfahren hatte.


Da die meisten Arbeiten an Karen, Simon oder die inzwischen schon größere Schar von Angestellten delegiert waren, konnte er sich Zeit nehmen, um weiter geistig aktiv zu bleiben. Nach einem ausgedehnten Frühstück betrachte er fasziniert seinen Körper, wie er das Essen verdaute, die Nährstoffe aufnahm, aufschloss, umwandelte und in den Körper einfügte. Spaßeshalber optimierte er noch ein paar kleine Gefäße, damit dieser Prozess effektiver funktionierte und erfreute sich des guten Ergebnisses.

Es fühlte sich ungewöhnlich an, an sich selbst herum zu basteln, als wenn es gar nicht sein eigener Körper wäre. Er fragte sich nicht einmal woher er diese Gabe hatte, sie war ihm natürlich zu eigen und nicht etwas, das er mühselig erwerben oder wieder aktivieren musste. Er wusste, dass es eine Erfahrung und Fähigkeit wie unzählige andere aus einem seiner früheren Leben war, einem tatsächlich sehr ungewöhnlichen vor fast viertausend Jahren.

Ein junger Mann, auf dem Lande aufgewachsen und in die Ausbildung zum ägyptischen Priester gerutscht, so dass bis er nahe an die herrschende Klasse herangerückt war. Dieses ägyptische Priesterdasein unterschied sich schon gravierend von der Mehrzahl der anderen menschlichen Leben, die bis auf wenige Ausnahmen eher Personen aus der normalen Bevölkerung waren. Die Ausbildung, die von religiösen über heilende bis zu Schreib- und Lesefähigkeiten reichte, machte ihn zu einem damals höchst ausgebildeten Menschen, der heute mit seinen Fähigkeiten größtes Aufsehen erregen könnte. Eine dieser Fähigkeiten nutzte er schon seit geraumer Zeit um Simon und Karen unterschwellig zu instruieren. Jetzt würde er sie vertiefen. Nachdem er die vergangenen Monate immer wieder kleinere und von den beiden unbemerkte Versuche unternommen hatte, war er sich dessen jetzt sicher und begab sich auf Astralwanderung.


Er verließ seinen Körper, dann den Raum, schwebte durch Wände und Türen, die er willentlich ebenso als Hindernis betrachten konnte wie auch als nicht existent. Es gab überhaupt nichts was ihn aufhalten konnte. Dieses in der heutigen Welt längst vergessene Wissen führte ihn weiter, die Straße entlang, in die Lüfte und bei dem Blick über die Stadt erschreckte er zutiefst. Seine Erfahrungen aus dem Priesterdasein stellten es zwar nicht als Risiko dar, aber der Schreck kam dennoch. Was wenn sein Körper gerade starb, weil er nicht mehr anwesend war? Nahezu zeitverlustfrei sprang er zurück und sah seinen Körper ruhig atmen mit einem Herzschlag, der sich ein wenig durch seinen Schreck beschleunigt hatte, erstaunlicherweise, wie er bemerkte. Sein Geist war also durchaus noch mit seinem Körper gekoppelt, nur nicht in ihm, sondern außerhalb. Es kam einem tiefen Schlaf nahe, in dem er sich sogar zu erholen schien.

Beruhigt ging Konstantin wieder auf Reisen, wurde mutiger und testete seine Grenzen aus. Und es gab in der Tat nur eine einzige: Er musste wieder dahin zurück finden, wo sein Körper war, und das war weniger einfach als erwartet. Von oben aus war das Land vielfältig, aber schon nach einigen Kilometern Entfernung brauchte man Landmarken, um zurück zu finden. Er war froh, geographisch ebenso gute Kenntnisse zu haben wie von anderen Dingen, denn sonst hätte er sich mühselig an Straßenschildern entlang hangeln müssen. So hatte er schnell die Gegend in der er wohnte als Bild gelernt und konnte durch einen Blick aus geeigneter Höhe mit ein wenig Übung riesige Sprünge machen, deren Entfernung in Bezug auf die Erde bedeutungslos waren. Auch ein Sprung zum Mond war in einem Moment erledigt. Interessanterweise war dieser Moment nicht beliebig kurz, er schien Zeit zu benötigen, um die Entfernung zurückzulegen. Bedauerlicherweise deutete alles darauf hin, dass die Lichtgeschwindigkeit auch hier ein universelles Phänomen war. Wie schade, schmunzelte Konstantin in sich hinein. So würde eine Reise zu anderen Planeten nicht so einfach werden, wie er zunächst gehofft hatte. Davon abgesehen würde das Zurückfinden zur Erde unter Umständen ein ernstzunehmendes Problem werden, denn sie war im Verhältnis zur Sonne winzig und die Sonne in dem Gewirr der Sterne in der Galaxis nur ein Staubkörnchen, das in Milliarden anderen nur durch präziseste Navigation wieder zu finden sein würde. Indirekt erklärte sich dadurch für ihn auch die Frage, warum er nur die Leben von Wesen der Erde durchlebt hatte und nicht von anderen. Die Reise zu anderen Planeten würde auch für Geist und Seele überdimensional lange dauern. Eine Erkenntnis über Leben auf anderen Welten oder dessen Abwesenheit ließ sich also nicht gewinnen. Wie schade, dachte Konstantin ein weiteres Mal. Das wäre wirklich interessant geworden, wenn er in anderen Zivilisationen oder auf bewohnten Planeten hätte herumgeistern können.


Er hatte sich inzwischen als Übung so weit von der Erde entfernt, das diese nur noch ein kleiner blau scheinender Punkt war und die Rückkehr dauerte schon spürbar lange. Er würde vorsichtig sein müssen, um nicht im Universum verloren zu gehen. Er hatte eine Wahrnehmung vergleichbar mit dem Sehen seines Körpers und keine Teleskopsicht, ganz im Gegensatz zu der Möglichkeit in seinem Körper auf mikroskopischer Ebene Dinge sehen und sogar ändern zu können. Was würde wohl mit seinem Körper geschehen falls er einmal nicht zurückkehrte? Ein Mensch ohne Geist und Seele trotz vollständig intakten Körpers? Wahrscheinlich würde er nach einigen Tagen verdursten oder jemand würde ihn finden und sein Zustand würde Rätsel aufgeben.


Nach der Rückkehr schaute er wieder bei sich selbst vorbei und übernahm seinen Körper. Dazu dachte er sich nur wieder in sich hinein und alles war so, als ob er gerade aufgestanden wäre und sich nur an einen Traum erinnerte. Allerdings fühlte er sich wenig erholt, etwas geschwächt oder einfach nur nicht ganz ausgeschlafen.

Er hatte schon wieder Hunger obwohl erst eine halbe Stunde seit seinem Frühstück vergangen war; ein Blick in sich hinein offenbarte ihm, dass er eine große Menge an Kohlenhydraten verbraucht hatte. Es schien also eine recht kräftezehrende Angelegenheit zu sein, geistig zu reisen. Er würde darauf achten müssen, sich gut zu ernähren und auf sich aufzupassen, wenn er öfters unterwegs sein sollte.

Viele Dinge waren ihm noch nicht klar, beispielsweise weshalb es seinen Körper Energie kostete, wenn er auf "Wanderung" war oder wie sein Körper auf den Schreck reagieren konnte, wenn er doch gar nicht "Zuhause" war. Seine Priesterausbildung gab ihm keine Antworten darauf, sondern nur die Feststellung, dass es so war.


Von nun an ging Konstantin normal seiner Arbeit nach. Er vermied zwar nicht die Arbeit an den aktuellen Forschungen trug aber auch nichts Nennenswertes mehr dazu bei. Seine körperliche Existenz degradierte er zu der eines technischen Redakteurs, der seine normale Arbeit machte.


Seine Ideen setzte er ab jetzt auf eine wesentlich subtilere Weise in die Welt.

8 - Simon

Es waren gute 11 Monate vergangen seit Konstantin ihn und Karen aufgegabelt und ihnen eine Tätigkeit versprochen hatte bei der sie Dinge bewegen konnten. Simon hatte damals gespürt, dass Konstantin es ernst meinte, aber inzwischen war derselbe mehr oder weniger in der Versenkung verschwunden und arbeitete wieder als technischer Redakteur. Karen hatte inzwischen den dritten Satz von Enndlins Life in der Mangel und sie hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er auf die ersten beiden nochmals eins drauflegte. Sie meinte die Musik inzwischen zu verstehen und genau zu wissen wie Opus Eximum alles gespielt haben möchte. Noch nie hätte sie sich der Musik so nahe gefühlt und ihre Ideen sprudelten nur so aus ihr heraus, wenn es darum ging das Ensemble zu einem perfekten Spiel zu bewegen. Sie hatte sich das Stück so sehr zu eigen gemacht, dass die Leute schon begannen zu glauben, dass sie die Komponistin sei, was sie allerdings vehement verneinte. Und er selbst? Simon war die Zeit über so sehr mit Arbeit überhäuft gewesen, dass er sich überhaupt nicht vergegenwärtigt hat, was seit dem Treffen alles passiert war. Sie hatten schon jetzt die Weltgeschichte verändert und der Zivilisation neue Richtungen gewiesen, dabei gewaltig Geld gescheffelt und waren dabei, es mit vollen Händen wieder auszugeben. Er selbst hatte für die Stiftung in den vergangenen Monaten ein ähnliches Gespür entwickelt wie Karen für Enndlins Life. Er WUSSTE einfach wie und was zu tun war und wie Hindernisse zu beseitigen waren bevor sie zum Problem wurden. Karen hatte ihm gegenüber angedeutet, dass sie ahnte wer dahinter steckte und Simon pflichtete ihr bei. Sie beide waren überein gekommen diesen Ahnungen nicht weiter zu folgen, um den eigentlichen Drahtzieher zu schützen; denn wenn der nicht mehr aktiv wäre, dann würde möglicherweise alles so schnell zusammenbrechen wie es entstanden war. In gewisser Form konnte nur Konstantin der Dreh- und Angelpunkt von allem sein oder jemand hinter Konstantin, darauf lief es jedenfalls hinaus. Wie dem auch sei, so wie jetzt musste es bleiben und darin waren sich beide einig. Sie würden kein Wort über ihre Vermutung verlieren, denn das würde nichts besser machen.


Er schweifte von diesen Gedanken ab, es führte auch zu nichts, sich nach den Hintergründen zu fragen. Viel mehr beschäftigten ihn die aktuellen Forschungsstränge und die Entwicklungen die die Abteilungen zusammentrugen. Wenn es tatsächlich wahr war, dann würde es ein wahrhaft gigantisches Projekt werden. Noch sah er aber nicht wie man das ohne Investitionen von Milliardenbeträgen bewerkstelligen sollte. Einige Puzzleteile fehlten noch, aber es blieb spannend. Opus Eximum alias Konstantin wie Simon vermutete, schreckte nun wirklich vor gar nichts mehr zurück, vor überhaupt nichts.


Parallel zu der Erweiterung des Stiftung wurden mit diversen Anrainerstaaten der Sahara Verhandlungen auf den Weg gebracht, um dort große Flächen nutzen zu dürfen. Es gab schon eine Menge Verträge, die in den unbewohnten Wüstenregionen der Stiftung den Aufbau von Solar Paste-Kraftwerken erlaubten und dabei einschlossen, dass in den Kraftwerksregionen die Landschaften nach Ermessen der Stiftung auch anders genutzt werden durften. Erzeugte Energie musste den Staaten dafür je nach Verhandlungsergebnis zu einem gewissen Prozentsatz kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, ebenso wie Anteile eventueller anderer Erträge sofern diese anfielen. Damit sicherte sich die Stiftung eine Menge Optionen ebenso wie die Anrainerstaaten.

9 - Der Komponist

Igor Strawinsky stand mächtig unter Druck und sein einziger Trost war, dass selbst die NSA die Quelle der gesteuerten Forschung in der Enndlins Life-Stiftung nicht ausmachen konnte. Igor war sich nur in einem sicher: Konstantin Pohlmann war der einzige, bei dem alles zusammen lief, nur waren seine Indizien bisher zu vage um einen konkreten Verdacht zu äußern. Er hatte nach wochenlanger Suche einen Fehler in der Stiftungssoftware isoliert, der ihn fast zum Verzweifeln brachte. Bei allen Stiftungsdokumenten wurden Änderungsdaten und Protokolle gespeichert und waren auf den ersten Blick stimmig. Erst bei akribischer Analyse stellte sich heraus, dass die Autoren und Daten statistisch gleichverteilt waren und zwar in der Mehrheit stimmten, aber dennoch keinen Schluss auf die Autoren der zentralen Änderungen zuließen, die zu den durchschlagenden Ergebnissen führten. Es musste ein Genie sein, dass sich das ausgedacht hat, was auch der einzige tatsächlich nachweisbare und konkrete Schluss war. Es stand also ein Plan hinter allem und der Urheber wollte nicht gefunden werden. Ein Zufall dieser Art war zu unwahrscheinlich um einer zu sein.

Viel war es also nicht was Igor vorweisen konnte, allerdings konnte er mit diesem Wissen von nun an gezielter vorgehen. Schon längst hatte er sich in die Tiefen der Stiftungssoftware vorgearbeitet und sein nächster Schritt würde sein, den Fehler zwar nicht zu beseitigen, das wäre zu auffällig, sondern die Informationen abzugreifen, bevor der Fehler sie vernichtete. Sein Trojaner im Zentralrechner der Stiftung zeichnete nun schon seit Stunden die realen Autoren und Zeiten der Änderungen auf. Jetzt konnte er sich seit Wochen das erste Mal zurück lehnen und musste nur noch abwarten bis die gewünschten Ergebnisse bei ihm eintrudelten.

Teil 5

Think Big

1 - Die Sitzung

Wie üblich hatten sich alle zur monatlichen Sitzung der Stiftungsleitung zusammen gefunden, und sie würden über die weiteren Projekte beraten, die zu organisieren und finanzieren wären. Karen und Simon sahen sich schulterzuckend an, weil sie kurz zuvor eine SMS von Konstantin bekommen hatten, er fühle sich fehl am Platze und hätte noch zu viel anderes zu tun. Richtig, Konstantin war noch nie Teil der offiziellen Stiftungsleitung gewesen, aber dennoch war er immer ansprechbar und Ratgeber gewesen. Sein Fehlen verursachte daher ein sehr ungutes Gefühl, denn dass er sich jetzt so sehr zurück zog, war überraschend und warf die Frage auf, ob etwas nicht in Ordnung wäre.

Während der Sitzung berichtete Karen kurz über den Stand des dritten Satzes und anschließend stellte der Music Science Finanzvorstand die aktuelle Einkommenslage durch Enndlins Life-Verkäufe vor.


Dadurch geriet der Sitzungsplan völlig aus den Fugen. Ein schlauer Kopf bei Music Science, Samuel Herrmann, der fasziniert von der Idee der Stiftung war, hatte schon einige Monate zuvor dem dortigen Vorstand angetragen, einen jeden Satz von Enndlins Life nicht nur für den üblichen Euro zu verkaufen, sondern je nach Wunsch des Käufers alternativ für einen beliebigen höheren Preis. So skurril diese Idee klang so gut funktionierte sie. Seine Präsentation enthielt die Einspielergebnisse, die alles erwartete um ein Vielfaches überschritten. Der Geniestreich an der Angelegenheit war, dass alles was den normalen Euro überschritt, als Spende für die Stiftung deklariert war und somit vollständig auf deren Konten weitergeleitet wurde. Die Stiftung als eingetragener und gemeinnütziger Verein sowie als Forschungsinstitution konnte steuerfrei darüber verfügen. Ein erhöhter Kaufpreis wurde automatisch als Spende zur Stiftungsförderung verbucht.


Auf allen Datenträgern auf denen Enndlins Life verbreitet wurde, war der Einsatz der Gelder in der Stiftung und deren bisherigen Ergebnisse in einem kleinen Beiheft dokumentiert. Insbesondere die Entwicklung der Solar Paste, deren patentfreie Nutzbarkeit und die neuartigen Leistungsakkumulatoren waren darin erwähnt und als Ergebnisse des Verkaufes von Enndlins Life dargestellt. Es gab kaum noch jemanden auf der Welt, an dem diese Entwicklungen vorbei gegangen waren und der nicht wusste, was mit den Einnahmen aus Enndlins Life geschah.


Dass die Spendenbereitschaft der Käufer den Durchschnittswert pro verkauftem Stück durchschnittlich von einem auf fast zwei Euro steigen ließ, führte zu einem Raunen in der Runde. Die Rechnung verdeutlichte, dass die sonst nur 25 Prozent Stiftungsgewinn an einem verkauften Stück somit auf 125% stiegen, Tendenz steigend. Zwei Tage zuvor hatte das flüssige Kapital der Stiftung so den Wert von einer Milliarde Euro überschritten. Angesichts dieser astronomischen Summe herrschte Sprachlosigkeit; schließlich hatte niemand von diesem Alleingang Music Science's gewusst.


Man hatte sich schon den Kopf darüber zerbrochen, wie man die erwarteten 125 Millionen sinnvoll einsetzten konnte. Mit den bisherigen Erweiterungsplänen für die Stiftung, wäre in den kommenden Monaten selbst davon nicht einmal ein Bruchteil verbraucht worden. Dass die ohnehin enorme Summe jetzt noch so dermaßen überschritten wurde, verursachte offensichtlich Verwirrung. Samuel Herrmann, der auch die Präsentation abhielt, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er genoss so sichtlich seinen Triumph, dass es nicht zu übersehen war, dass er derjenige war, der diese Idee aufgebracht hatte.

Simon brach als erster das Schweigen und witzelte herum "Damit können wir ja die halbe Sahara kaufen und urbar machen!"

"Ich will ein eiskaltes Bier" fiel Gerald aus der Rechtsabteilung ein, "und einen Schnaps hinterher!"

"Lass Dich danach bloß nicht erwischen, wenn Du mit dem Formel-1-Dienstwagen, den wir jetzt kaufen können, mit 400 Km/h auf der Autobahn unterwegs bist." Ein Witz folgte dem anderen bis Karen als "Spaßverderberin" die Sitzung wenige Minuten später "wegen außerordentlicher Umstände" vorzeitig beendete und zum Essen in dem nahe gelegenen Restaurant einlud.

2 - Größere Dimensionen

Konstantin hatte sich schon seit einigen Tagen auf die monatliche Sitzung der Stiftungsleitung gefreut, auch wenn er nicht an ihr teilnehmen würde, jedenfalls nicht in körperlicher Form. Den Knüller mit dem Verkauf von Enndlins Life inklusive der Spenden war ausnahmsweise nicht auf seinem Mist gewachsen sondern ausschließlich auf dem von Samuel Herrmann. Da er viel geistig unterwegs war, um seinen Stand der Dinge über die Stiftung und Music Science zu vertiefen, war ihm der Alleingang der Firma nicht entgangen. Und das Zusehen hatte ihm viel Spaß gemacht. Er hatte dabei seine neue Astralwandertechnik ausgebaut und verstand es nun, Leuten komplexeste Ideen in den Kopf zu setzen, ohne, dass sie sich dessen bewusst wurden, sie hielten sie für die eigenen und das gefiel Konstantin ungemein.

Bei Karen und Simon hatte er das schon seit Monaten vorsichtig geübt hatte und man merkte den beiden an, wie leicht ihnen ihre Aufgaben fielen, sie kamen aus einem Höhenflug bei ihrer Arbeit gar nicht mehr heraus, ihnen gelang einfach alles. Karen hatte sich Enndlins Life zu eigen gemacht und Simon hatte die Stiftung organisatorisch gnadenlos perfekt im Griff.


Sein erster Weg über die Dokumentenmanipulation erschien ihm jetzt schon unsäglich mühselig angesichts der Einfachheit und Leichtigkeit wie er seine Pläne jetzt verbreiten konnte. Längst hatte er Abstand genommen von seiner Haltung, die Menschen nicht zu manipulieren. Er konnte Dinge nun auf eine wesentlich direktere Art in Angriff nehmen, sehr einfach ungünstige Entwicklungen frühzeitig erkennen und musste seine eigene Entdeckung nicht mehr fürchten. Er konnte inzwischen bei seiner normalen Arbeit seinen Körper die übliche Dinge tun lassen während er parallel astralwandernd die großen Dinge in Bewegung brachte. Hier eine Assoziation für eine verrückte Idee bei einem Studi, dort bei einer Doktorandin der Sprung um zwei Ecken, um einen Beweis zu vervollständigen oder in einem Labor ein physikalisches Experiment, bei dem unabsichtlich nicht die Flasche mit Wirkstoff A sondern die mit B verwendet wird und das Versuchsergebnis unerwartete Folgen hat.


Die Mittagspause hatte er genutzt um sich voll und ganz der Sitzung zu widmen, das wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen. So hatte er hatte die Reaktionen aller Teilnehmenden auf die Milliardensumme live miterlebt obwohl niemand das bemerkte und dementsprechend war jetzt seine Stimmung. Sein Pausenbrot schien besser zu schmecken als je zuvor und er fühlte sich als läge ihm die Welt zu Füßen. Nur eine winzige Assoziation während der Sitzung hatte er angestoßen und sich zu Nutze gemacht. Damit waren ein paar Dinge auf den Weg gebracht, die er angesichts der neuen Kontoverhältnisse erstmals für ein erreichbares Ziel hielt. Ein paar Kleinigkeiten musste er dafür noch erledigen, aber der Weg war dank Samuel Herrmann schneller geebnet worden als geplant. Die Richtung stimmte und viel Geld macht viele Dinge leichter.


Seine Idee, Ländereien in der Sahara zur Nutzung zu erwerben oder pachten, schien davon abgesehen recht ordentlich zu funktionieren. Wenn man daran dachte mit der Solar Paste Unmengen Strom zu erzeugen war das schließlich eine naheliegende Idee. Da die Staaten dort oft nur wenig eigene Mittel und Strukturen hatten, um solche Unternehmungen selbst auf den Weg zu bringen, waren diese Verträge zum gegenseitigen Nutzen. Beide Seiten verpflichteten sich nur zu sehr wenig, und konnten beide nur gewinnen, denn derzeit war das Land, um das es ging schlichtweg wertlos, weil es zumeist karge und lebensfeindliche Sand- oder Steinwüste war.

Den eigentlichen Hintergrund dieser Verträge kannte allerdings bisher nur Konstantin selbst. Ob der Strom von dort in absehbarer Zeit gut genutzt und überhaupt nötig war, war fraglich angesichts der riesigen Flächen die schon jetzt mit der Paste gestrichen wurden und noch gestrichen werden würden.

3 - Die Schlinge zieht sich zu

Er hatte ihn. Die mühselige Datenanalyse, die schwierige Entwicklung des Trojaners für den Stiftungszentralrechner und die wochenlange Angst vor Repressalien, falls er kein zufriedenstellendes Ergebnis liefern konnte. Ja, er hatte ihn. Der Trojaner lieferte nun die tatsächlichen Manipulationen der Stiftungsdokumente. Die Menge der kleinen Änderungen an den Dokumenten führten, wenn auch über etliche kleine Umwege, zu der neuesten Wahnsinnserfindung der Stiftung, dem Leistungsakkumulator, der alle bisherigen um Faktor hundert in den Schatten stellte. Schon früh war sein erster Verdacht auf Konstantin Pohlmann gefallen und jede weitere vom Trojaner gelieferte Information ließ die Wahrscheinlichkeit steigen. Die Statistiksoftware spuckte einen Wert von 93% für Pohlmann aus und das reichte, um zum Chef zu gehen.

Pohlmann musste ein Genie wie kein zweites sein, um eine solche Leistung zu vollbringen; nur wenn man wusste wonach man suchte, konnte man seine Manipulationen ahnen. Es hatte Igor Wochen gekostet sie zu verstehen und das war auch nur machbar, weil er ein Ergebnis, die vor kurzem veröffentlichte neuartige Akkumulatortechnik, kannte und sie dann zurückverfolgen konnte. Der Trojaner hatte inzwischen zwei Monate die wahren Dokumentänderungen gesammelt und so den Weg von Pohlmann zu den Resultaten offenbart.

Die beiden großen Erfindungen waren nicht das eigentlich Besondere, es war die Gesamtheit aller neuen Richtungen, die sich in den Dokumenten abzeichnete und die Pohlmann auf diese Weise in die Welt brachte. Viele einzelne für sich war schon bahnbrechend. Ganz abgesehen davon, dass er wahrscheinlich auch noch Enndlins Life ausgebrütet hatte. Er besaß also nicht nur einen naturwissenschaftlichen Genius sondern auch noch einen musischen.

Igor musste nur noch alles ins Reine bringen, gut ausschlafen und alles noch einmal überprüfen, um nichts dem Zufall zu überlassen. Es würde einiges an Statistiken und Fakten erfordern, die er korrekt erstellen und sauber präsentieren musste, um seine Chefs zu überzeugen.

4 - Im Vorfeld

Joe Sandman saß in seinem Flieger auf dem Weg zur Enndlins Life Stiftung in Deutschland. Er war stolz auf die Arbeiten und Forschungen, die in er in seinem Leben auf die Beine gestellt hatte, insbesondere darauf, dass er in den vergangenen Jahren sein Institut am MIT hatte aufbauen können. Dessen Ergebnisse im Bereich der Mikro- und Nanoroboter, kurz Nanobots, waren weltweit angesehen.

Die Einladung zu einem Vortrag der Konferenz der Enndlins Life-Stiftung ehrte und freute ihn daher, denn die ganze Forschungswelt schaute auf dieses Event. Die bisherigen beiden Konferenzen hatten enorm viel Aufsehen erregt und die Ergebnisse hatten schon nach wenigen Monaten weltweit Auswirkungen gezeigt.

Beide Male war die Struktur der Konferenz gleich: Vorträge von bekannten Forschungsgrößen gemischt mit Arbeiten der Stiftungsforscher. Und die hatten es in sich! Die eingeladenen Vorträge waren nur Beiwerk gewesen, nur Makulatur. Sie hatten den Rahmen gebildet, um die neuen Ergebnisse in der aktuellen Forschung einzubetten, was sicher Sinn machte.

Im Nachhinein hatten die Eingeladenen immer blass ausgesehen, sie sahen durch die Stiftungsergebnisse sogar demütigend schwach aus. Am liebsten hätte Joe diesen Vortrag deshalb ausgeschlagen, was ihm seine Ehre als Forscher jedoch verbot und natürlich war die Teilnahme als solches schon eine Auszeichnung.

Trotz all der Jahre harter Arbeit und obwohl er einer der besten auf seinem Gebiet war fürchtete er nun eine Blamage. Dennoch, ob es ihm gefiel oder nicht, er musste jetzt da durch. Davon abgesehen erfüllte sich seine Hoffnung nicht, beim wiederholten Durchforsten der Konferenzabstracts einen Hinweis auf den zu erwartenden großen Coup zu finden. Es waren spannende Themen dabei, auch in seinem Gebiet der Nanobots, aber nichts was ihm verraten hätte, worauf es dieses Mal hinauslaufen würde. Die Abstracts gaben dafür nicht genug Details her.

5 - Die Konferenz

Sybille Groß hatte schon bei der zweiten Konferenz der Enndlins Life-Stiftung dabei sein wollen, aber ihr Verlag hatte die Kosten gescheut. Als Wissenschaftsjournalistin hatte sie die Stiftung schon seit der Solar Paste kontinuierlich im Auge behalten. Nicht nur die Forschungen der Stiftung waren ungewöhnlich, sondern auch ihr explosionsartiges Wachstum. In zwei Jahren war die Stiftung auf über eintausendfünfhundert Angestellte gewachsen und schien dennoch höchst effektiv zu funktionieren. Das war eine organisatorische Meisterleistung, wenn man bedachte, dass sie nach Enndlins Life aus dem Nichts heraus gegründet wurde. Zur dritten Konferenz fahren zu dürfen hatte sie sich schließlich nicht nehmen lassen, sie hätte die Reise und den Eintritt sogar selbst bezahlt, wenn sie sich nicht hätte durchsetzen können. Nach der Superakkumulatorveröffentlichung hatte ihr Verlag aber keine Argumente gegen ihre Teilnahme mehr.

Sie hörte die Vorträge nun schon seit Stunden und es waren sowohl spannende Ergebnisse als auch eine Menge Visionen dabei.


Im Bereich Nanotechnologie gab es winzige Roboter, die für ihre Größe erstaunliche mechanische Leistungen vollbringen konnten, sei es, sich auf oder durch elektrostatische Felder zu bewegen oder andere Dinge zu tragen und zu manipulieren, so als wären sie Ameisen. Dabei war ihre Abnutzung gleich Null, weil sie nur durch die besagten elektrostatischen Felder Kontakt mit andern Dingen hatten. Wie bei vielen Mikro- und Nanomaschinen war die Energieversorgung leider noch eines der größten Probleme.


Wie darauf abgestimmt wurde von Physikern ein neuartiger Tunneleffekt vorgestellt, der die Versorgung von Kleinstgeräten durch Solar Paste erlaubte. Bei einem Abstand von wenigen Mikrometern zu den beiden Anstrichen der Paste konnte von dort direkt elektrische Energie berührungslos abgezapft werden.


Biologen präsentierten eine Pflanzenzüchtung namens Sunwater, die bei Wassermangel lediglich erstarrte ohne jedoch zu vertrocknen, sich bei Wasserzufuhr aber schnell auf eine Größe von etlichen Quadratmetern ausbreiten konnte. Die Erde unter ihr wurde effektiv gegen direkte Sonnenstrahlung und Austrocknung geschützt, so dass sich dort leicht ein feucht-warmes Mikroklima bildete. Nach dem Absterben lieferte sie einen hervorragenden Nährboden für andere Pflanzen und insbesondere wurde das aufgenommene Wasser dauerhaft durch einfache chemische Reaktionen gebunden. Selbst intensivste Sonneneinstrahlung wurde durch sie genutzt, indem sie direkt aus dem Kohlendioxid der Luft zusammen mit Wasser sehr energiereiche chemische Verbindungen produzierte.

Die Samen dieser Pflanzen waren mikroskopisch klein - ein Kilogramm reichte für mehr als eine Million Pflanzen, von denen jede in wenigen Monaten zu einem zentnerschweren Gewächs werden konnte, welches zu 98% aus dem gespeicherten Polysaccharid Glycogen bestand. Die Natur nutzte dieses nicht umsonst als Energiespeicher und Treibstoff in etlichen biologischen Prozessen. Sein Energiegehalt war dem des Benzins oder Erdgases vergleichbar und konnte somit direkt als Treibstoff Verwendung finden.

Es waren also nur Wasser und wenige Kilogramm Samen nötig, um enorme Mengen an Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entziehen und damit nahezu direkt verwendbaren Treibstoff zu produzieren. Dieser konnte klimaneutral verbrannt werden, weil nicht mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre zurückgegeben als zuvor von den Pflanzen gebunden wurde.

Zu Guter Letzt war Sunwater eingeschlechtlich und konnte sich deshalb nicht selbst vermehren. Eine unkontrollierte Verbreitung war somit ausgeschlossen.


Weitere physikalische Reaktionen wurde vorgestellt.


Eine die beim Einfrieren oder Erstarren verschiedener Flüssigkeiten hauchfeine, perfekt gerade kristalline Röhren entstehen ließ, die die Kristalle der Länge nach durchzogen und diese exakt in eine bestimmte Richtung ausrichteten.


Oder ein Effekt, der es erlaubte in einem winzigen elektrischen Feld die Oberfläche zweier siliziumhaltiger Körper untrennbar zu verschmelzen.


Und Röhren, die durch elektrische Felder dafür sorgten, dass Salzwasser das durch sie fließt, auf einer Seite den Salzgehalt erhöhte und der anderen Seite verringerte. Somit konnte auf längeren Strecken ohne osmotische oder Destillationsprozesse Süß- von Salzwasser getrennt werden.


Die mit Abstand wichtigste Erfindung war der Hochtemperatursupraleiter, der schon bei bei Temperaturen unter plus neunzig Grad Celsius supraleitend wurde. Auch wenn nur verhältnismäßig geringe Stromstärken vertrug, war er billig zu produzieren und in großen Mengen herstellbar.


Offenbar hielt die Stiftung diese Vorträge für besonders wichtig, Sybille sah das Gesamtbild jedoch noch nicht. Eine Menge starker Techniken und Entwicklungen, die an vielen Stellen in der Industrie von großen Nutzen sein konnte, aber nichts was auch nur im Entferntesten der Solar Paste oder den Leistungsakkumulatoren nahe kam.

