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Herr Alltag und die Weihnachtszeit

Am frühen Morgen stand Herr Alltag mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand in der Küche vor seinem geliebten Abreißkalender und zupfte langsam das Blatt des 30. Novembers ab.

„Schon wieder Dezember. Wie die Zeit verfliegt...“, murmelte er zu sich selbst, kratze sich am Kopf und setzte sich auf die Eckbank.

Langsam und genüsslich schlürfte er seinen Kaffee, der in ihm die Lebensgeister weckte und er sich bereit für den Tag fühlte. Nach dem morgendlichen Kaffeeritual begab er sich ins Schlafzimmer, wo er erst einmal aus dem gestreiften Pyjama schlüpfte und sich mit winterlicher Kleidung versah. Dann schnappte er sich im Flur seinen Mantel, zog ihn über, griff die Schlüssel von der Kommode und steckte sie in seine Tasche. Ein schneller Blick in den Spiegel zur Kontrolle, bevor er sich eine dicke Fellmütze über den Kopf mit dem lichter werdenden Haar stülpte und nach draußen ging.

 

Das Wetter war nicht gerade schön. Unter dem grauen bedeckten Himmel wehte ein feuchtkalter Wind, der Herr Alltag frösteln ließ. Mit aufgeschlagenem Mantelkragen lief er aus der Wohnsiedlung zur Stadtmitte und stürzte sich in die Menschenmasse, die sich durch die Einkaufsstraße drängte.

„Jedes Jahr das gleiche“, dachte Herr Alltag bei sich. „Immer rennen die Leute wie aufgelöst durch die Geschäfte, nur um rechtzeitig irgendwas zu haben, das man schenken könnte. Als ob es wirklich auf diesen einen Tag und auf dieses eine Geschenk ankäme.“

Mit Taschen und Kartons bepackt rannten die Menschen von Laden zu Laden oder zur Post, damit es rechtzeitig zum Weihnachtsfest da ist. Herr Alltag nahm dies alles am ersten Dezembertag wahr und wollte gar nicht wissen, wie es kurz vor Heiligabend aussah.

 

Unter einem kahlen Baum inmitten der belebten Fußgängerzone setzte sich Herr Alltag auf eine Bank und beobachtete weiter das Treiben der Menschen und sinnierte vor sich hin. Versuchte für sich die Frage zu beantworten, ob das nun wirklich der Sinn dieses Festes sei? Kinder drückten sich an den Schaufenstern der Spielzeuggeschäfte die Nasen platt und sollten sich was wünschen. Man lebte ihnen vor, dass es immer nur um materielle Belohnungen ginge. Das Menschliche ging dabei verloren oder musste bewusst hintanstehen. Schwermütig ob dieser Erkenntnis erhob sich Herr Alltag und schlurfte weiter durch das Gedränge, bis es ihm zu viel wurde und er in eine kaum belebte, dafür wunderschön geschmückte und beleuchtete Seitengasse trat. Hier fühlte er sich frei, losgelöst von dem Pulk der Leiber, die ihn hin und her schubsten, als ob er nur ein Hindernis wäre.

 

Herr Alltag fand sich vor einem kleinen Laden wieder, dessen holzgerahmtes Schaufenster weihnachtlich mit einer Krippenszene geschmückt war. Durch die Scheibe konnte er keine Kunden erkennen, nur die Verkäuferin, die einsam hinter dem Tresen stand. Herr Alltag beschloss den Laden zu betreten. Selbst das Türglöckchen, das durch die Tür beim Eintreten geschlagen wurde, hatte einen weihnachtlichen Klang an sich. Die wohlige Wärme, die in diesem Geschäft herrschte, vertrieb ihm schnell die Kälte der Welt draussen und Herr Alltag ertappte sich selbst dabei, zu lächeln. Etwas, das ihm die letzten Jahre gänzlich abhanden gekommen war. Die Verkäuferin in ihrem dicken Strickpulli schaute ihn durch ihre starken Brillengläser an und erwiderte sein Lächeln. Sagte aber kein Wort, sondern wartete gespannt darauf, dass er den ersten Schritt ging.

 

All das ließ Herrn Alltag dazu bewegen, doch etwas für das Fest zu kaufen und er trat an den Tresen, verneigte sich und begrüßte die Frau.

„Guten Tag. Ich würde gerne etwas kaufen“, sagte er.

„Guten Tag. Aber natürlich. Was darf es denn sein?“, fragte sie ihn gespannt.

„Also, ich denke, etwas Liebe würde ich mir gerne kaufen“, sagte Herr Alltag zögerlich.

Plötzlich verdüsterte sich die Miene der Frau und sie schaute ihn verwundert an.

„Liebe? Ach herrje... ich glaube, das haben wir gar nicht mehr. Wer will denn das noch? Vielleicht einen Restposten davon? Sie können doch mal da hinten bei den Paketen mit L schauen. Da gibt es Luxus, Laster, Lust... aber Liebe? Nee, da bleib ich doch drauf sitzen. Will doch keiner mehr“, sagte die Verkäuferin dann.

