Will Phiggen, seines Zeichens meist erfolgloser Privatdetektiv mit US-Amerikanischen Wurzeln, wird von der Bestsellerautorin Jenny van Keks beauftragt, das ominöse Verschwinden einer Freundin aufzuklären.
Die Ermittlungen stoßen den Detektiven auch immer wieder auf kontroverse Betrachtungen des eigenen Lebens.
Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreibspiels "Drei Worte - Eine Story" in der Lunaria-Galaxie. Über ein paar Monate hinweg, hangelte sich die Geschichte von Wortvorgabe zu Wortvorgabe und das Endergebnis ist hier gesammelt zu lesen.
Das Telefon klingelte. Fräulein Ophelia nahm den Hörer ab und säuselte ein freundliches »Ja bitte, was möchten Sie?« in die Sprechmuschel.
»Will Phiggen«
»Na, hören Sie mal, Sie Ferkel…«, echauffierte sich Fräulein Ophelia bei diesem Telefonstreich, den sie dahinter vermutete. Doch der Mann am anderen Ende der Leitung lachte auf und beeilte sich, das Missverständnis zu klären.
»Nein, nein, mein Name ist Will Phiggen. Das sollte ich mir wohl angewöhnen, das dazu zu sagen. Ich bin Privatdetektiv und würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»So?«, Ophelia knickte bei dem nicht unsympathischen amerikanischen Akzent ein und sie war durchaus neugierig auf den Herrn Detektiv mit dem außergewöhnlichen Namen. »Dann kommen Sie doch am besten vorbei.«
»Gerne. Würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich auf die Schnelle vorbeikäme? Ich bin gerade in der Nähe und könnte in circa 10 bis 15 Minuten bei Ihnen sein.«
»Ganz und gar nicht. Kommen Sie nur«, sagte Fräulein Ophelia und freute sich wirklich auf Besuch, den sie eigentlich nicht so oft hatte.
Will Phiggen, seines Zeichens nicht gerade erfolgreicher Privatdetektiv mit amerikanischen Wurzeln, stand vor dem Haus von Fräulein Ophelia. Er rückte seinen Trenchcoat zurecht, stopfte sich das knittrige Hemd, das über seine Wampe hing, in die Hose, damit er einen nicht ganz so heruntergekommenen Eindruck machte, strich sich nochmal mit der Hand über die wenigen schmierigen Haare auf dem Kopf und wetzte sich die dreckigen Schuhe an der Fußmatte ab, die ihn mit dem wenig witzigen Spruch „Benutze mich!“ empfing. Er räusperte sich noch einmal und drückte dann auf die Klingel, deren Klang ihn an die Klangschalen aus den thailändischen Massagesalons erinnerte, in denen er – natürlich rein beruflich – öfters zu tun hatte. Kurze Zeit später öffnete ihm eine ausgesprochen korpulente Dame mittleren Alters die Haustür, bei deren Anblick Will nicht von ungefähr an die Möglichkeit einer Fettabsaugung dachte. Der massige Körper der Frau stand auf filigranen Pumps mit Pfennigabsätzen, die Will immerhin den Respekt für ihre Tragfähigkeit abverlangte. Jeder andere Absatz wäre wohl unter dem Gewicht von Fräulein Ophelia zusammengebrochen. Vielleicht eine Spezialanfertigung des Schusters? Bei dem Gedanken musste Will Phiggen innerlich schmunzeln, ließ es sich aber nach außen hin nicht anmerken, sondern setzte ganz seinen Charme, den er im Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung hatte, ein.
»Setzen Sie sich doch«, flötete Ophelia zuckersüß und deutete mit der Hand auf einen Ohrensessel, der vor einem staubigen Bücherregal unweit des großen Fensters stand. »Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?«
»Nein danke, sehr freundlich“, winkte Will Phiggen ab und räusperte sich. Der Staub, den der Sessel aufwirbelte, als er sich setzte und der nun glitzernd durch die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster schienen, schwebte, kratzte in seinem Hals. Mühsam unterdrückte er einen Hustenreiz und überlegte, ob er nicht doch wenigstens ein Glas Wasser bekommen könnte, fegte den Gedanken aber beiseite und kam ohne weitere Umschweife auf den Grund seines Besuchs zu sprechen.
»Fräulein Ophelia, ich darf Sie doch so nennen, oder?«
»Natürlich.«
»Ich komme zu Ihnen, weil meine Auftraggeberin mir Ihre Adresse gab. Frau van Keks sorgt sich um ihre Freundin Bibi Haxenhuber, die seit Tagen spurlos verschwunden ist«, sagte Will Phiggen.
»Bibi?«, rief Ophelia mit schreckgeweiteten Augen aus, »Ihr ist doch nichts passiert, oder?«
»Das wissen wir nicht. Aber ich entnehme Ihrer Reaktion, dass Sie auch kein Wörtchen von Frau Haxenhuber hörten. Wissen Sie denn sonst etwas, das mir helfen könnte?«
»Jenny… ähm, ich meine Frau van Keks, schickte Sie zu mir. Also muss ja was sein. Warten Sie einen Moment…«, sagte Ophelia, ging zu dem Schreibtisch in der anderen Ecke des Raumes und nahm dort den Telefonhörer ab. Sie drückte auf eine Kurzwahltaste, hielt sich den Hörer ans Ohr und wartete. »Nichts. Geht keiner ran. Wie lange, sagten Sie, hat Jenny nichts von Bibi gehört?«
»Laut meiner Klientin einige Zeit schon nicht mehr«, sagte Will.
»Unbegreiflich… aber, schauen Sie mal hier«, sagte Ophelia und öffnete eine Schublade an der Kommode hinter dem Schreibtisch. Sie entnahm der Schublade eine kleine Pappschachtel, die mit einer Kordel verschnürt war. »Diese Schachtel hier gab mir Bibi zur Aufbewahrung. Sie sagte, dass ich es im Notfall herausgeben solle.«
»Wissen Sie was darin ist?«, wollte der Detektiv wissen.
»Nein, auch wenn ich so aussehe, bin ich nicht neugierig und schnüffle nicht in den Sachen, die mir anvertraut werden, herum. Aber ich denke, dass nun dieser Notfall eingetroffen ist, für den ich diese Schachtel aufbewahren sollte.«
Ophelia gab Will Phiggen die Schachtel, der sie skeptisch betrachtete. Offenbar musste sie mal im Wasser gewesen sein, denn so wie sie aussah, lag sie wohl tagelang im Regen oder in einem Fluss oder sonstwas. Natürlich war sie trocken, aber das konnte man der Schachtel immer noch ansehen. Will warf Ophelia einen bejahenden Blick zu, holte aus der Tasche seines Trenchcoats ein kleines Klappmesser heraus, ließ die Klinge hervorschnappen und trennte damit die Kordel, die die Schachtel umgab, auf. Er klappte das Messer zusammen, steckte es wieder weg und hob den Deckel der Schachtel an. Kurz darauf entfuhr Will ein Seufzer der Enttäuschung, denn nichts von dem, was er in der Schachtel fand, entsprach seinen Erwartungen. Ein Foto von Ophelia, Jenny und Bibi, die auf einer Bank vor einer Almhütte saßen, ein Freundschaftsbändchen, ein Duftkissen, das schon lange nicht mehr duftete, ein getrockenes Edelweiß, alles ramponiert von dem Wasser, das die Schachtel einst heimsuchte. Will wollte die Schachtel schon beiseite stellen, als ihm ein verwaschener Zettel auffiel. Er nahm den Zettel vorsichtig in die Hand und betrachtete ihn. In der verlaufenen Tinte konnte er diffus etwas erkennen. Angestrengt zwängte er die Augen zusammen und las das Wort STIPIUS.
»STIPIUS?«, fragte er Ophelia.
»STIPIUS? Was ist das?«, fragte diese zurück.
»Sagt Ihnen das nichts?«, wollte Will wissen.
»Nein. Nicht, dass ich wüsste.«
»Das steht hier auf diesem Zettel«, sagte Will und reichte das Stück Papier an Ophelia, die es mehr als nur ratlos ansah.
»Ich weiß beim besten Willen nicht, was STIPUS sein soll, Herr Phiggen“, sagte sie achselzuckend und reichte den Zettel Will zurück.
»Probieren Sie weiter, Frau Haxenhuber zu erreichen, Fräulein Ophelia. Danke. Sie haben mir jedenfalls weitergeholfen. Ich werde mich mit Frau van Keks beraten und dann sehen wir weiter«, sagte Will im Aufstehen, klopfte sich die Hose ab und ging Richtung Ausgang. »Vielen Dank nochmal, ich melde mich wieder bei Ihnen.«
»Gerne doch«, rief Ophelia dem Detektiv noch nach, doch dieser war schon zur Tür hinaus.
Eiligen Schrittes ging Will auf sein Auto zu, entrieglte per Fernbedienung die Tür, ließ sich schwer auf den Fahrersitz fallen und zog die Autotür zu. Aus der Innentasche seines Trenchcoats holte er sein Smartphone heraus und startete die Internetsuche nach dem ominösen Wort.
»STIPIUS also… soso….«, murmelte er, während er die Suchergebnisse überflog.
Will wurde allerdings enttäuscht. In den Niederlanden wurde ein Herr Stipius beerdigt und das schon im Jahre 1807, desweiteren fanden sich noch einige Personen namens Stipius, die aber entweder nicht mehr lebten oder weit entfernt. Will Phiggen konnte sich nicht vorstellen, dass Frau Haxenhuber etwas mit Israel zu tun hätte. Warum auch? Dann fiel ihm das lateinische Wort stipius auf, das soviel bedeutet wie verwurzelt, aber auch das schien ihm irrelevant zu sein. Entnervt schaltete er das Smartphone aus und steckte es zurück in die Manteltasche.