Sie begann zu zweifeln, ob es dieses Mal wieder einen so großen Wurf geben würde, fürchtete daher, dass es keinen Anschluss an die phänomenalen Leistungen der vorherigen Konferenzen geben würde. Auch sah sie noch nicht den Sinn der Brainstormingsitzung am Ende. Was sollten dort noch großartigen Neuerungen erdacht werden, die in den Monaten zuvor noch niemanden eingefallen oder es nicht in die Auswahl der vorgestellten Neuerungen geschafft hatten?

6 - Vorarbeiten

Konstantins hatte sich die vergangenen Tage ausschließlich auf die Vortragenden der Konferenz konzentriert, um einen Fluss in die Zusammenstellung der Vorträge zu bringen. Er hatte eine Weile gebraucht, um alle Teilnehmenden zu finden, wo gerade sie sich auch immer auf der Welt aufhielten und herauszufinden wie ihre Beiträge aussehen würden. Dann hatte er sie "bearbeitet", insbesondere die Chefs, die ihre Vorträge oft nur noch durch ihre Doktoranden und Studenten machen ließen.

Allen hatte er drei Dinge "eingeimpft":

- Erstens: Die Sorge, dass sie angesichts der Stiftungsergebnisse schlecht aussehen würden.

- Zweitens: Eine Menge Ideen, die auf ihren bekannten Arbeiten beruhten, und mit denen sie hoffen konnten sich dennoch gut ins Bild setzen zu können.

- Drittens hatte er dafür gesorgt, dass sie ihre Standardvorträge komplett überarbeiteten und zwar so, dass sie mit allen anderen ein Gesamtbild ergeben würden. Oft ging das so weit, dass diese Vorträge mit den ursprünglichen Abstracts fast nichts mehr gemeinsam hatten.


Diese Überarbeitung und die Notwendigkeit ihnen allen ständig per Astralwanderung auf den Fersen bleiben zu müssen, war anstrengend, aber jetzt so gut wie erledigt. Morgen Abend würde alles mit einem gemeinsamen Essen beginnen und seinen Lauf nehmen. So mancher Mensch würde sich im Anschluss an die Konferenz über die eigenen Aussagen und Ideen wundern.


Auszuschlafen fiel Konstantin momentan schwer, denn die zwei Vortragstage musste er im Geiste begleiten und in Diskussionen nach den Vorträgen eine Menge weiterer Ideen sähen. Er wollte, ja musste alles zu einem fulminanten Ende bringen. In seinem Kopf stand das Gesamtbild, das zu organisieren sogar im schwer fiel. Und der Stress machte ihm ebenso zu schaffen. Erst am Ende, in der Brainstormingrunde, würde er alles zusammenlaufen lassen und das eigentliche Ergebnis würde sichtbar werden.


Dementsprechend müde war. Eines der wenigen Dinge für das er keine Lösung fand, war der Verbrauch an Energie, wenn er auf "Wanderung" war. Eine einzelne Astralwanderung für sich gesehen, war nicht weiter kraftraubend, aber fast den ganzen Tag in hunderten von ohnehin schon schlauen Köpfen unterwegs zu sein und ihnen Ideen einzutrichtern, Ergebnisse zu optimieren und einen großen über allem stehenden Weg zu verfolgen, mergelte ihn aus.

Hinzu kam das Problem, dass er sich seiner selbst zu sicher gewesen war. Er hatte geglaubt, der Fehler in der Stiftungssoftware wäre ausreichend, um seine Manipulationen zu verbergen, aber die Rechnung hatte er ohne die Geheimdienste gemacht. Den Trojaner im Stiftungsserver hatte er gestern entdeckt und versuchte noch immer auszumachen, was für Schlüsse über ihn jetzt möglich waren. Seine Überlegungen und Nachforschungen vor einigen Wochen hatten ihm die beeindruckten Kombinations- und Data-Mining Fähigkeiten der Dienste zwar offenbart, er hatte sie jedoch nicht ernst genug genommen. Irgendwo auf der Welt war ihm jemand auf der Spur. Noch ließ er den Trojaner unangetastet, denn seine Gegner sollten nicht wissen, dass er Bescheid wusste. Noch konnte er versuchen, das zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen, insbesondere weil er seit einiger Zeit nicht mehr den Weg über die Dokumentenmanipulation ging sondern nur noch die Astralwandertechnik nutzte.


Das Gute an der Sache war, dass seine nächste "Erfindung" reif war die Veröffentlichung war. Wie schon die ersten beiden Male würde es die Konferenz sein, bei der die Mixtur der Vorträge zu den Ergebnissen führte. In diesem Fall war es so geregelt, dass es im Anschluss an die Vorträge eine freie Brainstorming- und Diskussionssitzung unter Leitung von Simon geben würde. Konstantin wusste, dass die ganze Welt auf diese Konferenz schaute, aber noch sah niemand das eigentliche Ergebnis was aus all den Arbeiten folgen würde. Seine "Maulwürfe", die er schon fast lieb gewonnen hatte, waren fleißig gewesen und die meisten Ergebnisse waren schon in irgendeiner Form durchgesickert. Davon abgesehen gab es in der Satzung und den Arbeitsverträgen der Stiftung kein Verbot, über wissenschaftliche Arbeiten zu sprechen oder sie weiterzugeben. Dennoch sah noch niemand das, was aus der Kombination der Arbeiten folgen konnte und würde. Nur er selbst hatte die finalen Schlüsse im Kopf und würde die abschließende Sitzung nutzen, um alle Teilnehmenden zu dem gemeinsamen Schluss zu führen. Karen würde die bisher noch unter Verschluss gehaltene Finanzlage der Stiftung ebenso vorstellen sowie das Ergebnis der Brainstormingsitzung zusammenfassen.

Die eigentliche Sensation würde sein, wenn sie den finanziellen Beitrag der Stiftung nach dem Ergebnis des Brainstormings ankündigen und in die Presse geben würde.

Selbst sie wusste das eigentliche Ergebnis noch nicht, erst kurz vor Ende der Sitzung würde er sie und Simon instruieren. Diese Instruktion würde aus einem Zitat der Satzung bestehen, der die Investition großer Mittel aus den Einkünften durch Enndlins Life bei besonderen Anlässen erlaubte.


Die Stiftung und die zuarbeitenden Institute hatten inzwischen einige tausend wissenschaftliche Mitarbeiter und nur etwa dreißig würden zu der Konferenz beitragen. Alle anderen hatte Konstantin aber auch schon auf den Weg gebracht. Seine Ergebnisse in Bezug auf die Kernfusion, die kosmischen Gesetzmäßigkeiten, sein Wissen über Medizin, welches er durch seine Selbstmanipulationen ermittelt hatte und die unzähligen anderen Resultate hatte er in Häppchen auf viele Köpfe verteilt. Diese Forschenden, an deren Auswahl und Einstellung er geistig fast immer mitgewirkt hatte, waren fähig genug, um diese Ideen zusammenzufassen und gründlich auszuarbeiten. Und währenddessen "blickte" Konstantin regelmäßig in die Köpfe und passte Dinge an, damit sein eigentliches Wunschergebnis nicht verwässert wurde. Er hatte all diese Leute inzwischen mit so vielen Ideen und Schlüssen geimpft, dass die Stiftung noch über Jahre hinweg tausende von Veröffentlichungen machen würde, die die Zukunft der Menschheit noch lange beeinflussen würden.

7 - Feinde

Igor war sich sicher, dass Konstantin Pohlmann der Urheber der Stiftung war, auch wenn sein ermittelter Statistikwert die vergangen Tage wieder leicht sank. Seine Statistik belegte dies, ein Zufall war nahezu ausgeschlossen. Die entscheidende Sitzung mit seinen Chefs begann jetzt und es würde die Entscheidung fallen, ob man seinen Ergebnisse trauen könne und ob man versuchen würde sich dieser Person zu bemächtigen. Ihm wurde flau im Magen, wenn er sich vorstellte, dass, nachdem er fast elf Wochen an der Analyse gesessen hatte, man seinen Schlüssen nicht folgen könnte. Das würde ihn seinen Job kosten. Er wusste, dass er schon keinen objektiven Blick mehr auf seine Arbeit hatte, zu tief hatte er sich hinein gewühlt in die Daten.

So stellte er zunächst die Fakten vor, seine Vorgehensweise, die Recherche über das Internet und den Aufbau der Stiftung.

Seine Schlussfolgerung konzentrierte sich auf die Tatsache, dass es nur drei Personen geben könne, die Urheber der Enndlins Life-Kompositionen und der Stiftungsorganisation waren, Karen Meier, Simon Radeberg und Konstantin Pohlmann. Einer der drei musste über Quellen oder ein Genie verfügen, die extrem waren. Bis Enndlins Life war keiner von ihnen in irgendeiner Form aufgefallen, weder im wissenschaftlichen noch im musikalischen oder organisatorischen Bereich.

Igor hatte neben dem Stiftungsserver auch den der Firma Music Science infiltrieren können und hatte reichlich an Unterlagen gefunden, die die Musiker, die Tonstudios und die Stiftung namentlich aufführten. Auch den direkten Auftraggeber konnte er als die Stiftung identifizieren, der Komponist von Enndlins Life lief allerdings durchgängig unter dem Pseudonym Opus Eximum und war noch nirgendwo persönlich in Erscheinung getreten. Ihn galt es zu identifizieren, isolieren und seiner habhaft zu werden. Er oder sie hatte neben der Komposition schließlich auch die Bestimmungen für den Einsatz der Einspielergebnisse festgelegt, die sich in der Enndlins Life-Stiftung manifestierten.

Die einzige der drei, die aufgrund ihrer Ausbildung im Stande sein könnte, Enndlins Life zu komponieren, war Karen Meier, auch wenn sie bis dato keine nennenswerte musikalische Veröffentlichung zu verzeichnen hatte.

Ein Blick auf das Gesamtbild zeigte jedoch, dass es kein Zufall sein konnte, dass sich in und um die Stiftung die intellektuellen Leistungen so konzentrierten. Karen Meier könnte von ihrem Hintergrund zwar die Komponistin sein, jedoch keinesfalls die wissenschaftlichen Ergebnisse verantworten. Sie hatte auch mit dem Aufbau der Stiftung nur marginal zu tun und ihr technischer Ausbildungsstand war vernachlässigbar. Davon abgesehen handelte sie auch offiziell nur im Auftrage von Opus Eximum.


Ebenso Simon Radeberg. Er war der zentrale Organisator der Stiftung, hatte aber offensichtlich nichts mit den Ursprüngen der Komposition zu tun und war auf für meisten Forschungsergebnisse selbst nicht zuständig. Ihm war das physikalische Genie für den Entwurf der Solar Paste und des Leistungsakkumulators nicht zuzutrauen.

Da beide anfangs von Konstantin Pohlmann angestellt wurden, der Vertrag nach kurzer Zeit aber wieder beendet wurde und die Stiftung die Anstellung von allen dreien vornahm, musste Pohlmann eine gewisse Rolle spielen. Zusammen mit der detaillierten Analyse der Dokumentenzugriffe in der Stiftung fokussierte sich das Bild auf ihn. Er hatte sowohl bei der Entwicklung der Solar Paste als auch bei der des Superakkumulators als einziger nahezu damit zusammenhängende Dokumente manipuliert. Seine Änderungen waren oft nur marginal, aber im Zusammenspiel mit dem Softwarefehler, der diese Zugriffe verschleierte, lag nahe, dass er seine Rolle verheimlichte. Als technischer Redakteur und IT-Angestellter hatte er entsprechenden Zugriff auf den Server. Statistische Auswertungen aller Fakten erhöhten die Wahrscheinlichkeit auf über achtzig Prozent, dass er sowohl für Enndlins Life, die Solar Paste und den Superakkumulator die Verantwortung trug. Zusammen mit den marginalen Dokumentenänderungen, die erst als Gesamtheit zur Solar Paste führten, stieg der Wert auf fünfundneunzig Prozent. Die Folgerung, dass die Idee der Solar Paste schon vor dem Aufbau der Stiftung als Idee existiert haben musste, um die Stiftung für deren Entwicklung organisatorisch passend zu strukturieren, zusammen mit dem Wissen, dass er Radeberg und Meier anfangs angestellt hatte, bedeutete, dass er einen langfristigen Plan verfolgt haben musste, schon bevor Meier und Radeberg ins Spiel kamen.

Da Karen Meier über ihn an die Noten gekommen ist, lag die Folgerung nahe, dass er auch der Komponist von Enndlins Life sein könnte. Sprich, es musste sich bei ihm entweder um ein Universalgenie ersten Ranges oder einen Strohmann für ein solches handeln.


Es gab noch zwei weitere Thesen. Eine, die Triumviratthese, besagte, dass Meier, Pohlmann und Radeberg gemeinsam der Quell der Erfindungen waren und eine andere, dass alles nur ein glückliches Zusammentreffen einer Musikerin mit zwei Idealisten und einer Musikfirma war, die bei der Auswahl der Wissenschaftler und deren Ideen ausgesprochen viel Glück gehabt hatten. Beide konnte Igor nur statistisch widerlegen. Zu seinem Unmut verstiegen sich seine Kollegen und Chefs in die Triumviratthese, weil sie annahmen, dass ein einzelner Mensch solche Leistungen in weniger als zwei Jahren nicht alleine erdenken konnte. An Zufälle glaubten sie nicht, schon gar nicht wenn sie sich bei Erfindungen solcher Bedeutung wiederholten.


Igor versuchte weiterhin eine Fokussierung auf Pohlmann zu erreichen und schlug vor, Agenten auf alle drei anzusetzen. Diese sollten vor Ort die notwendigen Informationen ermitteln und versuchen festzustellen, woher beispielsweise die Noten von Enndlins Life tatsächlich kamen, bevor Karen Meier sie von Pohlmann erhielt und sie mit den Musikern intonierte.


Zu seiner Überraschung folgten seine Chefs seinem Vorschlag. Die Anwesenheit von Agenten würde auch das schnelle Beseitigen von allen dreien ermöglichen sofern eine Entscheidung von ganz oben dieses erfordern sollte. Und sehr zur Freude von Igor würde er zusammen mit zwei weiteren Kollegen den Einsatz selbst durchführen.

8 - Das Brainstorming

Konstantin war fast am Ende seiner Kräfte, die vergangenen Tage hatte er gefühlt mehr Zeit in den Köpfen anderer Menschen zugebracht als in seinem eigenen, aber es fehlte nur noch das Brainstorming und die Vorträge von Karen. Die Sitzung war begrenzt, nur etwa 25 Personen waren eingeladen und Simon eröffnete mit Dankesworten an alle Rednerinnen und Redner. Er stellte die Ergebnisse der Konferenz als richtungsweisend dar. Dennoch war die Stimmung eine andere, niemand hatte den Eindruck, dass das Resultat wieder von so durchschlagender Natur sein würde wie bei den vorherigen beiden.


Erstaunlicherweise, wie Konstantin fand, denn schon die Supraleiter und die Sunwaterpflanzen würden enorme Auswirkungen haben. Aber die Menschen wurden anspruchsvoller, ihre Erwartungen waren fast grenzenlos geworden nach den beiden Konferenzen zuvor.


Mit der Eröffnung der Diskussion über mögliche Anwendungen übergab Simon das Wort an Joe Sandman.


"Ich bin erstaunt über die Vielfalt der unterschiedlichen Wissensgebiete, die auf dieser Konferenz vorgestellt wurden. Mich hat neben den Mikro- und Nanobotentwicklungen aus meinem eigenen Forschungsbereich besonders die Pflanzenzüchtung beeindruckt, die ohne Wasser erstarrt und nahezu beliebig lange auf Wasser warten kann ohne Schaden zu nehmen. Als Laie käme ich fast auf die Idee zu versuchen, sie in der Sahara anzupflanzen".

Innerlich war Joe froh, dass er die Konferenz mit einem guten Ergebnis abgeschlossen hatte, sein Vortrag hatte sich gut behauptet, deshalb warf er diesen Kommentar gezielt als den eines Laien in den Raum. Der Vortrag der Stiftungswissenschaftler über die sogenannten Microbots, der Mikro-Roboterameisen, die abnutzungsfrei auf elektrostatischen Feldern gleiten konnten und andere Dinge transportieren konnten erwähnte er abschließend als herausragende Leistung. Das fiel ihm keineswegs schwer, insbesondere, weil es genau eine solche war. Allerdings keine, die als bahnbrechend bezeichnet hätte, denn er selbst hatte über Ähnliches schon nachgedacht, nur war er an der Energieversorgung gescheitert, die auch hier das größte Problem zu sein schien.


"Wir müssten die Microbots mit Energie versorgen wie Patricia Schilling in ihrem Vortrag erläutert hat, an der Grenzschicht zwischen Solar Paste Schichten steht mehr als genug Energie zur Verfügung. Dann könnte man diese Roboter als ein Heer von Miniarbeitern nutzen."


Simon: "Frau Schilling, sehen sie dazu einen Weg?"


Patricia Schilling ergänzte diesen Vorschlag. "Sicher, das ist einfach, die Versorgung kann durch den von uns vorgestellten Tunneleffekt leicht erfolgen, wenn der Abstand der Microbots unter zwanzig Mikrometern bleibt. Insbesondere, wenn man die Röhrenerzeugung nutzt, die im Vortrag von Pierre Bourmant erwähnt wurde, um die Solar Paste mit Röhren zu durchsetzen. Die Röhren dürften bis etwa vierzig Mikrometer mehr Durchmesser haben als die Microbots groß sind und der Abstand ist immer garantiert. Wenn die innere Beschichtung zweischichtig ausgelegt ist haben die Bots immer Saft."


Konstantin war im Hintergrund immer aktiv und verhinderte die oft vorkommende Art mancher Professoren, sich selbst am liebsten Reden zu hören. Im Rahmen seiner Astralwanderungstaktik überschritt er dabei so manches Mal seinen Vorsatz, den Menschen nur Assoziationen und Ideen in den Kopf zu setzen. Um die Sitzung zu einem konkreten Schluss zu führen, schnitt er solchen Leuten geradezu rabiat das Wort ab. Das erreichte er ein Mal durch einen kräftigen Hustenreiz, ein anderes Mal durch das massive Einimpfen verschiedener Ideen gleichzeitig, so dass der Mann verwirrt war, ins Stottern kam und seinen Satz abbrechen musste.


Nun gab ein Wort das andere, die Idee sprangen von einer Professur zur nächsten, die Studenten ergänzten fehlende Lücken durch die Ergebnisse ihrer Vortrage ebenso wie die Doktoranden. Einen übermäßigen Respekt oder eine Scheu der Studenten vor hohen Tieren schien es nicht zu geben. Nach zwei Stunden intensiver Besprechung war das Resultat ebenso erstaunlich wie neuartig.


Der erste Schritt würde sein, einige Millionen Microbots zu bauen, diese konnten durch die in der Chipentwicklung üblichen Verfahren auf Wafern parallel in großen Mengen hergestellt werden. Pro Wafer konnten einige hundert tausend erstellt werden, die Verfahren dazu waren bekannte Technologien.

Ein Rohr, dessen Wände durch feinste Röhren in Rohrlängsrichtung durchzogen war, die nach außen hin mit der Klarsicht-Schicht der Solar Paste ausgekleidet waren und nach innen hin mit der schwarzen Grundlagenschicht bildete den Start. An der Wand der hauchfeinen Röhren berührten sich die Schichten und brachten damit die Solar Paste zur Erzeugung von Strom. Durch diese Mikrotunnel konnten sich die Microbots dann bewegen und Dinge transportieren, beispielsweise winzige Tröpfchen weiterer Solar Paste oder Sandkörner, um die Röhren fortzusetzen indem sie am Ende des Rohres Sandkörner anschmolzen. Das Rohr wurde von unten her aufgebaut solange Sonne die geeignete Energie lieferte und Schritt für Schritt nach oben hin geschlossen und in die Länge fortgesetzt. Die Microbots hatten winzige Schaltungen mit genug Speicherkapazität, die vollständig ausreichend war, um darin komplexe Bewegungsmuster zu programmieren. Sie konnten darüber hinaus winzigste und staubfeine Siliziumkörner aus Sand zu Glas zusammenschmelzen, um die Trägerkonstruktion des Rohres zu erweitern, die für Sonnenlicht durchlässig ist. So konnte mit wenigen dieser kleinen Roboter ein Rohr gebaut werden, dass sich selbst kontinuierlich weiter baute. Lediglich am Rohranfang musste genügend Solar Paste und gereinigter Sand zur Verfügung stehen, die dann von den Microbots abtransportiert und verbaut wurden. Einige tausend Microbots konnten so pro Tag das Rohr um fast zehn Meter fortsetzen, in einem Jahr damit um fast drei Kilometer. Wurde die Anzahl der Bots auf eine Million erhöht, dann konnten fast einhundert Meter am Tag erreicht werden. Gesonderte Kapillaren der Rohre erlaubten größeren Varianten der Bots den Transport von Sand und Samen der Sunwater-Pflanze.


Ebenso konnten die Bots beim Aufbau der Rohre innen die Beschichtungen anbringen, die den elektrostatischen Effekt verursachten, der die Salzkonzentration auf der einen Seite größer werden ließ als auf der gegenüber liegenden. So konnte ein Mechanismus geschaffen werden, der Rohre kontinuierlich verlängerte und ihnen die Fähigkeit gab, das durch sie fließende Wasser nach und nach zu entsalzen. Je weiter das Wasser durch sie floss, desto weniger Salz enthielt es auf der einen Seite, der Anteil mit erhöhter Konzentration floss auf der anderen Seite. So konnte Salzwasser in sie eingespeist werden und während der weniger salzhaltige Teil weiter floss, wurde der salzigere Teil durch Abzweigungen abgeführt, je nach Konzentration entweder zurück ins Meer oder wieder in einen vorherigen Bereich des Rohres, um es weiter zu entsalzen.


Das Bild rundete sich ab: Man würde Fabriken benötigen, die genug Solar Paste zum Auskleiden der Kapillaren der Rohre herstellten, Filteranlagen, die Meerwasser von Schwebeteilchen reinigten, damit die Rohre sich nicht zusetzen, Pumpanlagen, die Wasser in die Rohre pumpten, und Fabriken für die Rohrinnenbeschichtung, die den Salzwassertrennungseffekt realisierten.


Diese Fabriken konnten stationär am Meer gebaut werden und von dort aus würden die Microbots die Rohre bis zu sechsunddreißig Kilometer pro Jahr in das Land hineinbauen können.


Die ersten Abschätzungen für den Aufbau der ersten kleinen prototypischen Produktionsanlage lagen bei einhundert und dreißig Millionen Euro. Im Dauerbetrieb würde man für diesen Preis einige tausend automatisch wachsender Rohre parallel ins Land bauen können. Nahm man einen Abstand von zwanzig Metern, dann würde man die Bewässerung von etwa einhundert Quadratkilometern pro Jahr etablieren können. Für jede weitere hundert Quadratkilometer würden zusätzliche Anlagen für etwa fünfundzwanzig Millionen Euro vonnöten sein.

9 - Große Dinge nehmen ihren Anfang

Zum Abschluss der Veranstaltung präsentierte Karen die Finanzlage der Stiftung und die Tatsache, dass gut 875 Millionen Euro Überschuss erwirtschaftet worden waren. Es war zu erwarten, dass die Einnahmen mit den folgenden Sätzen von Enndlins Life weiterhin stiegen würden.


Die Stiftung würde Basisanlagen für etwa einhundert Millionen Euro finanzieren und weitere 600 Millionen für die automatische Rohrentwicklung investieren. In den ersten Jahren würde man damit geschätzte zehntausend Quadratkilometer Sahara bewässern und grundlegend bepflanzen können. Die fertig konstruierten Rohre wären auch als dauerhafte Sonnenkollektoren im Stande, reichlich Strom für andere Anwendungen zu produzieren.


Karen verlas die Ankündigung, dass die Stiftung diese Maßnahmen in Kürze beginnen würde. Sie würde es ebenso übernehmen, zahlreiche Förderinstitutionen und Regierungen aufzufordern, Zuschüsse zu liefern, damit die Stiftung nicht der alleinige Kostenträger sei. Die Tatsache, dass die Verträge mit den entsprechenden Staaten eine solche Nutzung schon zu ließen, ließ ein Raunen bei den Zuhörenden aufkommen. Wieder einmal wurde klar, dass die Entwicklungen zwar zunächst wie ein Zufall aussahen, aber keiner waren.


Die Brainstormingsitzung dauerte mit Pausen zwei Tage und nur zwei der 25 eingeladenen Gäste verabschiedeten sich schon vorher. Allen war die Tragweite diese Sitzung bewusst, das Konzept hatte sich schon nach wenigen Stunden ergeben, der konkreten Plan war nach zwei Tagen auf dem Tisch. Es würden nach ersten Schätzungen zwar nur wenige tausend Quadratkilometer pro Jahr sein, im ersten Jahr wahrscheinlich noch weniger. Wäre der Prozess aber erst einmal im Gange, würde man die Fläche noch vervielfachen können. Das Konstrukt war ein tragfähiger Plan und die Stiftung hatte genügend Ressourcen, um alles auf den Weg zu bringen. Enndlins Life-Verkäufe würden mit dieser Idee hoffentlich eine zusätzliche Spendenbereitschaft erreichen.

Bis auf eine Anzahl von Fabriken würde der Vorgang vollständig automatisch vonstatten gehen und nach geschätzten zwanzig Jahren könnte man ein Achtel der Sahara mit Bewässerungssystemen und mit Sunwater-Pflanzen bedecken, die Wasser speichern können würden, ohne dass bei einer Abschwächung der Bewässerung das Wasser verloren ginge oder es zu Versalzung käme. Das Land würde wertvoll sein, sei es zur Stromerzeugung, als landwirtschaftliche Anbauflächen und vor allem, um der Ausbreitung der Wüsten entgegen zu wirken. Ein Abbau des Treibhauseffekten durch großflächig kultivierte und Kohlendioxid verbrauchende Pflanzen würde mit der weiteren Verringerung des Öl- und Gasverbrauches auf der Welt einher gehen. Sowohl für die Staaten, die dieses Land besaßen als auch für Firmen, die dort Grund und Boden bebauten und nutzten, konnte diese Ländereien in der Zukunft viele Perspektiven bieten. Da zunächst nur mit Stiftungsmitteln begonnen wurde, ohne Externe mit einzubeziehen, gab es eine Menge Spiel nach oben. Durch das Einwerben zusätzlicher Investoren konnten die Mittel erheblich vergrößert werden, sei es um entweder noch mehr Flächen urbar zu machen oder die verfügbaren Bereiche besser zu bebauen.


Die Urbarmachung der Sahara hatte begonnen.

Teil 6

Die Bedrohung

1 - Igor

Igor und seine Kollegen waren gerade in Hamburg eingetroffen und würden bald bei der Enndlins Life-Stiftung ankommen. Sie hatten sich als Besucher angemeldet und würden eine öffentliche Führung durch die verschiedenen Stiftungsbereiche mitmachen. Dieses Angebot kam ihnen sehr zupass, denn so konnten sie sich unauffällig als Besucher ein Bild zu verschaffen und die Örtlichkeiten kennenlernen.


Es gab auffällig viele Baustellen auf dem Stiftungsgelände, zahlreiche neue Laborgebäude wurden gebaut und die Führung betonte fast überall die neuen Anlagen und Forschungsstätten sowie die Möglichkeiten, die sie bieten würden. Wenn sie sich weiterhin so entwickelte wie in den vergangen zwei Jahren, so die Führerin, dann würde sie schon bald die größte Forschungsinstitution der Welt sein. Davon abgesehen beeindruckte Igor die internationale Ausrichtung der Stiftung und die Vielzahl der Nationen, die hier ihre Forschungen betrieben.

Es gab auch einen Kurzvortrag über die Historie sowie einige Statistiken, was auch eine Übersicht über die Anzahl der Forschenden aus den jeweiligen Nationen beinhaltete. Igor war überrascht, dass verhältnismäßig viele seiner Landsleute hier angestellt waren.

Die Stiftung hatte sich zum Ziel gesetzt, keine Nationalität zu bevorzugen sondern ausschließlich die am besten und qualifiziertesten Personen einzusetzen, woher diese auch immer kamen. Und es kamen sehr viele aus aller Welt.


Sein Job war Igor wichtig und er war fest entschlossen ihn gut zum machen. Er hielt es für sehr wichtig seinem Land treu zu sein und dessen Probleme zu beseitigen, wenn es nötig war. Aber konnte diese Stiftung wirklich ein Problem für sein Land sein? Oder war sie nur einigen wenigen mit ihren egoistischen Motiven ein Dorn im Auge? Das erste Mal seit Jahren kamen ihm Zweifel, ob das was er tat, wirklich richtig war. Natürlich konnte die Stiftung Entwicklungen in die Welt setzten, die seinem Lande schaden konnten. Er war sich zudem sicher, dass sie nicht die einzigen Spione hier waren, er wusste genug darüber, wie die anderen Großmächte und Konzerne tickten. Wahrscheinlich war die Stiftung schon komplett infiltriert. Sie würden aufpassen müssen, dass sie nicht auf "Konkurrenz" stießen.


Die Führung endete mit einer Übersicht über die wichtigsten Forschungsergebnisse der Stiftung. Wieder überraschte ihn die Vielfalt dessen, was hier passierte. Die bekannten Projekte wie die Solar Paste und die Leistungsakkumulatoren waren natürlich in aller Munde, aber inzwischen gab es schon hunderte oder gar tausende anderer Forschungsergebnisse und Erfindungen, die schon jetzt das Leben auf dem ganzen Planeten beeinflussten. Die Realität, die er hier zu sehen bekam, passte nur wenig zu dem, was er über seinen Hackerangriff auf den Stiftungsserver zu sehen bekommen hatte. Sie war wesentlich umfangreicher als er vermutet hatte.

2 - Konstantin

Konstantin war furchtbar müde, nein nicht nur müde sondern grundlegend erschöpft. Es fiel ihm schwer bei sich zu bleiben und nicht alles leiten und verbessern zu wollen. Er würde sich gegen seinen Willen von Entscheidungsträgern und Organisatoren fernhalten müssen, auch wenn das zu einer Verlangsamung des Saharaprojektes führen würde. Er musste zusehen, nur noch in Fällen einzuschreiten, wenn etwas drohte, komplett aus dem Ruder zu laufen. Erst einmal abwarten und sich zu erholen schien ihm jetzt wichtiger als alles andere. Er wünschte sich nicht das erste Mal, die Verantwortung abgeben und sich darauf verlassen zu können, dass sich weiterhin alles gut entwickeln würde, aber niemand hatte seine Möglichkeiten. Es gab so viele Hindernisse bei einem solchen Projekt, wie man es sich kaum vorstellen kann.

Aber wieso eigentlich nicht? In gewisser Form stopfte er Karen schon lange mit seiner Auffassung und Interpretation von Enndlins Life voll, so dass sie seinen Job machte. Das kostete ihn Zeit und Karen würde mit seinen jetzigen Fähigkeiten vielleicht noch weit mehr daraus machen als er. Ebenso Simon. Beide würden auch ohne ihn gut voran kommen hätten sie seine Fähigkeiten. Derzeit wurden sie immer wieder von Nichtigkeiten aufgehalten.

Bisher hatte er auch noch keinen ernsthaften Versuch unternommen, herauszufinden was ihm in dem Brombeerbusch widerfahren war. Aber war das Wie oder Warum überhaupt wichtig? Wenn er die Unterschiede zwischen seinem eigenen und einem anderen Gehirn herausfinden würde, wäre das möglicherweise schon ausreichend. Was wäre, wenn er Karen oder Simon das gleiche durchmachen lassen könnte, was er selbst in der Brombeerwelt erfahren hatte? Nicht um jemand anderem etwas Gutes zu tun sondern aus dem egoistischen Motiv heraus, mit der Verantwortung nicht alleine zu bleiben? Was wenn die Programmierer des Trojaners im Stiftungsserver ihn schon längst identifiziert hatten und gerade planten ihn auszuschalten? Viele seiner Projekte würden es nicht schaffen und eines war sicher: Er gab immer eine Menge Leute, die es solchen Projekten nicht gönnten, zum Ziel zu gelangen. Er würde seine Verantwortung aufteilen und die Stiftung von ihm selbst unabhängiger machen müssen. Er fühlte alles schwerer denn je auf sich lasten.

Und jetzt wollte er einfach nur schlafen, er konnte dieses Problem nicht auch noch neben den vielen anderen lösen, und schlafen musste selbst er.

