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DIE LEBENDE MUMIE

Max Winter

DIE LEBENDE MUMIE

 

 

 

 

 

1929

 

E. Laubsche Verlagsbuchhandlung G.m.b.H.

Berlin W30

DAS HAUS DER LEBENDEN MUMIE

In dem Kreisgesundungshaus im Föhrenwald mußte etwas Besonderes vorgegangen sein. Mit feierlich ernsten Gesichtern gingen die Pflegeschwestern umher. Die Ärzte gingen nicht nur grüßend aneinander vorüber wie im Alltag, sie blieben stehen und tauschten einige Worte. Auch aus ihren Mienen sprach, was sich auf den Gesichtern der Schwestern widerspiegelte: Freude und ernste Besorgnis zugleich.

»Haben Sie schon gehört, junger Freund? Sie ist zum Leben erwacht. Ich komme gerade von ihr...«, sagte der Professor zu dem jungen Arzt, der ihm auf einem Waldweg begegnet war. »Jetzt wird es ernst. Bisher war die Mumie für uns nur ein Phänomen, eine seltsame Erscheinung, ein Mensch, abgemagert zum Gerippe, ohne Bewegung, der aber nicht erkalten wollte, und dessen Herz schlug -- aber nun hat er nach hundertjährigem Schlaf die Augen aufgeschlagen, und nun ist es...«, der Professor legte sein Gesicht in ernste Falten, »keine Erscheinung mehr ... nun ist die lebende Mumie zum lebenden Menschen geworden, und nun muß unsere schwache Kunst her, das zarte Fünkchen Leben anzufachen.« Bald wäre der Alte poetisch geworden.

»Marianne ist nicht einen Augenblick von seinem Bette gewichen, seit er die Augen aufgeschlagen hat. Sie hat noch keinen Schritt aus der Villa gemacht.«

So hießen die Ärzte des Gesundungsheims den einsamen Pavillon, dessen einziger Tag und Nacht behüteter ständiger Bewohner seit zwanzig Jahren die 'lebende Mumie' war. Auf dem Plan der Anlage führte die Villa den Namen: »Haus der lebenden Mumie«, wie andere Häuser des in dem Föhrenwalde verstreuten Gesundungshauses örtliche Flurnamen trugen, wie das »Haus am Geyereck«, das »Dreiföhrenhaus«, das »Haus am Waldteich«. Die Gesundheitsverwaltung hatte längst mit der alten Art gebrochen, die einzelnen Häuser, die kranke Menschen dem Leben wiedergewinnen sollten, mit Nummern zu bezeichnen.

Ehe Richard Fröhlich in dieses Haus gebracht worden war, hatte es »Waldzauber« darum geheißen, weil es fast ganz von der Waldschlingrebe mit ihren duftig zarten Blütenballen verkleidet war; bis auf das Dach kroch die Clematis. Wie wenn Millionen silbergraue Schneeballen an zarten Stielen über das Häuschen kletterten, so sah es aus. Das Dunkelgrün des Föhrenwaldes gab einen prächtigen Hintergrund.

Was es durch seinen zauberhaften Liebreiz von außen versprach, das hielt es innen. Es war ein einstöckiges Häuschen mit vier Räumen, die ein halbes Dutzend Stufen über dem Erdboden lagen. Der Hauptraum hatte zwei Fenster, sie lagen nach dem Süden. Alles war reich von Sonnenlicht durchflutet.

Seit zwanzig Jahren lag hier der ewige Schläfer Richard Fröhlich, nachdem er schon achtzig Jahre vorher in verschiedenen großstädtischen oder Universitätsgesundungsheimen gelegen hatte, ohne aus dem Betäu- bungsschlaf geweckt werden zu können, in den er im Jahre 1925 verfallen war. Er war einer jener jungen Stürmer, die sich einem Lufttorpedo anvertraut hatten, um damit womöglich in die Anziehungszone eines andern Gestirns zu geraten, und war dann mit dem Torpedo von malayischen Fischern gerettet worden. Die berühmtesten Ärzte mühten sich vergeblich, Richard Fröhlich wieder zum Leben zurückzuführen.