Er rieb sich das Kinn, spürte die Bartstoppeln, die längst wieder eine Rasur nötig hätten und dachte nach. Leider ergebnislos, wie sooft, wenn er kaum Anhaltspunkte hatte. Darum beschloss er den Tag zu beenden und sich am nächsten Morgen mit Frau van Keks zu unterhalten. Will startete den Motor, der ächzend zu Leben erwachte und fuhr los.
Sein Büro – vielmehr das, was er Büro nannte – war zugleich seine bescheidene Wohnung. Will erweckte seinen altersschwachen PC aus dem Standby-Modus und tippte schnell die neuen und eben sehr wenigen Erkenntnisse in ein Dokument, speicherte dieses und fuhr den PC dann runter. Danach holte er eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, trank diese fast in einem Zug leer und überlegte, wie er diesen Abend verbringen sollte. Will Phiggen liebte die Zerstreuung und das am gernsten bei einem alten Film Noir. Unweit seiner Wohnung befand sich ein uraltes Kino, das irgendwie den Krieg unbeschadet überstand und in seiner Originaleinrichtung als Dennis’ Filmlounge weitergeführt wird. Will kannte den Betreiber gut, da er schließlich Stammgast war und nicht selten der einzige Gast bei einer Vorstellung. Es tat dem Charme dieses Kinos keinen Abbruch, dass öfters Schwarz-Weiß-Filme liefen. Ganz im Gegenteil machte das den Reiz dieses Kleinods aus. Schon hatte Will Lust darauf und verließ seine Wohnung in Richtung Kino.
Natürlich war Will Phiggen auch dieses Mal der einzige Gast, der sich einen Spionagethriller aus den 1950er-Jahren anschaute. Dennis war froh überhaupt einen Zuschauer bei der Vorstellung zu haben, sonst hätte er das Kino gar nicht geöffnet. Man merkte ihm die Sorgen um die Finanzierung seiner Leidenschaft an. In den 1970er-Jahren war das ein Pornokino und in der Vor-VHS-Ära gut besucht. Dann kamen die Videotheken auf und niemand wollte mehr in ein solches Schmuddelkino. Heute gibt es auch die nicht mehr, denn das Internet versorgt den Mann von Welt überall und jederzeit mit Porno aller Coloeur. »Wie sich die Zeiten doch ändern«, murmelte Will und schaute voller Wehmut den alten Film, in dem sich die Spione noch mit präparierten Radiogeräten gegenseitig abhörten und sich sogleich gegenseitig des Abhörens beschuldigten. »Ja, das waren noch Zeiten!«, sagte Will eine Spur zu laut, aber was soll’s? Wen stört er denn hier? Mit einem Becher Salzcracker und Laugenbrezeln, der in Comicschrift als „Dennis’ Knabberspass“ beschrieben war, fläzte Will in dem Kinositz und genoss den Film. Die Spione von damals mussten noch wirklich ran. Das war noch Handarbeit im wahrsten Sinne des Wortes. Heute sitzt man nur noch an Computern und hat von der Welt da draußen keine Ahnung mehr. Will wäre gerne Detektiv in der damaligen Zeit gewesen und schwärmte ein bisschen von den Helden auf der Leinwand, die mit einem Schiff der legendären Donaudampfschifffahrtsgesellschaft durch den Ostblock fuhren, stets am Rande der Verhaftung oder in höchster Lebensgefahr. Ja, das waren Helden, keine Computerfuzzies. Will lachte ein bisschen und dann drängten sich die Gedanken über seinen derzeitigen Fall in sein Bewusstsein. Was wenn Frau Haxenhuber wirklich mit Geheimdiensten im Bunde stand? Vielleicht mit dem Mossad? Stipius war schließlich in Israel ein recht gängiger Name. Warum sonst sollte eine junge Frau so einfach verschwinden? Zumal sie dann auch noch den Karton bei Ophelia deponierte und dazu orakelte, dass ihr mal was passieren könnte. War Will da eventuell in eine große Sache geraten? Das Gedankenkarussell drehte sich so sehr, dass er vom Film gar nichts mehr mitbekam. Auch nicht, wie der Abspann über die Leinwand flimmerte. Erst als im Kinosaal die Lichter angingen, kam Wills Bewusstsein wieder in die Gegenwart zurück. Ächzend stand er aus dem Kinosessel auf, der schon längst mal neu gepolstert werden könnte und winkte Dennis oben im Vorführraum zu. Ob er es gesehen hatte, konnte Will nicht sagen. Es war ihm aber auch herzlich egal. Will verließ ohne Umschweife die kleine Filmlounge und ging nach Hause.
***
Eine unruhige Nacht lag hinter Will. In seine wirren Träume gerieten plötzlich Geheimagenten, die vor seinen Augen Frauen entführen und ihn zugleich in eine Schockstarre versetzten, aus der er beim besten Willen nicht heraus kam und hilflos das Treiben mitansehen musste. Meist ist er als Detektiv erst dann im Einsatz, wenn die Personen bereits verschwunden sind. Wie auch dieses Mal wieder. Umso erstaunter war Will, wieso sich ihm diese Gedanken aufdrängten. Schwerfällig erhob er sich von seinem Schlafsofa, das im Wohnzimmer stand und trottete zur Kaffeemaschine. In der kleinen Küchenzeile, welche in einer Nische an der Wand eingelassen war, stapelte sich das Geschirr, das Will unbedingt mal abwaschen sollte. Langsam gingen ihm die Tassen aus. Er ließ Wasser in die Kanne laufen, stülpte einen Kaffeefilter in die Maschine, schaufelte aus einer Metalldose das Kaffeepulver hinein und drückte den Schalter. Blubbernd erwachte die Kaffeemaschine zum Leben und Will verschwand in dem kleinen fensterlosen Bad, wo er erst mal eine kalte Dusche nahm. Die Kälte des Wassers belebte seine Geister, hatte aber auch den Vorteil, dass er Geld für das Erwärmen sparte und kürzer duschte.
Mit einem Handtuch um die Hüfte und einem Handtuch um den Nacken kam Will Phiggen aus dem Bad, goß sich eine frische Tasse Kaffee ein, die er wie immer schwarz ohne alles trank, und setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Wort STIPIUS kreiste ihm im Kopf herum und wollte sich ihm nicht erschließen. Abermals versuchte er eine Internetrecherche und tippte das Wort in die Suchmaske ein, nachdem der PC endlich hochgefahren und betriebsbereit war. Am Schreibtisch ließe sich ausführlicher suchen als es im Auto möglich gewesen sein sollte. Will ergänzte die Suche auch um Begriffe wie ‚Mossad’ und ‚CIA‘, doch keine der Ergebnisse führten zu nennenswerten Erfolgen. Eher im Gegenteil. Will kratzte sich das bartstoppelige Kinn und fragte sich wieder einmal, ob er nicht doch auf der falschen Fährte sei. Er hätte gerne einmal einen großen Fall. Meist ist er nur mit kleinen Fischen befasst und streng genommen lebte er hauptsächlich davon ehebrechende Männer zu überführen, was auch nicht besonders schwer ist. Das langweilte ihn durchaus und da wäre eine Geheimdienstsache schon was aufregendes, aber das schien mehr und mehr nur Wunschdenken von Will zu sein, das ihn zudem in eine Sackgasse führte, in die er sich nicht verrennen wollte. Er schaltete den PC in Standby, schlüpfte in dieselben Klamotten vom Vortag, die zusammengeknödelt auf einem Stuhl neben dem ausgezogenen Sofa lagen und machte sich auf den Weg zu seiner Auftraggeberin Jenny van Keks.
Der Kies knirschte unter den Reifen von Will Phiggens Auto, als er auf den Hof der Keks’schen Villa fuhr. Das pittoreske Anwesen mit seinen rosa-weißen Fassaden, den dunkelgrauen Biberschindeln auf dem Dach, den akkurat gestutzten Formbäumen und der Blütenpracht in den Beeten um den Hof herum, machte schon allerhand her. Selbstverständlich holte Will Erkundigungen über seine Auftraggeberin ein, nicht zuletzt um sich ihrer Bonität zu versichern, die jedenfalls gesichert zu sein scheint. Jenny van Keks war eine erfolgreiche Schriftstellerin, die mit ihren Romanen ein kleines Vermögen verdiente und sich dadurch solch einen feudalen Wohnsitz und auch ihn als Privatdetektiv leisten konnte. Er schnappte sich die Mappe, in der er die wenigen Unterlagen, die er bislang zusammenbekam – unter anderem ein Foto der vermissten Bibi – und stieg aus. Will betrachtete die Fenster der Villa, als er seine Autotür zuschlug, die ihm seltsam leblos vorkamen. Als ob in der Villa kein Leben herrschen würde. Ganz im Gegensatz zu den Außenanlagen, wo der Wind leicht durch das Blattwerk der Bäume wehte und somit ein gefälliges Rauschen erzeugte, welches durch Vogelstimmen angereichert wurde und den malerischen Eindruck einer Idylle noch unterstrichen. Der Detektiv ging auf das Eingangsportal zu und drückte auf den Klingelknopf. Es wunderte ihn auch nicht, dass er den Westminsterschlag als Türgong hörte. So platt es erschien, passte es doch zu diesem Haus. Fehlte nur noch, dass ein Butler in Livree die Tür öffnete. Doch in diesem Punkt wurde Will enttäuscht, denn es öffnete ihm Jenny persönlich die Haustür und bat ihn sogleich herein, als ob sie ihn schon erwartet hätte. Dabei hatte sich Will gar nicht angekündigt.
»Herr Phiggen. Wie schön! Kommen Sie doch herein«, strahlte ihn die erfolgreiche Schriftstellerin an und wies mit der Hand ins Innere.