3 - Die Bedrohung

Igors Überlegungen konkretisierten sich. Sie konnten Pohlmann natürlich direkt festnageln, ihn überraschen und ausquetschen. Ungünstigerweise lieferte der Trojaner seit seiner Abreise vermehrt Informationen, die gegen ihn als Hintermann der Stiftung sprachen. Offenbar waren viele Neuerungen inzwischen komplett ohne nachweisbaren Einfluss Pohlmanns entstanden. Aber obwohl die automatischen Auswertungen jetzt verstärkt auf eine Kombination von Karen Meier und Simon Radeberg hindeuteten, ließ ihn sein Bauchgefühl weiter an Pohlmann glauben. Aber abgesehen davon, dass seine beiden Kollegen sich schon auf Meier als ersten Angriffspunkt fixiert hatten, weil sie dort weniger Widerstand erwarteten, würde er konkrete Aktionen besser vor seinen Vorgesetzten vertreten können, wenn die Auswertungen ihn dabei stützen. Insgeheim hatte er die Hoffnung, dass sie Pohlmann zu einer überstürzten Handlung verleiten konnten, wenn er von einem "Besuch" bei Meier erfahren würde. Igor wettete, dass Pohlmann anfangen würde Spuren zu verwischen, Dateien zu löschen, sei es bei sich zu Hause oder in der Stiftung. Und diese Spuren würden wichtiger sein als alle Aussagen, die von überraschten oder bedrohten Personen zu erhalten waren. Deshalb würden sie zunächst die Wohnungen von Pohlmann, Meier und Radeberg verwanzen und erst dann offensive Aktionen starten.

4 - Simon

Der vierte Satz von Enndlins Life war kurz vor der Veröffentlichung, das Sahara Projekt kostete Kraft ohne Ende und jetzt das. Die MHH, die Medizinische Hochschule Hannover, hatte bei ihm im Sekretariat die Nachricht hinterlassen, dass seine Mutter mit Herzinfarkt eingeliefert worden war, und er musst so schnell wie möglich dort hin. Seine Mutter lebte seit dem Tod seines Vaters vor zwei Jahren alleine, war aber gut zurecht gekommen, sie hatten regelmäßig telefoniert und es gab keine Spur einer solchen Gefahr. Am Telefon hatte man keine Auskunft über ihren genauen Zustand hinterlassen, deshalb war er jetzt im Auto unterwegs und die Projekte mussten ohne ihn weiterlaufen. Die Vorstellung sie zu verlieren ließ eine dunkle, kalte Angst in ihm keimen.

Als er in der Klinik eintraf konnte man zunächst keine Eintragung finden, vermutete aber, dass sie in der Notfallambulanz der Kardiologie versorgt wurde und deshalb nur unvollständig aufgenommen worden sein könnte. Er würde dort weiter nachfragen müssen.

Als er dort auch keine Informationen erhielt wurde er sauer und machte sich lautstark Luft. Dass er dabei auch eine Assistentin zur Schnecke machte, tat ihm zwar schon Sekunden später Leid, aber nach all dem Stress konnte er schlichtweg nicht mehr. Die Vorstellung, dass seine Mutter irgendwo möglicherweise im Sterben lag und er sie aufgrund schlechter Organisation nicht mehr rechtzeitig besuchen konnte, ertrug er nicht.

Auch die sich anschließende längliche Suche in der gesamten Klinikdatenbank sowie Anrufe in benachbarten Kliniken förderte keine Informationen über eine Einlieferung einer Petra Radeberg zutage. Erst die Frage einer Aufnahmeassistentin, ob es sich eventuell um einen Irrtum oder einen bösen Scherz handeln könnte, ließ Simon auf die am nächsten liegende Idee kommen und rief seine Mutter an. Obwohl es schon recht spät abends war, backte sie gerade einen Kirschkuchen, freute sich über seinen Anruf und lud ihn zum späten Abendbrot und Übernachten ein, da er doch sowieso schon in der Nähe wäre. Dass er voller Verzweiflung im Krankenhaus stand verriet er ihr nicht.


Bevor er sich auf den Weg zu seiner Mutter machte, ging er zum Blumenautomaten der Kardiologie und kaufte einen Strauß für die Assistentin, die er grundlos angebrüllte hatte. Bei seiner Entschuldigung wäre er am liebsten vor Scham im Boden versunken. Er war es seiner Umgebung schuldig, zu lernen, seine, wenn auch seltenen, emotionalen Entgleisungen im Griff zu behalten. Er sollte sich seine Wut für diejenigen aufsparen, die sich diesen Scherz ausgedacht hatten. Die würden ihn kennenlernen!

5 - Schreck in der Morgenstunde

Karen wurde unsanft an der Schulter gerüttelt. Trotz bleierner Müdigkeit und verklebten Augen, die sie eine Weile nicht auf bekam, fuhr ihr ein mächtiger Schreck durch die Glieder. Es konnte niemand in ihrer Wohnung sein, dennoch standen drei vermummte Männer neben ihrem Bett in ihrem Schlafzimmer. Sie hatte Angst und in ihrem Kopf begann es zu rasen, wie waren die drei ins Haus gekommen und was wollten sie?


"Wer ist Opus Eximum?" fragte der größte der drei.


Sie war so verängstigt, dass es ihr nicht einmal in den Sinn kam zu lügen.


"Das weiß ich nicht."


"Lügen Sie uns nicht an, Sie müssen doch wissen von wem Sie die Noten bekommen haben und wie Sie zu interpretieren sind!" Der mittlere der drei Männer zückte ein kleines glänzendes Messer und hielt es ihr bei der Frage an die Kehle. Sie war wie gelähmt und völlig außer Stande, Widerstand zu leisten oder gar der Frage auszuweichen.


"Die Noten habe ich bisher immer von Konstantin bekommen, aber der ist nicht Opus Eximum, ich weiß nicht wer das ist, wirklich nicht!"


In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viel Angst gehabt. Die Männer begannen in irgendeiner slawischen Sprache miteinander zu reden von der sie kein Wort verstand, sie hätte am ehesten vermutet, dass es Russisch oder ein russischer Dialekt sein könnte, war sich dessen aber nicht sicher.


"Wo sind die Noten?"


"Die Noten vom nächsten Satz? Die habe ich noch gar nicht, die von dem, den wir gerade abgeschlossen haben liegen nebenan auf dem Tisch. Alle anderen sind im Schrank. Aber die sind ja sowieso schon veröffentlicht."


"Sie lügen!"


Karen brach innerlich in sich zusammen und begann zu weinen, sie fühlte sich so unglaublich hilflos und unfähig etwas zu tun. Sie hatte Todesangst und wusste nicht wie die Männer zu überzeugen waren. Selbst wenn sie ihr glaubten fürchtete sie, dass sie sie danach mundtot machen würden. Wieso warfen sie ihr vor, bei dieser einfachen Frage zu lügen?

Als der kleinere wenig später mit allen Noten in der Hand wieder kam und auch die Ergänzung der Stiftungssatzung dabei hatte, fühlte sie sich zunächst etwas erleichtert, was jedoch nur Sekunden anhielt.


Der mittlere erwähnte so etwas wie "geile Braut" und "man könne ja von den Plänen etwas abweichen".

Etwas in Karen machte dabei Klick. Die Tatsache, dass er das auf Deutsch sagte, zeigte ihr, dass sie sie quälen wollten und dass jetzt noch etwas viel Schlimmeres folgen würde. Etwas von dem sie sich ihr Leben lang nicht erholen würde, sollte sie das hier überhaupt überleben.

Im nächsten Moment fand sie sich wie eine Beobachterin in ihrem eigenen Körper wieder und wunderte sich über die Verwegenheit, die sie durchflutete. Ihre Angst war verflogen und sie hatte nichts mehr zu verlieren. Mit dem linken Arm, den sie als Rechtshänderin so gut wie nie koordiniert bewegen konnte, nahm sie die Nachttischlampe und schleuderte sie dem großen ins Gesicht, während sie mit der rechten Hand dem mittleren fast gleichzeitig zwischen die Beine schlug. Der sackte ohne einen Mucks von sich zu geben in sich zusammen. Volltreffer.

Der große hatte geistesgegenwärtig noch den Kopf zur Seite bewegen können, die Lampe hatte ihn nur gestreift, hing aber mit dem Stromkabel über seiner Schulter hinter seinem Rücken. Er brauchte ein oder zwei Sekunden, um sich des Kabels und der Lampe zu entledigen. Diese Zeit nutzte Karen, um sich aus dem Bett heraus in die Hocke zu rollen, von wo aus sie den kleinen anpeilte. Der hatte gerade zuvor noch in den Noten geblättert und hob jetzt erstaunt den Kopf, gerade noch rechtzeitig, um Karens rechte Schulter zu sehen die sie ihm in den Bauch rammte. Völlig überrumpelt stolperte er zwei Meter rückwärts, bis er hinfiel und mit dem Hinterkopf gegen ein Bücherregal krachte, aus dem mehrere Bücher auf ihn nieder regneten.

Vollgepumpt mit Adrenalin war Karen jetzt so wütend wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Blitzschnell sortierte sie ihn erst einmal als weniger gefährlich aus. "Bleibt der große mit der Lampe", dachte sie sich und schaute sich um. Sie wollte plötzlich kämpfen und es den dreien zeigen, die würden nicht ohne Blessuren davon kommen. Die Ausschnitte aus dessen Motorradmaske zeigten zwei runde Augen voller Erstaunen, in der einen Hand noch die Lampe haltend, in der anderen das Kabel.

Wie konnte sie als Frau einen stämmigen Mann, der einen Kopf größer war als sie, ausschalten? In einigen Dokumentationen und Filmen hatte sie gesehen wie andere Frauen auf einen in dicker Schutzkleidung eingepackten Selbstverteidigungstrainer einprügelten, um die Scheu vor einem direkten Angriff auf jemand anderen zu verlieren. Augen, Kehlkopf und Geschlechtsteile waren dabei die Hauptziele.

Wieder erstaunt über ihre eigene Taten ging sie mit den Fingern der linken Hand auf die Augen des Mannes los und boxte gleichzeitig mit der rechten gegen dessen Kehlkopf. Die Augen traf sie nicht, den Kehlkopf nur teilweise aber genug, um weitere Verwirrung zu schaffen.

Hinter ihr rumpelte es und sie drehte sich um, der kleine rappelte sich am Regal unter den Büchern auf. Diesen Moment des Zögerns nutze der große und umschlang sie von hinten mit den Armen, um sie festzuhalten was ihm auch kurze Zeit gelang, jedenfalls so lange bis sie sich ruckartig fallen lies. Ihre einen Moment lang blockierten Arme bekam sie so frei, tauschte diese Freiheit aber gegen einen drohend ansteigenden Druck um ihren Hals, den der Mann jetzt von hinten umklammerte. Ihren wieder freien rechten Arm nutzte sie, um ihm blind nach oben schlagend ihre rechte Faust mit aller Kraft unter das Kinn zu rammen. Das folgende Knirschen und Knacken ging einher mit einem heftigen Schmerz in ihren Fingern. Aber sie war wieder frei. Während sie wieder aufstand und aus einer schnellen Linksdrehung heraus, zielte sie blind mit dem Ellenbogen und traf wieder, dieses Mal gegen seine vordere linke Halsseite, was ihm erst einmal den Rest gab. Er taumelte und war sichtlich der Bewusstlosigkeit durch K.O. nahe. Der kleine stand inzwischen vor dem Regal mit ebenso glotzenden wie sichtlich irritiert schauenden Augen. Ohne Kommentar drehte er sich weg und lief aus der Wohnung, gefolgt von dem wankenden großen und dem gebeugt laufenden mittleren Mann.


Karen konnte nicht glauben, dass sie die drei in die Flucht geschlagen hatte. Es dauerte nur einen kurzen Moment und dann rief sie die Polizei.


Während sie wartete wunderte sie sich ein weiteres Mal. Warum hatten die Maskierten so seltsam irritiert geguckt? Ihr wurde bewusst, dass sie während des ganzen Kampfes aus Leibeskräften um Hilfe geschrien hatte. Ob sie deshalb verschwunden waren, weil sie die Aufmerksamkeit fürchteten? Die Nachbarn hatten das mit Sicherheit mitbekommen.


Langsam kam sie zur Ruhe, gleich würde die Polizei kommen. Sie stand im Flur herum, hatte sich einen Kaminhaken gesucht und sah die etwas offen stehende Wohnungstür. Nun merkte sie, warum sie das Überraschungsmoment so weidlich hatte ausnutzen können.


Sie schlief immer nackt.


Sie lachte einmal kurz und dann begann sie zu heulen und konnte nicht mehr aufhören.


6 - Danach

Noch immer ging es Karen schlecht und sie hatte Angst alleine in der Wohnung zu sein. Der Schmerz in den Fingern hatte nachgelassen und das Kühlen linderte ausreichend, um sie glauben zu lassen, sich nichts gebrochen zu haben.

Anfangs schienen die Polizisten eher gelangweilt zu sein und machten erst große Augen als sie erzählte, wie sie die Einbrecher in die Flucht geschlagen hatte. Solch einen Kampf traute man ihr allerdings nicht zu.

Erst dadurch, dass sie sagte, dass sie die Dirigentin der Musiker von Enndlins Life sei, schenkten die Polizisten dem Fall echte Aufmerksamkeit. Das offensichtliche Interesse der Einbrecher an der Identität des Komponisten und an den aktuellen Noten von dem Stück, machte die Sache interessant. Den letzten Ausschlag gaben dann die Lampe und das Bücherregal mit etwas Blut und ein paar Haaren an einem Brett. Eine Probe davon wurde als Beweismittel mitgenommen.

Fingerabdrücke wurden genommen, obwohl sie nicht einmal mehr sagen konnte, ob die drei Handschuhe getragen hatten oder nicht. Jedenfalls erwartete niemand bei der Art des Einbruchs weitere brauchbare Spuren zu finden.

Dass sie die Schweigepflicht über die Musiker und sich selbst als Aktive hinter Enndlins Life brach, wurde ihr in dem Moment gar nicht bewusst. Es wäre ihr auch egal gewesen, insbesondere weil sie glaubte, dass das eh nicht mehr lange geheim bleiben würde. Dazu gab es zu viele Journalisten, die hinter Music Science und der Stiftung herschnüffelten. Dennoch hoffte sie, dass die Polizei dicht halten würde, sie hatte sie jedenfalls inständigst darum gebeten.


Das ganze Prozedere hatte einige Stunden gedauert und die kleineren Verwüstungen der Einbrecher hatte sie am Nachmittag aufgeräumt. Sie machte gleich mit Wäsche, Aufwischen und Aufräumen weiter um sich abzulenken. Normalerweise nutzte sie solche Arbeiten, um zur Ruhe zu kommen, denn das brachte sie zuverlässig von den in ihrem Kopf rumorenden Passagen ab, an denen sie jeweils arbeitete. Dieses Mal half es jedoch gar nicht, die Angst bohrte in ihrem Bauch und die Frage nach dem Warum hatte sich bisher für sie nicht geklärt.


Sie würde am folgenden Morgen nicht zur Probe gehen, sie hatte selbst zum Absagen kaum noch die Kraft. Die Musiker waren selbstständige Leute, die auch mal einen Tag alleine zurecht kommen mussten, schließlich wurden sie dafür bezahlt. Vielleicht wären sie sogar froh, einmal für sich arbeiten zu können ohne ihre ständigen Anweisungen und Kontrollen. Nichtsdestotrotz konnte und wollte sie nicht alleine in der Wohnung bleiben. Es wurde schon dunkel und die Angst kroch ihr aus jeder Ecke der Wohnung hinterher, und so würde sie garantiert nicht schlafen können. Deshalb rief sie spontan Konstantin an, der gerade zurück auf dem Weg von einer Dienstreise zur Stiftung war.


"Karen, was ist los, Du rufst noch so spät an? Ich hoffe es ist nichts passiert?" schallte es aus dem Hörer aber bevor sie antworten konnte schluchzte sie los. Sie hörte ihn nur noch sagen "Ich bin gleich da!" bevor sie den Hörer wieder auf die Gabel fallen ließ.


7 - Erholung

Konstantin war in einem Zug auf dem Weg zurück von einer Dienstreise gewesen, als er merkte, dass bei Karen etwas nicht in Ordnung war.


Er hörte sich alles in Ruhe an und unterbrach Karen nicht ein einziges Mal. Es schien ihm wichtig, dass sie sich die ganze Geschichte von der Seele reden konnte, um zu verarbeiten was sie erlebt hatte.

Der Vorfall war keinesfalls das was er geplant hatte, dennoch fragte er sich, was er hätte anders machen können, um so etwas zu vermeiden. Er war so vorsichtig gewesen wie nur irgend möglich, aber dieses war eine Art der Verletzlichkeit, die er bei allem was er tat hatte. Dass andere wegen ihm in Mitleidenschaft gezogen wurden, war das was er meisten fürchtete, insbesondere, wenn es um Karen oder Simon ging.

Alle in seiner Umgebung zu schützen war ein Ding der Unmöglichkeit. Glücklicherweise schienen die Täter nicht daran interessiert zu sein mit Gewalt vorzugehen, jedenfalls bisher noch nicht. Sie setzten auf den Schrecken um die Opfer, in diesem Fall Karen, zu überrumpeln und herauszufinden wer Opus Eximum war. Da es ihnen bei Karen problemlos gelungen wäre, seine Identität zu lüften, hatte er also gut daran getan es weder ihr noch Simon zu erzählen, dass er der Besagte war. Nichtsdestotrotz konnte er es ihr nicht im Geringsten übel nehmen, dass sie ihn als Quelle der Noten preisgegeben hatte. Sein eigenes schlechtes Gewissen, sie diesem Risiko überhaupt ausgesetzt zu haben, war dazu viel zu groß. Und dass die Noten durch ihn überbracht wurden war eh kein echtes Geheimnis mehr.

Und was wäre die Alternative gewesen? Gar nichts zu tun? Mit offenen Karten zu spielen und sich selbst zur Zielscheibe zu machen? Nein, diese Gedankengänge hatte er etliche Male durchgespielt und das derzeitige Szenario schien ihm immer noch das sicherste für alle.


Karen war ihm wichtig, und das nicht nur, weil sie eine Basis für all seine Pläne war und exzellent Enndlins Life umsetzte. Er konnte sich in allen Belangen blind auf sie verlassen und sie hatte bisher ihren Job so gut gemacht wie man es sich nur vorstellen konnte. Sie hatte mehr verdient als nur ein Gehalt für den Job. Und für Simon galt das ganz genauso.

Insbesondere jetzt nach dem Überfall brauchte sie Hilfe, Ruhe und Abstand weshalb er sich kurzerhand für einen spontanen Ausflug entschied.


"Karen, wir fahren ein paar Tage in den Urlaub. Du brauchst Erholung und Abstand und selbst wenn Du nicht weg fahren willst, dann doch ich. Pack ein paar Sachen ein und wir fahren eine Weile ans Meer und zwar jetzt sofort. Ich bleibe solange hier."

Das Nicken kam mit einer unendlichen Erleichterung, die ihn überraschte. Selbst ohne seine besonderen intuitiven Fähigkeiten hätte er sie spielend wahrgenommen, so tief musste der Schreck sitzen. Abgesehen davon, dass ihr der Abstand von ihrer Wohnung bekommen würde, war sie schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr im Urlaub gewesen. Es war also höchste Zeit.


Ob er ihr einen Gefallen damit getan hatte, während des Überfalls einzuschreiten und sie zu "übernehmen"? Aus einem Reflex und Sorge heraus hatte er sich eingemischt, weil es ihm gefährlicher erschienen war die Einbrecher gewähren zu lassen, anstatt ihnen durch Karen die Leviten zu lesen. Die vielen Kriege, in denen er als Bauer den Kanonen zum Fraß vorgeworfen wurde und viele Kämpfe und Ausbildungen als Soldat im Römischen Reich hatte er als Erfahrungsschatz mitgebracht.

Es hätte auch schief gehen können, aber glücklicherweise hatte Karen nur ein paar geprellte Finger abbekommen. Er wunderte sich selbst, dass eine solche Art der Übernahme eines anderen Menschen funktionierte.


Während sie packte, buchte er kurzerhand über sein Tablet einige Tage in einem Wellnesshotel mit Baden, Sommer, Sonne, Sand, Strand und Meer. Er schrieb den Musikern und seinen Kollegen E-Mails, meldete sie beide für einige Tage ab und zwei Stunden später waren sie unterwegs.

Inzwischen war es tiefe Nacht und so verschlief Karen die Fahrt fast vollständig. Erst in der Morgendämmerung und neun Stunden später an der Atlantikküste wurde sie wieder wach.

8 - Zugriffe

Die Wohnung von Pohlmann war verwanzt. Während dessen Arbeitszeit gab es dabei kein Problem. Bei der oberflächlichen Durchsuchung hatten sie nichts Auffälliges gefunden und auf eine gründliche Durchsuchung verzichteten sie vorerst, um keine Spuren zu hinterlassen, die Pohlmann aufschrecken könnten. Er sollte zunächst einmal nichts von ihrem Besuch bemerken. Simon Radeberg war ihnen danach voll auf den Leim gegangen, denn schon kurz nach dem Anruf bei seinem Sekretariat war er aus dem Gebäude gestürmt und hatte die rund 150 Kilometer weite Fahrt nach Hannover angetreten. Sie hatten mehr als genug Zeit, um dessen Wohnung komplett zu durchsuchen und zu verwanzen. Sie ließen auch noch ein paar normale Wertgegenstände mitgehen, um es nach einem normalen Einbruch aussehen zu lassen.


Direkt im Anschluss knöpften sie sich dann Karen Meier vor, die ihre Aktion wahrscheinlich sogar verschlafen hätte, wenn sie sie nicht gewollt geweckt hätten, nachdem sie auch deren Wohnung gründlich durchsucht hatten.


Die dämliche und nicht einmal ernst gemeinte Bemerkung seines Kollegen, dass man ja einmal "von den Plänen abweichen könne", hatte die Strafe auf dem Fuße folgen lassen.

Nach der folgenden Blamage hatten sie alle erst einmal ihre Wunden geleckt. Weniger die tatsächlichen, als viel mehr die Tatsache, dass sie zu dritt durch die eher zierlich wirkende Karen Meier komplett überrumpelt und in die Flucht geschlagen worden waren.

Bei der Ausbildung zu ihrem Dienst hatten sie selbst als Bürohengste eine Grundausbildung absolvieren müssen. Aber darauf hatte sie niemand vorbereitet. Konnte denn jemand ahnen, dass sie auf eine nackte Kampfamazone treffen würden, die so gezielt, schnell und rücksichtslos um sich schlägt? Dabei hatte sie noch die halbe Straße zusammen gebrüllt, so dass die Zeit plötzlich sehr eng wurde, um noch unerkannt flüchten zu können. Nun, sie hatten Glück im Unglück, sie waren gerade noch rechtzeitig entkommen, bevor sie Anwohnern in Arme liefen.


Erstaunlicherweise war die Polizei, die dort später erwartungsgemäß aufkreuzte, nicht einmal auf die Idee gekommen nach Wanzen zu schauen. Niemand schien zu erwarten, dass Einbrecher so weit gehen würden. Sie hatten die Protokollaufnahme und die Gespräche also nutzen können, um die Wanzen zu testen. Leider förderte dies keine Information zu Tage, die sie nicht sowieso schon hatten.


Bei all diesen Durchsuchungen fanden sie erstaunlicherweise nichts was darauf hindeutete, dass einer der drei oder auch alle zusammen die Schöpfer der Stiftungsidee oder die von Enndlins Life sein könnten. Selbst bei Karen Meier fanden sie nur Noten, die entweder schon veröffentlicht waren oder kurz davor standen. Keine Manuskripte, Entwürfe oder irgendetwas was darauf hindeuten könnte, dass sie mehr als nur die Dirigentin sein könnte. Insgeheim freute sich Igor allerdings darüber, denn sein Verdacht, der schon lange auf Konstantin Pohlmann ruhte, wurde für ihn dadurch fast zur Gewissheit. Allerdings hatte er dessen Reaktion nicht vorhergesehen. Die Erwartung, dass Pohlmann anfangen würde, Beweise zu vernichten, wenn er erfuhr, dass Einbrecher nach Opus Eximum fragten, erfüllte sich nicht. Dass er direkt zu Meier fahren würde und sie spontan für einen paar Tage zur Erholung in den Urlaub mitnehmen würde, stand bei Igor nicht in der Handlungsvorhersage. Ärgerlicherweise hatten sie den Wagen von Pohlmann nicht verwanzt, was sich jetzt rächte, denn so entgingen ihnen die Informationen von den beiden aus der Zeit direkt nach dem Einbruch. Glücklicherweise erfuhren sie durch die Wanzen in Karens Wohnung in welchem Hotel sie absteigen würden.

Jetzt knöpften sie sich die Wohnung von Pohlmann noch einmal vor und zwar im Detail. Die Gelegenheit, dass er für ein paar Tage unterwegs war konnten sie sich nicht entgehen lassen.

Teil 7

Neue Wege

1 - Eine Überraschung

Die wenigen Male die Karen während der Fahrt aufwachte fragte sie nur kurz wie weit sie seien, um die Antworten fast schon nicht mehr wahrzunehmen.

Der Überfall war zu viel gewesen. Sie hätte ihn möglicherweise besser wegstecken können, wenn sie nicht schon so tief erschöpft gewesen wäre durch die viele Arbeit und den damit verbundenen Schlafentzug. Die vielen Proben der vergangenen Wochen, die Arbeit von fast regelmäßig bis zu zwölf Stunden am Tag neben ihren Vorbereitungen dafür forderten ihren Tribut. Der vierte Satz von Enndlins Life war so gut wie abgeschlossen und üblicherweise rief Konstantin sie wenige Tage vor dem finalen Schnitt zu sich und wollte auf den Stand gebracht werden. Das war durch den Überfall jetzt obsolet geworden; da sie jetzt beide auf dem Weg ans Meer waren, würde sich genug Zeit dafür ergeben. Sie hatte keine Bedenken, dass er die Möglichkeit für einen Annäherungsversuch nutzen würde. Sie nahm ihm ab, dass sie beide urlaubsreif waren. Und was viel wichtiger war, sie würde ein paar Tage unverbindliche Begleitung haben. Allein zu sein würde sie nicht ertragen, nicht nach dem Tag zuvor.

Als sie wieder einmal erwachte und die Deiche der Küste an sich vorbeigleiten sah, ging ihr durch den Kopf, dass sich Konstantin in den vergangenen Monaten fast vollständig zurückgezogen hatte. Er machte lediglich seine Redakteurs- und IT-Arbeiten in der Stiftung, was sie sehr bedauerte. Er hatte als Bote für Enndlins Life und die Stiftungssatzung alles in Rollen gebracht, hatte sie rekrutiert und war nach kurzem anfänglichen Mitarbeiten an der Stiftungsgründung überraschenderweise völlig abgetaucht. Er hatte alles in Bewegung gebracht und dennoch schien kaum jemand zu wissen, dass es nichts von alle dem ohne ihn gäbe. Nichtsdestotrotz war er an einem höheren Posten nicht interessiert.


"Hallo, Karen, schön, dass Du wach bist. Wie geht es Dir?"


"Ach, ja, besser. Momentan bin ich einfach nur geschafft, nicht nur wegen des Überfalls, sondern der vierte Satz hat mich wieder einmal fast an das Ende meiner Kräfte gebracht. Aber Enndlins Life ist einfach so gigantisch, dass man nicht aufhören kann, bevor alles fertig ist. Was irre ist, sind die unglaublich vielen Ideen, die ich während der Vorbereitungen und des Dirigierens bekomme. So etwas habe ich noch nie erlebt, mein ganzes Studium lang nicht. Ich spüre regelrecht wie man das Stück perfekt umsetzen kann. Aber dabei vergesse ich zu leicht, dass ich Raubbau an meinem Körper treibe. Du glaubst gar nicht wie wohltuend es ist, auf dem Weg in den Urlaub zu sein. Alleine wäre ich weder darauf gekommen noch hätte ich mir die Zeit genommen."


"Das hört sich ja gut an, es scheint Dir also noch Spaß zu machen, trotz des ganzen Stresses. Was ich Dich schon immer einmal fragen wollte, ist, ob Du eigentlich einverstanden damit bist, dass Opus Eximum die Gewinne nahezu ausschließlich in die Stiftung fließen lässt und Du nur mit einem, wenn auch zugegebenermaßen passablen Gehalt abgespeist wirst?"


"Also Konstantin, das musst Du gerade sagen, Du könntest in der Stiftung ein Vielfaches verdienen, wenn Du nur wolltest, sie ist ja eigentlich irgendwie Dein Baby, oder? Aber um Deine Frage zu beantworten: Mein Gehalt ist gut genug, dass ich mich schon jetzt zur Ruhe setzen könnte, aber ich wäre verrückt das zu tun. Ich schreibe mit allen zusammen auf diese Weise Musikgeschichte! Ich habe nicht Musik studiert, um mir dann so etwas entgehen zu lassen. Nein, nein, das ist schon in Ordnung so."


"Ja, Du hast Recht. Und wenn Du es Dir genau überlegst, nicht nur Musikgeschichte. Ohne Dich gäbe es die Stiftung genauso wenig wie ohne Simon oder ohne mich. Hast Du Dich eigentlich nie gefragt, wer Opus Eximum ist und wieso die akribischen Festlegungen in der Satzung zu dem geführt haben was wir jetzt haben? Hättest Du Dir vor etwas mehr als zwei Jahren vorstellen können, dass wir einmal für die Lösung der Energieprobleme der Welt die Grundlage gelegt haben und die Sahara urbar machen würden?"


"Nein, ich glaube nicht, dass jemand das ahnen konnte. So eine Story kann man doch nicht vorhersehen! Ich halte die Satzung der Stiftung für eine gut durchdachte aber eher zufällig passende Fügung."


"Das glaubst Du!"


"Hä, wer sollte so etwa denn vorhersehen können?"


"Na, vielleicht Opus Eximum? Offenbar hat er ja eine andere Sicht der Dinge, denn sonst hätte er nicht solch ein Werk schaffen können."


"Ja, ja, Opus Eximum, der geheimnisvolle Irre. Ein anderer als ein Irrer kann so etwas auch nicht schreiben. Es würde mich interessieren wie er Dir eigentlich immer die Noten und die Satzung hat zukommen lassen. Hast Du nie die Möglichkeit gehabt ihn kennenzulernen? Ich würde jedenfalls gerne wissen wer er ist."


"Wie kommst Du eigentlich darauf, dass es ein Mann ist?"


"Na, das sagt man oder frau doch so, irgendwie muss man ja von ihm reden, oder?"


"Ja, da hast Du auch wieder Recht.

Davon einmal ganz abgesehen, stell Dir doch einmal vor, nur rein akademisch, dass Opus Eximum nicht nur Enndlins Life geschrieben hätte, sondern auch die ganze Stiftung im Detail geplant hat und ständig dafür sorgt, dass sie sich genau so entwickelt wie er es sich vorstellt. Klar, das wäre ein Höllenarbeit für ihn, aber wenn das so wäre, könntest Du Dir vorstellen so zu sein wie er oder sie? Würdest Du so etwas wollen und Dir eine solche Verantwortung ans Bein binden?"


"Das ist mir zu abgefahren, wie sollte er das denn tun? Kein Mensch kann so etwas leisten! Denk doch einmal nach, wie sollte er denn tausende Leute und deren Projekte im Griff behalten? Wenn es jemand gäbe der alles steuert, dann müsste man irgendeine zentrale Person kennen. Die Stiftung ist viel zu dezentral als dass eine Person überall genug Einfluss hätte. Der einzige wäre theoretisch Simon, aber der organisiert nur das was passiert und genehmigt alles mögliche. Aber er ist nicht der planerische Faktor am Ganzen und Enndlins Life hat er garantiert nicht geschrieben, der hat noch nie eine Note gespielt. Da würde ich eher denken Du wärst derjenige. Anfangs ist mir das sogar durch den Kopf gegangen."


"Und wenn es doch möglich wäre, das alles zu planen und vorherzusehen?"


"Das ist doch Unsinn. Niemand kennt Opus Eximum oder jemanden, der so viele Projekte kennt und deren Entscheidungen korrigiert und lenkt. Mir fällt niemand ein, der einen Berater, oder ja, eine Beraterin, hätte, auf den so ein Oberorganisator oder Helfer passen würde."