Herr Alltag sank in sich zusammen. Er schlurfte zwar zu dem ihm angewiesenen Haufen Päckchen, doch eines mit Liebe konnte er nicht finden. Er bedankte sich bei der Verkäuferin für ihre nette Hilfe und verließ das Geschäft mit eisigem Herzen.

 

Wieder in der überlaufenen Einkaufsstraße angekommen, sah er die Menschen abermals hin und her hetzen, sah Kinder die sich Gewaltspiele zum Fest der Liebe wünschten und mit jedem bisschen dieser Erkenntnis verbitterte er mehr über die Menschen. An Obdachlosen ging man vorbei, ohne von ihnen Notiz zu nehmen, anstatt diesen oft unschuldig in Not geratenen Menschen wenigstens in dieser Zeit eine kleine Freude zu machen. Doch was ist jemand Fremdes, der nichts mehr hat, schon wert? Und wie oft vergisst man seine persönliche Geschichte dahinter, ohne zu fragen? Viel zu oft stempelt man so jemanden einfach als faul, dumm oder eben als Verlierer, der selbst schuld an seiner Misere ist, ab. Hauptsache, man hat für sich selbst genug und zeigt diesen Wohlstand durch simple Geschenke, die ohne Gefühl gekauft wurden, vermutlich mit dem Hintergedanken, dass man dadurch in der Gunst des Anderen steigt.

 

Herr Alltag machte sich schleunigst auf den Nachhauseweg und war froh von den Menschen weg zu sein. Isoliert in seiner kleinen Welt, die ihm oft nichts Positives, dafür aber auch kaum Negatives bot. Und diese Konstante war ihm am liebsten. Zuhause angekommen holte er mit kalten Fingern seine Schlüssel aus der Manteltasche und schloss die Wohnungstür auf. Kaum im Flur, warf er sie hinter sich zu, schloß die Augen und atmete tief durch.

 

Am späten Nachmittag holte Herr Alltag einen Kuchen aus dem Ofen, den er mittags buk, stellte ihn auf die Anrichte und zog den Duft des Gebäcks in die Nase. Er freute sich schon darauf, diesen Gaumenschmaus mit einer Tasse Tee zu genießen, als es plötzlich an seiner Tür klingelte. Verwundert, weil er niemanden erwartete, öffnete er die Tür und sah die Verkäuferin wieder. Sie lächelte ihn an und wartete darauf, dass er sie fragte, warum sie hier sei und woher sie überhaupt wisse, wo er wohnen würde. Doch Herrn Alltag verschlug es die Sprache.

„Sie haben ihren Geldbeutel bei mir im Laden verloren. Ich dachte, ich bringe es Ihnen vorbei. Es ist zwar nicht auf meinem Weg, aber ich wollte Ihnen den unnötigen Weg ersparen“, sagte sie und streckte das lederne Portemonnaie Herrn Alltag entgegen.

Immer noch ungläubig schauend, nahm er es an und sagte: „Vielen Dank. Ich... ich hab das gar nicht gemerkt.... bitte, kommen Sie doch herein. Ich habe frischen Kuchen und möchte mich gerne erkenntlich zeigen.“

„Nein, danke. Das müssen Sie nicht und ich habe noch einen weiten Weg...“, wiegelte sie ab.

„Ich bestehe darauf!“, sagte Herr Alltag nachdrücklich und der Frau blieb nichts anderes übrig, als seiner Einladung nachzukommen.

Sie betrat seine Wohnung, legte ihren Anorak ab und ging mit Herrn Alltag in die Küche.

„Oh, duftet das appetitlich“, sagte sie und zog den Duft der Küche in die Nase.

Sie setzte sich, während Herr Alltag ein zweites Gedeck auftrug und eine Kanne Tee aufsetzte. Gemütlich saßen sie in der kleinen Küche, tranken, aßen und redeten miteinander. Vergaßen darüber ganz die Zeit und wunderten sich, als es spät, sehr spät wurde und schon lange kein Tageslicht mehr vorhanden war. Niemals hätte Herr Alltag die Frau nun alleine durch Dunkelheit und Kälte nach Hause gehen lassen und bot ihr an sie zu begleiten. Dankbar nahm sie sein Angebot an und sie schlenderten gemeinsam zu ihrer Wohnung, wo er sie mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete. Jedoch verabredete man sich für den nächsten Tag auf einen Kaffee, dann zum Eislaufen, dann zum Spaziergang, dann.... jeden Tag trafen sie sich und wurden immer enger miteinander, bis es Heiligabend war. Zusammen saßen sie bei Herrn Alltag im Wohnzimmer, wo er einen Tannenbaum aufstellte - den ersten seit Jahren - und gestanden sich bei einem Glas Wein ihre Liebe.

 

Nun bekam Herr Alltag das geschenkt, was er sich insgeheim wünschte und keiner kaufen kann.

Impressum

Texte: Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2024

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