Will blieb für kurze Zeit die Sprache weg beim Anblick dieser blonden Schönheit und er konnte es sich nicht verkneifen, sie eingängig zu betrachten. Ungeniert ließ er seinen Blick von ihren himmelblauen Augen, die ihn freundlich anlächelten, über ihr Dekolleté hinunter zu ihren makellosen Beinen schweifen, die sich keck aus diesem asiatisch angehauchten Morgenmantel streckten. Das Drachenmuster auf der dunkelblauen, fast schwarzen Seide leuchtete förmlich in satten Rot- und Goldtönen und ließ Jennys Antlitz erstrahlen. Ihre blonden Haare wirkten dabei wie gesponnenes Gold und ihre ungeschminkten zartrosa Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, das die eben ausgesprochene Einladung einzutreten bekräftigte. Mit einem Ruck riss sich Will von den feinen Rundungen, die der V-förmige Ausschnitt des Mantels als Dekolleté verriet, los, streifte die Schuhe auf der Fußmatte ab und betrat die Vorhalle der Villa. Das Vestibül entsprach zwar dem Klischee, das Will von dieser Villa hatte, doch fielen ihm sogleich die feinen Unterschiede auf, die hier herrschten. Der Boden war natürlich ein gefliestes Mosaik, doch nicht wie sonst eine Windrose oder ein Familienwappen, sondern eine Darstellung diverser Blasinstrumente von Trompete bis Saxophon. Sehr ungewöhnlich. Aus einer Stuckrosette an der Decke kam eine Kette hervor, an deren Ende ein üppiger Kristalllüster hing. Die schwungvolle Treppe mit ihren bauchigen Geländersprossen aus Marmor hatte keinen Teppichbelag. Die Stufen waren purer Marmor und – es hätte ja auch nicht anders sein können – natürlich aus rosa Marmor, wie er seltener kaum sein konnte. An den Wänden waren auch keine typischen Ahnenbilder in schwülstigen Rahmen, sondern als Wandmalereien, in Stuckornamenten umfasst, Portraits der größten Jazzmusiker von Miles Davis bis Bix Beiderbecke. Etwas, das Will nun nicht wirklich erwartet hätte. Der Anblick rief in Will Phiggen Erinnerungen an seinen Großvater auf, der unentwegt Jazzplatten auf einer alten Musikkommode hörte. Deswegen war ihm der Jazz besonders vertraut und er bekam Lust darauf, wieder einmal einen Abend in einem Jazzclub zu versacken, Whiskey zu trinken und mit einer Dame zu schäkern, doch Jenny störte seine Schwelgerei, indem sie ihn in den Salon bat, der sich zur Rechten von ihm befand. Will nickte nur und ging dann wortlos in die ihm angewiesene Richtung.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte Jenny und wies mit der Hand auf einen mit rotem Samt ausgeschlagenen Sessel. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Will ließ sich schwerfällig in das Möbel plumpsen und überlegte kurz, ob er den Tee haben wollte. Irgendwie mussten seine Gedanken etwas abseits geraten sein, als er Frau van Keks an sich vorbeihuschen sah und sich selbst dabei ertappte, lüsterne Blicke auf ihren Po geworfen zu haben, der sich unter der schimmernden Seide recht gut abzeichnete. Doch Will wäre nicht Will, wenn er sich nicht selber zur Räson rufen könnte und so holte er sich in seine Routine zurück, in dem er ruhig ein: »Ja, gerne« sagte.
Jenny goß aus einer Porzellankanne, die auf einem Stövchen stand, die im Sonnenlicht leuchtende bernsteinfarbene Flüssigkeit - vermutlich einer Ostfriesenmischung - in ein doppelwandiges Teeglas, das sie dem Detektiv reichte, goß sich selber auch ein Glas ein und setzte sich damit in den Sessel ihm gegenüber. Dabei fielen die Schößlinge des Morgenmantels zur Seite und gaben Jennys Beine frei, die Wills Blicke fesselten, zumal er sich einbildete, dass sie beim Überschlagen kurze Zeit noch viel mehr preisgaben. Das mag aber auch Einbildung sein, da die berühmte Szene aus dem Film ‚Basic Instict‘ mit Sharon Stone sich nicht nur in Wills Gedächtnis eingebrannt hatte und somit gerne auf ähnliche Momente projiziert wird. Um nun nicht ganz die Fassung zu verlieren, zwang Will sich dazu, seinen Blick durch den Salon schweifen zu lassen. Die Einrichtung hatte was von einem herrschaftlichen Ansitz, wie man ihn in Rosamunde-Pilcher-Romanen oft zu lesen bekam. Wobei Will Phiggen gerne mal las, aber wenn, dann doch lieber Agatha Christie oder Dorothy Sawyers. Das große Bücherregal, das fast eine ganze Wand des Salons einnahm, war bestückt mit tausenden Büchern, manche so dick, dass Will sogar auf diese Entfernung den Text auf den Buchrücken lesen konnte. Lauter Biographien von Musikern und Künstlern, aber auch Zeitgeschehen und Fachliteratur. Nun, für Jenny van Keks als Schriftstellerin bestimmt wichtige Arbeitsgrundlage. Der Rest des Salons war mit einer gediegenen Ausstattung von Mobiliar aus dunkelrotem Holz, vermutlich Kirsche, bestanden und erinnerte Will etwas an die Szenerien, in denen Agatha Christie oder auch Arthur Conan Doyle ihre Verdächtigen verhören ließen und sodann den Täter überführten. Nur der Laptop auf der Chaiselongue neben Jenny störte das Gesamtbild und war zusammen mit ihrem asiatischen Seidenmantel ein Zugeständnis an die Moderne.
Jenny hob fragend die Augenbrauen und sah den Detektiv eindringlich an ohne ein Wort zu sagen. Was sie auch nicht musste, denn Will verstand sehr wohl die Aufforderung nun endlich zu sagen, warum er hier war. Er stellte das Teeglas beiseite und räusperte sich, als er den Zettel, den er in Bibis Karton fand, aus seiner Manteltasche holte.
»Frau van Keks«, begann Will dann seine Fragerunde, »bei Fräulein Ophelia war ein Karton von Frau Haxenhuber hinterlegt mit dem Vermerk, diesen nur dann zu öffnen, wenn etwas vorgefallen sei. Aber als wir, also Fräulein Ophelia und ich, den Karton öffneten, fanden wir nur Dinge, die uns kein Stück weiterhalfen… außer...«
»Außer was?«, wollte Jenny sofort wissen.
»Außer diesem Zettel hier«, sagte Will und reichte ihn der blonden Schriftstellerin.
Jenny van Keks nahm das Papier in die Hand, betrachtete es, drehte es hin und her und gab es mit einem Schulterzucken Will Phiggen zurück.
»Wissen Sie was STIPIUS heißen könnte?«, insistierte Will.
»Nein, ganz und gar nicht«, sagte Jenny nach kurzem Überlegen. »Das hab ich auch noch nie gehört. Von Bibi schon gar nicht.«
»Fräulein Ophelia versucht Frau Haxenhuber zu erreichen, doch bislang ohne Erfolg. Ist es früher schon zu solchen Momenten gekommen, dass sie lange nichts von sich hören ließ oder nicht auf Anrufe oder Mails oder sonst was reagierte?«
»Man hat nicht immer die Zeit und Lust dazu, Herr Phiggen«, sagte Jenny seufzend, »aber meist kam dann doch nach kurzer Zeit eine Antwort. Und wenn es nur eine Mail mitten in der Nacht war. Aber so wie jetzt war das noch nie. Was glauben Sie eigentlich, warum ich Sie engagierte? Bestimmt nicht, weil Bibi sich mal nicht meldet. Sie ist weder zu Hause noch sonst wo zu finden. Ihr ganzer Bekanntenkreis weiß rein gar nichts über ihren Verbleib.«
»Hm«, brummte Will nickend, »ich befürchte, dass ihr was größeres zugestoßen sein könnte. STIPIUS ergibt zwar noch nicht viel Sinn, aber vielleicht wurde sie von einem Geheimdienst entführt.«
»Was? Bibi?«, lachte Jenny van Keks laut los, »Im Leben nicht! Was soll sie auch spionieren? Nein, Herr Phiggen, ich glaube Sie verrennen sich da in was.«
»Meinen Sie? Haben Sie eine andere Idee für ihr Verschwinden? Und was soll dann STIPIUS sein?«, gab Will zu bedenken.
»Ich gebe zu«, sagte Jenny und hob in ergebender Weise die Hände, »das nährt meine Fantasie. Und da ich mir beim besten Willen weder ihr Verschwinden noch diesen Zettel mit einem ominösen Wort erklären kann, könnte vielleicht… ich betone vielleicht… etwas an Ihrer Theorie dran sein. Auch wenn ich nicht wüsste, wieso Bibi etwas mit Geheimdiensten zu tun haben könnte, geschweige denn, dass sie das wollen würde. Eher befürchte ich, dass sie einem Verbrechen zum Opfer fiel. Vergewaltigt, ermordet und verscharrt oder so. Bis die Polizei sie dann findet… oje… da werden Sie sie eher haben.«
»Gibt es jemanden in Frau Haxenhubers Umfeld, dem Sie so etwas zutrauen würden?«, wollte Will Phiggen wissen.