"Ja, niemand scheint so jemanden zu kennen. Apropos, woher hast Du eigentlich Deine Eingebungen bei Deinen Arbeiten für Enndlins Life? Woher weißt Du so genau wie alles zu spielen ist, wie kommt es, dass Du jede Note nicht nur liest sondern auch verstehst was mit ihr gemeint ist? Hast Du nicht manchmal das Gefühl, dass Dir jemand die Ideen passend zu den Notwendigkeiten zukommen lässt?"


"..."


"Karen?"


"..."


"Haaallllooo….Karen! Was meinst Du dazu?"


"Ähh, ich... ich weiß es nicht. Ja, ich habe wirklich manchmal den Eindruck, dass sie von außen kommen, als wären sie tatsächlich nicht von mir. So etwas hatte ich vorher nie..."


"Könnte es nicht allen anderen in der Stiftung genauso gehen bei den Dingen, an denen geforscht wird? Ich habe das öfters munkeln hören."


"Wirklich? Äh, ich verstehe nicht ganz, was meinst Du damit? Du meinst anderen geht es genauso? Hast Du auch solche Eingebungen?"


"Nein, nicht in der Form. Ich bin derjenige, der sie verursacht."


"Was? Du spinnst! Du willst mich auf den Arm nehmen."


"Denk einfach mal über das Szenario nach, stell Dir vor, Du könntest wie Opus Eximum sein, solche Werke schreiben und hättest die Fähigkeit eine Stiftung wie die unsere aus der Wiege zu heben. So etwas wäre natürlich eine enorme Verantwortung und eine Mörderarbeit, ist schon klar. Sag mir Bescheid, wenn Du die Antwort hast. Und sei Dir selbst gegenüber ehrlich, stell Dir vor, dass die Antwort bindend sein könnte und danach vielleicht nichts mehr so wäre wie zuvor."


2 - Die Offenbarung

Karen war fertig mit der Welt, der Überfall, die vielen Proben, all die Anstrengung und jetzt das. Was wollte Konstantin mit dieser Bemerkung? Die ersten Monate hatten Simon und sie aufgrund seiner charismatischen Anwerbung geglaubt, dass er irgendwie für die ganzen Entwicklungen die Ursache sein könnte, aber diese Idee hatten sie sich inzwischen abgeschminkt, das würde vorn und hinten nicht passen. Was wollte er nur mit dieser blöden Behauptung? Bevor sie abgefahren waren war sie sich so sicher gewesen, dass er keinen Annäherungsversuch starten würde, aber dass er solch einen Mist von sich geben würde hatte sie auch nicht erwartet. Und was meinte er damit, die Antwort darauf könnte bindend sein und danach nichts mehr so wäre wie zuvor? Was würde passieren, wenn sie ja sagte, sprich, dass sie so sein wollte wie Opus Eximum? Glaubte er etwa tatsächlich, sie könne so werden? Wahrscheinlich spinnt er nur etwas herum und will sie auf andere Gedanken bringen, um von der Geschichte am Tag zuvor abzulenken. Sie war noch immer so unglaublich müde, dass sie den Gedanken kaum weiter verfolgen konnte. Trotz der leichten Verärgerung schlief sie wieder ein.


Erst als der Wagen mit einem leichten Ziehen anhielt wachte sie wieder auf. "Wie gut der Wind tut" dachte sie als sie mit schweren Gliedern ausstieg und ihr die frische Seeluft entgegen schlug und das Rauschen der Wellen hinter dem Hotel zu hören war.

Wenige Minuten später waren sie schon auf ihren Zimmern, das Check-in hatte Konstantin schnell erledigt. Der Blick aus dem Fenster auf das Meer schien ihr unwirklich, war sie tatsächlich hier? Die letzten zwei Jahre waren wie ein Traum. Diese wahnsinnige Musik, diese durchgedrehten Rhythmen, die kein normaler Mensch erdacht haben konnte, dann die Proben, der Überfall, es schien eine Jagd auf Opus Eximum zu beginnen. So manche Menschen würden einiges dafür geben, um herauszufinden wer er war. Ja, es war ein anstrengender Traum und doch Realität.


"Alles einen Moment hinter mir lassen!", ging es ihr durch den Kopf.

Sie hatten sich in einer halbe Stunde zu einem Spaziergang auf dem Deich verabredet und sie setzte sich für diese Zeit auf den Balkon. Ein Balkon mit Liegestuhl, einem wunderbaren, traumhaften, herrlichen, ja paradiesischen Stuhl, der nur für sie geschaffen zu sein schien. Der Wind auf dem Gesicht, das sanfte Rauschen der Wellen, das Kreischen der Möwen. Mehr brauchte sie nicht, sie würde hier nur sitzen und die Welt auf sich wirken lassen.


Es war wirklich zu seltsam. Die Stiftung lief in der Tat so als gäbe es einen geheimen Beschützer, der immer dafür sorgte, dass alles glatt lief. Kein Problem schien groß genug zu sein, um eine richtige Hürde zu werden.

Und was wäre, wenn ihr anfänglicher Verdacht, nämlich dass Konstantin hinter alle dem steckte, wahr wäre? Konstantins Bemerkung vorhin war sogar so zu deuten. Oder er Opus Eximum kannte und der über geheime Kanäle und Connections auf geniale Weise die Stiftung lenkte?


Würde sie so etwas wollen und im Stande sein solche Werke zu schreiben und die Stiftung auf geheimen Wegen zu lenken? Die Antwort war so klar. Ja, das würde sie, selbst, wenn sie sich dabei zu Tode arbeitete. Sie war fertig mit der Welt, aber dennoch bestand ihr Lebenselixier aus dieser Arbeit, sie leistete etwas und brachte etwas voran wie kaum jemand anderes vor ihr. Es war für sie und andere die Chance ihres Lebens an Enndlins Life mitwirken zu können. Und wenn sie die Möglichkeit bekäme selbst alles in die Hand zu nehmen, dann konnte das nur gut sein. Und das würde sie Konstantin genau in dieser Form sagen.

Erschöpft von den vergangenen Tagen und diesen Gedanken driftete sie langsam ab. Während der Wind über sie hinweg strich schloss sie die Augen und begann ihren Urlaub zu genießen.


Das Klopfen an der Zimmertür riss sie aus dem Schlaf. Es durchfuhr sie ein eiskalter Schreck und die Angst wieder die Vermummten vor sich zu sehen. Nur die Wellen und das Rufen von Konstantin vor der Tür holten sie in die Wirklichkeit zurück.


"Ist alles in Ordnung bei Dir?"


"Ja, ja, ich komme schon, ich war nur auf dem Balkon eingenickt."


Wenige Minuten später waren sie auf dem Deich, der Wind fegte an ihnen vorbei und wieder hatte Karen das Gefühl, alles wäre irreal.


"Na, angekommen?" fragte Konstantin.


"Nein, noch nicht so ganz. Wie der alte Indianer, der sich nach der ersten Reise mit dem Flugzeug einfach irgendwo hinsetzte und sagte, er bräuchte Zeit um darauf zu warten, dass seine Seele auch ankommt. So geht es mir, ich bin im Kopf noch gar nicht richtig hier. Es war alles etwas viel."


"Das geht mir ähnlich, mir schwirren allerdings viele Dinge durch den Kopf."

In Gedanken war Konstantin wieder in der Stiftung, er "stupste" eine Studentin zu einer ziemlich genialen Idee an, wie er fand. Sie war eine ganz fitte, und durch den progressiven Kontext der Stiftung wäre sie vielleicht sogar von alleine darauf gekommen. Wie dem auch sei, hinterher würde es ihre Idee sein, so ging es nur etwas schneller. Es hob seine Laune, zu spüren, wie sie fast darüber erschrak, was sich plötzlich für Möglichkeiten auftaten... wenn das so funktionieren würde, wäre es eine Sensation mehr, die aus der Stiftung hervorgehen würde.


Konstantin wusste, dass sie jetzt Monate lang zu tun haben würde um alles im Detail aufzuschreiben. Von Zeit zu Zeit würde er sie "besuchen", um den Verlauf der Dinge und die Veröffentlichung mitzubekommen. Es würde sein Lohn sein, zu sehen wie sich die Grundlagen, die er legte, entwickelten. Wenn er schon seine Ideen anderen vermachte wollte er zumindest sehen was aus ihnen wurde und sie etwas begleiten. In gewisser Form war er wie Eltern, die ihre Kinder aufzogen, sie immer beobachteten und dafür sorgten, dass ihnen nichts Schlechtes zustieß. Ja, seine Ideen und Pläne waren wie Kinder, die seiner Pflege bedurften und die er großzuziehen hatte.


"Konstantin?"


"Was?"


"Du machst den Eindruck als wärst Du auf ein Handy fixiert ohne noch irgendetwas von Deiner Umwelt mitzubekommen. Du läufst noch vor ein Auto, wenn Du so weiter gehst!"


Karen hatte Recht, während des Umherlaufens war es keine gute Idee in der Stiftung herumzugeistern. Es wäre niemandem von Nutzen, wenn er sich von einem Auto totfahren ließe. Auch wenn auf dem Deich nur Fahrräder unterwegs waren.


"Ja, Du hast Recht. Ich war gerade nur im Geiste woanders. Hast Du eigentlich schon über das nachgedacht, was ich Dich vorhin gefragt habe?"


"Ja, das habe ich. Und meine Antwort wäre eindeutig ja, auch wenn ich das für rein akademisch halte, oder nein, für reine Spinnerei. Wie sollte ich so sein oder werden wie Opus Eximum, wobei niemand weiß wer das ist. Es wäre schon ziemlich beeindruckend ihn überhaupt nur kennen zu lernen und zu wissen wie er Enndlins Life erschaffen konnte."


"In Bezug auf Deine Frage wie er Enndlins Life schreiben konnte: Das ist eigentlich gar nicht so schwierig gewesen. Was schätzt Du, wie lange er daran geschrieben hat?"


"Du kennst ihn also! Und wie lange er daran geschrieben haben mag? Ich weiß es nicht, viele Komponisten haben an wenigen Sätzen Jahre zugebracht. Ich kann mir vorstellen, dass es Jahrzehnte gewesen sein könnten oder ein ganzes Leben."


"Es waren etwa zwei Wochen für das Aufschreiben der ersten beiden Sätze und eine für das Erdenken des ganzen Konzertes. Aber Du hast in einem Punkt Recht, Enndlins Life ist ein ganzes Leben, niedergeschrieben als Musik."


"Wie bitte?"


"Ja, Du hast schon richtig gehört, es waren drei Wochen. Die meiste Zeit ging fast ausschließlich für das Schreiben der Noten drauf."


"Warst Du dabei als Opus Eximum das geschrieben hat?"


"Ja."


"Du kennst ihn also wirklich..."


Konstantin lachte, es machte ihm so viel Spaß sie schmoren zu lassen und es verschaffte ihm unendlich viel Erleichterung auspacken zu können.


"Ja, ich kenne ihn. Und Du auch."


"Also raus damit, wer ist das? Bist Du Opus Eximum?"


"Ja, ich bin Opus Eximum."


"Das glaube ich nicht, Du kannst doch nicht einmal richtig Klavier spielen. Und selbst wenn Du es könntest, Du hast keine musikalische Vorbildung, nur ein paar Monate Musikunterricht wie Du selbst sagtest als Du uns vorgespielt hast und wir die paar Fragmente bei Music Science gespielt haben."


"Ich habe Jahrzehnte, fast Jahrhunderte an musikalischer Vorbildung, auch wenn Dir das gerade sehr unglaubwürdig erscheinen sollte. Ich war einmal Komponist, wenn auch ein unbekannter, mehrfach Musiker, Wissenschaftler, ganz normaler Arbeiter, Soldat, ägyptischer Priester und noch vieles mehr."


"Jetzt tickst Du komplett aus, oder?"


"Karen, ich bin schon komplett ausgetickt, und das vor etwas mehr als zwei Jahren. In einem Brombeerbusch, um die Spinnerei zu vervollständigen. Das war übrigens kurz bevor ich Dich und Simon rekrutiert habe, um Enndlins Life zu veröffentlichen und die Stiftung auf die Beine zu stellen. Und ich erzähle Dir gerne die lange Geschichte von Enndlins Life und der Stiftung. Übrigens: Willst Du einen Kaffee? Dort ist ein Strandcafé."


Konstantin weidete sich an Karens ungläubigem Blick. Es würde noch gut einen Tag dauern sie zu überzeugen.

3 - Die Entscheidung

Karen hatte lange gebraucht, um ihm zu glauben, aber er hatte sie überzeugt. Sie wusste nicht genau was schlussendlich den Ausschlag dazu gab, ihren Widerstand zu beenden. Ob es war, als er locker im Blitzschach gegen alle Schachprogramme gewann, die sie aus dem Netz heruntergeladen hatte? Parallel, im Kopf, auf höchster Stufe und ohne auf den Bildschirm zu schauen? Er war so schnell mit seinen Zügen gewesen, dass sie Probleme hatte, diese schnell genug auf dem Computer einzugeben. Und er hatte tatsächlich alle gewonnen, ohne dass es nur ein einziges Patt oder Remis gegeben hätte. Und Konstantin war sicher kein bekannter Schachspieler oder gar Schachgroßmeister. Ebenso hatte er die 795,236542te Wurzel aus 21876541235435 schneller im Kopf ausgerechnet als sie das auf ihrem Tablet eingeben konnte. Und keine Nachkommastelle war falsch. Keine! Sie hatte nach beliebigen Fakten im Internet gesucht und wildeste physikalische Formeln, astronomische Konstanten, Sternbilder, historische Ereignisse, Namen von noch so kleinen Orten auf der Welt und wer weiß was noch gefragt. Und er hatte alles gewusst, ausgerechnet oder bewiesen. Alles. Jede chemische Formel, jede physikalische Konstante, jede mathematische Herleitung. Er sprach nahezu jede Sprache, von der sie gehört hatte.

Es hatte sie gefuchst, dass sie wirklich gar nichts gefunden hatte, was er nicht wusste oder konnte. Sogar alle Noten von Enndlins Life von jedem Instrument und jeder Stimme kannte er. Und das waren zigtausende. Und nicht nur die, sondern auch die aus jedem einzelnen Werk, das sie jemals in ihrem Studium gespielt hatte. Kein Mensch konnte so etwas wissen und dabei so normal bleiben wie er. Und irgendwann lachte sie nur noch, wenn sie am Rechner ein irres Problem ausgegraben hatte und er die Lösung im akribischen Detail erläuterte ohne den Bildschirm auch nur anzusehen.


Dann wiederholte er seine Frage, die er schon während der Autofahrt angedeutet hatte. Ob sie so sein wolle wie Opus Eximum. Mit allen Fähigkeiten und mit aller Verantwortung, genau so wie er sie momentan alleine für die Stiftung trug.

Als sie begriff was das bedeutete, war es, als zöge es ihr den Boden unter den Füßen weg.


Karen ging es wieder und wieder durch den Kopf. So etwas wie ihn konnte es doch nicht geben. Schon oft hatte sie von Menschen gehört, die angeblich ein fotografisches Gedächtnis hatten, musikalische Genies waren, mit astronomisch großen Zahlen im Kopf so schnell rechnen konnten wie Computer oder welchen, die nach Unfällen außergewöhnliche künstlerische Fähigkeiten entwickelten. Aber immer hatte sie auch gehört, dass diese Menschen in anderen Lebensumständen höchstens normale Leistungen vollbrachten oder sogar schwere Defizite hatten. Selbst weltweit bekannte und als Genies titulierte Menschen wie Mozart, Beethoven, Da Vinci, Newton, Einstein, Plank oder Edison waren auch durchweg als Menschen mit vielen Schwächen bekannt.


Noch niemals hatte es jemanden wie Konstantin gegeben, der alles konnte und wusste und dabei wie ein normaler Mensch schien. War der Mensch als Wesen für so etwas überhaupt gemacht? Was würde passieren, wenn er längerfristig nicht nur sie auf ein solches Niveau heben würde sondern viele andere Menschen ebenso? Würden alle so konstruktiv wie er sein und ihr ganzes Dasein auf die Verbesserung der Welt ausrichten?


Und sie selbst? Würde sie überschnappen und dem Größenwahn anheim fallen oder ihre Möglichkeiten wie er konstruktiv einsetzen?


Nachdem sie Konstantin diese Frage stellte schaute er sie mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln an, das grenzenloses Zutrauen signalisierte.


"Um Dich und Simon mit in Enndlins Life und die Stiftung mit hinein zu nehmen waren unzählige Kleinigkeiten vonnöten" entgegnete er.

"Bei tausenden anderer Menschen denen ich an dem Samstag begegnet bin, habe ich diese nicht in der Kombination wie bei Euch wahrgenommen. Dazu gehören gewisse Dinge wie beispielsweise eine Eleganz im Charakter. Ein Teil davon ist sicher Selbstlosigkeit - nicht, dass Ihr Mutter Theresa Konkurrenz machen könntet oder solltet, sondern ich meine den grundlegenden Willen Dinge zu ändern und nicht für jedes bisschen gleich eine Bezahlung oder einen Gegenwert sehen zu wollen. Das konstruktive Ergebnis das Ihr erreicht, ist Euch in vielerlei Hinsicht Lohn genug. Dennoch lasst Ihr Euch nicht sinnlos ausbeuten, das muss in einem gesunden Verhältnis dazu stehen. Ihr habt Spaß an Verbesserungen, daran, anderen eine Freude zu machen, lasst nicht pünktlich nach acht Stunden den Stift fallen und bringt einen ausgewogen und menschlichen Charakter mit. Schwächen gehören dazu genauso wie die Fähigkeit diese zu akzeptieren und an ihnen zu arbeiten. Es ist selten, alle diese Dinge und noch viele andere, zusammen bei einem Menschen zu finden. Nur deshalb bist Du hier. Es hätte auch Simon sein können, das gilt genauso für ihn. Ich will auch nicht ausschließen ihn mittelfristig ebenfalls einzuweihen. Aber mit einem von Euch beiden muss ich schließlich anfangen."


Karen verharrte in der Bewegung. Sollte sie das als Kompliment nehmen und durfte sie selbst daran glauben? Wahrscheinlich schon, aber war das nicht schon der erste Schritt zum Größenwahn, zu glauben, dass man eine gute ausgewogene Kombination aus Charakterzügen hat, die die meisten anderen so nicht zu bieten hatten?


Sie konnte den Gedanken nicht weiter verfolgen, denn Konstantin unterbrach ihre Überlegung:

"Ich schlage vor gleich nachher Nägel mit Köpfen zu machen. Ich wandele Dich um, wenn wir wieder im Hotel sind, vor dem Abendessen."


„Wie bitte?“ fragte sie.


Es lief ihr eiskalt den Rücken herunter. Er meinte es offensichtlich ernst und von dem Zeitpunkt an würde ihr Leben nicht mehr das gleiche sein. Schon zuvor hatten sie über die Risiken gesprochen aber dass es so schnell gehen sollte machte ihr Bange. Innerlich versuchte sie ihn als etwas völlig Fremdartiges zu sehen, als jemanden oder ein Wesen, der oder das gar kein Mensch im normalen Sinne mehr war sondern eine Maschine, ein Roboter, Alien oder Computer, doch es gelang ihr nicht. Er war schlichtweg zu normal, wenn er nicht gerade seine Möglichkeiten auf den Tisch legte. So verlief ihr letzter Anlauf, für sich ein Argument gegen diese Umwandlung zu finden, im Sande.


Konstantin blickte Karen an, sie wirkte zerbrechlich unter der Last der Entscheidung. Sie hatte keine Wahl mehr zu glauben, dass das Ganze ein Scherz wäre, das hatten sie hinter sich. Ihr traten Tränen in die Augen, diese Entscheidung würde voraussichtlich der zentrale Wendepunkt ihres Lebens sein. Tränen nicht aus Angst oder Freude sondern aus Bewegtheit. Ihr als ausgewähltem Menschen würde möglicherweise eine der größten Gaben zu teil werden, die jemals jemand empfangen hatte oder würde. Es würde alles anders werden.


Und sie entschied sich trotz der Tatsache, dass sie gefühlt Jahre oder Jahrzehnte brauchen würde alles zu rekapitulieren, während für Konstantin nur Minuten vergehen würden. Und bevor sie begann genauer darüber nachzudenken oder richtig Muffensausen zu bekommen.


"Ja", sagte sie leise und mit brüchiger Stimme. "Gleich wenn wir zurück sind."

4 - Die Wandlung

Wenig später im Hotel fragte sich, was nun mit ihr geschehen und wie es sich anfühlen würde. Die Ankündigung, gefühlt sehr lange in der Fremde zu sein und wieder zu erleben, was sie in der Entwicklungsgeschichte ihrer Seele durchgemacht hatte, fürchtete sie. Zwar meinte er, es würde ihr unter anderem helfen über den Schock des Überfalles hinweg zu kommen und langweilig würde es garantiert auch nicht werden, ganz im Gegenteil. Der Einblick in das Leben ihres Über-Ichs und der Blick darüber hinaus würde ihr Leben vollständig verändern.


Nun lag sie da, auf dem Bett in Erwartung dessen was mit ihr geschehen würde. Konstantin saß neben ihr auf dem Stuhl und hatte es ihr zuvor nicht leicht gemacht, hatte das Risiko erklärt, dass der Prozess bei ihr vielleicht anders verlaufen könnte als bei ihm. Dennoch hatte sie zugestimmt, denn eine solche Chance bekam man im Leben nur ein Mal.


Sie war unterwegs an der Küste, Leute sah sie aber trotz des guten Wetters keine. Nur weite Flächen von Wattenmeer und das Wasser war nur noch am Horizont zu ahnen. Als sie an einer ausgewaschenen Kaimauer vorbei ging, kam ihr das erste Mal seit Jahren wieder der Schreck aus ihrer Kindheit zu Bewusstsein, als sie von einer Mauer gefallen war. Sie erinnerte sich, sie war völlig ohne Angst gewesen dort oben. Es war toll, dort herum zu klettern und die Menschen auf der Straße unter sich entlang laufen zu sehen, jedenfalls bis sie den Halt verlor und neben einem Fußgänger aufschlug. Der hatte sie letztendlich auch ins Krankenhaus gebracht, weil sie vor lauter Weinen und Angst kein Wort darüber herausbrachte wo sie wohnte. Erst nachdem ihr rechter Arm eingegipst war und der Schmerz nachgelassen hatte, konnte sie ihren Namen sagen, so dass man ihre Eltern benachrichtigen konnte.


Es begann ähnlich wie bei Konstantin, die Erinnerungen schlichen sich in ihren Kopf und wurden nach und nach immer intensiver. Auch die Klarheit und die Einzelheiten waren bestechend. Er hatte es ihr erzählt wie es sein würde, aber es jetzt selbst zu erfahren war eine andere Sache. Alles würde jetzt wieder ausgegraben, ob sie wollte oder nicht. Aber schon diesen Gedanken führte sie kaum noch zu Ende, eine Musikvorlesung besonders langweiliger Natur aus ihrem Studium holte sie wieder ein.

Die Erinnerungen überwältigten sie...


Konstantin konzentrierte sich darauf, die entsprechenden Winzigkeiten in Karens Gehirn anzuregen, die seiner Meinung nach bei ihm stattgefunden hatten als er im Brombeerbusch lag. Sicher konnte er sich natürlich nicht sein, dass sein Einfluss den gleichen Effekt haben würde wie der Schimmelpilz des Busches, aber eine andere Möglichkeit sah er nicht. Natürlich gab es ein Risiko, sei es, dass es gar nicht funktionieren oder Karen wahnsinnig werden würde. Daran mochte er gar nicht denken, aber selbst wenn das passieren sollte, sah er gute Chancen das wieder rückgängig zu machen. Und sie hatte ihm trotz dieser Risiken ihre Einwilligung gegeben. Und im Moment sah alles gut aus, die Reaktionen in ihrem Gehirn waren wie erhofft und jetzt brauchte er sie nur noch zu beobachten wie sie völlig reglos auf dem Bett lag und zu einem anderen Menschen wurde.


Als sie etwa zwanzig Minuten später die Augen wieder aufschlug, tat sie das als ob sie diese Prozedur tagtäglich durchmachen würde. Keine Spur von Desorientierung, Müdigkeit oder Verwirrung.


"Es ist unglaublich..." sagte sie schließlich, das Ende des Satzes offen lassend, noch fehlten ihr die Worte.


Sie setzte sich auf und schaute sich um. Sie war wieder zurück aus ihrer ureignen Geschichte und fand sich nur langsam damit ab, wieder in der Realität angekommen zu sein. Sie legte ihre Handflächen auf die Augen, das tat sie manchmal, wenn diese müde waren oder sie etwas Entspannung suchte. Einen Moment lang wollte sie sich noch orientieren. So legte sich Dunkelheit auf ihre Wahrnehmung und die Brillianz ihres Geistes trat zu Tage. Es lag alles vor ihr. Alles. Und sie war der gleiche Mensch wie zuvor. Und doch jemand ganz anderes.


Jetzt verstand sie Enndlins Life. Die Stiftung. Und alles andere.


Sie verstand alles.


Alles.

5 - Rückbesinnung

Die folgenden beiden Tage an der Küste waren von Spaziergängen und körperlicher Erholung gekennzeichnet, in den Köpfen waren sie dabei jedoch aktiver denn je. Sie koordinierten Pläne bezüglich Enndlins Lifes, der Stiftung und der darüber liegenden Drohung von außerhalb. Dass andere heraus fanden, wer Opus Eximum war und gegebenenfalls der Stiftung und dem Ganzen einen Riegel vorschoben, war völlig inakzeptabel.


Sie verstand schnell wie Konstantin anderen Menschen Ideen vermittelte und beide begannen sich auf diese Weise zu "unterhalten". Im Gegensatz zu Konstantins bisheriger Vorgehensweise übten sie nun, den jeweils anderen die eigenen Ideen nicht nur spüren zu lassen sondern auch deutlich zu machen, woher diese Idee kam. Schon nach wenigen Stunden sprachen beide kaum noch ein Wort. Es war keine Telepathie, die sie erlernten, aber eine Fähigkeit, die dem nahe kam. Es reichte, um sich abzustimmen und Pläne zu machen. Diese wurden nicht mit Worten oder Bildern formuliert sondern durch Ideen und deren schrittweiser Verfeinerung. So verschwammen die Grenzen wer etwas erdacht hatte, sie beide teilten schlichtweg ihre Vorstellungen davon wie etwas sein oder gemacht werden sollte.


Wie erhofft konnte Karen ebenfalls aus einem Jahrtausende währenden Zyklus von Leben und Tod berichten. Den Überfall betrachtete sie nun aus einer völlig neutralen Perspektive. Es war nur eine aus einer riesigen Zahl an Gewalttaten, Krankheiten und leidvollen Erfahrungen, die sie zu dem gemacht hatten was sie jetzt war. Wie Konstantin hatte sie keine Angst mehr vor dem Tod, weil sie wusste, wie es und dass weiter gehen würde. Allerdings würde sie sich, wie er auch, ausgesprochen ärgern, wenn sie die Möglichkeiten dieses Lebens nicht ausschöpfen könnte, sei es weil sie zu früh sterben könnte oder gewaltsam daran gehindert wurde.


Einen Vergleich ihrer Lebenserfahrungen stellten sie gar nicht erst an; nicht nur, dass das unverhältnismäßig lange dauern würde sondern auch weil eine solche Gegenüberstellung müßig wäre ob der Vielfalt der Erlebnisse.

Eine Übung hatte Konstantin ihr jedoch voraus - astrales Wandern war ihr vollständig fremd und in keinem ihrer Leben hatte sie etwas Vergleichbares zu bieten. Mehrfach versuchte er ihr zu erklären wie es funktionierte, vermittelte ihr die Vorstellung durch Ideen und Bilder. Der eigentliche Sprung vom Körper weg gelang ihr ohne ihn jedoch nicht. Nur wenn Konstantin sie "zog" konnte sie ihn begleiten und erfahren was auf diese Weise möglich wurde. Diese Tatsache bedrückte sie etwas, denn ohne diese Fähigkeit würde sie beträchtlich weniger Wirkung entfalten können als er. Damit erfüllte sich eine wichtige Hoffnung und ein Grund, weshalb sie die Wandlung überhaupt gewollte hatte, nicht. Sie würde nur sehr mühselig und manuell Erkenntnisse an andere Menschen weitergeben können, so wie Konstantin anfangs auch, was den Fortschritt der Stiftung im Vergleich zu heute erheblich gebremst hatte und die ständige Gefahr der Erkennung barg. Sie würde sehr vorsichtig damit sein müssen, die Lehren aus den Verfolgern Opus Eximums waren ihnen beiden noch allzu gegenwärtig.


Die Rückfahrt über konzentrierte sich Konstantin auf das Fahren; Karen begann nach seinen ausführlichen Erklärungen, sich einen Überblick über die Stiftung und deren Arbeiten zu verschaffen. Er zog sie einmal aus ihrem Körper heraus woraufhin sie sich selbsttätig bewegen konnte. Die Unzahl an eingeschlagenen Entwicklungen und Forschungsarbeiten beeindruckten sie. Zwei Jahre mit seinen und jetzt auch ihren geistigen Fähigkeiten ermöglichten es, Dinge ins Rollen zu bringen, von denen Enndlins Life und die Urbarmachung der Sahara nur die Spitze des Eisberges waren. Und ab jetzt wollte auch sie mitmischen, es würde das Ganze noch deutlich voranbringen, wenn es nach ihr ging.

6 - Schockroboter

Sie kehrte zurück in ihren Körper und war wieder an ihn gebunden. Eine Idee war ihr als erstes gekommen: Kleine Maschinen, fliegende Roboter, die überall um­her­schwir­rten und jedem Menschen, der irgendjemand anderem Gewalt antat, einen heftigen Elektroschock verpassten oder ihm die gleiche Gewalt antaten, die er selbst verübte. Die Konsequenz einer Tat würde immer postwendend zu jedem Täter zurückkehren. Ab dem Zeitpunkt würde es vermutlich keine Gewalt mehr auf der Erde geben.


Könnte so etwas funktionieren? Könnte man Menschen durch Androhung von Schmerz und Schocks dazu bringen selbst darauf zu verzichten? Nach ihrem ersten Überblick über die Ideen und die sich in der Stiftung anbahnenden neuen Technologien meinte sie, dass es bald möglich sein könnte, solche Maschinen oder Roboter zu bauen. Aber was wäre, wenn jemand auf die Idee käme, diese für anderes zu missbrauchen oder sie umzuprogrammieren? Und war es wirklich immer falsch, dass Gewalt angewendet wurde? Und wenn nein, ab welchem Maße müsste man sie als falsch oder richtig werten? Und was wäre mit Selbstmordattentätern oder Masochisten, die es liebten, die gleichen Schmerzen zu empfinden wie andere?

Den Menschen ein Paradies zu schaffen konnte nicht das Ziel sein, sie würden immer kämpfen und Schwierigkeiten bewältigen müssen, um das Leben richtig zu würdigen und damit die Entwicklung voran ging.

Abgesehen von der Realisierbarkeit solcher Maschinen und der Zuverlässigkeit der Software führten diese Überlegungen Karen in eine Sackgasse, an deren Ende sie sich nicht mehr sicher war, ob diese Idee, sollte sie überhaupt funktionieren, eine gute war. Bei dem Durchdenken der Totalüberwachung der Menschen wurde Karen bewusst, dass die menschliche Natur und die Natur als solches für "Richtig" und "Falsch" möglicherweise gar keine Verwendung hatte, und diese Begriffe für die Entwicklung des Lebens hinderlich sein konnten. Der Antrieb eines Menschen bestand zu einem nicht unbeträchtlichem Maße daraus, dass er nicht beliebig viel Zeit für etwas hatte, nicht ewig lebte und dass es Grenzen gab, die es zu überwinden galt. Gewalt, Druck, Recht und Unrecht und die damit zusammenhängenden Emotionen formten Menschen und die Vielfalt des Lebens. Dieses Gleichgewicht würde durch das Entfernen der Gewalt eine beträchtliche Veränderung erfahren. Möglicherweise würden die Menschen zu sehr verweichlichen und sich andere Dinge suchen, um sie als genauso ver­ab­scheu­ungs­wür­dig zu betrachten.

Ein Blick in ihre eigene Seelenwanderung, ihre ureigene Geschichte des Lebens, lehrte sie, dass sie nur zu dem geworden ist was sie jetzt ist, in dem sie viel Gutes und Böses durchlebt hatte.


Konstantins Schiene bestand bisher ausschließlich aus der Entwicklung von neuen Technologien, die für militärische Zwecke nur wenig oder gar nicht zu gebrauchen waren, den Menschen zu Gute kamen, die Natur entlasteten und die Ressourcen der Erde schonten. Ein tieferer Einblick in Enndlins Life ließ darüber hinaus einen stillen Aufruf zum sozialen, konstruktiven und ruhigen Zusammenleben erkennen. Es war kaum vorzustellen, dass etwas an diesem Konzept falsch sein konnte.


Noch hatte sie ihr eigenes Potential nicht annähernd ausgelotet. Sie hielt schon jetzt, zwei Tage nach der Wandlung durch Konstantin, in vielen Dingen mit ihm mit, in einigen war sie ihm sogar voraus. Musikalisch würde sie noch so einiges drauf legen können, was aber erst einmal Zeit hatte. An Enndlins Life würde sie sich noch eine Weile austoben können. Er hatte ihr den Freibrief gegeben in gewissem Rahmen Änderungen unter eigener Regie vorzunehmen, wenn sie das für angebracht hielt.


Sie lehnte sich zurück und ging in sich. Sie hatte keine Episode als Priester im alten Ägypten durchlebt, der sein halbes Leben lang Astralwanderungen praktiziert hatte. Der Versuch geistig zu wandern gelang ihr daher bisher nur sehr rudimentär, einen Blick in andere Köpfe war ihr nur möglich, wenn sie durch Konstantin geleitet wurde. Er nahm sie quasi mit, er holte sie ab und zog sie mit sich, und das seichte geistige Ziehen genoss sie. Es fühlte sich immer wie ein Angebot an, die Welt zu erkunden, hunderte oder tausende Kilometer in Gedankenschnelle zu überwinden und die Gewissheit existierte immer, dass er sie dazu nicht zwingen konnte. Waren sie erst einmal unterwegs, dann konnte sie springen wie er, und sie waren schon sehr weit gewesen. Der Mond war in Sekunden erreicht, etwas wozu die Amerikaner Milliarden von Dollar hatten ausgeben müssen. Sicher, es war nicht das gleiche, aber dennoch etwas, was sie sich nie hätte vorstellen können. Um ehrlich zu sein war ihr dieser staubige Gesteinsbrocken sogar zuwider. "Was wollen wir hier?" hatte sie sich gefragt, wobei sie sich die Antwort gleich mit gab. Die Möglichkeit zu solchen Dingen war es, die einzigartig war, und sie nicht zu nutzen, wäre Frevel gewesen.


Sie schloss wieder ihre Augen und spürte Konstantins Gegenwart neben sich. Nicht, weil sie trotz der Fahrt hin und wieder von ihm Geräusche wahr nahm, ihn roch oder die abgestrahlte Wärme fühlte. Nein, sie nahm Ihn wahr, seinen Astralkörper, Seele, Geist, oder wie man es auch immer nennen wollte. Sie konnte es berühren ohne ihren Körper zu benutzen. Aber wie konnte sie ihn wahrnehmen, wenn er doch gar nicht "unterwegs" war? Dann verstand sie - die Loslösung von ihrem Körper war gar nicht nötig, weil sie überhaupt nicht an ihn gebunden war, es war lediglich der Wille ständig bei ihm zu sein, der sie fest hielt und um keinen Kontrollverlust über ihren Körper zu erleiden. Eine jede Seele inkarnierte in einen Körper, um ihn sein Leben lang zu leiten und durch ihn die Welt zu erkunden, zu erleben und zu erfahren. Eine Trennung von ihm setzte diese Erkundung aus und das Leben des Körpers wurde für die Seele unbedeutend, deshalb gab es keinen Grund für eine solche Trennung, bis schließlich der Körper nicht mehr funktionierte. Willentlich konnte die Seele jedoch immer den Körper verlassen, es gab keine Hürde, keinen Klebstoff oder etwas das sie festhielt. Sie musste sich nur entscheiden ihn zu verlassen.

Es war eine sehr überraschende Erfahrung für Karen - sie driftete einfach davon und sah den Wagen sich von ihr wegbewegen. Im ersten Moment erschreckte sie, was wäre wenn sie nicht mehr zurück konnte? Der Sprung in den Wagen und zurück in den Körper stellte sich glücklicherweise ebenso wie der Sprung selbst als eine pure Aktion des Willens heraus. Es durchflutete sie eine Woge der Euphorie, sie konnte ein Lachen nicht unterdrücken als sie sich wieder neben Konstantin sitzen fühlte und die Straße unter ihr entlang strich.


"Jetzt weiß ich wie es geht!" lachte sie. "Es ist wirklich einfach, so einfach!"

7 - Sprünge? Sprünge!

Karens Euphorie kannte kaum Grenzen. Nach wenigen Sätzen mit Konstantin schloss sie wieder Augen und sprang. Dieses Mal war Spitzbergen ihr Ziel. Sie hatte ihr ganzes Leben schon dort hin gewollt und noch nie die Möglichkeit dazu gefunden. Erst nach vielen Minuten war sie zurück im Auto, eindeutig frustriert und erschreckt.

"Kann denn jemand ahnen, dass es wie die Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen ist, wenn man Spitzbergen sucht? Das Meer ist ja riesig, Wolken ohne Ende und kein Spitzbergen weit und breit, ahh!

Und dann, man glaubt es ja nicht, dann kam das Blödeste überhaupt, ich fasse es kaum! Der Wagen war weg, Du bist ja schließlich weiter gefahren. Ich musste mich selbst suchen, kannst Du Dir das vorstellen, sich selbst suchen zu müssen? Ich fahre durch die Gegend und bin nicht da wo ich bin und finde mich selbst nicht wieder! Ich fasse es nicht!"


Konstantin hatte ähnliche Erfahrungen gemacht, wenn auch nicht bei der Suche nach Spitzbergen. Aber sich selbst hatte er noch nicht verloren. Die Vorstellung amüsierte ihn nicht nur, sondern er brüllte vor Lachen.


Mit Tränen in den Augen versuchte er zu erklären.


"Erinnerst Du Dich nicht an einen Globus auf dem Du Spitzbergen gesehen hast? Atlanten und viel anderes Kartenmaterial helfen kaum, weil sie die Abstände verzerren und häufig ungleichmäßige Maßstäbe verwenden. Nur wenn man das Bild eines Globus in seinen Erinnerungen hat, auf dem Spitzbergen verzeichnet ist, kann man ohne Navigationsgeräte dort hin finden. Und selbst dann ist es schwierig, weil die Größenverhältnisse viel drastischer sind als man sich normalerweise vorstellt."


"Blitzmerker, darauf bin ich eben auch schon gekommen! Noch nicht bemerkt, dass ich jetzt genauso fit im Kopf bin wie Du auch?" schoss Karen zurück.


"Okay, okay, ist schon klar... Aber was meinst Du was los ist, wenn Du die Erde verlässt und Richtung Mars oder noch weiter unterwegs bist und die Erde nicht wiederfindest! Das habe ich einmal gemacht und die Panik gekriegt, sag ich Dir! Plötzlich ist die Erde nur noch ein winziges Fünkchen unter vielen Sternen. Danach bin ich ganz vorsichtig geworden. Jetzt merke ich mir sehr genau jeden Weg zurück. Glücklicherweise sind wir durch die Lichtgeschwindigkeit in unseren Sprüngen begrenzt. Wir können also nicht in einer Sekunde irgendwo aus dem Sonnensystem heraus springen und plötzlich die Erde oder Sonne in dem Meer der Sterne verlieren. Das wäre echt doof. Eine verlorene Seele ganz alleine im Universum und ein seelenloser Körper, der hilflos auf der Erde herumliegt."


"Was?" Karen schaute ihn irritiert an. "Diese Vorstellung ist wirklich abstrus. Ein seelenloser Körper. Das klingt wie eine religiöse Vorstellung davon, wenn die Halle der Seelen leer ist und es nicht mehr genug Seelen für Neugeborene gibt oder gar der Beginn der Apokalypse, brr!

Und jetzt lass mich, ich versuche es noch einmal."


Sie schloss erneut die Augen und sprang.

Teil 8

Die IORED

1 - Neue Spuren

Igor und seine Kollegen kopierten und übermittelten eine Menge Daten von Pohlmanns Rechner an ihre Zentrale. Dort würden seine Kollegen insbesondere Pohlmanns E-Mails genau unter die Lupe nehmen, denn auf dessen privaten Nachrichtenordner hatte er über den Stiftungsstrojaner bisher keinen Zugriff gehabt. Darin erhoffte sich Igor die letzten Beweise dafür zu bekommen, dass Pohlmann hinter allem steckte. Schon kurz nachdem sie die Nachrichten kopiert hatten, kam aus der Zentrale der Befehl, die Exekution sowohl Pohlmanns als auch von Meier und Radeberg vorzubereiten, ohne dass diese als solche erkenntlich sein durfte. Sie würden also einen Unfall provozieren müssen, am besten, wenn alle drei irgendwo zusammen unterwegs waren. Es überraschte Igor, dass diese Nachricht so schnell nach dem Übermitteln der E-Mails kam, es mussten inzwischen noch andere gravierende Informationen gefunden worden sein, damit es zu einer solch harten Entscheidung kam. Den eigentlichen Grund hatte man ihnen wie üblich nicht mitgeteilt. Igor war sauer, wieder einmal wurde ihm klar gemacht, dass er am Ende der Befehlskette stand, obwohl er den Löwenanteil der Arbeit erledigt hatte. Die Drecksarbeit durfte er auch noch erledigen und Zuhause sonnten sich die Chefs in dem Erfolg. Dieses Mal würde er sich Zeit lassen und alles hinauszögern was nicht zu sehr auffallen würde. Insgeheim befürchtete er nämlich, dass jemand anderes schlagkräftige Argumente für die Entscheidung geliefert hatte, er selbst als überflüssig angesehen wurde und nach seiner Rückkehr keinen Job mehr haben könnte. Wenigstens diese Reise wollte er noch genießen. Es gab hier eine Menge netter Dinge zu sehen und ein paar Vorwände für die Suche nach einem guten Ort für den inszenierten Unfall ließen sich immer finden. Außerdem wollte er nicht gerade den amerikanischen oder chinesischen "Kollegen" in die Arme laufen, während er dabei war, die drei zu eliminieren. Gut Ding will schließlich Weile haben.

Nicht zuletzt waren vermutlich noch andere nervöse Staaten in dieser Sache unterwegs, die mit etwas Glück den Job schon für ihn erledigten.

2 - Die Besucher

Sicher, sie war durch das Erfahren ihrer Seelengeschichte jetzt so abgebrüht, dass sie den "Besuch" vor wenigen Tagen in ihrer Wohnung gelassen sah. Sie rekapitulierte nun jedes noch so kleine Detail des Überfalls und analysierte alles. Die Maskierten, deren Gerüche, Akzent, jede Silbe und Handlungen. Konstantin hatte ihr schon vor ihrer Wandlung erzählt wie er auf sie und Simon gekommen war und wie er seine Auswahl getroffen hatte; eine Vorgehensweise, die er schnell verfeinert hatte und auf zahlreiche Bewerber für Stellen in der Stiftung fortgesetzt hatte. Erst langsam wurde ihr klar, wie weit sein Einfluss reichte und wie viele Details er berücksichtigte. Er hatte nahezu alles in der Hand und die wenigen Kleinigkeiten, die er nicht kontrollierte, hatten zumeist keine Bedeutung für das Ganze.

Jetzt war sie am Zuge und knöpfte sich ihre Einbrecher vor. Das große Bild der Stiftung hatte er ihr schon übermittelt und dabei auch die Maulwürfe nicht ausgelassen. Sie begann ihre neuen Fähigkeiten nun in Bezug auf die Analyse von Zusammenhängen auszuspielen und kam schnell zu der Auffassung, dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit für Zusammenhänge zwischen dem Trojaner, ihren Besuchern und den Maulwürfen gab. Sie wusste, dass Konstantin derzeit an anderen Dingen arbeitete, die Maulwürfe ihn kaum störten und er sie unter Kontrolle glaubte. Sie war durch die Einbrecher attackiert worden, aber ihre Überlegungen zeigten schnell, dass er das eigentliche Ziel war, es lag auf der Hand, dass ihn jemand dingfest machen wollte. Und was war mit Simon? Er würde mit Sicherheit auch aufs Korn genommen werden, dazu war er zu zentral positioniert. Sie sprang zur Stiftung und fand schnell heraus, dass Simon noch unterwegs zu seiner Mutter bei Hannover war. Das entsprach nicht ihren ursprünglichen Erwartungen, denn derzeit war es wegen des Sahara-Projektes sehr ungewöhnlich, dass er nicht in der Stiftung war. Sie fand schnell heraus, dass jemand ihn auf böse Art geleimt hatte und es wurde klar, dass es mindestens drei Personen gab, die Simon, Konstantin und sie selbst im Fokus hatten. Sie begleitete Simon eine Weile während des Besuches bei seiner Mutter, nur fand sie nicht viel heraus. Sie schweifte zur Stiftung, durch ihre eigene Wohnung, die durchwühlte von Simon und dann durch die von Konstantin. Dort erlebte sie eine Überraschung. Sie war nicht leer und die Leute darin waren ihr hinreichend bekannt. Im ersten Moment erschreckte sie und fand sich überraschenderweise in ihrem Körper wieder. Offensichtlich konnten Schreck oder Angst einen Reflex auslösen, der sie zurück beförderte. Wie das funktionierte, während sie sich bei der bewusst gewollten Rückkehr unter Umständen selbst nicht wiederfinden konnte, war ihr noch unklar. Jetzt nutzte sie erst einmal die Gelegenheit, um Konstantin die Neuigkeit zu überbringen. Groß überrascht schien er nicht zu sein, in irgendeiner Form hatte er so etwas erwartet, einen Einbruch gerade jetzt hatte er aber nicht auf dem Plan.

3 - In die Enge getrieben

Karen und Konstantin wechselten sich ab und begleiteten die Besucher so lange bis sie irgendwann alle Hintergründe kannten. Aus ihren vielen Episoden hatten sie beide sehr gute Kenntnisse in Russisch, die sie dazu natürlich hervorragend verwenden konnten. Es waren sehr spannende Informationen, die sie so erhielten. Nicht nur, dass der russische Geheimdienst ihnen am Hacken klebte, sondern auch die Amerikaner, auch wenn die erstaunlicherweise noch nicht so weit gekommen waren, dass sie sich so konkret auf Konstantin fixiert hätten. Die NSA machte ihrem Ruf, alle Netze und Rechner unterwandern zu können, in diesem Falle keine Ehre. Sogar die Chinesen hatten zahlreiche Informationen erbeutet, der BND hing ihnen an den Fersen, diverse Konzerne gar nicht zu erwähnen. Igor Strawinsky hatte nicht nur die Stiftungs- und Music Science Server unterwandert, sondern auch noch den Stand der Ermittlungen anderer Geheimdienste und zahlreicher anderer Quellen mit berücksichtigt so weit wie sie bei seinem Nachrichtendienst bekannt oder durch Trojaner und gehackte Zugänge abrufbar waren.

Dass das Eliminieren von Konstantin, Karen und Simon geplant wurde, verdarb ihnen dann schon den Appetit. Selbst wenn der konkrete Befehl noch nicht erteilt worden war und nur die Vorbereitungen getroffen wurden, reichte das. Man erfährt schließlich nicht jeden Tag, dass man umgebracht werden soll.

Die Überwachung aller drei Wohnungen gefiel ihnen auch nicht besonders, denn sie konnten diese Geräte nicht einfach entfernen ohne deutlich zu machen, dass sie die Aktion durchschaut hatten.


Glücklicherweise hatte Konstantin vorgesorgt. Bei sich Zuhause gab es schon lange keinen Hinweis mehr darauf, dass er Enndlins Life komponiert hatte. Schon vor der Veröffentlichung des ersten Satzes wusste er, dass das Interesse an weiteren Sätzen enorm werden würde und hatte die wenigen Dinge, die er tatsächlich aufgeschrieben hatte entweder vernichtet oder sie mit einem von ihm selbst entworfenen Verschlüsselungsalgorithmus codiert, den seiner Meinung nach niemand auf der Welt knacken konnte. Die meisten Sätze hatte er auch jetzt nur im Kopf und noch gar nicht niedergeschrieben. Darüber hinaus gab es nur wenige bekannte Verschlüsselungsverfahren, die weiträumig eingesetzt wurden und Geheimdienste waren darauf spezialisiert genau diese zu knacken. Ein völlig unbekanntes und neuartiges Verfahren, von dem Konstantin meinte, dass es allen bekannten weit überlegen wäre, dürfte kein Geheimdienst auf den Plan haben und schon gar nicht knacken können. In dieser Hinsicht hielt er sich für unangreifbar.

Auch Simon und Karen hatten den Agenten bisher keine Hinweismomente auf ihn geliefert, weil sie selbst höchstens Ahnungen hatten, dass er der Drahtzieher sein könnte, aber keine Beweise und schon gar nichts Schriftliches.


Dass die Agenten bei ihnen noch etwas finden würden war also unwahrscheinlich. Und seit dem Konstantin nur noch geistig die Stiftung leitete, waren seine Dokumentänderungen auch kein Indiz mehr. Ganz im Gegenteil, nachdem er den Trojaner entdeckt und unangetastet gelassen hatte, hatte er noch Auftragsdokumente erdacht, die seine Änderungen unter vielen anderen als Aufträge aus verschiedenen Abteilungen aufführte, so dass er nicht mehr durch sie als der Ursprung gelten konnte. Die Dokumente würden ihn also nur noch sehr bedingt belasten können.

Um so erschreckender war, dass sie dennoch auf der Abschussliste standen. Aber die Spuren führt nun schon einmal zu ihm, obwohl es konkrete Beweise nicht zu geben schien. Problematisch war, dass die Agenten hier keine Ahnung hatten, was konkret zu der Entscheidung geführt hatte.

Jetzt war der schlimmste Fall eingetreten, sie würden möglicherweise schon aufgrund der bekannten vagen Verdachtsmomente beseitigt werden, nur um auf Nummer sicher zu gehen.


Was also tun? Sie hatten eine Reihe von Möglichkeiten, von denen alle ihre negativen Seiteneffekte zu haben schienen. Konstantin hatte zwar seine Fähigkeit, Menschen zu manipulieren, in den vergangenen Monaten nahezu perfektioniert. Er könnte die Agenten willentlich in den Wahnsinn treiben. Seiner Meinung nach würde das das Problem aber nur verschlimmern, weil es die Aufmerksamkeit auf die letzten von den Agenten untersuchten Spuren lenken würde. Und das waren dummerweise Konstantin, Karen und Simon. Abgesehen von der Tatsache, Menschen aktiv zu schaden, was sowohl Karen als auch Konstantin zuwider war, hielten sie diese Vorgehensweise nicht für sehr Erfolg versprechend, denn es würden nur andere den gleichen Auftrag bekommen.


Simon war derzeit genauso unterwegs wie sie selbst und über die Agenten waren sie gewarnt. Sie hatten also noch etwas Zeit, insbesondere weil der eigentliche Befehl noch nicht ergangen war. Sie wussten auch, dass das Telefon vom Nachbarn von Simons Mutter nicht überwacht wurde und die Agenten nicht wussten wo genau sie sich gerade aufhielten, das Hotel hatten sie schon mit unbekannten Ziel verlassen. Allen weiteren "Unfall"-Plänen der Agenten konnten sie also noch zuvorkommen. Als erstes riefen sie also den Nachbarn von Simons Mutter an, ließen Simon ans Telefon holen und machten ihm klar, dass er sich bis auf Weiteres von seinem Zuhause, seiner Mutter und dem Stiftungsumfeld fern zu halten hätte. Konstantin half noch ein wenig nach, in dem er während der Erklärung über die Agenten Simon noch ein paar unangenehme Phantasien und Vorstellungen über deren Pläne ins Hirn setzte. Er würde jetzt garantiert ein paar Tage weit weg irgendwo in Hotels Urlaub machen.


Dann begannen Karen und er das Szenario eingehend zu analysieren und Gegenmaßnahmen einzuleiten.

4 - Der Stellvertreter

Oliver ärgerte sich. Karen war verschwunden, sie hatte sich mit irgendeiner fadenscheinigen Mail vor drei Tagen abgesetzt und sie alle kurz vor dem Beginn der nächsten Aufnahmen sitzen gelassen. Die ersten Teile von Enndlins Life hatte sie bisher auf eine solch beeindruckende Weise durchgezogen, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, ihren Job freiwillig zu übernehmen. Die ersten Wochen nachdem sie ihn angeheuert hatte, war er mit der Idee, ihr Stellvertreter zu sein, durchaus schwanger gegangen und hatte sogar überlegt ihr das vorzuschlagen. Als dann aber die konkrete Umsetzung begann, war er so sehr in Arbeit versunken, dass er froh war, das nicht getan zu haben.

Und jetzt hatte er den Job doch am Hacken. Bis dato war kein Stellvertreter nominiert worden und die anderen hatten ihn komplett überrumpelt. Es kam scheinbar zufällig das Gespräch auf, dass jemand Karens Job machen müsse und eine Wahl das beste wäre. Dass diese dann eben so zufällig fast einstimmig auf ihn fiel war nicht glaubwürdig.

Das war garantiert eine abgekartete Sache, sie mussten das ohne ihn besprochen haben, denn sonst wäre das nicht so schnell und problemlos über die Bühne gegangen. Wahrscheinlich hatten sie das, als er vorgestern etwas zu spät kam, ausgekokelt, weil er so kaum eine Chance zur Gegenwehr hatte. Dieses Los wieder los zu werden war ein Ding der Unmöglichkeit.


Nun stand er ein wenig hilflos vor der Gruppe und begann, wie Karen anfangs auch, mit Wiederholungen, um Zeit zu gewinnen und ein Gefühl für die Sache zu bekommen. Während er selbst spielte war das Dirigieren nicht machbar und deshalb setzte er längere Strecken aus. Er würde sich außerhalb der offiziellen Proben neben den Vorbereitungen zum Dirigieren also auch noch seinen eigenen Part alleine aneignen müssen. Freizeit würde er bis Karens Rückkehr daher nicht haben.


Jetzt stand er wieder vorne, im zehnten Takt hakte es gewaltig, und er suchte nach Wegen, das in den Griff zu bekommen. Es dauerte eine Weile bis ihm schließlich eine Idee kam. Als er sich allerdings darauf konzentrierte, die nötigen Anweisungen zu geben, hob es ihn komplett aus dem Angeln.

5 - Karen

Nach den endlosen Leben, die sie wieder erlebt hatte, meinte sie, keine Angst mehr vor dem Tod zu haben. Dennoch verursachte ihr das konkrete Wissen darum, dass die Spione einen Anschlag auf sie planten, Angst. Sie liebte das Leben und wollte nicht alles in dem Moment wieder verlieren, in dem es so großartig lief. Erst jetzt ging es doch richtig los!


Nachdem sie beide lange über einem Plan gebrütet hatten, um die Agenten auszubooten, war Konstantin im Internet am Wühlen und Hacken. Er wollte Spuren, Fährten und Indizien streuen, die die Geheimdienste ablenkten und auf andere Gedanken brachten. Karens Aufgabe würde es im Nachgang sein, das vom ihm geschaffene Konstrukt auf Lücken und Unsauberkeiten zu prüfen, aber das würde sie tun nachdem er fertig wäre.

So hatte sie das erste Mal nach der Wandlung Zeit zu grübeln. Sie wanderte in Gedanken zu den Agenten und zu Simon, um sicher zu gehen, dass ihm keine Gefahr drohte. Konstantin und sie hatten ausgemacht, dass sie sie regelmäßig überwachten, um keine wichtige Information zu verpassen. Simon war irgendwo in der Pampa in ein Wellnesshotel abgestiegen und schlief den Schlaf der Gerechten. Er war von der Geschichte so mitgenommen, dass er die Auszeit weidlich nutzte, um sich so gut wie möglich zu erholen.

Und die Agenten? Die ließen sich in einem Hamburger Vorort voll laufen, waren also gerade zu nichts nutze. Allerdings wurde über so manchen Vorgesetzten und den Dienst als solches lamentiert. So bekam sie über enthemmte Zungen einige Geschichten mit, die sonst sicher keine Erwähnung gefunden hätten.


Die Wahl von Oliver zu ihrem Stellvertreter überraschte sie etwas, begrüßte die Idee aber. Er war vielleicht nicht der musikalisch stärkste in ihrem Team, hatte aber genug Power, um einige Tage für sie weiter zu machen. Sie würde davon in Zukunft öfters Gebrauch machen, um sich zu entlasten und etwas frischen Wind in die Gruppe zu bringen, jedenfalls, wenn sie noch dazu käme und die Agenten sie nicht vorher abmurksten.

Außerdem bot sich bei ihm die hervorragende Möglichkeit, die Technik der Fernbeeinflussung zu üben, wie Konstantin sie schon seit geraumer Zeit höchst effizient praktizierte. Ein Besuch bei Oliver war interessant, sie sah schon den ersten Anwendungsfall und spielte etwas herum...

6 - Ein neuer Blick

Ein Kreischen schrillte in seinen Ohren, Bilder, Töne, Klänge und Emotionen rasten an Oliver vorbei wie in einem Kino dessen Film im Zeitraffer mit hundertfacher Geschwindigkeit lief und das alles in seinem Kopf und nicht auf einer Leinwand. Durchmischt war alles mit flackernden Noten vieler Instrumente, Chören und gesungenen Texten. Ein rasendes Kaleidoskop von Sinneswahrnehmungen wie in einem Fieberdelirium, wobei man sich auf nichts konzentrieren konnte und sich doch alles immer wieder um das Gleiche drehte.


Was passierte nur mit ihm? Es fühlte sich an als ob sein Gehirn jeden Moment durchbrennen würde. Er glaubte seinen Verstand schon verloren zu haben als alle diese Eindrücke begannen sich langsam in eine Ordnung zu fügen, ein Schimmer der Hoffnung am Horizont, der sich sehr langsam zu einem strahlenden Tag entwickelte.


Er atmete tief durch, kurz nachdem sich in seinem Kopf alles wieder beruhigte und er verstand, dass sich seine geistige Gesundheit gerade eben noch an einem sprichwörtlich seidenen Faden wieder in die Realität gerettet hatte.


Diese Noten, die Szenen des Filmes, die dazugehörigen Emotionen und die Musik formten in seinem Kopf nun ein Ganzes. Ein ganzes Leben. Enndlins Leben.


War es Zauberei? Magie? Hatte ein übernatürliches Wesen seine Hand im Spiel, er eine Überdosis Drogen im Blut oder war es ein ungewöhnlicher Alptraum? Er wusste es nicht und würde es wohl nie erfahren. Er wusste nur, dass Enndlins Life noch viel umfangreicher und außergewöhnlicher war als erwartet, es schien sogar ein Eigenleben zu haben, jede und jeder erfuhr das Stück auf eine ganz eigene Weise. Die Worte Konstantins nach der Veröffentlichung des ersten Satzes wogten durch seinen Kopf, Enndlins Life repräsentiere ein ganzes Leben.

Er verstand es nun besser als je zuvor. Es war nicht nur der Inbegriff des Lebens einer Enndlin sondern auch das der Hörer, es veränderte dieses und nahm Einfluss.


Es lag in seinem Geiste vor ihm, mit jeder Note, jeder Szene ihres Lebens und dem Klang eines jeden Instrumentes. Er hörte alle Sätze zugleich, mehr als nur wie ein Dirigent, der ein großes Konzert im Geiste zusammenfügte bevor er es mit seinem Orchester in einem Saal in die Realität umsetzte.


Nun lauschte er noch ein wenig dem Klang und der Reinheit der Töne aller Sätze sowie der Bedeutung, die in ihnen schwang. So kurz wie ein Wimpernschlag, so lang wie eine Ewigkeit küssten die Akkorde und Harmonien sein musikalisches Empfinden. Märchenhaft und erschreckend, behaglich und qualvoll, mit Pracht und Anmut lag dieses Leben vor ihm.


Und genau so sagte er sich, solle das Ensemble sie umsetzen.


Er öffnete seine Augen, weil er dachte diesen Flash hinter sich zu haben, brauchte aber dennoch eine Weile um sich von dem zu erholen was in ihm aufgeflammt war. Es war eine Wahrnehmung so umfänglicher Natur, wie er sie das erste Mal in seinem Leben gehabt hatte.


Das Orchester war höchst besorgt, weil er unvermittelt in seinen Erklärungen und vor allen umgekippt war. Glücklicherweise hatte er mit seinem Kopf den Notenständer knapp verfehlt und nur seine Hüfte tat ein wenig weh. Er würde wohl einen blauen Fleck bekommen, sonst aber nichts davontragen.

Erst traute er sich eine Weile nicht, wieder an das Problem im zehnten Takt zu denken, riskierte es dann aber doch. Nun war er auf die Welle der Erkenntnis vorbereitet und nur deshalb überrumpelte es ihn nicht ein zweites Mal. Sie hatten noch Jahre mit diesem Werk vor sich. Es kamen nicht nur so gut wie alle Szenarien und Stilrichtungen der Musik darin vor und zahlreiche, die man gar nicht einordnen konnte, sondern die Impressionen und Imposanz nahmen Satz um Satz steig zu. Bisher hatte er an ein grandioses Werk geglaubt und nicht erwartet, dass das noch zu überbieten wäre.

Er hatte sich getäuscht, sie hatten mit den ersten vier Sätzen von Enndlins Life erst einen schwachen Schimmer zu sehen, spielen und hören bekommen.

Er schwankte erneut, als im das bewusst wurde und glaubte sich wieder dem Wahnsinn nahe.

"An die Instrumente, wir machen weiter!", rief er. Er musste sich ablenken, damit ihn dieses Wissen nicht wieder überwältigte. So wurde es nicht nur der längste Tag in der bisherigen Geschichte des Ensembles sondern auch der erschöpfendste.


7 - Erleichterung

In den Tagen nach der Wandlung hatte Konstantin sie mit dem gesamten Werk "Enndlins Life" vertraut gemacht und es ihr als Bild vermittelt, ebenso wie die Fähigkeit, anderen Menschen Ideen und Bilder einzuhauchen. So brachte er diese bei ihren Forschungen und Arbeiten voran. Ein Detail war dabei allerdings zu kurz gekommen, nämlich, dass die Schwierigkeit bei diesen Übermittlungen nicht war, den Menschen Ideen und Bilder zu schicken oder es so zu tun, dass sie sie für ihre eigenen hielten, sondern es auf eine sanfte und gemäßigte Art zu tun.

Ihr erster Versuch bei Oliver, ihm eine Vorstellung von Enndlins Life zu senden, hatte ihn umgehend in eine Ohnmacht befördert, so dass sie sich schlimme Sorgen machte, ob er ernste Schäden davon tragen würde. Die Übermittlung von Konstantin zu ihr hatte nur Sekunden gedauert und war völlig problemlos gewesen, weil ihr Gehirn durch die Wandlung trainiert und vorbereitet war.

Als sich bei Oliver herausstellte, dass er keinen dauerhaften Schaden erlitten hatte war sie ungemein erleichtert. Momentan arbeitete er wie wild um sich abzulenken und das Ensemble wünschte sich, sie hätten ihn nicht als Stellvertreter ernannt. Sie waren mit ihrer Konzentration und ihren Kräften am Ende nachdem sie länger als elf Stunden geprobt hatten. Aber er hatte es augenscheinlich überstanden. Und das Ensemble auch.

8 – Das Attentat

Pawel


Wie er, Igor und Boris besprochen hatten wartete Pawel an seinem Platz. Sie hatten nach ein paar Bierchen in der Hamburger Kneipe entschieden, mehr Dinge selbst in die Hand zu nehmen und sich von nun an nicht so viel herumkommandieren zu lassen. Bisher war jedem Befehl zur Vorbereitung einer Exekution auch immer bald der eigentliche Befehl gefolgt, oft dann aber zu einem Zeitpunkt, der unpassend war oder sie dann sehr unter Zeitdruck setzte. Sie hatten ein wenig herumgerätselt wann sie den beiden oder gar den dreien auflauern konnten und waren zu dem Schluss gekommen, dass es eine sehr passende Möglichkeit gab.