»In der heutigen Zeit muss man das jedem zutrauen. Lesen Sie keine Zeitung? Das ist leider trauriger Alltag geworden. Davon abgesehen würde mir eigentlich nur einer einfallen. Aber der ist weit weg und das liegt Jahre zurück. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt Kenntnis davon hat, dass sie hier lebt. Kontakt hatten die beiden nicht. Schon lange nicht mehr.«
»Können Sie mir eine Adresse geben?«
»Tut mir leid, die weiß ich nicht. Ich weiß auch seinen Namen nicht. Irgendwie wollte sie den nie in den Mund nehmen. Sie sprach immer nur von ER und IHM. Wenn sie davon sprach, was nicht viel und selten obendrein war.«
»Nun gut«, sagte der Detektiv im Aufstehen, »Haben Sie vielen Dank, Frau van Keks. Ein paar neue Gedanken ergaben sich dadurch, die ich nun erst mal sortieren muss.«
»Bitte gerne, hauptsache Sie kommen schnell zum Erfolg«, sagte Jenny, erhob sich ebenfalls und wollte Will zur Tür begleiten, doch der winkte ab.
»Danke, bemühen Sie sich nicht. Ich finde alleine hinaus. Auf Wiedersehen, Frau van Keks.«
»Auf Wiedersehen, Herr Phiggen«, sagte Jenny, die sich wieder gesetzt hatte und einen Schluck aus dem Teeglas nahm.
Schwer ließ sich Will Phiggen auf den Fahrersitz seines Autos fallen und atmete einmal tief durch. Es würde lange dauern, bis man herausfinden könne, wer dieser ER gewesen ist und vermutlich noch länger, bis man ihn aufgespürt hätte. Allerdings erschien es auch Will eher unwahrscheinlich, dass nach einer langen Zeit, in der sie sich nicht sahen oder Kontakt hatten, etwas geschehen wäre. Und es würde auch Wills leise Hoffnung auf die ganz große Verschwörung, die er witterte, zerstören. Er behielt sich diese Spur im Hinterkopf, als er die Autotür zuzog und den Motor startete. In gemächlichen Tempo steuerte er den Wagen über die Allee zurück in Richtung Stadt. Immer noch kreiste ihm das Wort STIPIUS durch den Kopf und er überlegte, ob der Ex von Bibi vielleicht dieser Stipius gewesen sein könnte. Wenn Frau Haxenhuber nie den Namen erwähnte, wird das schon seinen Grund haben. Vielleicht durfte sie ihn nicht erwähnen? Weil er ein Geheimagent war oder immer noch ist? Wenn dem so wäre, dann wäre es für Will unmöglich herauszufinden, wer das war, geschweige denn, an ihn heranzutreten. Plötzlich erschrak Will und stieg refelxartig mit aller Kraft auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam sein Auto schlingernd zum Stehen, gerade rechtzeitig, um nicht in den LKW zu rauschen, der laut hupend die Kreuzung querte. Mit schreckgeweiteten Augen saß Will Phiggen hinter dem Steuer und nahm im Augenwinkel das rote Licht der Ampel wahr, welches für ihn galt. Er war so in Gedanken versunken, dass er den Verkehr völlig vergessen hatte und beinahe in diesen LKW-Anhänger gerast wäre. Das ging gerade nochmal gut. Auf den Schreck brauchte Will ein kühles Blondes und da Rosmaries Kneipe auf dem Weg lag, beschloss er kurzerhand seiner alten Freundin einen Besuch abzustatten.
Die urige Kneipe von Rosmarie lag unspektakulär an einer vielbefahrenen Straße am Rande der Stadt. Die dunkelgrünen Klinker an der Fassade waren schon brüchig oder ganz ab und eines der Fenster zur Straße hin, war notdürftig mit Plastikfolie abgedeckt worden. Immer häufiger schlug man hier und da ein Fenster ein um einzusteigen und mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Meist verschwindet der Schnaps, manchmal auch der Inhalt von Rosmaries Kasse. Falls denn überhaupt was drin ist. Die Zeiten haben sich arg geändert. Früher war diese Gaststätte ein Treffpunkt um sich über Sport und Politik zu unterhalten, dabei Karten zu spielen und das eine oder andere Bier zu trinken. Es gab zwar immer mal Reibereien und es kam auch mal zu Handgreiflichkeiten, aber wenn Rosmarie dann auf den Tisch schlug, war entweder Ruhe oder man ging vor die Tür und dann waren die Fäuste die härtesten Argumente.
Will schmunzelte bei diesen Erinnerungen, als er eintrat. Die Kneipe war zwar immer noch urig, jedoch auch in der Zeit stehen geblieben. Das Mobiliar war abgenutzt und die Tapete, die mit Maiglöckchen gemustert war, fleckig und rissig oder zum Teil schon ab, sodass darunter die Ziegel zu sehen waren. Will setzte sich auf einen Barhocker und wunderte sich, dass er am späten Nachmittag alleine war. Früher war zu dieser Zeit schon ordentlich Betrieb und das Bier strömte aus der Leitung in die Gläser. Auch das hatte sich wohl geändert, wie so vieles. Anstatt sich in einer Kneipe gemeinsam über die Politik aufzuregen, glotzt man heute auf ein Smartphonedisplay und tritt in irgendwelchen Sozialen Medien Shitstorms los, die immerhin ein paar Sekunden Aufmerksamkeit ergattern. Natürlich ohne Bier, denn das ist nicht woke. Man trollt die Welt nüchtern, weil man sich in der Anonymität des Internets keinen Mut mehr antrinken muss.
»Will? Hallo Du…. Wie immer?«, begrüßte ihn Rosmarie, die aus der Küche kam und sofort zum Zapfhahn griff.
»Hallo Rosi«, lächelte Will Phiggen sie an ohne weitere Worte zu verlieren.
Rosmarie stellte vor dem Detektiv ein meisterhaft gezapftes Pils ab und Will erkannte die Altersflecken, die sich auf ihren Händen gebildet hatten. Tatsächlich erschien ihm Rosmarie älter als sonst oder war er nur in seinen Erinnerungen gefangen und wollte die voranschreitende Zeit nicht wahrhaben? Ihre blonden Haare von einst sind zu einem aschfahlen Grau verkommen, die Wangen eingefallen und im Gesicht haben sich die Jahre der Arbeit in dieser Kneipe in tiefe Falten eingegraben. Aber in ihren blauen Augen war immer noch jugendliches Leben drin.
»Na, was gibst? Warst lange nicht mehr da«, fragte die Wirtin.
»Was soll es geben? Im Leben nicht viel. Aber ich habe einen neuen Fall, der mich endlich mal fordert«, sagte Will und nahm einen Schluck Bier.
»Das ist doch mal was. Mensch, Will«, lachte Rosmarie dann los und zeigte auf seinen Bauch, »Du hast ganz schön zugelegt, mein Lieber.«
Indigniert schaute Will an sich herunter und erkannte in diesem Moment, wie lange er eigentlich schon nicht mehr hier war. Das muss Jahre her sein.
»Einbrecher?«, fragte Will dann ablenkend und deutete mit dem Kopf in Richtung des abgedeckten Fensters.
»Ja, wieder einmal. Langsam frage ich mich, ob es überhaupt noch Sinn macht, die Fenster reparieren zu lassen. Kaum ist das neue Glas drin, schlägt es schon wieder einer ein«, sagte Rosmarie.
»Was sagt die Versicherung? Brauchst Du eine Alarmanlage?«
»ICH?«, lachte Rosmarie laut auf, »Nein, viel zu teuer. Ebenso wie die Prämien für die Versicherung. Die spare ich mir seit langem. Das Geschäft läuft nicht mehr so gut und der meiste Schnaps, der hier verschwindet, geht eher durch das Fenster, als durch die Kehle der wenigen Gäste. Wenn ich nicht nächstes Jahr in Rente gehen würde – was ich zum Glück kann – dann würde ich schon dicht machen. Lohnt sich einfach nicht mehr.«
»OOOOOOOOMMMMAAAAAAAAAAAA«, schrie plötzlich aus der Küche ein Kind.
»Entschuldige mich mal kurz«, sagte Rosmarie zu Will und verschwand in der Küche.
Kurz darauf kam sie mit einem kleinen blonden Jungen wieder in den Schankraum und strahlte den Detektiven an.
»Will, das ist Joshi. Der Dreikäsehoch ist mein Enkel«, sagte die Wirtin mit Stolz in der Stimme und der Kleine winkte scheu, aber artig zur Begrüßung.
»Hallo kleiner Mann. Freut mich«, sagte Will ebenso artig und fragte sich selbst, ob er je etwas von Rosis Familie hörte. Wenn er ehrlich war, wusste er gar nicht, dass sie überhaupt Kinder hatte. Für ihn war sie nur immer Rosi hinter dem Tresen. Erstaunlich, dass man einer Person oft sein Herz ausschüttete, sie als Freundin ansah und nun feststellt, dass man eigentlich kaum etwas von ihr wusste. Und das wiederum warf in Will Phiggen die Frage auf, wie gut Jenny und Ophelia ihre Freundin Bibi wirklich kannten.
»Du bist schon Oma?«, fragte Will verwundert.
»Oh ja, wie Du siehst schon ein paar Jahre. Meine Tochter brachte gerade ihr Studium zu Ende, da war der Kleine da.«
»Du hattest mir nie erzählt, dass Du Kinder hast«, sagte Will Phiggen.
»Naja, musste ich das denn? Als Wirtin erzählt man anderes als solch private Dinge, findest Du nicht? Außerdem habe ich keine Kinder, sondern nur ein Kind. Eine Tochter, die mich aber mit Stolz erfüllt. Sie machte was aus ihrem Leben. Nicht wie ich«, sagte Rosemarie dann resignierend.
»Sag das nicht«, begann Will in tröstlichem Tonfall, »Du hast diese Kneipe die Jahrzehnte hindurch gehalten.«
Will wusste selber, dass das nur ein schwacher Trost ist. Die Kneipe zu halten war weder eine große noch eine besonders lukrative Leistung, aber dennoch muss auch das erst geschafft werden, was nicht vielen gelang. Wirte kamen und gingen, das einzige, was blieb, waren die Kneipen. Und selbst die waren in jüngster Vergangenheit vom Aussterben bedroht. Man streamte eben zuhause den Fussball und ging nicht mehr in die Kneipe, wo man gemeinsam vor dem Fernseher bei einem Bier die Spiele betrachtete, bejubelte und fachsimpelte.