Ein Anruf in dem Hotel hatte ergeben, dass die beiden schon wieder abgereist und höchstwahrscheinlich wieder auf dem Weg zurück waren - und es gab nur drei Strecken, die plausibel für eine Rückfahrt waren, wenn man nicht endlose Umwege fahren wollte.

Deshalb entschieden sie die Vorbereitung und Ausführung zu verbinden, weil sie die Chance nutzen wollten, die sich dadurch ergab. Es sollte schließlich nach einem Unfall aussehen also würde es auch einer werden. Der Anruf mit der Befehlserteilung hatte eine schlechte Tonqualität gehabt und sie würden das Missverständnis darauf schieben.


Wie die anderen beiden hatte Pawel also einen Lastwagen gestohlen und wartete nun mit Fernglas an einer Stelle mit weiter Übersicht über die Strecke. Er erwartete nicht wirklich, dass die beiden hier entlang kämen, da sie hier schon einen spürbaren Umweg fahren mussten, aber Igor und Boris hatten argumentiert, dass Meier und Pohlmann vielleicht die ruhigere und schönere - wenn auch längere - Strecke vorziehen könnten.

So richtete er es sich im Cockpit gemütlich ein und plante die paar Stunden abzusitzen, bis sich die anderen gemeldet hätten.

Doch kaum, dass er das erste Mal durch das Fernglas schaute sah er ihn, den Wagen von Pohlmann, noch gut zwei Kilometer entfernt, aus der ruhigen Pause würde also nichts werden.

Die Überraschung war zwar perfekt, aber er tat mit dem Lastwagen dennoch das was sie geplant hatten: Er schaute nach anderem Verkehr, der glücklicherweise nicht zu sehen war, fuhr an, steuerte auf die lange freie Strecke und kurz vor Pohlmanns Wagen lenkte er bewusst auf die Gegenfahrbahn und zwang Pohlmann so den Abhang hinunter. Der kleine Wagen hatte gegen den wuchtigen Lastwagen keine Chance, weniger, weil er noch am Heck erwischte wurde sondern weil er sich mit hoher Geschwindigkeit überschlug und neben der Straße hinunter stürzte.


Pawel hatte im Laster nur eine mäßige Erschütterung gespürt und war erwartungsgemäß unverletzt. Er musste noch sicher gehen, stieg aus und sah sogar gute Chancen, dass er sein Ziel schon erreicht hatte. Überall lagen Laub und abgerissene Äste herum - er hob einen schweren davon auf, der gut als Keule dienen konnte, perfekt um noch einmal nachzuhelfen, sollte einer der beiden überraschenderweise doch überlebt haben. Er würde so sogar nur Spuren hinterlassen, die bei ungenauer Untersuchung mit dem Unfallhergang zusammen passen konnten.

Er war nicht wenig überrascht als er Meier fast unverletzt sah. Sie schien Pohlmann aus dem Wagen geborgen zu haben und sich um ihn zu kümmern. Nun, er würde den Ast tatsächlich einsetzen müssen.


Auch wenn er gehofft hatte den Überraschungseffekt nutzen zu können, gelang es ihm das nicht mehr ganz. Den letzten Sekundenbruchteil bevor er zuschlug drehte Meier sich um und schaute ihm noch ihren letzten Moment lang in die Augen.


Danach ging er zurück zum Lastwagen und hatte, obwohl er in diesen Dingen noch nie zimperlich gewesen war, starke Kopfschmerzen, war durcheinander und das schreckliche Bild des Wagens mit den beiden Leichen hinterließ bei ihm Spuren. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Auftrag dieser Art ausführte, nur war das normalerweise einfacher erledigt: Mit einem Gewehr zielen, abdrücken und das meistens über eine große Distanz. Und Frauen waren auch seltenst dabei. Spaß hatte ihm das nie gemacht, aber dieses Mal stresste ihn das Ergebnis außergewöhnlich, ihm wurde schlecht. Dieser letzte Blick! Er wollte nur noch zurück zu seinen Kollegen. Er stieg in den Laster, stellte ihn ein paar Kilometer weiter in einer schlecht einsehbaren Ecke ab, übergab sich dort und fuhr mit dem nächsten Bus zurück zum Treffpunkt mit Igor und Boris.


Wenigstens war der Auftrag erledigt.



Karen


Sie fuhren die schier endlose Strecke wieder nach Hause. Es war Karen nicht bewusst gewesen, dass der Weg so weit war, weil sie die Hinfahrt so gut wie komplett verschlafen hatte.

Nachdem sie herausgefunden hatte wie sie springen konnte und wie Konstantin auch anderen Menschen Ideen nahe bringen konnte wurde ihr auch die damit zusammenhängende tödliche Macht klar. Sie könnte jeden Menschen nur durch ihren puren Willen in den Wahnsinn treiben oder töten. Das lag ihr natürlich ferner als so ziemlich alles andere auf der Welt, dennoch lehrte es sie, vorsichtig zu sein.

Einmal mehr wurde ihr bewusst wie wichtig die Auswahl gewesen war, die Konstantin an dem ersten Samstag Nachmittag mit Simon und ihr getroffen hatte. Sie hatte große Macht und damit auch eine große Verantwortung geschenkt bekommen - oder aufgebürdet, das war wohl eine Sache des Standpunktes.


Bei Oliver war noch einmal alles gut gegangen. Sie hatte einige Zeit über den Vorfall nachgedacht und viele Studenten „besucht“, die Konstantin schon geimpft hatte und begann vorsichtig sie bei ihren Arbeiten zu unterstützen; es war sehr einfach für sie geworden entweder von Konstantin selbst zu erfahren, was er vorhatte oder erkannte es an den Arbeiten der Studenten selbst. Jedenfalls war es ihr ein Leichtes sie voranzubringen in dem was sie taten. Und es machte ihr Spaß, sehr viel Spaß, womit ihre Laune ein weiteres Mal unerreichte Höhen erklomm. Als sie auf einer weiten Straße durch idyllische Gegenden fuhren fühlte sie sich freier als je zuvor. In kurzem Abstand liefen einige ihrer Lieblingslieder im Radio und sie begann mit zu singen oder zu summen. Es war ihr gleichgültig, dass sie den Text mancher Lieder noch nicht kannte, sie noch nie zuvor gehört hatte. Sie improvisierte, Konstantin stieg spontan mit ein und sie sangen und lachten bei bester Laune während sie durch wunderschöne Landschaften fuhren. So gut hatte sich Karen noch nie gefühlt, selbst nicht als sie das erste Mal verliebt war. Sie fing an völlig ungehemmt Lieder mehr falsch als richtig mit zu singen was auch Konstantins Laune mächtig verbesserte.


Karen schien sich schnell einzufinden und begann schon einige seiner Studenten zu übernehmen, die er seit Wochen vernachlässigt hatte und wieder einen kleinen Anschubser brauchten. Dadurch fühlte er das erste Mal seit Monaten eine Entlastung bei dem was er aufgebaut hatte und damit eine Freiheit, von der er schon geglaubt hatte sie bis weit in die Zukunft nicht mehr zu haben.

Als er selbst mit in das Singen einstieg wurde die Rückfahrt zur ersten wahren Erholung für die beiden seit langem. Sie lachten, sangen, hatten Spaß an falschen Liedtexten und den Fehlern die sie einfach machten, weil sie ohne ihr Wissen, ihre vergangenen Leben oder irgendetwas anderes Besonderes, ihrer Stimmung freien Lauf ließen.


Konstantin schaute Karen einen Moment lang an, weil sie einen Dreher in einen Liedtext eingebaut hatte, der alles völlig entfremdete und er ein schallendes Lachen nicht unterdrücken konnte. Er fragte sich warum er so lange gewartet hatte sie einzuweihen. Er hätte mit ihrer Hilfe so vieles so viel schneller zum Ziel bringen können.


Der Blick wieder zurück auf die Straße zeigte direkt vor ihm einen Lastwagen auf seiner Spur, nur wenige Meter vor ihnen, ein Zusammenstoß war unvermeidlich und nur ein Ausweichen auf den Abhang rechts schien möglich. Alles andere würden sie bei der Geschwindigkeit des Wagens und des Lastwagens nicht überleben. Er wählte das geringere Übel und zog im allerletzen Moment zur Seite, spürte noch wie der Lastwagen das Heck des Autos erwischte und ihm die letzte Kontrolle entzog. Das Letzte was er sah war als sich der Erdboden über seinem Kopf näherte. Angesichts der aussichtslosen Lage wagte er einen verzweifelten Versuch.


Karen sah den Lastwagen nur aus dem Augenwinkel und wusste sofort, dass sie nur den Abhang als Chance hatten was sich Sekundenbruchteile später durch Konstantins Reaktion bewahrheitete. In ihrem Kopf lief ein Film ab was passieren würde - der Lastwagen würde das Heck treffen und sie würden von der Straße fliegen. Es gab keine Leitplanken und sie sah regelrecht voraus wie sie aufkommen würden und konnte sich noch etwas vorbereiten. Die erste Landung auf dem Dach konnte sie noch etwas dämpfen weil sie sich mit beiden Armen oben abdrückte - danach wurde sie hilflos herumgewirbelt und schlug mit Wucht gegen alles was in ihrer Nähe war, wieder und wieder. Noch eine Drehung und alles war still.

Wie betäubt realisiert sie, dass sie noch lebte, war das möglich? Und noch tat ihr nichts weh aber der zweite Gedanke folgte sofort: Erst der Schock, noch ein Moment und dann kommt der Schmerz. Reflexartig nutzte sie alles was sie die vergangenen Tage von Konstantin erfahren hatte, um ihren Körper aufräumen und von Schadstoffen befreien zu können. Jetzt schoss ihr Geist durch den Körper, stellte geprellte Muskeln, Gelenke und eine angebrochene Rippe fest. Schmerz konnte sie jetzt nicht gebrauchen, und fast ohne nachzudenken begann sie die für Schmerz verantwortlichen Nerven zu blockieren und die motorischen unbehelligt zu lassen. Die meisten Bewegungen würde sie also noch gefahrlos ausführen können. Sie musste sich jetzt abschnallen, aus dem Wagen retten und vor allem schauen was mit Konstantin war. Der Wagen lag auf der Beifahrerseite und bevor sie mit dem Abschnallen fertig war spürte sie wie etwas warmes auf ihr Gesicht tropfte. Sie brauchte nicht länger nachzudenken, sie wusste auch ohne zu Konstantin zu schauen was das war - sie hatte keine Zeit mehr. Mühevoll kroch sie auf die Hinterbank, um durch die Tür der Fahrerseite herausklettern zu können, ohne jedoch nicht vorher nach ihm zu schauen. Ein kurzer verwegener Versuch, in ihm etwas auf die gleiche Weise zu verändern so wie sie in sich selbst etwas ändern konnte, schlug fehl. Sie wunderte sich, dass sowohl Konstantin als auch sie das vorher noch nicht in Betracht gezogen oder versucht hatten. Mentale Beeinflussung ja, physische nein. Enttäuscht spürte sie, dass sie es nicht konnte, musste ihm also auf konventionelle Art und Weise helfen.


Gefühlte Ewigkeiten später hatte sie ihn aus dem Wagen gezerrt und konnte das erste Mal seine Wunden begutachten. Die große Platzwunde an der Stirn machte ihr nur wenig Sorgen, sie schien auch die Quelle des Blutes zu sein, das ihr auf die Seite getropft war. Sie musste ihn wach bekommen, denn dann konnte er sich selbst helfen. Sie waren hier wahrscheinlich mitten in der Pampa, bis ein Rettungswagen käme könnte es lange dauern, zu lange.

Ein kurzer Blick deckte keine weiteren groben Verletzungen auf aber sie wusste natürlich zu genau, dass seine Ohnmacht schlimme Ursachen haben konnte. Hinter sich hörte sie ein Geräusch, was nur der Lastwagenfahrer sein konnte, glücklicherweise schien der nicht verletzt zu sein und konnte helfen. Sie drehte sich um und das Déjà-vu ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Jetzt stand er ohne Motorradmaske vor ihr. Der mittlere der drei Agenten, die sie in ihrer Wohnung überfallen hatten. Er hielt einen großen und knüppelartigen Ast, einen, den der herabstürzende Wagen von einem Baum abgerissen hatte. Der Grund dafür war unmissverständlich, er wollte ihr und Konstantin damit den Rest geben.

Ein zweites Mal setzten ihre Reflexe ein - dieses Mal nutzte sie wieder die Fähigkeit, die sie bereits unfreiwilligerweise an Oliver erprobt hatte. Ohne nachzudenken setzte sie ihm rücksichtslos eine Episode eines ihrer Leben in den Kopf, eines, als sie als Bauer im Dreißigjährigen Krieg auf dem Schlachtfeld stand und grausam dahingemetzelt wurde. Wie sie gerade darauf kam konnte sie im Nachhinein nicht mehr nachvollziehen, wahrscheinlich war es, weil es eine enorm emotionsgeladene Situation gewesen war und sie sich wie in der Schlacht auch dieses Mal nur verteidigen wollte.


Wie versteinert erstarrte er in der Bewegung, ließ den Ast fallen, schaute noch einen Moment durch sie hindurch, stolperte und fiel stumpf um. Anhand der Erfahrung mit Oliver wusste sie, dass er mindestens Minuten oder gar Stunden brauchen würde um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, sofern er überhaupt im Stande sein sollte das zu verarbeiten. In keinem Fall würde er verstehen was ihm widerfuhr.


Jetzt war aber erst einmal Konstantin wichtiger. Eine schockierende Angst durchfuhr sie, was wäre, wenn er starb oder schon tot war? Alle seine Anstrengungen und seine Versuche die Welt zu verbessern würden im Sande verlaufen und sie sah sich alleine nicht im Stande das in dem Maße weiter zu führen. Selbst wenn sie prinzipiell die Fähigkeiten dazu hatte fühlte sich in dem Moment maßlos überfordert. Konstantin musste einfach leben, etwas anderes kam für sie nicht in Frage. Ein Stöhnen ließ sie aufhorchen, allerdings kam es von dem Agenten. Ein Gedanke an die Situation, die er gerade durchlebte ließ Karen auch wieder an den Horror der Schlacht denken. Sie wusste, er würde in den kommenden Minuten noch viel mehr Stöhnen und es verursachte ihr kein Mitleid. Als sie sich wieder zu Konstantin wandte lag dieser noch unverändert an dem Platz wo sie ihn hingezerrt hatte. Atmete er überhaupt noch, hatte er Herzschlag? Sie kniete sich nieder, beobachtete seine Brustkorb und sie nahm keine Bewegung wahr. Herz-Lungen-Wiederbelebung war jetzt seine letzte Chance, aber sie ahnte, dass es schon zu spät war. Sie hatte gefühlte Ewigkeiten gebraucht um sich selbst und ihn aus dem Auto zu ziehen, dann hatte sie sich noch um den Agenten kümmern müssen. Sie schrie ihre Enttäuschung und Wut in den angrenzenden Wald, es war alles ungerecht.

Die ungeheure Last der Verantwortung sowie Trauer schlug über ihr zusammen, schier endlose Verzweiflung kam in ihr auf.

Dreißig Male pumpen wusste sie, dann zwei Male bei leicht nach hinten gekippten Nacken beatmen. Machte das noch Sinn? War er nicht durch die Unterversorgung mit Sauerstoff eh schon ein geistiges Wrack oder gar dem Tode geweiht? Aber sie musste die Chance nutzen, sei sie noch klein.

Noch bevor sie ansetzten konnte hörte jedoch sie ein Gurgeln aus Konstantins Kehle; verschreckt hielt sie inne und konnte den Laut erst nach einigen Sekunden als ein „Nicht!“ identifizieren.

Nicht? Was sollte das heißen? Wie konnte er Gurgeln wenn er nicht atmete, denn ohne Atmung hatte ein Verletzter normalerweise weder Puls noch Bewusstsein. Sie versuchte den Puls zu fühlen aber auch das gelang ihr nicht. Keine Atmung. Kein Puls. Dennoch gurgelte er wieder fast unverständlicherweise. "Nicht ... flicke mich selbst…"

Große Erleichterung erfasste sie, offenbar konnte er für sich selbst sorgen. Aber wie ohne Puls und Atmung? Was er auch immer trieb, ihr blieb nur noch eines. Sie rief die 112. Als sie die Fragen der Rettungsdienstzentrale beantwortet und aufgelegt hatte wunderte sie sich nur noch. Irgend jemand hatte offensichtlich schon kurz zuvor einen Rettungswagen mit Notärzten losgeschickt.

Die Erleichterung überwältigte sie, sie begann nur wenige Tage nach dem Überfall in ihrer Wohnung ein weiteres Mal hemmungslos zu schluchzen.


Ein Grunzen aus dem Hintergrund erinnerte sie an ein weiteres Problem, aber dafür hatte sie eine einfache Lösung. Ihre Erleichterung schlug in Wut um, so dass sie jegliche Rücksicht fallen ließ und dem Agenten eine schlichte Gehirnwäsche verpasste. Sie setzte ihm ein grausames Bild ihres Unfalles in den Kopf und sorgte dafür, dass er seinen Plan mit dem Wissen fortsetzte, dass sie beide tot wären. Sekunden später stand er auf und fuhr bald darauf ab. Das hatte gereicht um ihre Wut effektiv los zu werden. Der Agent würde mit diesem Bild noch sehr lange sein Päckchen zu tragen haben.



Konstantin


Während er sich überschlug stellte Konstantin fest, dass er im Wagen und durch das Steuer nichts mehr tun konnte, der Wagen, Karen und er waren nur noch hilflose Spielbälle physikalischer Gesetzte. Wenn er beim Aufschlag bewusstlos werden würde, wusste er, dass er nichts tun könnte, er würde verbluten oder an Verletzungen sterben ohne es zu bemerken. Deshalb stieg er aus; nicht aus dem Wagen, das hätte viel zu lange gedauert, nein, er stieg mit seinem Geist aus seinem Körper aus, bevor dieser ohnmächtig wurde. Etwas, dass er die vergangenen Monate tausende Male gemacht hatte und für das er nur noch einen willentlichen Gedanke brauchte. Fast emotionslos sah er den Wagen, wie er sich überschlug, seinen und Karens Körper herumwirbelte, mehrere Bäume mit riss und auf der Seite liegen blieb.


Lange hatte er sich gefragt was passieren würde, wenn sein Körper sterben oder ohnmächtig würde während er auf Astralwanderung war. In seiner ägyptischen Priesterausbildung war so etwas nicht zum Thema geworden - erstaunlicherweise wie er fand.


Nun, das Ergebnis war angesichts der Situation klar: Gar nichts. Sein Körper war schwer lädiert, er hatte eine klaffende Platzwunde am Kopf, die er aber erst einmal als nicht lebensbedrohlich einstufte. Die lange Übung seinen Körper aufzuräumen und Mechanismen darin zu steuern ließ ihn schnell einen Überblick gewinnen. Mehrere Prellungen, Gelenküberdehnungen, zwei gebrochene Rippen. Nichts was lebensbedrohlich aussah.

Aber da, ein kleiner Riss in der Aorta, bei jedem Pulsschlag strömte Blut in den Bauchraum. Eine schnelle Rechnung ergab, dass er nur noch Minuten hatte, zu wenig, als dass ein Notarzt oder Karen, wenn sie denn von allein wieder handlungsfähig werden sollte, ihm noch helfen konnten. Er musste es selbst schaffen. Wie die Aorta verschließen bevor er innerlich verblutete? Erst sorgte er für eine Vasokonstriktion, dass sich das Gefäß zusammenzog und dafür dass die Tunica Media, die Muskelschicht in der Arterie sich an der Rissstelle immer besonders anspannte, wenn ein Pulsschlag drohte Blut durch den Riss heraus zu befördern. An anderen Stellen senkte er die Wandspannungen, damit das Blut leichter vorbei floss als gerade durch den Riss. Dann sorgte er für massenhaft Thrombozyten und Fibrinfasern, die die Wunde verschlossen und verklebten.

Bis eine genügende Stabilität gerade in der Aorta erreicht wäre würden Minuten vergehen, bis dahin musste die Belastung dort minimiert werden.

Dazu reduzierte er seinen Blutdruck auf ein Minimum, Pulsschlag und Atmung ebenso. Ein bis zwei flache Atemzüge pro Minute, von Zeit zu Zeit einmal ein Herzschlag. Dass musste reichen um eine Mindestversorgung der Organe zu gewährleisten, von außen betrachtet würde man ihn bei oberflächlicher Untersuchung wahrscheinlich sogar für tot halten. Noch eine Weile jonglierte er mit Nervenmanipulationen, Hormonausschüttungen, Verschlüssen kleiner Gefäße und vielen weiteren Eingriffen in die empfindlichen Gleichgewichte seines Körpers. Und jetzt brauchte er nur noch Zeit…


Nur nebenbei überlegte er sich wie ein Polytraumatologe vor Neid erblassen würde, hätte er solche Möglichkeiten. Er nahm sich vor in der Stiftung eine Horde von neu einzustellenden Studierenden mit der Veröffentlichung von Werkzeugen zu betrauen, die der Traumatologie in Zukunft solche Dinge erlauben sollte. Die Medizin spielte in den Forschungen der Stiftung eine noch viel zu kleine Rolle.


Und was konnte er hier und jetzt noch tun? Natürlich, ein Abstecher in die nächste Klinik. Waren sie nicht im vorherigen Ort an einer vorbeigefahren, sie war doch ausgeschildert? Ja genau, er sah das Schild in seiner Erinnerung vor sich. Schnell sprang er dort hin und ließ den dort wartenden Notärzten im Geiste das Telefon klingen sowie die Vorstellung des Ortes auftauchen, wo sie lagen. Als sie aufsprangen wusste er, dass sie in Minuten am Unfallort sein würden.

Dann begann er seine anderen Verletzungen zu stabilisieren.


Nur noch ein Problem musste er beseitigen: Karen. Sie hatten dem Augenschein nach gerade die Absicht bei ihm eine Herz-Lungen-Wiederbelebung zu beginnen. Das musste er verhindern. Es hätte seine Anstrengungen des Rissverschlusses sofort zunichte gemacht. Bedenklicherweise konnte er nicht die übliche bildliche Kommunikation mit Karen etablieren – offenbar ein Seiteneffekt der Tatsache, dass sein Kopf schwere Schläge beim Unfall abbekommen hatte und sein Körper sich im Zustand der Bewusstlosigkeit befand.

Nichtsdestotrotz musste er Karen von der HLW abhalten. Im blieb nur eines: Er musste es Karen auf normalem Wege per Sprache mitteilen. Mühevoll brachte er seinen Körper trotz Bewusstlosigkeit dazu ein „Nicht“ und ein paar andere Wörter zu sagen, es wurde jedoch kaum mehr als ein Blubbern. Aber es reichte, Karen verstand und ließ von ihrem Versuch ab. „Einen Gesangswettbewerb hätte ich damit nicht gewonnen“ dachte er sich.

Jetzt brauchte er nur noch Ruhe. Und weit in der Ferne hörte er schon das Martinshorn des Rettungswagens…


Schon vierundzwanzig Stunden später verließen die beiden das Krankenhaus. Sie hatten sich gründlich selbst repariert und ausgeschlafen. Die Ärzte, die nur mit Transfusionen, Medikamenten sowie mit bequemen Krankenhausbetten behilflich sein konnten, durften nur mit wachsendem Erstaunen die schnellen Wundheilungen beobachteten. Sie standen unter Schweigepflicht, sie würden den Unfall nicht publik machen, die Polizei konnte bei der Anzeige gegen Unbekannt nur den gestohlenen Lastwagen sicher stellen, der aber keine weiteren Spuren preis gab.


Karen und Konstantin hatten genug Geld auf dem Konto. Sie kauften der Einfachheit halber in einem naheliegenden Autohaus einen Wagen, der ihnen gefiel und setzten ihre Fahrt fort.


Sowohl Konstantin als auch Karen war inzwischen klar geworden, dass sie unglaubliches Glück gehabt hatten. Den Unfall und den Angriff des Agenten hätten sie als normale Menschen in keinem Fall überlebt und der Geheimdienst hätte sein Ziel erreicht gehabt.


Sie hatten die angetüdelten Agenten deutlich unterschätzt. Zu glauben, dass sie nach ein paar Bier am Abend ihre Aktivitäten einstellen oder sich ausschlafen würden, war ein Fehler gewesen, den sie nicht noch einmal begehen würden.

Durch die zu lange Überwachungspause hatten sie einen gewaltigen Dämpfer erhalten der sie rabiat auf den Boden der Tatsachen zurück holte.


Aber sie waren immer noch zu zweit und konnten in Zukunft mit Enndlins Life und der Stiftung voll aufdrehen. Und sie würden Simon mit einbeziehen.

9 - Überraschung

Igor und seine Kollegen waren nicht wirklich weit gekommen. Sie hatten zwar direkt vor dem Attentat sowohl Pohlmanns Wohnung als auch die von Meier und Radeberg auf den Kopf gestellt aber jetzt, nachdem sie in Ruhe die gefundenen Daten und kopierten Papiere untersuchten, offenbarte sich ihnen nichts Konkretes, keine zusätzlichen Indizien für oder gegen Pohlmann und auch sein Büro, dass sie sich unter dem Vorwand von Kabelreparaturen vorgenommen hatten, war genauso wenig ergiebig. Sie hofften, dass in der Zentrale die Analysen ergiebiger sein würden.


Dennoch hatten sie alle schlechte Laune, weil ihnen langsam die Optionen ausgingen. Sie fürchteten zu voreilig gewesen zu sein.

Die Wanzen waren teure Spezialanfertigungen und könnten Rückschlüsse auf ihre Quelle erlauben.

Sie waren jetzt überflüssig, deshalb hatten sie sie kurz nach dem Attentat entfernt, bevor die Polizei dort eventuell Ermittlungen wegen des Unfalls vornehmen würde.


Jedenfalls hatten sie die Chance gewahrt, dass die Stiftung nicht unkontrolliert weitere dramatische Auswirkungen auf die ganze Weltordnung haben würde, wenn die beiden oder auch nur einer von ihnen die zentralen Ideenproduzenten gewesen sein sollten.


Ärgerlicherweise bahnte sich durch die neueste Stiftungsstrategie deren wohl am weitesten reichender Coup an: Die Ergebnisse, die aktive Planung und alle dazu gehörigen Techniken und Verfahren waren gerade patentfrei veröffentlicht worden. Sie würden in den kommenden Jahrzehnten möglicherweise große Teile der Sahara zu einem fruchtbaren Land machen und das schon ohne Zutun großer Konzerne oder der Unterstützung durch Staaten.

Alleine die Stiftung würde, wenn ihre Pläne realistisch waren, und danach sah es aus, in 10-15 Jahren fast 15% der Wüstenregionen urbar machen. Sollte das Realität werden, wäre ein Boom unvorstellbaren Ausmaßes zu erwarten. Die Anrainerstaaten deren wirtschaftlicher und politischer Einfluss in der Welt derzeit marginal war, würden beträchtlich beginnen im Weltgeschehen mit zu mischen.

Die Stiftung selbst würde mit ihren paar hundert Millionen an Investitionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu dem Investitionspotential großer Konzerne sein, die schon jetzt versuchten sich großflächig zu engagieren und sich Flächen für zukünftige Energiegewinnung und Anbau zu sichern. Optimistische Schätzungen ließen schon ahnen, dass in weniger als einem Jahrzehnt die größten Teile der Sahara keine Wüste mehr sein würden.

Einige Folgen wären dramatisch, wenn auch im positiven Sinne: Der massive Anbau der Sunwater-Pflanze würde eine Möglichkeit bieten, den Teil des Treibhauseffektes zu stabilisieren, der durch Kohlendioxid verursacht wurde, denn alternativ zu Benzin oder Gas konnten vergleichbare Heiz- und Antriebsenergien direkt durch das Verheizen oder Verbrennen dieser Pflanze gewonnen werden. Nachdem durch die Solar Paste die Elektroenergiekonzerne ins Straucheln geraten waren, waren nun die Ölkonzerne an der Reihe: Ihr Produkt würde in naher Zukunft massive Absatzeinbußen zu verzeichnen haben.

Bisher lagen ihre Umsätze in Größenordnungen, die die der Stiftung um das hundert- oder tausendfache übertrafen, nun aber durch die im Vergleich zu ihnen winzige Stiftung möglicherweise sogar ruiniert wurden. Ein Ausmerzen der Stiftung als solches war schon jetzt zu spät - der Stein war ins Rollen gekommen und nicht mehr aufzuhalten.


Noch während Igor diese Gedanken verfolgte kam ein Anruf aus seiner Zentrale. Sie wurden zurückbeordert, die Planung zum Beseitigen der drei Verdächtigen wurde zurückgezogen.

Sie wurden instruiert vor der Rückkehr noch zwei Tage lang den Fortgang der Aufnahmen von Enndlins Life während der Abwesenheit von Karen Meier zu ermitteln. Kamen diese ohne Meier nicht ins Stocken, würde es noch unwahrscheinlicher sein, dass sie die Urheberin des Ganzen war und die in der Zentrale neu ermittelte These würde endgültig bestätigt werden.

Die Analyse der Nachrichten von Konstantin Pohlmanns Rechner hatte die eigentliche Quelle der Ideen und Erfindungen zu Tage gefördert. Pohlmann, Meier und Radeberg waren nur wenige der vielen Befehlsempfänger in der Stiftung und waren damit aus dem Rennen.


Bei dem Anruf sagte Igor noch nichts von dem Alleingang mit dem Ausschalten der beiden. Jetzt war er am Ende. Seine Kündigung würde bei seiner Rückkehr schon auf ihn warten, aber das war bei weitem nicht das Schlimmste. Er hatte zwei unschuldige Leben auf dem Gewissen.


10 - Die IORED

Pjotr Pawlenski hatte vielen Stunden damit zugebracht, die privaten E-Mails zu analysieren, die von Pohlmanns Rechner kopiert und von Strawinsky aus Deutschland geschickt worden waren. Er mochte diesen nicht besonders, weil er fest der Auffassung war, besser in dem Job zu sein als der "Komponist". Dessen Statistiken kannte er gut und hielt sie zwar für plausibel aber nicht besonders belastbar, sie waren zu angreifbar. Dass es bisher keine weiteren Beweise gegeben hatte, um Pohlmann festzunageln, überraschte ihn deshalb nicht. Jetzt sah er durch Strawinskys Abwesenheit seine Chance gekommen. Die abgesaugten Daten von Pohlmanns privatem Rechner waren auf den ersten Blick harmlos gewesen, bis ihn eine E-Mail, sehr gut versteckt in einer Unmenge von Spam, auf die richtige Spur brachte. Wenn er an Stelle von Pohlmanns Hintermännern gewesen wäre, dann hätte er wichtige Nachrichten auch im Spam versteckt, insbesondere dann, wenn sie unverschlüsselt versandt wurden.

Knapp zwei Tage und über 40 Stunden Rechenzeit des Computerclusters später, hatte er die großen Zusammenhänge ermittelt, die IORED, die International Organisation of Research and Extraordinary Developments.


Nachdem er erst einmal wusste wonach er zu suchen hatte ging es ganz schnell. Die IORED war offenkundig schon seit Jahren, vielleicht sogar schon seit Jahrzehnten im Gange, Menschen für ihre Zwecke zu rekrutieren. Es waren nur wenige, aber extrem ausgewählte Koryphäen, Idealisten und Künstler, die systematisch die Forschung und Bedürfnisse der ganzen Welt analysierten. Diese Besten der Besten hatten Jahre damit zugebracht, herauszufinden, was die zentralsten Dinge wären, die bei wenig und kurzer Entwicklungszeit den positivsten Effekt in der Welt haben würden.


Ein steinreicher und idealistischer Großgrundbesitzer in Argentinien hatte offenbar vor rund zwanzig Jahren diese Idee gehabt und zu seinen Lebzeiten die Gründung dieser Gruppe vorgenommen. Seinen Nachlass hatte er mit Anweisungen versehen, dieser kleinen Arbeitsgruppe noch lange ein gesundes Kapital zur Fortsetzung ihrer Arbeit zur Verfügung zu stellen.

Ohne jeglichen kommerziellen Hintergrund wurde deshalb bis kurz vor dem Aufbrauchen der Mittel nach solchen Entwicklungen gesucht, wobei alle rechtlichen Hürden wie Patente ignoriert oder auch bei Geheimhaltungsmaßnahmen versucht wurde, diese zu umgehen. Rüstungsforschung wurde genauso ausgeschlachtet wie alles andere auch. Vor zweieinhalb Jahren war es dann so weit, dass Forscher aus aller Welt im Geheimen beauftragt wurden unter der Maßgabe, ihre Arbeiten in oder bei der Enndlins Life-Stiftung durchzuführen. Das in großem Rahmen umzusetzen wurde erst möglich, weil der inzwischen verstorbenen Künstler namens Orson Extorpe alias Opus Eximum, im Rahmen dieser Arbeitsgruppe ein bahnbrechendes Werk geschaffen hatte, welches durch seinen Verkauf die finanzielle Grundlage für die Stiftung lieferte.

Pawlenski hatte gezielt Stichworte ausgewählt und mit denen ihm zur Verfügung stehenden Geheimdienstrechnern und Netzen die vergangenen zwei Tage Stiftungsmailverkehr durchsucht. Diese deuteten so konkret auf die IORED hin, dass dieses Szenario nicht mehr zu verleugnen war. Pohlmann war nur beauftragt worden das Werk Orson Extorpes zu veröffentlichen und mit den dadurch frei werdenden Geldern die Stiftung in Gang zu bringen und zu finanzieren. Zwei der Überweisungen auf Pohlmanns Konto schienen sogar zu dieser Auftragsvergabe zu passen. Und den hatte er erledigt und die meisten der gesammelten Forschungsideen waren inzwischen durch ihn oder die IORED an tausende von Stiftungsangestellte vergeben. Jetzt geisterten nur noch wenige Nachzüglernachrichten durch das Netz, die IORED hatte ihre Zeit als Geburtshelfer hinter sich und war wahrscheinlich dabei sich aufzulösen.


Pawlenskis Präsentation bei seinen Chefs machte damit klar, dass Pohlmann, Radeberg und Meier nur wenige der vielen Auftragsempfänger der IORED waren. Das Eliminieren der drei würde nichts mehr bringen, die IORED hatte hauptsächlich in der Vergangenheit gewirkt und die Resultate waren unumkehrbar.


Strawinsky würde sich wundern, wenn er aus Deutschland zurückkehrte. Sein ganzes Konzept war gerade ad Absurdum geführt worden.


Darüber hinaus hatten seine Aktionen Meier vertrieben, einen von ihm erwarteten Effekt hatte er dadurch aber nicht erreicht, im Gegenteil. Es hatte gezeigt, dass die Idee, Meier oder Pohlmann könnte die Schöpferin oder Schöpfer von Enndlins Life sein, unwahrscheinlicher geworden ist, denn die Aufnahmen wurden auch ohne die beiden unvermindert, wenn nicht sogar mit einer höheren Intensität als bisher fortgesetzt. Dass ein fortgeschrittener Musikstudent, der gerade als Stellvertreter arbeitete, so etwas genau so gut oder gar besser als die Komponistin selbst hinbekam war, insbesondere weil das Werk bisher unveröffentlicht war, kaum zu erwarten.

11 - Nachlese

Während der letzten Tage des Urlaubes an der Atlantikküste hatten Karen und er intensiv gearbeitet um einen Erfolg versprechenden Plan auszuhecken. Es hatte fast drei Tage gedauert ihn umzusetzen. Dabei hatte er fünf neue Notebooks und zwei Smartphones mit verschiedenen Betriebssystemen gekauft, durch umlaufende Viren, Trojaner und Spamverteiler verseucht, sich darüber in verschiedene Spam und Botnetze gehackt und sie dann irgendwo "vergessen", damit sie bewusst von Fremden weiter verwendet werden würden, oder sie einfach auf den Müll entsorgt, um sicher zu stellen, dass über sie keine Spuren mehr zurück verfolgt werden konnten. E-Mailclients, diverse öffentliche, Zug- und Hotelhotspots hatte er genutzt, um eine Unzahl von gefälschten Facebook-, Whatsapp, E-Mail- und anderen Adressen anzulegen, sie anderen, fremden Personen zuzuschieben, sie teilweise wieder zu löschen und vieles mehr.

Insbesondere wandte er reichlich Tricks an, mit denen er seine Aktionen rückdatierte, so dass sie aussahen als wenn sie schon vor Monaten oder Jahren stattgefunden hätten. Nach dieser Aktion hielt Konstantin von der Sicherheit des Internets gar nichts mehr. Es gab kaum ein System, dass er nicht geknackt, unterlaufen, infiziert, und manchmal wieder bereinigt hatte, um Spuren zu legen oder verwischen. Er war genauso in Banken- und Regierungssysteme wie in Hacker-, Spam oder Botnetze eingedrungen wie er etliche persönliche Datensätze irgendwo auf der Welt manipuliert hatte. Sein kleiner Softwarefehler im Stiftungsserver war dagegen vergleichsweise wie ein "Hello, World"-Programm für einen professionellen Programmierer.


Die meiste dieser Kommunikation hatte er verschlüsselt, das zum größten Teil aber nur gerade so stark, dass sie von Geheimdiensten mit einigem Aufwand zu entschlüsseln waren. Einige wenige "unvorsichtige" Nachrichten hatte er auch unverschlüsselt transferiert, so wie es selbst bei besser gesicherten Institutionen hin- und wieder durch unvorsichtige Mitarbeiter vorkommt. Ein paar harte Nüsse waren natürlich auch dabei, damit die neugierigen Dienste, die er leimen wollte, richtig etwas zu beißen hatten. Die Realitätsnähe war ihm wichtig, denn so würden die sie den Daten am ehesten Glauben schenken. Insbesondere Mafianetze, die der Verbreitung von Spam und Trojanern dienten, waren für seine Zwecke ideal. Er hatte es genossen, diese Netze für einen aus seiner Sicht guten Zweck zu missbrauchen, deren Software zu hacken und sie für seine eigenen Zwecke einzusetzen. Fast hätte er sich verstiegen und die gesamte Spammafia durch ein paar Computerviren gegen die Wand gefahren. Er hatte sich aber zur Raison gerufen, denn die Menschen mussten Probleme dieser Art selbst lösen. Es war nicht seine Aufgabe, den Rächer im geheimen zu spielen und Selbstjustiz zu üben, so angebracht sie ihm in diesem Fall auch schien.


Seine eigenen Trojaner würden jedenfalls in diesen Netzen noch eine gute Weile herumschwirren und an Stiftungsmitglieder und andere Personen spannende Informationen verschicken, die er entweder irgendwo aus der Stiftung zusammengesammelt oder selbst seinen Forschenden schon vermittelt hatte oder das noch tun würde.

In den drei Tagen vor dem Attentat des Agenten hatte er so der IORED ihr virtuelles Leben eingehaucht. Er hoffte sie würde noch ein langes und sanftes kommunikatives Leben im weltweiten Netz führen und der Stiftung ihre Historie begründen.


Sie gaben Simon Entwarnung, er würde nach Hause fahren können nachdem sie wussten, dass Strawinsky und Konsorten abgereist sein würden. Der kleine Zwischenfall mit Oliver, den Karen ihm inzwischen gestanden hatte, war eine glückliche Fügung. Der hatte sich schnell und gut erholt und schien die Proben und Aufnahmen mit einem beträchtlichem Elan fortzusetzen. Er hatte damit das letzte Puzzleteil für den russischen Dienst geliefert. Auch Karen schien für die Stiftung und Enndlins Life abkömmlich und schon gar nicht der unbekannte Opus Eximum zu sein.


Karen und Konstantin hatten exzellente Laune nachdem ihnen dieser Coup gelungen war. Sie und Simon waren aus dem Rennen. Sie warteten nach dem Anschlag durch die Agenten in Ruhe ab und hängten noch ein paar Urlaubstage dran bis die unbequemen Agenten schließlich abgezogen waren. Die Erholung hatten sie sich nach dem Stress mehr als verdient.

Zu zweit begannen sie weitere Pläne zu machen, die ihnen niemand mehr nachweisen können würde, denn wer sollte schon ahnen, dass sie die eigentlichen Ideenproduzenten sein würden und wie sie sie verbreiteten würden?

Teil 9

Der Ring

1 - Zusammenarbeit

Karen und Konstantin arbeiteten Hand in Hand, wenn auch dieses Sprichwort ihre eigentliche Zusammenarbeit nur sehr begrenzt wiedergab. Entscheidend war, dass sie ihre Strategien synchronisierten um effektiver zu wirken. Sie betrachteten sich inzwischen ohne Augen als schwach leuchtende und klar von der Umgebung abgegrenzte farbige Wolken in einer gebogenen Form wie ein Teil eines Rades, der sich strecken oder krümmen konnte. Konstantin erschien für Karen als diffus gelblich und andersherum erschien sie ihm leicht rötlich. Der gedankliche Austausch zwischen ihnen war um ein Vielfaches schneller und leistungsfähiger als eine herkömmliche akustische Kommunikation, aber dennoch spürten sie, dass jede Idee zwischen ihnen hin und her reflektiert wurde und dabei, wenn es zu oft nötig war, um zu einer Entscheidung oder einem Fortschritt zu gelangen, an Kraft, Vielfalt und Reichtum verlor. Nichtsdestotrotz gedieh und wuchs die Stiftung.


Aber etwas stimmte nicht, sie beide arbeiteten suboptimal, sie verbrachten beträchtliche Zeit mit der Abstimmung untereinander, es gab unterschiedliche Auffassungen wie sie am besten voran kämen. Die Suche nach den besten Vorgehensweisen beinhaltete zahlreiche Konflikte, die unnötig Zeit und Energie verbrauchten. Auch wenn sie ihre Kommunikation nonverbal ausführten und ihre Gedanken und Bilder geistig austauschten, wurde dies nicht anders. Nicht, dass diese Konflikte in Streit ausarteten, über diesen Aspekt waren beide längst hinaus. Dennoch waren sie nicht perfekt, oft kamen sie zu unterschiedlichen Auffassungen wie Probleme am besten anzugehen wären und so manches Mal auch zu Meinungen, die sich gegenseitig ausschlossen. Sie waren gezwungen Kompromisse zu finden, die Zeit, und was noch viel schmerzhafter war, Kraft kosteten. Insbesondere die aufwändigen Abstimmungen mit Karen, so spürte er, zehrten an seinem Körper. Dazu kamen ihre vielen Astralwanderungen, um Menschen in der Stiftung auf den richtigen Weg zu bringen oder sie auf ihm zu halten.

Ihre Körper schwanden dahin und Konstantin war der erste, der ab einem bestimmten Zeitpunkt seine gedankliche Fernhilfen reduzieren und zeitweise abbrechen musste, weil er sonst seinen Körper einer zu großen Gefahr ausgesetzt hätte.

2 - Selbstversuche

Er würde die kommenden Tage fast ausschließlich in seinem Körper verbringen müssen. Er konnte diesen nicht weiter vernachlässigen, denn er mergelte regelrecht aus. Sich zusammen mit seinem eigenen Körpers bewegen zu müssen war sehr anstrengend geworden, weil dieser viel schwächer als sonst war. Er hatte kaum noch genug Kraft sich zur Arbeit zu begeben, um dort wenigstens den Schein zu waren. Er meldete sich krank, aß, trank und schlief sich zwei Tage aus. So schnell wie sein Körper in den vergangenen Wochen verfallen war, so rapide erholte er sich wieder. Konstantin verdrückte ohne mit der Wimper zu zucken fünf große Mahlzeiten am Tag. Sport, spazieren und frische Luft taten den Rest.

Er würde Versuche starten müssen um herauszufinden was mit seinem Körper geschah, wenn er sich entfernte. Er wartete drei weitere Tage Erholung ab und als er sich wieder gut fühlte begann er mit diesen. Er verließ seinen Körper und beobachtete diesen. Überraschenderweise veränderte sich dieser gar nicht, es war auch keinerlei Abbau zu erkennen, den er die vergangenen Wochen und Monate so häufig beobachtet hatte. Auch einen zweiten häufigen Effekt seiner Abwesenheit beobachtete er nicht, nämlich, dass sein Körper oft neben dem Bett lag oder er sich irgendwo anders in dem Raum wiederfand, als dort wo er aus sich heraus gegangen war. Wenn dieser Abbau und das Verlassen des Bettes dieses Mal nicht eintrat, konnte das nur zwei Gründe haben. Entweder, weil er bei seiner Wanderung nicht großartig aktiv war oder weil er sich nicht weit genug entfernt hatte. Er begann daher, während er in der Nähe seines Körper war, intensiv geistig zu arbeiten, Pläne zu entwickeln oder andere Dinge zu planen. Wieder überraschte es ihn, dass seinen Körper darauf gar nicht reagierte und es ihn auch nicht beeinträchtigte. Sein nächster Versuch war sich weit zu entfernen. Er stattete den beiden noch aktiven Marsrovern für einige Minuten einen Besuch ab und brauchte etwa für Hin- und Rückweg eine Stunde. Als er wieder bei sich selbst eintraf erschreckte er zutiefst. Sein Körper war zusehends verfallen und als er wieder in diesem eintauchte überwältigte ihn dessen Schwäche so sehr, dass er nur noch mit letzter Kraft Karen anrufen konnte. Danach wurde alles schwarz um ihn herum.


Karen fand Konstantin neben seinem Bett und er hielt sein Telefon noch in der Hand. Sein Zustand war erschreckend, und dass es so schlecht um ihn stand hätte sie nicht erwartet, als er sich vor einigen Tagen krank gemeldet hatte. Er hatte ihr schon einige Zeit zuvor im Vertrauen gesagt, dass er sich erholen müsse, weil die vielen Astralwanderungen der vergangenen Wochen ihn zu sehr geschwächt hätten. Karen hatte dieses Phänomen an sich selbst auch schon beobachtet und hatte regelmäßig am Tag mehrere Stunden ohne Wanderungen zugebracht, so dass sich dieses Problem bei ihr bisher noch nicht so gravierend manifestiert hatte. Da er nicht ansprechbar war rief sie den Notdienst an, der ihn sofort in Krankenhaus brachte.


Konstantin erwachte am nächsten Morgen und sah Karen neben sich schlafend am Bett sitzen. Er fand sich schnell zurecht und war überglücklich, dass Karen sich um ihn gekümmert hatte. Er spürte fast, dass der Tropf an dem er hing, ihn wieder auflud. Unvorsichtig war er gewesen, er hätte nach seinen ersten Experimenten schon wissen müssen, dass es die Entfernung war, an der der Körper litt, wenn er auf Wanderung war. Wieso hatte er auch gleich zum Mars springen müssen, zu diesem kahlen Brocken?


Er weckte Karen und erzählte ihr von seiner Erfahrung. Sie nickte nur und schon zwei Stunden später, nach einer letzten Untersuchung, wurde er wieder entlassen. Er würde nur noch das Problem lösen müssen, warum eine größere Entfernung so viel mehr Kraft kostete als eine kleine.


Er bat Karen um Hilfe.

3 - Vernachlässigung

Konstantin erholte sich wieder zwei Tage und verzichtete komplett auf jede Art von Abwesenheit aus seinem Körper. Danach starteten Karen und er ein weiteres Experiment. Dieses Mal verließ Karen ihren Körper und Konstantin beobachtete was mit diesem passierte. Wenn Karen ihren Körper nur wenige Meter verließ passierte gar nichts. Bei einhundert Metern und erst nach wenigen Minuten trat der erste Effekt ein, plötzlich riss der sonst ruhig schlafende Körper seine Augen erschreckt auf, als ob er Angst hätte oder ihm etwas fehlte. Nach einer Weile beruhigte er sich wieder und schien wieder einzuschlafen. Bei einer Entfernung von mehreren tausend Metern schlief der Körper nicht wieder ein. Ein Mal stand er sogar auf und lief in die Richtung in die Karen sich entfernt hatte, bis zu der Wand, wo er in sich zusammen sank mit Tränen in den Augen. Augenscheinlich litt Karens Körper an Vernachlässigung wie ein kleiner Hund der verzweifelte, dass er nicht mitgenommen wurde, wenn seine Familie das Haus verließ.


Als Konstantin Karen vermittelte wie sich ihr Körper verhalten hatte, als sie unterwegs war, war sie sehr betroffen. Wie sehr liebte ein Mensch seinen eigenen Körper? Die meisten Menschen liebten ihn auf gewisse Wiese sehr, andere benutzten ihn aber nur oder waren sich desselben zu sicher und trieben sogar Raubbau an ihm. Viele wurden erst durch Krankheiten auf seine Bedeutung und Wichtigkeit und dessen Bedürfnisse richtig bewusst. Wie ein Haustier brauchte er Pflege, Reinigung und jemanden, der sich um ihn kümmerte und ihn liebte. Ohne Seele fühlte sich der Körper offensichtlich furchtbar einsam.

4 - Simon

Als Karen und Konstantin beim Nachbarn seiner Mutter anriefen, wusste Simon schon, dass etwas nicht stimmen konnte. Beide hätten jederzeit seine Mutter direkt anrufen können, denn die Nummer war ihnen bekannt. Dass sie solch einen Umweg nahmen, um ihn zu erreichen, ließ ihn Böses ahnen. Und jetzt war er wütend, da er wusste, dass ihn Agenten so ausgebootet hatten, die zwischenzeitlich auch noch seine, Karens und Konstantins Wohnung durchwühlt und verwanzt hatten. Er hatte sich so sehr vorgenommen, sich den oder die Verantwortlichen richtig zur Brust zu nehmen, die sich den üblen Krankenhausscherz erlaubt hatten, aber daraus würde nichts werden. Er würde stillhalten müssen, denn schließlich konnte er von den Agenten nichts wissen. Erst wenn die weg wären, so hatten Karen und Konstantin angekündigt, würden sie sich Treffen können und ein langes Gespräch führen.

So war er momentan zu einem kleinen Erholungsurlaub verdammt, was er einerseits genoss, andererseits rumorten seine Gedanken und er hatte Angst. Dass Fremde, von denen er nicht einmal etwas geahnt hatte, es auf ihn und die anderen beiden abgesehen hatten, entsetzte ihn. Sie arbeiteten doch wirklich nur an Projekten, die der Welt halfen, und selbst das erweckte zu viel Neid und Missgunst. Dass sie einer Menge Leute in die Quere gekommen waren und vielen Mächtigen die Geschäfte versaut hatten, wurde ihm erst jetzt richtig klar. Die waren nun stinksauer und wollten allem Anschein nach vermeiden, dass es noch weitere Erfindungen und Entwicklungen gäbe, die sie noch mehr Geld kosteten. Und Geld regierte nun leider doch die Welt.


Als die Entwarnung durch Karen kam, atmete er seit Tagen das erste Mal wieder richtig durch. Nach ihrer Aussage war die Luft jetzt wieder rein, denn die beiden hatten den Verdacht, der auf ihm, Konstantin und Karen gelastet hatte, dass sie die ganzen Entwicklungen zu verantworten hätten, vermutlich entkräften können. Genau genommen verstand er jedoch gar nichts. Woher wussten die beiden das und wie hatten sie alles bereinigen können?

Er würde noch eine Nacht in dem Hotel bleiben, dass Wellenbad und die Sauna auskosten, denn wer weiß wann er wieder zu etwas Urlaub kommen würde. Erst morgen Abend würde ihn die Arbeitswelt wieder bekommen, schließlich hatte er die letzten beiden Jahre mehr als genug geschuftet. Karen und Konstantin würden viel zu erklären haben.

5 - Der Durchbruch

Ein Teil der Lösung war einfach, sie mussten bei ihren Wanderungen nur dicht genug bei ihren Körpern bleiben. Nachdem Konstantin sich gut erholt hatte, hatten sie unter größter Vorsicht einige Tage die Betreuung der Stiftung fortgesetzt und sich dabei gut beobachtet. Wenn sie nur in einem Umkreis von nicht mehr als einhundert Metern unterwegs waren, zeigten ihre Körper keine Entkräftungserscheinungen, nur reichte das leider für die meisten Aufgaben nicht annähernd. Das Gelände der Stiftung zog sich inzwischen über einen Kilometer in die Länge und viele Arbeiten fanden gar nicht in der Stiftung selbst statt. Insbesondere das Saharaprojekt machte deshalb Probleme. Erst eine Bemerkung Karens, man müsse wohl mehr Zuhause im Körper bleiben ließ Konstantin aufhorchen. Er hatte lange genug in der Stiftung gleichzeitig gearbeitet und dennoch andere über die Entfernung hinweg betreut. Warum intensivierte er das nicht? Er hatte schon Erfahrung damit, mit seinem Körper weiter zu arbeiten während er unterwegs war. Dabei hatte er aus Konzentrationsgründen bisher nur einfache Aufgaben erledigt, aber vielleicht würde das reichen. Er bat Karen um Hilfe und sie starteten einen Versuch. Sie hatte bisher weder gleichzeitig mehrere Dinge über Distanzen hinweg erledigt, deshalb war es an ihr, Konstantins Körper zu überwachen. Sie würde seinen Puls und sein Verhalten kontrollieren, während Konstantin versuchte einen sinnvollen Text zu schreiben und gleichzeitig den Bau der ersten Filteranlage für Meerwasser anzusehen. Nach einigen Fehlversuchen war es tatsächlich möglich, weiter zu arbeiten und den Distanzsprung auszuführen. Es war für ihn ein sehr seltsames Gefühl, denn über die etwa viertausend Kilometer hinweg machte sich schon die Verzögerung durch die Lichtgeschwindigkeit bemerkbar, so dass er sich wie betrunken fühlte, wenn er schrieb und währenddessen in der Filteranlage Ingenieuren Ideen in den Kopf setzte.

Sein Körper war damit dem Anschein nach zufrieden und erschöpfte sich nicht mehr. Und auch wenn es ihn viel Konzentration kostete, war der nächste Schritt nur logisch. Konstantin spaltete sich ein weiteres Mal auf und sprang noch zusätzlich nach Hannover und „besuchte“ Simons Mutter und brachte sie dazu, Simon anzurufen.

Als das Telefon tatsächlich klingelte, lachten Karen und Konstantin, denn sie hatten das Problem gelöst und dabei noch einen gewaltigen Schritt voran gemacht. Mit etwas Übung würden sie nun schon als Einzelperson mehrfach parallel arbeiten können. Darüber hinaus sie waren sogar zu zweit. Jetzt würden sie der Stiftung und ihren Entwicklungen richtig Dampf machen.

6 - Synchronisation

Sie hatten das Gespräch mit Simon schon mehrfach verschoben, weil sie noch zu sehr damit beschäftigt waren sich miteinander zu arrangieren. Es bedurfte einer beträchtlichen Übung, sowohl im Körper zu bleiben, die Stiftungsangestellten zu fördern und betreuen, entfernte Projekte zu beobachten als auch gleichzeitig miteinander zu kommunizieren um Dopplungen zu vermeiden und immer die besten Wege zu finden. Mit zwei Personen erledigten sie weit mehr als doppelt so viel wie zuvor alleine und das mit weniger Aufwand. Sie entwickelten eine Harmonie in ihrem Zusammenspiel, die die Stiftung in einen Fortschrittsrausch trieb. Während sie Abläufe in der Sahara optimierten, bearbeiteten sie diverse Anfragen für vergleichbare Projekte in der Wüste Gobi und in der Kalahari, setzten Studierenden Ideen in den Kopf und trieben ihnen Irrwege aus. Bis zu drei verschiedene Orte sowie ihre eigenen Körper konnten sie gleichzeitig handhaben ohne, dass diese es ihnen übel nahmen. Im Gegenteil, sie begannen sogar ihren Körper schlafen oder Sport treiben zu lassen während sie selbst noch unterwegs waren.

Damit begann für viele Stiftungsangestellte eine Zeit der Schlaflosigkeit, weil sie noch abends und nachts ihre Ideen aufschrieben und lernen mussten mit ihrem neuen Forschungsdrang klar zu kommen, der durch Karen und Konstantin jetzt intensiver induziert wurde als je zuvor.

Nach einer Woche hatten sie sich perfekt aufeinander eingespielt, sie tauschten nicht nur Ideenblitze oder Bilder miteinander aus, nein, sie teilten Ideen, Strategien und komplette Szenarien als Filmsequenzen, die eine sprachliche Kommunikation endgültig überflüssig werden lies.

Nach acht Tagen hatten sie ihre Kapazitäten ausgelotet. Sie starteten in der Stiftung die Ausschreibung für zweitausend weitere Stellen, eine Menge, die sie mittelfristig noch effektiv würden handhaben können.


Sie begannen nun mit einer weiteren Untersuchung. Was passierte während sie miteinander kommunizierten? Das Ideenbouncing, wie sie es nannten, war eine ihrer Haupttechniken, um zu einem Ergebnis zu kommen. Bei jedem Wechsel zwischen ihnen ging allerdings immer etwas an Energie verloren, als wenn ein Ball zwischen Wänden hin und her prallte und irgendwann durch Luftwiderstand, Reibung an den Oberflächen und anderen Effekten liegen blieb. Dieses Mal war es Karen, die durch ihre Intuition und bildliche Vorstellungskraft das Rätsel löste. Noch arbeitete sich der Ball unnütz an den Wänden ab anstatt weich und rund in einem Kreis zu rollen. Sie selbst und Konstantin konnten es geradezu sehen, wenn sie sich als geistige Wesen betrachteten, gekrümmt wie transparente farbige Würmer, die sich Gedanken wie Bälle zu warfen und sich dabei voneinander entfernten, je intensiver sie warfen. Sie würden einen Kreis bilden müssen, in dem die Ideen rollen konnten wie die Kugel in einem Roulettezylinder.

7 - Der nächste Schritt

Er hatte mit einem Chaos gerechnet, bevor er in die Stiftung zurückkehrte, denn er hatte schließlich von jetzt auf gleich alles liegen lassen müssen und war zu seiner Mutter gefahren. Seine Überraschung war groß als sein Sekretariat ihm bei seiner Rückkehr mitteilte, was inzwischen alles geschehen war. Es hatte heftigste Eigenmächtigkeiten gegeben und ohne seine Unterschrift waren Dinge geschehen, die ihn hätten explodieren lassen, wenn es nicht erstaunlicherweise bis aufs i-Tüpfelchen das gewesen wäre, was er sowieso angewiesen hätte, manchmal sogar besser durchdacht und durchgeführt als von ihm selbst beauftragt. Er brauchte nur noch bergeweise Papiere abzeichnen und kam zu dem Schluss, dass er weit aus fähigere Angestellte hatte als bisher gedacht. So nahm er sich zwei volle Tage, um sich in aller Ruhe auf den Stand der Dinge zu bringen. Einzig der Umstand, dass er weder Karen noch Konstantin wegen des angekündigten Gespräches erreichen konnte, beunruhigte ihn. Es war zu wichtig und zu erschreckend, was geschehen war und genau diese Dinge waren es, über die er nichts erfuhr. Irgendetwas war noch faul.


Nach einer Woche spürte er den unbändigen Drang die Sache zu klären. Mitten während der Arbeitszeit meldete er sich ab, verschob für den Nachmittag alle Termine und fuhr wie aus einer Eingebung heraus zu Karen. Es überraschte ihn seltsamerweise nicht, dass die Tür sich schon während seines Klingelns öffnete. Kommentarlos setzten sie sich in das Wohnzimmer, wo ihm der auch anwesende Konstantin etwas zu trinken und zu essen anbot. Ein Blinder mit dem Krückstock hätte gemerkt, dass die beiden bereits auf ihn warteten und darauf lauerten, ihm etwas aufzudrücken oder zu erzählen.


"Hallo, Simon!" sagten die beiden wie aus einem Mund.


"Wir haben Dir etwas mitzuteilen. In Deiner Abwesenheit haben wir übrigens etwas für Ordnung in Deinem Büro gesorgt. Ist alles zu Deiner Zufriedenheit?"


"Ja, das ist es, sogar erstaunlich gut. Das wart Ihr? Wie habt Ihr das denn gemacht? Wir waren doch alle nicht hier."


"Das erklärt sich später für Dich von selbst. Zu erst wollen wir Dich fragen, ob Du zum nächsten Schritt bereit bist."


Simon spürte in sich eine Ruhe und Gelassenheit, die er angesichts der Situation nicht erwartet hatte und erfuhr, dass die beiden ihn auf eine Weise beeinflussten, die er vielleicht nicht gutheißen würde.


"Zum nächsten Schritt?"


"Wir haben Dich beeinflusst, so dass Du hierher kommst, damit wir miteinander reden können. Wir werden das jetzt beenden, denn wir wollen niemanden auf dieser Welt zu irgendetwas zwingen zu dem er oder sie sich nicht selbst und frei entschieden hat."


Verwirrung und andere Emotionen durchfluteten ihn. Dazu kam eine Verärgerung über die unsinnigen Behauptungen und da gab es noch die Menge bohrender Fragen, auf deren Antwort er schon seit einer Woche wartete. Aber er fühlte auch, dass die beiden Recht hatten. Die unterschwellige Beruhigung und der Wille hierher zu kommen waren verflogen.


"Aha,", dachte Simon, "eine Ablenkungstaktik. Die beiden lauern ja geradezu darauf mir etwas aufzudrücken oder zu sagen. Erst sorgen sie für gute Laune, machen Smalltalk und dann folgt das dicke Ende. Nun gut, dann spiele ich einmal mit, mal hören was die beiden ausgeheckt haben... irgendwie erinnert mich das an die Saharageschichte, hmm."


"Mir schwant Böses, habt Ihr mir etwa ein Beruhigungsmittel ins Essen getan?"


"Nein, sicher nicht..." und damit begannen die beiden zu erzählen.


Simon hatte die unzweifelhafte Ahnung, dass die beiden viel Spaß daran gehabt hatten, ihn her zu holen - und ihn immer noch hatten. Und was danach folgte war zunächst befremdlich, wurde dann unglaubwürdig und schließlich eine haarsträubende Geschichte, bei der er normalerweise nach wenigen Minuten gegangen wäre, weil sie zu abstrus war. Das Gemisch aus Brombeerbüschen, tausenden von durchlebten Wesen und Leben, geistigen Fähigkeiten, die Großrechnersysteme in den Schatten stellten, sowie von Astralwanderungen, Ideenimpfungen, etwas dämlich erscheinenden Geheimagenten, hin bis zu leidenden Körpern wegen der Abwesenheit ihrer Seelen. Nur die Tatsache, dass er die beiden so gut kannte hielt ihn auf seinem Platz und ließ ihn alles bis zum Ende erfahren.

Und seine Neugierde war geweckt. Was wollten die beiden wirklich?


Sie schlossen mit der Bemerkung, dass sie ihr Potential zu zweit ausgeschöpft und darüber hinaus ermittelt hätten, dass die optimale Kombination aus drei Personen bestünde. Diese würde eine weitere beträchtliche Steigerung der Gesamtmöglichkeiten und gleichzeitig das Maximum der sinnvollen Synergien bedeuten.


"Und jetzt wollen wir von Dir wissen ob Du umgewandelt werden willst. Dann wären wir zu dritt und damit ein perfektes Team. DAS Team schlechthin."


"Das ist doch total verquer! Ihr wollt mich umwandeln und zum Genie machen? Ist das Euer Ernst?"


"Ja." antwortete Karen lapidar. "Selbstverständlich nur mit Deiner Zustimmung." fügte sie noch vorsichtig hinzu.


"Diese Geschichte ist doch aberwitzig!" Zu aberwitzig als dass die beiden sich so etwas allen Ernstes ausgedacht haben könnten nur um ihn auf den Arm zu nehmen.


"Woher soll ich denn das so schnell wissen?" sagte er. "Und was würdet Ihr machen, wenn ich mich dagegen entscheide? Mal ganz ehrlich, was wollt Ihr wirklich?"


"Genau das was wir gesagt haben. Alles ist purer Ernst. Und falls Du nein sagst? Nun, zunächst einmal würden wir versuchen, Dich zu überzeugen. Für den Fall, dass Du dennoch wider Erwarten nicht willst, haben wir noch keinen Plan. Wir sind eigentlich überzeugt davon, dass Du Dir diese Chance nicht entgehen lässt."


Simon wurde es zu bunt. Er verabschiedete sich und ging er nach Hause. Dort las er seine Tageszeitung, um sich von dem Irrsinn der letzten Tage und Wochen abzulenken.