»Ach Will«, seufzte Rosemarie, »es genügte um meine Tochter großzuziehen, auch wenn ihr Vater das Geld gab.«
Sie sagte das mit einer gewissen Abscheu in der Stimme, was Will sehr bekannt vorkam. In vielen seiner Fälle ging es oft um Alimente, die nicht gezahlt oder die eher als Schweigegeld gezahlt wurden. Uneheliche oder ungewollte Kinder ließen sich mit Geld immerhin vom Hals halten. Das war für den Detektiven nichts Neues.
»Was ist mit dem Vater?«, fragte Will und nahm einen Schluck Bier.
»Der? Ach um ehrlich zu sein, war es nur eine Affäre. Eine mit Folgen«, sagte Rosemarie achselzuckend. »Aber schöne Folgen. Er kümmerte sich um den Unterhalt. Was meine Tochter brauchte, bekam sie und alle 2 Monate fuhr sie zu ihm in die Schweiz. Letztlich war auch er es, der das Studium finanzierte. Das hätte ich nicht geschafft. Dafür war ich Mutter und gute Freundin für sie, die sie ins Leben begleitet und nun voller Stolz sieht, wie sie auf eigenen Beinen steht und …«
Rosemarie schwieg plötzlich und Will erkannte, dass ihr was auf der Seele lastete, traute sich aber nicht nun zu fragen, was es denn wäre. Er hielt es für schlauer abzuwarten, ob sie weiterredete oder nicht. Wenn sie ihm was anvertrauen wollen würde, dann würde sie es jetzt tun. Wenn nicht, würde er nicht weiter nachhaken.
»...na… und dann doch die selben Fehler machen, wie ich«, sagte Rosemarie dann niedergeschlagen und schaute Will mit traurigen Augen an.
»Welche Fehler?«, wollte Will Phiggen wissen und betrachtete Rosemaries Hände, die auf Joshis Brust lagen und die deutliche Altersflecken aufwiesen.
»Joshi ist ebenso ein Sproß einer flotten Bekanntschaft. Scheint in der Familie zu liegen«, sagte Rosemarie dann lächelnd.
Sie beugte sich zu dem Kleinen hinunter und sagte in mütterlichem Ton: »Magst Du weitermalen? Na geh schon. Wenn was ist, ruf mich einfach, ja?«
Der kleine Mann nickte, winkte Will zum Abschied und verschwand in der Küche.
»Bist Du nicht zu hart zu Dir selber?«, fragte Will Rosemarie. »Ich meine, Du hast eine Tochter großgezogen, die studiert hat. Das können nicht viele behaupten.«
»Ja… da magst recht haben und trotzdem… es hätte vieles anders laufen können...«
»Hätte«, unterbrach Will sie, »lief es aber nicht. Red Dich also nicht klein. Freue Dich über das, was Du erreicht hast. Nebenbei… was hat Deine Tochter denn studiert?«
»Informatik! Etwas, womit wir Alten nichts anfangen können«, lachte Rosemarie und Will fiel in das Lachen ein.
Es durchschnitt die traurige Atmosphäre, die im Raum schwebte und lockerte diese auf.
»Sie referierte damals über irgendeine Verschlüsselung. Das war das Lieblingsthema ihres Professors. Ein arroganter Fatzke, der sie aber stets unterstützte und sie bis zum Abschluss brachte.«
Will horchte auf.
»Ein Experte in Verschlüsselung?«, fragte er.
»Weiß ich nicht. Sowas in der Art. Sie erzählte damals von Geheimbünden und Geheimdiensten, die ihre Nachrichten verschlüsselten und wie wichtig das heute in der medialen Welt sei. Aber wie damals auch, wird jeder Code früher oder später geknackt, weswegen wir immer neue und bessere Methoden bräuchten. Das war so ziemlich der Kern dieser Forschungen. Also so habe ich das zumindest verstanden.«
»Interessant«, murmelte Will, »Ob ich wohl mal mit dem Professor sprechen könnte?«
»Das weiß ich nicht, aber ich frage meine Tochter mal, ob sie noch seine Nummer hat und schicke sie Dir dann, einverstanden?«
»Klingt gut«, sagte Will, leerte sein Glas und legte einen 10-Euro-Schein auf den Tresen. »Stimmt so und danke, Rosi. Man sieht sich.«
Will drehte um und verließ die Kneipe. Als er hinter dem Steuer seines Autos Platz genommen hatte, schaute er in den Rückspiegel und sich selbst in die Augen. Wollte er je Kinder haben? Will Phiggen, Familienvater, der Samstags den Rasen des Einfamilienhauses mäht. Der mit seinen Kindern spielt und durch den Garten tobt. Will dachte darüber nach, jedoch fühlte es sich für ihn vollkommen falsch an. Eigentlich kannte er von kleinauf keine Familie. Sicher, er hatte eine Mutter, die früh starb und einen Vater, der von früh bis spät arbeitete um sich und natürlich auch Will nebst seinem Bruder durchzubringen. Was wohl sein Bruder macht? Seit Jahren hatten sie keinen Kontakt mehr und Will stellte sich vor, dass sein Bruder dieser Familienmensch sein könnte. Der tagein tagaus ins Büro schlurft, seine Frau busselt, die ihm Kuchen backt und das Wochenende im Baseballstadion verbringt. Warum brach der Kontakt ab? Vielleicht genau deshalb, weil Will und sein Bruder nichts verband. Sie waren zwei Seiten einer Medaille. Der eine ist der unscheinbare Duckmäuser, der andere der Verwegene. Der sich als Detektiv durchschlug und … ja, und irgendwie scheiterte. Er war hier in Deutschland mehr oder weniger gestrandet. Fern der Heimat, die er irgendwie vermisste und trotzdem froh war, weit von ihr weg zu sein. Ein Paradox. Will dachte darüber nach, ob er sich in einem Hamsterrad befand oder ob er zufrieden mit seiner Situation war. Die Erkenntnis, dass Rosemarie Mutter und nun Großmutter war, traf ihn mitten ins Herz. Es veränderte sein Weltbild und in der Tat fühlte er sich plötzlich alt. Schlimmer noch, er fühlte einen Anflug von Depression und hatte plötzlich Lust auf Whiskey und Jazz. Den langsamen, schwermütigen, bei dem man seine Sorgen mit dem flüssigen Gold aus alten Fässern ertränken kann. Will startete den Motor und fuhr direkt nach Hause. Genauso sollte dieser Tag enden.
Durch das chaotische Wohnbüro des Detektiven klang kratzend von einer abgenutzten Schallplatte ein schwermütiger Jazz. Will hatte es sich in seinem speckigen Ledersessel gemütlich gemacht, aß ein Leberwurstbrot und trank dazu einen Whiskey, den er typisch amerikanisch mit Eiswürfeln streckte. Seine Gedanken kreisten immer noch um Rosemarie, die sich ihm nun in einem völlig anderen Licht zeigte. Als fürsorgliche Oma und nicht als resolute Wirtin, die Zechprellern und Haudraufs die Tür weist oder ihnen gar einen Gerichtsvollzieher ins Haus schickt. Er konnte es noch immer nicht glauben. Er stellte den leeren Teller zur Seite, trank den letzten Schluck „flüssiges Sonnenlicht“, wie George Bernard Shaw den Whiskey einmal nannte, schloss die Augen und lauschte der Musik. Dass ihn dabei der Schlaf übermannte, bekam Will gar nicht mehr mit.
***
Das Piepen seines Smartphones schreckte Will Phiggen aus dem Schlaf. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er sich orientiert hatte und schmerzhaft feststellte, dass er die Nacht im Sessel verbracht hatte. Die Schallplatte war verklungen und die Sonnenstrahlen, die wie Lichtschwerter die staubige Luft des Büros durchschnitten, stachen ihm in die Augen. Kaum, dass diese ein klares Bild hatten, erblickten sie auf dem Display des Smartphones eine Nachtricht von Rosemarie. Will tippte mit dem Finger darauf und las die Nummer von Prof. Kreuzstein, den er mal anrufen sollte, aber sich auch vorsehen, denn der Herr Professor sei von „seltsamen Gemüt“. Was das heißen sollte, konnte sich Will schon denken. Fast jeder dieser Akademiker hatte einen besonderen Hau. Entweder zerstreut oder arrogant, manche beides zugleich. Aber damit konnte Will umgehen. Viele seiner Klienten waren da nicht anders. Er kopierte die Nummer in seine Telefonliste und wuchtete seinen Körper aus dem Sessel, wobei seine Gelenke laut knacksten und Will schmerzhaft das Gesicht verzog, weil seine Hüfte und sein Rücken durch das Schlafen im Sessel völlig verspannt waren. Als erstes setzte er sich einen Kaffee auf und solange dieser gurgelnd durch die Maschine lief, räumte er ein bisschen auf. Teller und Glas in die Spüle, danach die Milch kontrollieren, ob sie noch gut war und einen prüfenden Blick in die Zuckerdose werfen. Mit dem ersten Schluck Kaffee erwachten Wills Lebensgeister und die Rädchen im Gehirn begannen zu rattern. Es fühlte sich an, als ob ein lange eingerosteter Mechanismus wieder zum Leben erweckt würde und das wiederum führte Will sein Alter, das ihm gestern abend noch Sorge bereitete, vor Augen. Er fühlte sich tatsächlich gealtert, nachdem er Rosi als Oma sah. Die Zeit rannte an ihm vorbei ohne, dass er davon wirklich Notiz nahm. Er ging ins Bad, zog sich aus, drehte das Wasser der Dusche auf und warf einen Blick in den Spiegel. Nun sah er sogar, wie alt er wurde. Das heißt, den Anblick kannte er zwar, aber nahm ihn nie wahr. Innerlich fühlte er sich immer noch jung und würde sich als Mitte 30 bezeichnen, was er nur eben nicht mehr war. Das Haar schütter, die Wampe größer und schlaffer denn je, die Backen hingen und in seine Stirn waren tiefe Falten gegraben. Die Augen dunkel umrändert, die Lippen spröde. Will erkannte sich als alten Mann wieder. Eine Erkenntnis, die ihn schier depressiv werden ließ. Er wischte die schlechten Gedanken beiseite, stellte sich unter den Wasserstrahl, der seinen Körper pötzlich wieder agil und fit anfühlen ließ und wusch sich alles ab. Nicht nur den Schmutz, auch die schlechten Gedanken.
Ganz entgegen seinen Erwartungen verlief das Telefonat mit der Sekretärin von Prof. Kreuzstein ruhig und flüssig. Lange um einen Termin bitten musste Will nicht. Die ausgesprochen freundliche Dame machte ihm für den Nachmittag einen Termin, zu dem ihn der Herr Professor empfangen würde und Will sagte umgehend zu. Das bedeutete für ihn, dass er den halben Tag zur Verfügung hätte und er es langsam angehen könnte.
»Ja, alter Mann«, sagte Will zu sich selbst, »mach langsam!«
Die Bitterkeit dieser Worte überraschte ihn selber, doch was sollte er machen? Das Alter konnte auch er nicht aufhalten. Tempus fugit – Die Zeit verfliegt. Nie hatte Will es mehr bemerkt als in diesem Augenblick. Das Knurren seines Magens hingegen, war so laut wie eh und je und der Detektiv beschloss, erstmal was essen zu gehen.
Unweit seines Wohnbüros befand sich eine Metzgerei, deren Imbiss auch einen Tagestisch anbot. Durchaus auch für den kleinen Geldbeutel geeignet. Will Phiggen gönnte sich einen Teller Schnitzel natur in einer Sahnesosse mit Salzkartoffeln und Rosenkohl, balancierte das Tablett an einen der freien Tische, ließ sich schwerfällig auf den Stuhl plumpsen und begann zu essen. Jedoch nur sehr oberflächlich, denn seine Gedanken kreisten heftig um den ominösen Fall STIPIUS und um die leise Hoffnung, dass der Professor ihm weiterhelfen könne. Das Essen schmeckte Will gar nicht, das heißt, er kaute nur mechanisch und stopfte sich die Nahrung rein, ohne sie zu genießen oder gar ihr Aroma wahrzunehmen. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er nicht einmal bemerkte, wie er mit dem Gabel auf den leeren Teller einstach. Erst als eine Frau am Nebentisch ihn fragte, ob es ihm geschmeckt hätte, wachte Will auf und schaute sie verdutzt an.
»Oh, ja… ja… es… war gut«, stammelte er in die Richtung der Frau, legte das Besteck auf den Teller, stand auf und trug das Tablett zu dem Rollschrank, in den er es für den Abwasch stellte. Eilig verabschiedete sich Will vom Personal und ging zu seinem Auto. Er konnte es kaum erwarten, endlich den Professor zu sprechen.
Das Büro von Professor Kreuzstein sah genauso aus, wie es Will erwartete. Der Schreibtisch quoll über vor angestaubten Akten, die irgendwie den PC, der darunter wohl verborgen war, erdrückten. Ein Bücherregal war über die gesamte Wand und bis zur Decke vorhanden, vollgestopft mit abertausenden Büchern. Die Regalböden bogen sich unter der Last durch. Das ganze Büro hatte den Mief vergangener Zeiten, den Will allerdings sehr mochte. Er war auch kein Freund des schnellen Wandels und bewahrte lieber das, was man hatte. Altmodisch? Altertümlich? Konservativ, ja… aber er war durchaus für Neues empfänglich und aufgeschlossen, auch wenn er es dann meist ablehnte. Neugierig betrachtete Will ein Foto, das an der Wand hinter dem Schreibtisch über einer Art Altar für Sportutensilien angebracht war. Ein goldener Pokal in dessen Mitte, daneben zahlreiche Medaillen und Anstecknadeln. Der Herr Professor war also ein Fan des Fussballs und wohl auch einer der Spieler, die auf dem Gruppenfoto zu sehen waren. Eigentlich erwartete Will keinen Sportler, sondern eher einen verknauserten kleinen buckligen Kerl in Strickweste und mit dicker Hornbrille. Einen athletischen Professor hatte er nicht erwartet.
»Herr Phiggen?«
Will Phiggen drehte sich um und sah die hagere Gestalt von Professor Kreuzstein ins Büro kommen. Die eiskalten blauen Augen des graumelierten Mannes musterten den Detektiven abschätzig.
Der Professor zeigte mit der Hand auf einen hölzernen Stuhl vor dem Schreibtisch. »Setzen Sie sich!«
Wie ein Kommando!, dachte sich Will. Sehr unfreundlich, aber das ließ er an sich abprallen und setzte sich auf das unbequeme Möbel.
»Nun, meine Sekretärin sagte mir, dass Sie Hilfe bei einem Fundstück oder so etwas brauchen?«, eröffnete Professor Kreuzstein die Unterhaltung und setzte sich zugleich in seinen Chefsessel hinter dem Schreibtisch.
»Um es kurz zu machen, ja«, sagte Will und holte aus der Tasche den Zettel heraus, auf dem in verwaschenen Lettern STIPIUS gekritzelt stand. »Es geht um diesen Zettel hier. Er dürfte das wichtigste Indiz für den Verbleib einer jungen Frau sein. Gefunden habe ich ihn in einer Schachtel, die von dieser Frau für alle Fälle deponiert wurde. Meine Vermutung ist, dass es sich bei STIPIUS um eine Organisation oder etwas ähnliches handelt, die mit dem Verschwinden der Frau zu tun haben. Jedoch finde ich beim besten Willen keine weiteren Informationen oder Anhaltspunkte...«
Professor Kreuzstein lachte laut auf und unterbrach damit den Redefluss von Will Phiggen, der den Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches verwundert ansah.
»Mich wundert es nicht, wenn ein Kleingeist wie Sie hier an die große Sache denken. Das wünschen Sie sich wohl, oder? Vor lauter Sensationslust sehen Sie nicht, was Sie sehen sollten!«
»Wie meinen Sie das?«, fragte der Detektiv.
»Tut Ihnen das Denken weh oder warum weigern Sie sich, den grauen Schwamm in ihrem Kopf zu benutzen – falls das überhaupt im Rahmen des Möglichen liegt?«
Will wurde rot. Nicht vor Scham, sondern vor unterdrücktem Zorn über diesen arroganten Herrn Professor! Was erlaubte der sich eigentlich, wie er mit ihm reden konnte?
»Glauben Sie mir, Herr Professor«, Will betonte besonders abwertend das Herr Professor und freute sich über die Reaktion von Kreuzstein, als er sah, dass er ihn durchaus damit sticheln konnte, »ich habe viele Recherchen gemacht und mir diesen Zettel lange angesehen und sehr lange darüber nachgedacht. Wenn ich zu einer Erkenntnis gekommen wäre, würde ich nicht hier sitzen und Sie um Rat fragen.«
»Natürlich. Man muss den Unwilligen alles vorkauen, damit sie es leichter haben. Aber gut, nur damit ich Ihre Anwesenheit nicht länger ertragen muss, beuge ich mich und helfe Ihrem Miniaturverstand auf die Sprünge. Sehen Sie das?«, sagte der Professor und hielt Will den Zettel vor.
Will Phiggen sagte nichts, zuckte nur mit den Achseln.
»Ach ja«, seufzte Prof. Kreuzstein dann unwillig, »die Welt nimmt mal ein schlimmes Ende. Also, ich werde es Ihnen zeigen. Ganz langsam, damit auch Sie es verstehen.«
Mit diesen Worten nahm der Professor eine kleine Schale und füllte etwas Wasser hinein. Danach riss er von seinem Notizblock ein Blatt Papier ab und malte mit einem Filzstift in das untere Drittel des Blattes genau fünf senkrechte Striche. Dabei malte er den mittleren Strich etwas kürzer als die anderen. Nun faltete er das Papier in der Mitte, damit er es mit einem v-förmigen Grundriss in die wassergefüllte Schale stellen konnte.
»Nun, was sehen Sie nun?«, fragte Professor Kreuzstein Will Phiggen, nachdem das Papier im Wasser stand.
»Ja… was?… es saugt sich voll«, stellte Will fest.
Professor Kreuzstein schüttelte missbilligend mit dem Kopf. »Auweh… schauen Sie hin!«
Will betrachtete das Blatt Papier, das sich immer mehr mit dem Wasser vollsog. Schön von unten stieg das Wasser, das das Papier dunkler werden ließ empor und löste dabei die Farbe des Filzstiftes auf. In langen Schlieren zogen sich diese senkrecht entlang und entfalteten ein nettes Farbenspiel, da sich die Zusammensetzung der Tinte auflöste.
»Na?«, drängte der Professor.
»Die Farbe? Löst sich auf?«, fragte Will unsicher wie ein Schüler.
»Fällt Ihnen daran nichts auf?«, wollte Kreuzstein wissen und wartete eine Antwort gar nicht erst ab. »Schauen Sie hier auf ihren Zettel, den Sie mir gaben und vergleichen Sie.«
Will schaute abwechselnd die beiden Zettel an. Die Striche des Professors verliefen in ähnlicher Weise wie die Buchstaben auf dem STIPIUS-Zettel, aber worauf der Professor hinauswollte, war Will immer noch nicht klar. Das bemerkte auch Professor Kreuzstein und er tippte mit dem Stift auf den mittleren, kürzeren Strich. Dieser zog sich natürlich nicht genauso hoch wie die anderen 4 Striche, die diesselbe Höhe hatten und deren Farbe in selbem Maße verliefen.