8 - Simon

Irgendwie hatte er es die ganzen Zeit gewusst, dass etwas nicht stimmte, mit Konstantin nicht stimmte. Eigentlich schon seitdem er sie beide angeworben hatte. Er bekam ohne Probleme einfach alles hin und das auf einem Niveau, das unübertroffen war. Das merkte außer Karen und ihm eigentlich niemand, und dass jetzt die Bestätigung kam, überraschte in diesem Sinne nicht. Enndlins Life und die Erfindungen, die die Stiftung gemacht hatte mussten ja auch irgendwo herkommen, die entstehen nicht einfach so aus dem Nichts, nur weil man eine Komposition hat und ein paar Forscherinnen und Forscher zusammen trommelt. Simon selbst wusste schließlich am besten, nein, nach Karen und Konstantin am besten, an was die Stiftung so alles arbeitete. Es waren hunderte, vielleicht tausende bahnbrechender Veröffentlichungen in der Mache. Die großen und durch die Konferenzen veröffentlichten waren nur die Spitze des Eisberges.


Dass Karen mit Konstantin unter einer Decke steckte hatte er aber nicht ansatzweise geahnt. "Ja, woher auch", dachte er sich, sie war ja angeblich erst seit zwei Wochen "eingeweiht".


Aber sollte er wirklich mitmachen und Jahrzehnte lang tausende von Leben wiederkäuen, schreckliche und gute Erfahrungen wiederholen und hinterher als veränderter Mensch weiter machen? Unter der Annahme, dass die beiden ihm keinen Bären aufbanden, sollte er es riskieren? Er hatte so viele spannende Aufgaben und Verantwortung, verdiente mehr als genug Geld und hatte gefühlt weit mehr zu tun als er bewältigen konnte. Die Änderungen könnten aber noch einmal deutlich mehr Stress bedeuten und davon hatte er die vergangene Zeit wahrlich genug gehabt.


Dennoch: Wenn er daran dachte, dass das tatsächlich wahr sein könnte was die beiden erzählten, dann lief ihm ein kalter Schauer den Rücken herunter. Auf subtile Weise hielten sie fast unbegrenzte Macht in den Händen oder genauer gesagt im Geiste. Was solche Fähigkeiten wirklich bedeuteten, konnte man sich als normaler Mensch nur schwerlich vorstellen. Allein die Tatsache ein echtes fotografisches Gedächtnis zu besitzen wäre schon höchst beeindruckend, wie oft hatte er selbst sich das gewünscht, wenn er wieder einmal etwas vergessen hatte. Oder geistig nur mit einem Gedanken an einem beliebigen Ort der Welt zu gelangen. Oder den Zugriff auf die Erfahrungen tausender Leben mit jeder Winzigkeit dessen vor Augen zu haben was man vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten als Frau, Mann, Kind oder Tier erlebt hat. Einmal eine Frau zu sein...


Es wurde Abend und die Schatten schienen ihm so voller Zwiespältigkeiten. Die Unklarheiten in dem was kommen würde waren eine Herausforderungen für seinen Mut, ließe er die beiden gewähren.


Es fiel ihm noch ein Argument ein, von dem in der Menschheitsgeschichte wohl kaum jemand noch nicht geträumt oder zumindest darüber nachgedacht hat. Sie hatten es zwar nicht direkt erwähnt aber es folgte aus dem was sie erzählten: Es winkte mit der perfekten Körperkontrolle ein sehr langes Leben, ja quasi Unsterblichkeit.


Wenn vergangene Tage des Lebens auf die noch folgenden treffen hat man immer eine Wahl, sagte sich Simon. Ein manches Mal ist sie nur kurz möglich, unbedeutend oder flüchtig, manches Mal kann man sich Zeit nehmen.


Und er wählte - am folgenden Morgen nahm er den Weg des Vertrauens und in die Ungewissheit - was Karen und Konstantin auch immer mit ihm vor hatten, ob es ihn das Leben kosten würde, sie sein Inneres nach außen kehren oder ihn grundlegend verändern würden. Er hatte seinen Willen fokussiert und stellte ihnen einen Freibrief aus zu tun was auch immer sie planten. Es war wie wenn man vor einer großen Operation unterschreiben musste, dass man ohne jede Garantie alle Probleme und Komplikationen in Kauf nimmt.

9 - Der Ring

Simon wusste, dass er blau erschien, wenn ihn Konstantin und Karen als geistige Wesenheit betrachteten. Es waren einige Wochen vergangen, seitdem er zugesagt und sich der gleichen Prozedur wie Karen unterzogen hatte.

Nein, jetzt würde er nie wieder in sein altes Leben zurück wollen. Diese Beschränkungen, der Mangel an Konzentration, das Gedächtnis, was ihn zu leicht im Stich ließ und die vielen anderen Fehlbarkeiten, die einen Menschen normalerweise ausmachten.

Die vergangenen Wochen waren etwas gewesen das sich dem normalen Menschenverstand entzog, etwas das er sich vorher nie hätte träumen lassen. Selbst nach seiner Öffnung, er selbst zog diesen Begriff der Wandlung, wie er von Karen und Konstantin genutzt wurde, vor, hatte sein Lernen nicht geendet. Die beiden hatten ihm Techniken der Gedankenmanipulation, die Körperselbstkontrolle und -reinigung, ihre bisherigen Strategien für die Zukunft der Stiftung, das astrale Wandern und viele andere Dinge vermittelt.

Nun stand der letzte Schritt an, sie würden versuchen sich zusammen zu schließen und das erste Mal einen Ring zu bilden. Damit würden sie Neuland betreten, weil Karen und Konstantin als Strukturen und Formen das bisher nicht zu zweit hatten bewerkstelligen können.

Alle waren etwas nervös, denn sie wussten, dass damit das erste Mal etwas bisher Unmögliches eintreten würde. Wie drei Kinder, die sich in einen Kreis stellten und an die Hände nahmen, traten sie als geistige Entitäten aufeinander zu und nahmen sich an die Hand.


Simon war nicht vorbereitet auf das was kam, ebenso wenig wie Karen oder Konstantin. Sie fühlten innerlich einen zaghafter Widerstand, sich zu öffnen, denn was würden die anderen nicht alles über einen selbst erfahren? Jedes Detail ihres Erfahrungsschatzes bedingungslos zu teilen und noch viel mehr, war etwas, was ein normaler Mensch emotional normalerweise nicht zulassen würde. Ebenso galt es, die geistigen Kräfte einander zu offenbaren und sich vollständig zu vereinen, sich im übertragenen Sinne zu berühren und zu verschmelzen. Ein Zögern, ein Zittern ging durch die drei aber sie wussten, dass sie nur gewinnen konnten, wenn sie sich vertrauten. So ließ Simon den Widerstand fallen, dann folgte Konstantin und schließlich Karen. Wie Magneten begannen sie sich aufeinander zu zu bewegen, dann zu kreisen wie ein Strudel, ungebremst wie in einer Achterbahn, schneller und immer schneller. Karen erschreckte, wollte sich zurück ziehen, aber es war zu spät. Wie in einer Akkretionsscheibe eines Schwarzen Loches wurden sie alle in die Länge gezerrt und das vorhergesehene Kreisen verstärkte sich mit einer Macht, die eine Trennung nun unmöglich machte.


Sie verschmolzen zu einem Ring, zu einer Gemeinschaftsintelligenz mit drei autarken Willen, die Gedanken, Emotionen, Erfahrungen und alles andere so teilten wie eine einzige Person. Distanzen und Orte verschwammen und sie begannen die Welt als etwas Neues zu entdecken, das als Ganzes vor ihnen lag, sie konnten überall gleichzeitig sehen was geschah und spüren wo ein Einfluss geltend gemacht werden musste, um etwas in Bewegung zu bringen. Sie wussten, dass die Pflanzen, Tiere und Menschen gemeinsam auf die Erde gehörten und dieses selbst erkennen mussten, auch ohne Steuerung von außen.


Die Strömungen die einen Geist durchzogen konnten sie verstärken oder dämpfen, so wie Konstantin und Karen es in der Stiftung bisher schon praktizierten nur war es war dem Ring jetzt möglich dieses auf globaler Ebene zu tun. Der Blick auf die Gesamtheit aller Gesellschaften wurde wahrnehmbar, sei es, dass sie Konflikte als disharmonische Klänge ebenso hören konnten, wie sie sie als Verwerfungen in einer Oberfläche sehen, als unangenehmes Gefühl spüren oder als Geruch riechen konnten, wenn sie sich auf eine Region konzentrierten. Liebe wurde als frischer Duft, als leuchtendes Licht oder ruhiger Klang ebenso wahrnehmbar wie als glatte weiche Oberfläche, die angenehm zu berühren war.


Ehrfurchtsvoll genossen sie ihre neue Wahrnehmungen, es entgang ihnen nichts mehr, wenn sie es nicht wollten. Sie hatten ihre Kapazitäten gebündelt, ihre Fähigkeiten vereint und potenziert, grenzenlos schienen ihnen ihre Möglichkeiten nun. Was war ihnen jetzt nicht alles möglich? Sie waren sich schnell einig: Nichts.


Kein Ziel war mehr außer Reichweite, und so beschlossen sie auf der Erde ein neues Zeitalter einzuläuten, das Zeitalter der Harmonisierung.


Den ersten kleinen Schritt in diese Richtung schlug Karen vor, denn sie mussten weit über die Stiftung hinaus denken und handeln, um die Erde und das Leben auf ihr zu schützen und fördern. Es waren die ideologischen und gesellschaftlichen Probleme, die sie angehen mussten. Die technischen waren nur noch Kleinkram. Schon jetzt zeichneten sich massenhaft Erfindungen, Beweise, Forschungen und Theorien ab, die derzeit in der Stiftung in Arbeit waren. Sie würden die Menschen noch Jahrzehnte lang in Atem halten und ihnen tausende atemberaubende Technologien bescheren.


So begannen sie.

10 - Träume

Bjarne


Bjarne Bergholm war plötzlich hellwach, ein Blick auf den Wecker zeigte 17 Minuten nach Eins. Es war also schon tief in der Nacht. Etwas rumorte in ihm, er war durch intensives Träumen aus dem Schlaf gerissen worden, so intensiv wie schon seit Jahren nicht mehr.


Er war in seinem Traum Sekretär des UN-Generalsekretärs gewesen und dieser hatte ihm die finale Version eines neuen Gesetzeswerkes diktiert, das allen Menschen und sogar den Tieren der Erde gemeinsame Rechte und Pflichten auferlegte. Alle bekamen eine verantwortliche Rolle in der Zukunft der Erde zugewiesen - eine gerechte Rolle. Es war ein so unglaublich klarer Traum, dass er selbst jetzt noch den gesamten Wortlaut des Diktates auswendig wusste, obwohl es aus seitenweisen paragraphenähnlichen Abschnitten bestand.


Bjarne zitterte etwas. Die Formulierungen in diesen Paragraphen waren von einer Weisheit, die sein Herz berührte - und es gab nichts, was ihn daran hinderte jedes Wort, so wie in seinem Traum gehört, aufzuschreiben.


Er zögerte nicht sondern setzte sich an seinen Rechner und begann zu tippen. Durch sein lahmes Zwei-Einhalb-Finger-Suchsystem wurde er zwar nicht vor dem Morgengrauen fertig, aber er spürte eine wohlige Befriedigung, weil er keinen Buchstaben glaubte vergessen zu haben. Als Letztes, bevor er sich wieder ins Bett legte um seinen wohlverdienten Schlaf zu Ende zu bringen, schickte er den Text als E-Mail an eine Kommilitonin um Tags drauf mit ihr über seinen spektakulären Lichtblick zu sprechen.



Eileen


Eileen Bancroft hatte wieder einmal Stunden über ihrem Experiment gebrütet welches ihr schon seit Wochen keine Ruhe mehr ließ. Es war zentral für Ihre Doktorarbeit und das Sammeln der Stichproben war ziemlich mühselig. Schließlich war sie über den Ausdrucken der Messwerte eingenickt. Sie ruckte erst hoch als sie begann vom Stuhl zu rutschen und fast auf den Boden gefallen wäre. So schlaftrunken sie davor noch war, so wach war sie jetzt durch den Adrenalinkick.


Der Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass das Nickerchen war weit mehr als das gewesen war, offenbar war sie länger als zwei Stunden völlig weggetreten und hatte dabei noch ein schlichtes aber dafür sehr intensives Traumerlebnis gehabt. Freunde hatten sie um Hilfe gebeten etwas abzuschreiben, aber sie kam nicht bei den Freunden an sondern beim UN-Generalsekretär, der behauptete, er hätte nicht genügend Leute um sein Diktat aufzunehmen. Beeindruckt von einer solchen Größe um so etwas gebeten zu werden hatte sie dem natürlich zugestimmt.


Weise Worte hatte sie dann gehört, Worte, die sie nicht verloren geben wollte, auch wenn sie nur aus einem Traum stammten. Und so begann sie sie wie in Trance aufzuschreiben.



Jonas


Erschöpft schaute Jonas auf die Niederschrift seines Traumes, den er gehabt hatte nachdem er kurz vor Mitternacht beim Schauen eines langweiligen Videos eingeschlafen war. Nur eine halbe Stunde hatte gereicht und danach hatte er bis kurz vor neun Uhr morgens mit vollem Tempo geschrieben. "Wenn ich den Schreibmaschinenkurs vor einigen Jahren nicht gemacht hätte, wäre ich in Stunden noch nicht fertig" dachte er sich. Es ging ihm wieder und wieder durch den Kopf: "War ja echt irre, so einen Traum hatte ich noch nie". Er konnte es noch immer nicht fassen.


Der Sekretär hatte ihm etwas diktiert. DER Sekretär. Noch immer war Jonas völlig aufgeregt deshalb, dabei war es doch nur ein Traum. Immerhin einer, der ihm eine schlaflose Nacht beschert hatte. Und er sollte das Diktat auch noch an Camille.Marchant@Enndlins-Life-Stiftung.de schicken. Jonas fragte sich, ob es die E-Mail-Adresse wirklich gab. "Hab ja nichts zu verlieren" sagte er sich und schickte sie ab.



Camille


Camille Marchand hatte die Nacht durch tief und fest geschlafen und folgte ihrer Gewohnheit, bei ihrem morgendlichen Croissant ihre E-Mails zu lesen. Sie staunte nicht schlecht angesichts der 2327 Nachrichten, alle mit einer Paragraphenkennzeichnung am Anfang, fein säuberlich sortierbar und einige bis zu vierzig Seiten lang. Eine jede E-Mail von jemand anderem aus der Enndlins Life-Stiftung, in der sie selbst schon seit geraumer Zeit arbeitete.


Pünktlich zum ersten Biss in das Croissant ging die letzte Mail ein, vom Stiftungsleiter Simon Radeberg persönlich, mit der Bitte, die Inhalte zu einem finalen Dokument zusammenzufassen und als Antwort an alle zurück zu senden, erweitert um die Aufforderung, die jeweiligen Abschnitte darin zu prüfen und sich gegen Abend um 17 Uhr im Atrium des Stiftungshauptgebäudes einzufinden.


Zudem fand sie noch einen Abschnitt von etlichen E-Mail-Adressen, die sie mitsamt ihres Notebooks im Atrium bereit halten sollte.


Als Informatikerin hatte sie schnell ein kleines Script geschrieben, was alle Nachrichten zusammensetzte. Stichprobenartig prüfte sie das Resultat, ob alles plausibel aussah. Die Details sollten die Absender schließlich selbst prüfen. Ein gewaltiges Gesetzeswerk hatte sie zusammengefügt.


Sie kaute das Croissant genüsslich zu Ende und sinnierte etwas. Woher das alles wohl stammte? Aber das erfuhr sie wahrscheinlich noch früh genug. In der Stiftung passierten immer seltsame Dinge, schon seitdem sie dabei war. Gute Dinge. Und bisher nichts, was ihr das Vertrauen genommen hätte dem zu folgen was ihr aufgetragen worden war. "Sei's drum" sagte sie sich und schickte das komplette Dokument an alle als Antwort.


Und selbstverständlich würde sie etwas früher ins Atrium gehen. Es würde dort nämlich brechend voll werden und sie wollte ganz vorne beim Rednerpult mit dabei sein.

11 - Die Charta

Der erste von Karen vorgeschlagene Schritt war die Anregung, ein gemeinsames Gesetzeswerkes für alle zu schaffen, um für das neue geplante Zeitalter eine Grundlage zu schaffen. Diese Idee blitze von ihr zu Simon, der sie um die UN als völkerrechtliche Gemeinschaft ergänzte und sie an Konstantin weiterreichte.

Die Idee kreiste ungebremst mit der Geschwindigkeit eines Geschosses in einem Roulettezylinder, so fühlte sich der geschmiedete Energiekreis an, der sich aus den Wesenheiten Karen, Simon und Konstantin gebildet hatte. Die drei fühlten sich im physikalischen Sinne an eine stehende Welle erinnert, die enorme Energie speicherte.


Wie in einer Hochgeschwindigkeitszentrifuge begann die Idee von Wand zu Wand des Zylinders zu scheppern und bekam in Sekunden den Schliff eines Diamanten. In diesem Rausch erarbeiteten sie als Ring ein Werk, das die Charta des Vereinigten Planeten Erde werden sollte.


Sie hatten jede Phase des Lebens auf der Erde durchlebt. Von diffusen Erinnerungen als Pflanzen und Tiere über tausende Generationen des menschlichen Lebens hatten sie alles erfahren was nötig war, um auf dem Planeten ein Zusammenleben zwischen allen zu etablieren, welches gerecht und angebracht war.


Es war ihnen ein Leichtes die Charta in der Nacht in die Köpfe aller Stiftungsangehörigen zu pflanzen.

Diese begannen wie geplant die Artikel aufzuschreiben und sie nach Fertigstellung an andere Kolleginnen und Kollegen per E-Mail weiterzuleiten, die jeweils ihre eigenen Abschnitte hinzufügten und wiederum weiterleiteten. Tausende elektronischer Nachrichten schwirrten umher, ergänzt hier durch Absätze, dort durch Artikel oder schon von anderen erhaltene Zusammenstellungen. Im Morgengrauen hatte die Stiftung die Charta niedergeschrieben und damit schließlich Camille Marchand beim Frühstück überrascht.


Um 17 Uhr trat Simon dann im Atrium an das Rednerpult, innerlich nun weit mehr als nur Simon.

Camille, wie geplant frühzeitig erschienen, war mit ihrem Notebook auf einem Platz direkt in der Nähe des Pultes ganz vorne dabei. Sie hatte das riesige Dokument vorbereitet und war sehr angespannt.


Geflüster stand im Raum, viele leise Fragen, Antworten und Kommentare waren zu hören. Manche nur gehaucht vor Ehrfurcht vor dem was alle Anwesenden in diesem Raum in der Nacht zuvor erlebt und danach gelesen hatten.


"Hast Du auch den ganzen Tag die Charta gelesen?"


"Ich bin ja kein Jurist, aber klar, ich habe seit heute Morgen nichts anderes gemacht. Ich habe noch nie so ein stimmiges und klares Werk gelesen."


"Versteht Ihr denn nicht? Wir sollten die Charta weltweit verbreiten, denn sonst werden es die Menschen vielleicht nicht schaffen!"


"Heute werfen große Dinge ihren Schatten voraus - und wir sind dabei! Wenn wir in unserem Leben jemals etwas bewegen wollen, dann jetzt!"


"Habt Ihr verstanden warum alle so ähnlich und doch nicht gleich geträumt haben? Wurden wir unter Drogen gesetzt? Stehen wir vielleicht immer noch unter Drogen?"


"Nee, glaube ich nicht, aber weißt Du was? Das ist mir vollkommen schnuppe. Die Charta ist cool und das ist das Einzige was zählt!"


Auch Camille hörte das, tat aber so als ob sie das gar nichts anginge. Dabei hatte sie schon einen Verdacht was sie tun sollte, aber sie wusste noch nicht ob sie wirklich den Mut dazu aufbringen würde. Es kam alles so plötzlich. Und warum gerade sie?


Simon ergriff nun das Wort.


"Herzlich Willkommen zur dieser außerordentlichen Vollversammlung! Angesichts der Enge hier möchte ich es auch kurz machen und bitte jeweils um Handzeichen.


Zunächst einmal: Wer heute Nacht selbst KEINEN Paragraphen niedergeschrieben hat, hebt bitte die Hand."


Es hob sich nur die Hand von Camille Marchand.


"Bitte alle die Hand heben, wer heute Nacht einen Paragraphen selbst niedergeschrieben und ihn an Camille Marchand weitergeleitet hat." Er deutete auf Camille.


Alle bis auf Camille hoben die Hand.


"Hat jemand einen Fehler in den selbst geschriebenen Abschnitten im Antwortdokument von Camille gefunden?"


Keine Wortmeldung.


"Ist jemand NICHT damit einverstanden, dass Camille das von ihr zusammengestellte Dokument an die UN und alle Regierungen weiterleitet?"


Keine Wortmeldung.


"Es hebe bitte die Hand wer möchte, dass das Dokument jetzt von ihr an die UN und alle Regierungen verschickt wird."


Alle Hände hoben sich.


Sie spürte wie ein Raunen in der Luft lag, es wurde klar, dass diese Versammlung das Potential bekam, Einfluss auf alle Gesellschaften des Planeten zu nehmen.


Aber wieso waren die Abstimmungen einstimmig? Einstimmig bei tausenden von Anwesenden?

Vielen im Atrium ging dies so oder so ähnlich durch den Kopf, jedoch konnte niemand diesen Gedankengang zu Ende bringen, bevor Simon Camille direkt ansprach:


"Bitte erweise uns doch die Ehre, die Charta an die gegebenen E-Mail-Adressen zu schicken."


Sie hatte geahnt was kommen würde, es aber dennoch nicht wirklich realisiert, dass sie das tun sollte. Sie schaute sich ängstlich um und vergewisserte sich der Blicke aller, dass sie das Richtige tat. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, so laut, dass sie dachte, alle im Raum würden es hören. Mit erwartungsvoller Spannung starrten ihr Freunde, Kommilitonen, Simon Radeberg und Fremde auf die Hände. Sie hob die rechte Hand, wagte aber nicht, die entscheidende Taste zu drücken. Noch einmal schaute sie sich um.


"Ist das die Sternstunde meines Lebens?" fragte sie sich im Stillen, zögerte dann aber nicht länger und drückte "Send".


Epilog

Das kleine Biopolymerwesen trieb in einer Umlaufbahn um die blaue Perle. Seit es vor Äonen von der Rasse der Alten im Zentrum der Milchstraße geschaffen worden war, bewegte es sich langsam in Richtung der äußeren Arme der Galaxis und war auf der Suche. Seit Millionen von Umläufen dieser blauen Perle um deren Sonne war es unterwegs, um nach Leben und belebten Planeten Ausschau zu halten. Die Alten hatten unter größten Mühen einige hundert dieser kleinen Wesen geschaffen und in die Weiten des Alls gesandt, um nach anderen Rassen, Freunden und besseren Planeten zu suchen, wo das Leben einfacher wäre. Und seit dem hatte es nur wenige Dutzend Meldungen gegeben, dass die anderen Sucher etwas gefunden hätten, aber es waren meistens nur ebenso graue und trostlose Planetenklumpen gewesen wie die Heimat der Alten es auch war. Und nirgends war das Leben stark oder intelligent genug, um die gewaltige Distanz zu den Alten zurückzulegen oder diesen gar zu helfen. Zwei Male waren noch Überbleibsel alter Kulturen gefunden worden, die aber schon länger nicht mehr existierten als es die Alten überhaupt gab.


Hier, beinahe schon in den Außenbereichen der Milchstraße, nahm nicht nur die Sternendichte ab sondern auch die Wahrscheinlichkeit für Leben. Die meisten Funde waren nahe dem Zentrum gemacht worden, wo es viel Energie und hohe Mutationsraten in komplexen chemischen Verbindungen gab, was sehr förderlich für die Entstehung von sich selbst reproduzierenden Molekülen und somit von Leben war.


Das Wesen glaubte keine Einsamkeit oder Langeweile zu kennen, es gab selbst fern jeglicher Sterne im freien Raum so viel in allen Energiespektren zu horchen und an Mustern zu untersuchen, dass es solche Empfindungen nie gehabt hatte. Als es jedoch vor nahezu einhundert Umläufen dieses Planeten die ersten nicht natürlichen Strukturen entdeckte und die blauweiße Kugel zu untersuchen begann, wurde es mit einer völlig neuen Aufgabe konfrontiert. Alles war gänzlich neu, diese Spektren hatten bisher nur die Alten für sich genutzt und hier war eine unermessliche Menge an Informationen moduliert, die das kleine Wesen schnell an den Rand seiner analytischen Fähigkeiten brachte.

Es musste verstärkt Wichtiges von Unwichtigem trennen und verstehen was dort vor sich ging. Es entdeckte die Menschen, die sich völlig chaotisch entwickelten, extrem kurze Leben hatten und dadurch einen starken Willen, schnell Ziele zu erreichen. Ihre Versuche sich zu strukturieren waren wegen der schnellen Vermehrung, der starken Konkurrenzkämpfe und der kaum vorhandenen Organisation selten von Erfolg gekrönt und lange würden sie so nicht mehr weiter machen können ohne sich selbst zu zerstören.

Zwischen der Entdeckung der modulierten Wellen und dem Einschwenken vor fünfzehn Sonnenumläufen um den blauen Planeten war dort schon so viel passiert, dass das Wesen einige Male gefürchtet hatte, dass sich die Menschen selbst vernichtet haben würden, bevor es ankäme.

Als es endlich in Reichweite kam, um Details untersuchen zu können, konnte es eingreifen. Dieser Planet war nicht nur eine wunderschöne und seltene Perle im Universum sondern ein noch seltenerer Diamant, der mit all seinem Leben auf ihm in höchster Gefahr schwebte.

Die Menschen benötigten Beruhigung und Selbstorganisation, um ihre Möglichkeiten erfolgversprechend einsetzen zu können.

Das kleine Wesen hatte nicht lange überlegen müssen, sondern sich sofort auf die Suche nach einem geeigneten Kandidaten gemacht, mit dem es versuchen würde zu kommunizieren und der die Wichtigkeit dieser Aufgabe verstehen würde.

Der Konstantin-Kandidat bewegte sich ärgerlicherweise wie die meisten Menschen nahezu unvorhersehbar von einem Ort zum anderen und war somit für eine solch komplizierte Prozedur nicht zugänglich. Deshalb hatte das Wesen eine ortsgebundene Pflanze dazu gebracht, chemische Stoffe zu produzieren, die seinen autarken Biocomputer empfänglich für die gewünschten Kommunikationssignale machen sollte. Zwar kam Konstantin wie geplant an der Pflanze vorbei und durch seine Neugierde schließlich in Berührung mit den Stoffen, jedoch hatten diese nicht planmäßig gewirkt und die Empfänglichkeit hatte sich nicht eingestellt.

Damit war die Kontaktaufnahme gründlich schief gegangen und das Wesen hatte fast seine ganze Energie dafür aufgebraucht. Es würde lange Zeit benötigen, um sich zu regenerieren und erst danach würden weitere Versuche oder die Fortsetzung seiner Reise möglich sein.

Dennoch ergab sich ein unerwartet starker Nebeneffekt der Prozedur. Konstantin hatte sich passende Begleiter gesucht und in einem atemberaubenden Tempo Umstrukturierungen und viele Änderungen auf dem Planeten eingeleitet.

Vor wenigen Tagen hatte der inzwischen entstandene Gemeinschaftsgeist Karen-Konstantin-Simon das Wesen von sich aus in einer Umlaufbahn entdeckt und den Kontakt aufgenommen. Der Ring, wie sich dieser Geist auch nannte, hatte sich bedankt und sie hatten begonnen umfänglich Wissen auszutauschen. Und die Kontaktaufnahme mit den Alten stünde in Aussicht, sobald er die wichtigsten Probleme auf der Erde, so nannte er seinen blauen Planeten zärtlich, im Griff hätte.


Das kleine Wesen wurde eingeladen noch lange zu bleiben, um den Alten die Fortschritte zu berichten. Diese würden die Nachrichten auf normalem Wege zwar erst in tausenden von Jahren erhalten, aber das war erst einmal zweitrangig. Der Ring erwähnte, dass ein Durchbrechen der Lichtgeschwindigkeit bei seinen Überlegungen in greifbarer Nähe wäre und das Benachrichtigen somit vielleicht schon in naher Zukunft möglich werden könnte.


Das kleine Biopolymerwesen war zufrieden mit sich, denn es hatte seine Bestimmung erfüllt. Es lernte viel Neues, insbesondere Dinge wie Kunst, Musik, Dichtung und Unterhaltung, die es bei den Alten trotz derer fortgeschrittenen Entwicklung nicht gab.


Vierundzwanzig von dreißig Sätzen der Musik Konstantins namens Enndlins Life waren schon komplett veröffentlicht und hatten einen Siegeszug um die Welt angetreten. Selbst Karen, Konstantin und Simon, hatten das anfangs nicht in dieser Dimension erwartet. Samuel Herrmanns Idee, die Stiftungseinnahmen durch freiwilliges Spenden beim Kauf zu erhöhen, hatte eine dreistellige Milliardensumme auf die Konten der Stiftung gespült. Nahezu alle Menschen sahen die positiven Effekte der Stiftung. Sie hatte die Energieprobleme der Welt gelöst, eine Unzahl neuer und positiver Technologien eingeführt sowie die globale Erwärmung in einem Jahrzehnt so gut wie beendet. Die Klima-Hochrechnungen sahen so gut aus, dass nur noch wenige daran zweifelten, dass die Menschheit gerade noch ihren Kopf aus der Schlinge hatte ziehen können. Jeder Mensch, der diese Musik kaufte, hatte das Gefühl, direkt Fortschritte erwirken zu können. So wurde es regelrecht zum Statussymbol, bei jedem erworbenen Satz zu spenden um diese zu fördern.


Abgesehen von Enndlins Life war keine der Entwicklungen oder Veröffentlichungen der Stiftung in irgendeiner Form patentiert, lizenziert oder verkauft worden. Produkte mussten lediglich aufführen, dass sie auf solchen Entwicklungen beruhten. Das Know-How der Stiftung stand allen Menschen der Welt frei zur Verfügung.


Die Sahara war zum Magneten für Konzerne, Firmen und Staaten geworden, die dort schon jetzt hundertfach mehr als die Stiftung investierten. Es entstanden Urlaubsgebiete, Energiefarmen, riesige Anbaugebiete für die Sunwaterpflanze und noch mehr für Wälder, Getreide, Obst und Gemüse.

Die anderen großen Wüsten wie Gobi, Kalahari, Rub al Chali und in Patagonien unterliefen den gleichen Prozess und wurden zu Kornkammern und Kraftwerken der Welt. Sie stellten Energie, Nahrungsmittel und Arbeit in Hülle und Fülle zur Verfügung.


Es waren viele Probleme gemildert worden, die Nahrungsmittelversorgung für Armutsgebiete war sichergestellt, aber die eigentlichen Schwierigkeiten begannen erst. Die direkte Konfrontation mit den Mächtigen der Welt war bisher vermieden worden, denn die würden ihre Machtpositionen und die Vorteile, die diese mit sich zu brachten, nicht kampflos aufgeben. Die Ausbeutung vieler Menschen, der Tiere und der Natur blieb ein zentraler Punkt, der noch unzureichend behandelt war. Gier, Macht und Unvernunft waren die stärksten Gegner der Stiftung und des Ringes.


Die Charta erhitzte noch immer die Gemüter, und die Staaten schienen sich nur betont langsam durch die für ein vollständiges Gesetzeswerk gar nicht so umfangreichen Artikel zu arbeiten. Zu viele Ängste existierten, die eigenen staatlichen Grundsätze aufzugeben obwohl die neuen zweifellos besser waren. Zu viele Religionen mussten unter einen Hut passen, zu viele intolerante Bereiche in allen Gesellschaften waren zu bearbeiten, damit sie den Regeln der Vernunft zugänglich wurden.

Der Ring investierte einen beträchtlichen Teil seiner Energien in die weltweit tätigen Kommissionen und Ministerien, die diese Arbeit für ihre Regierungen durchführten, um Entscheidungen und Reformen in Richtung der Charta zu führen. Es würde dennoch Jahrzehnte dauern, bis hinreichend viele Nationen dieses Werk anerkannten und umsetzten.


Der Ring hatte seine Verschmelzung abgeschlossen und schwebte nun als Hüter über den Menschen, Tieren und Pflanzen der Erde. Er war autark und benötigte seine materiellen Existenzen nicht mehr.

Dennoch führten die drei Körper namens Karen, Konstantin und Simon zahlreiche Aufträge aus, repräsentierten die Stiftung und hatten dank der perfekten Pflege durch den Ring ein nahezu unbegrenztes Leben zu erwarten.

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Tag der Veröffentlichung: 10.05.2018

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