»Das erste I?«, fragte Will.
»Na, scheinbar gibt es doch noch Hoffnung bei Ihnen. Ich dachte schon, Ihr Intellekt wäre ungefähr so hoch wie die Teppichkante. Was Sie hier sehen, nennt man schlicht den Kapillareffekt. Die Fasern des Papiers ziehen das Wasser empor und die Tinte verdünnt sich. Das Wasser zieht sich aber gleichmäßig durch das Papier und die Tinte verläuft ebenso gleichmäßig. Daraus folgt, dass der mittlere Strich, der ja kürzer als die anderen ist, nicht so hoch verläuft, wie die anderen. Und nun betrachten Sie sich ihren Zettel nochmal.«
Nun fiel es Will wie Schuppen von den Augen. »Das… das heißt gar nicht STIPIUS?! Das… hieße ja… dann…. Ja, was? ST.PIUS?«
»Was es genau heißt, wird ihr kleines Gehirn vielleicht eines Tages herausfinden. Für mich ist das Thema aber durch. Es ist weder ein Code, noch irgendein Geheimnis oder Organisation. Um ehrlich zu sein, ist es nichts, was mich auch nur im Geringsten interessieren würde. Und nun zu einer letzten Frage, Herr Phiggen«, sagte Professor Kreuzstein mit einem arroganten Grinsen im Gesicht, während er in Richtung Tür zeigte, »Sehen Sie das? Hier ließ der Maurer das Loch, durch das Sie verschwinden dürfen. Guten Tag!«
Will Phiggen war außer sich vor Wut. Wäre das irgendjemand gewesen, hätte er schon längst seine Faust im Gesicht gehabt, aber der Professor half ihm weiter – entgegen aller Widerstände. Seine Arroganz war zwar ekelhaft, aber am Ende half er ihm doch weiter. Somit schluckte Will seinen Groll herunter und erhob sich.
»Auf Wiedersehen«, raunte der Detektiv dem Professor im Vorbeigehen zu.
»Hoffentlich nicht«, spie der ihm noch nach und warf die Tür zu.
Innerlich brodelte es in Will wie in einer Magmakammer kurz vor Ausbruch des Vulkans. Um nicht auf dem Campus irgendwelche Flüche oder Beleidigungen lautstark von sich zu geben, beeilte er sich, möglichst schnell in sein Auto zu kommen. Hastig öffnete er die Tür, sprang hinter das Steuer, warf die Tür zu und ließ seinem Ärger freien Lauf, dass die Scheiben nur so bebten.
Nach dieser Erleichterung holte Will einmal tief Luft, schnappte sein Smartphone und wählte Jennys Nummer.
»Frau van Keks? Will Phiggen hier. Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Es gibt Neuigkeiten und ich bräuchte dazu nochmal ihre Hilfe«, sagte der Detektiv, nachdem sich Jenny meldete.
»Ja, gut… dann kommen Sie doch am besten vorbei. Aber nicht Zuhause. Ich bin bei Ophelia. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann kommen Sie dahin«, sagte Jenny.
»Das passt sogar sehr gut, denn dann habe ich beide auf einen Streich«, lachte Will merklich beruhigter, »Ich bin dann gleich da. In rund einer Viertelstunde, ja?«
»Nur zu, wir warten auf Sie«, flötete Jenny mit einem Grinsen im Gesicht.
»Immer herein, Herr Phiggen«, begrüßte Ophelia den Detektiven, der es ausnahmsweise mal schaffte seine Zeitansage einzuhalten und nickend an Ophelia vorbei in das Büro ging, wo Jenny auf einem Sessel saß und in einer Zeitschrift blätterte.
Will fiel auf, dass es sich um ein Fachblatt für Astronomie handelte, was ihn schon erstaunte, denn er hätte nicht vermutet, dass die Autorin für Liebesdramen sich mit solch einer Materie befasst. Er begrüßte auch Jenny und setzte sich ebenfalls in einen der Sessel, während Ophelia ihren massigen Leib wieder hinter dem Schreibtisch platzierte.
»Sie lesen so etwas?«, fragte er Jenny und zeigte dabei auf das Magazin.
»Warum denn nicht?«, kam von ihr schnippisch die Gegenfrage.
»Hätte nicht gedacht, dass Sie das interessiert«, sagte Will achselzuckend.
»Naja, so wirklich auch nicht«, lachte Jenny los, »aber ich lese es aus Recherchegründen für meinen neuen Roman, dessen Handlung auch um die Entwicklung des James-Webb-Teleskops geht. Das heißt, die Protagonisten haben damit was zu tun. Es ist nicht die Hauptsache des Romans und ich denke nicht, dass meine Leser viel davon wissen wollen, aber es würzt die Geschichte und vielleicht sind auch genau diese Infos das Quentchen, das man braucht um erfolgreich zu sein?«, sagte Jenny.
»Natürlich...«, sagte Will nur knapp und schaute vor sich auf den Boden.
»Aber nun zu den wichtigen Sachen«, warf Ophelia ein, »Sie sagten, Sie hätten Neuigkeiten?«
»Oh ja, also...«, Will Phiggen erzählte von seiner Begegnung mit Prof. Kreuzstein und geizte auch nicht mit Anmerkungen über dessen arrogante Art, »...doch am Ende half er mir dennoch weiter, denn STIPIUS war falsch. Ja, und nun würde mich interessieren, ob Sie etwas mit ST PIUS anfangen können?«
Jenny van Keks legte den Zeigefinger ans Kinn und dachte nach, auch Ophelia wiegte ihren Kopf hin und her, als ob sie es dadurch begünstigen würde, dass der Groschen fällt. Was es wohl tat, denn plötzlich haute sich Ophelia mit der Hand gegen die Stirn.
»Aber ja, natürlich!«, rief sie aus und sowohl Jenny, wie Will sahen sie fragend an. »Das heißt Sankt Pius, also geschrieben St. Pius. Jenny, denk doch...«
Ophelia stand auf und holte eine Fotografie hervor, die Jenny, Ophelia und Bibi auf einer Alm zeigte. Im Hintergrund verschwommen war im Tal ein Turm zu sehen.
»Aber ja doch… das Kloster!«, rief nun auch Jenny.
»Wissen Sie, Herr Phiggen«, erklärte Ophelia, »wir waren öfters in Tirol und der Ort, zu dem diese Alm gehört, ist neben dem Kloster St. Pius. Aber das Kloster ist schon lange verlassen. So weit ich weiß waren die letzten Mönche – oder waren es Nonnen? - in den 1960er-Jahren da. Das Kloster ist verlassen. Nur der Turm der Kirche schlägt noch die Uhrzeit… zumindest war das mal so.«
»Und Sie meinen, Bibi ist nun da?«, fragte Jenny.
Will Phiggen zuckte mit den Achseln und meinte: »Es ist der einzige Hinweis den wir haben. Wissen Sie, ob wir mit dem Kloster Kontakt aufnehmen können?«
»Nein«, sagten gleichzeitig beide wie aus einem Mund.
»Aber Sie wissen, wo es ist, richtig?«, fragte Will.
»Ja«, kam es wieder gleichzeitig von beiden zur Antwort.
»Na, dann los, meine Damen«, sagte Will, erhob sich und ging voraus zur Tür, »Wir machen eine Fahrt!«
Jenny und Ophelia warfen sich kurz einen Blick zu, nickten und schnappten ihre Taschen. Kurzentschlossen folgten sie Will Phiggen zu seinem Auto. Jenny ließ sich in einer eleganten fließenden Bewegung auf den Beifahrersitz nieder, während Will Ophelia die Tür zum Fond öffnete. In Wills Kopf kam die Frage auf, ob er Ophelia überhaupt durch die Öffnung ins Auto bekommen würde, selbst wenn er schieben würde, meinte er, dass es eng wird. Dazu die Sorge, ob seine Hinterachse ihr Gewicht überhaupt aushalten würde. Doch zu seinem Erstaunen schlüpfte Ophelia relativ problemlos auf die Rücksitzbank und richtete sich dort für die Fahrt ein. Will schloss die Türe, setzte sich hinter das Steuer, startete den Motor und sagte: »Na, dann woll’n wa ma!«
Während der Fahrt zog sich der Himmel bedrohlich zu. Ein Unwetter kann zwar im Auto nicht wirklich schaden, aber auf langer Fahrt war das nun auch unangenehm. Die Wolken wurden dunkler, fast schwarz, es stoben starken Böen herum und der Regen wurde stärker und stärker. Bevor die Autofahrt durch den fast sintflutartigen Wolkenbruch gefährlich wurde, da auch Wills Reifen nicht im besten Zustand waren, entschloss man sich zu einer Pause an der nächsten Raststätte. Kaum parkten sie das Auto und huschten über den Platz in das Gebäude, nahm das Unwetter so richtig Fahrt auf. Der Regen klatschte mit ungeheurer Wucht, durchsetzt von Hagelkörnern herunter. Der Sturm peitschte diese Mischung gegen die Fensterscheiben, die sich bedrohlich bogen. Die Drei waren froh nicht da draußen in dieser Apokalypse zu sein. Sie tranken lieber Kaffee, während Ophelia mehr den Apfelkuchen im Auge hatte und lieber gleich zwei Stücke aß. Natürlich nur auf den Schreck des Unwetters wegen. Man muss ja die Nerven beruhigen. Jenny erzählte Anekdoten von früher, was man dort auf der Alm alles trieb, wobei ihr aus Versehen auch herausrutschte, was man nicht ganz jugendfreies trieb und schmunzelte über die roten Wangen von Will, der im Grunde doch noch Amerikaner und in derlei Dingen eher verklemmt war. Trotzdem hörte er aufmerksam zu und sortierte in Gedanken die Informationen, die er dadurch gewann, selbst wenn er nicht sagen konnte, welche davon von Nutzen wären oder nicht. Erst, wenn er sie brauchen würde, wüsste er es. So verging auch die Zeit und draußen beruhigte sich das Wetter. Es klarte sogar ausgesprochen schnell wieder auf und man machte sich an die Weiterfahrt. Erneut war Will erstaunt, wie leicht Ophelia auf die Rücksitzbank kam, aber ihm sollte das nur recht sein. Als Letzter setzte er sich hinter das Lenkrad, startete den Motor, setzte zurück und fuhr mit den Worten: »Nächster Halt: St. Pius« auf die Ausfahrt zur Autobahn zu.
***
Pittoresk lag das Dorf in dem Tal eingebettet. Urige Bauernhäuser um den obligatorischen Brunnen herum, Weiden die sich die Hänge der Berge hinaufzogen, wo sich die Almen in der Berglandschaft verloren. Die grauen Felsmassive hoben sich gut vom blauen wolkenfreien Himmel ab und das saftige Grün der Wiesen strahlte, wie in bester Werbung. Der Ort schien ein verschlafenes Nest zu sein, denn außer einem alten Mann, der auf einer Bank vor dem Rathaus saß, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Will überlegte, ob er kurz am Gasthof halten und sich nach einer Übernachtungsmöglichkeit erkundigen sollte, verwarf den Gedanken aber, denn der Turm des Klosters war schon am Rand des Ortes zu sehen und er wähnte sich am Ziel seiner Aufgabe. Also trat er ein letztes Mal aufs Gaspedal und fuhr schnurstracks zum Kloster.
»Das ist es«, sagte Jenny noch, als das alte Anwesen immer näher kam.
»Was ist denn das?«, fragte Ophelia verwundert.
Will steuerte das Auto durch den großen Torbogen in den Innenhof der Anlage. Alle Drei trauten ihren Augen nicht. Es tanzten ausgelassen zu lauter fröhlicher Musik bunt gekleidete Menschen herum, lachten und tranken, wie auf der tollsten Party.
»Was ist denn hier los?«, murmelte Will Phiggen, der ebenso wie Jenny und Ophelia vor Staunen den Mund nicht zu bekam.
Plötzlich tanzte eine nackte Frau mit einem Federschmuck auf dem Kopf an die Autotür heran und klopfte gegen das Fenster. Will kurbelte die Scheibe herunter und starrte die Nackte an.
»Jo, wos machst ihr denn da? Ihr seht gar net aus, als ob ihr feiern wollt’«, fragte sie lachend, doch tanzte sie plötzlich wieder zurück zu den vielen anderen Menschen, die mehr oder weniger bunt und durchgeknallt gekleidet waren.
Die Drei verließen das Auto und schauten sich die Wände des Klosters an. Will bemerkte die Regenbogenfahne, die man auf der Innenseite über dem Torbogen anbrachte und langsam dämmerte ihm alles.
»Kommt, trinkt was…. Auf gehts!«, lachte die Nackte, die wieder bei Ophelia, Jenny und Will war und drückte ihnen jeweils eine kleine Flasche mit irgendeinem bunten Cocktail in die Hand. Als sich Jenny artig bedanken wollte, bekam sie von der Nackten einen kräftigen Klaps auf den Hintern, bevor sie sich mit einer Pirouette abdrehte und wieder zu den anderen Feiernden tänzelte.
»Eine …. äh… seltsame Person...«, meinte Ophelia.
Jenny nahm einen Schluck des Cocktails und nickte nur.
Will hingegen ging direkt zu der Gruppe Feierwütiger und fragte sich durch, wobei er den meisten direkt ins Ohr schreien musste, weil die Musik arg laut war. Als dann einer verständig nickte und kurz verschwand, kam Will lächelnd zu Ophelia und Jenny zurück.
»Haben Sie was erfah….«, begann Ophelia, doch wurde jäh durch einen Schrei unterbrochen.
»Jennnnnyyyyyyyyyyyy! Ophiiiiiiiii!«, hörte sie freudig Bibi rufen, die auf riesigen Highheels in einem engen Lederdress über den Hof gelaufen kam und ihre Freundinnen zur Begrüßung in den Arm nahm.
Will stellte sich beiseite und genoß diese herzliche Wiedersehensfreude. Sowohl Jenny, wie auch Ophelia lagen sich fast weinend mit Bibi in den Armen und auch Will freute sich, Bibi bei so guter Laune zu sehen. Auch wenn er sie nicht kannte und zu Beginn seiner Ermittlungen vom Schlimmsten ausging.
»Sag mal, Du Luder«, begann Jenny dann zu schimpfen, »was fällt Dir eigentlich ein einfach so zu verschwinden?«
»Ja, aber echt mal!«, maulte auch Ophelia los, »Wir waren krank vor Sorge!«
»Ah geh, i waas…. Awa…. «, begann Bibi, die sich kleine Freudentränen aus den braunen Augen strich, »ich brauchte dringend eine Auszeit. Zeit für mich. Ich bin damals einfach los. Von jetzt auf nachher. Nur Bargeld und ein paar Klamotten. Kein Handy, kein Garnix. Ohne Ziel und Plan… einfach weg. Ja und irgendwie landete ich dann hier. Wollte auf die Alm, einfach Ruhe. Da sah ich das Kloster und dass es von einem schwul-lesbischen Verein übernommen wurde. Sie betreiben hier nun den Regenbogenhafen. Ein Zufluchtsort für alle, die Probleme mit ihrem Coming-Out haben oder dadurch haben. Hier bekommen sie alle Hilfe und damit man sieht, dass man trotzdem Freude am Leben hat, geht hier die Sause ab.«
»Du hättest doch was sagen können!«, maulte Jenny.
»Eh, awa i … ich hatte soviel Spaß hier… da …. okay, ich gebe zu, das war falsch. Aber wisst ihr was? Schwamm drüber… ihr seids jetzt hier und wir machen einen drauf. Kommt!«, sagte Bibi und schnappte die beiden an der Hand.
Sie zog sie förmlich mit in den Pulk der Feiernden und tanzte wie von Sinnen los. Jenny fiel in den Tanz ein, alleine aus Freude über das Wiedersehen, selbst Ophelia wiegte ihre Pfunde im Takt der Musik. Will Phiggen lehnte sich gegen den Kotflügel seines alten Autos und schaute den Damen zu. Er starrte sogar auf die knackigen Pobacken von Bibi, die in der Lederkluft ausgesprochen betont wurden und dachte sich nur seinen Teil. Er ging in Gedanken nochmal die letzten Tage durch. Rief sich ins Gedächtnis, dass sie vor einem gewalttätigen Mann floh. Stets in Angst vor ihm lebte. Vielleicht hörte die Flucht gar nicht auf, sondern setzte sich nur immer weiter fort, bis sie letztlich hier im Regenbogenhafen landete. Vielleicht gehörte sie auch schon immer hier hin, selbst als das Kloster nur eine verlassene Ruine war? Noch nicht reif für diese Bestimmung? Gibt es Bestimmung? Gibt es sowas wie einen göttlichen, vorbestimmten Plan, den jeder hat? Ist das das, was man Schicksal nennt? Und wenn dem so wäre, wäre es dann nicht egal, was man - egal wie - machen würde? Ist man nicht Schmied seines eigenen Glücks? Oder schmiedet man nur, was schon längst fertig ist und beult nur hier und da was aus? In Wills Kopf kreisten die Gedanken und je mehr er diese zuließ, umso mehr dachte er plötzlich an Rosi und ihren Enkel, dachte an seinen Bruder, der fernab lebte, dachte an sein eigenes Leben.
Die Gedanken, die ihn schwermütig werden ließen, unterbrach Jenny, die plötzlich – ohne dass Will es merkte – vor ihm stand und sagte: »Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Herr Phiggen. Sie haben Bibi tatsächlich gefunden.«
Mit diesen Worten reichte sie ihm einen weiteren Cockail, den er dankend annahm.
»Wir haben eben beschlossen, dass wir ein paar Tage hierbleiben«, sagte Jenny. »Wenn Sie möchten, dann bleiben Sie als unser Gast auch hier. Setzen Sie ihre Kosten einfach auf die Rechnung.«
»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Frau van Keks«, sagte Will seufzend, »aber das ist nichts für mich. Nehmen Sie das nicht persönlich. Es hat nichts mit Ihnen oder Ihrer Anwesenheit zu tun. Im Gegenteil. Die habe ich durchaus genossen, wenn ich das sagen darf. Aber, es sind … ach, ich … sollte nach Hause.«
»Das kann ich sogar verstehen. Haben Sie vielen Dank für alles, was Sie taten. Gute Heimreise«, sagte Jenny.
»Danke. Ich werde dann mal...«, sagte Will Phiggen, der sich umdrehte, die Autotür öffnete und sich dann nochmal zu Jenny wandte, »Frau van Keks?«
»Ja?«
»Rechnung folgt«, lachte Will, salutierte wie ein amerikanischer Soldat zum Abschied, setzte sich hinter das Lenkrad, schloss die Tür und ließ den Motor an.
Jenny lachte, nickte dann zum Einverständnis und winkte Will Phiggen nach, als er den Klosterhof verließ und sich die Lichtkegel seines Autos in der hereinbrechenenden Nacht verloren.
E N D E
https://old.bookrix.de/_ebook-fizzy-lemon-jenny-holmes-und-das-vermaechtnis-der-indischen-lampe/
Texte: Fizzy Lemon
Cover: Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2024
Alle Rechte vorbehalten