Seither waren genau hundert Jahre vergangen, und was am Anfang so erschien, als möchte die Natur den Menschen sehr bald wieder einen Ausweg zeigen, das wuchs im Laufe der Tage, Wochen, Monate und später Jahre und Jahrzehnte immer mehr zum schier unlösbaren Rätsel, das dem menschlichen Geist, der ärztlichen Kunst gestellt war. Und Phänomen und Problem blieb Richard Fröhlich die ganzen hundert Jahre hindurch. Drei Menschenalter hindurch währte schon sein Schlaf, aus dem ihn die tägliche ärztliche Untersuchung, aus dem ihn die Waschungen, die leichten elektrischen Bäder, die Massagen, aus dem ihn die künstliche Ernährung, die ihm in Form von Extrakten eingeführt wurde, nicht weckte. Mit wachsender Hingabe dienten Ärzte und Schwestern diesem seltsamen Fall, zu dem Ärzte der ganzen Erde

wie zu einem Wunder pilgerten, dessen Rätsel sie ergründen helfen wollten

-- aber keinem war dies bisher gelungen.

»Was ihn zum Leben brachte, wird wahrscheinlich ewig Rätsel bleiben«, fuhr der Professor fort. »Marianne war nur einen Augenblick in ihrer Pflegerinnenstube neben Richards Zimmer, und als sie wieder eintrat, sah er sie mit fremden Augen an und hob leicht seinen linken Arm. Marianne rief sofort den Arzt herbei, der nebenan Dienst hatte, und beide näherten sich vorsichtig dem Bette.«

»Und Richard?«

»Richards Lippen bewegten sich. Ein unverständliches Gemurmel wurde hörbar. Und so blieb es bis jetzt. Und doch haben wir die Hoffnung, ihn durchzubringen... Menschenskind, bedenken Sie, was das heißt, wenn wir das fertigbringen, einen lebenden Zeugen aus der Zeit scheußlichster Menschenverirrung zu gewinnen, einen Zeugen des Menschenschlachtens von 1914 bis 1918.«

»Es gelingt wohl schon, unserem hundertjährigen Kinde Muttermilch einzuflößen -- unsere beste Amme aus dem Säuglingshaus hat sich erboten, den Überschuß an Milch bereitzustellen -- aber wird er sie dauernd nehmen? Wird kein Rückfall kommen?«

»Hoffen wir das Beste.«

»Die Säugerin ist schon in das Gästezimmer des Hauses der Mumie mit ihrem Kind übergesiedelt, und von zwei zu zwei Stunden wird ihr die Milch abgenommen und noch lebenswarm unserem großen Kinde eingeflößt. Er saugte sie gierig in sich hinein, wie den Trank der Mutter. Das ist unsere große Hoffnung.«

»Sie hoffen also doch auch, Professor?«

»Ja, Dr. Corbett, wir hoffen, daß Richard wieder ganz dem Leben geschenkt wird; freilich, wer weiß? Die Fülle neuer Eindrücke könnte ihn an der heutigen Welt irre werden lassen. Er ist ja doch ein Mensch aus der Zeit des Weltkrieges.«

»Und einigermaßen ist die Welt seither doch anders geworden...«, fügte lachend der junge Arzt hinzu. »Auch hier werden wir mit der Muttermilch anfangen müssen. Vielleicht reichen wir Ärzte gar nicht dazu aus. Vielleicht wird es gut sein, den Rat eines erfahrenen. Erziehers einzuholen. Oder ihn doch mit beizuziehen!«

»Das hat viel für sich, aber vorläufig lassen wir Marianne ihres Amtes walten. Sie bringt mit ihrer sanften Weiblichkeit dem Sendling aus dem zwanzigsten Jahrhundert wohl am besten bei, daß er in eine andere, bessere Welt hinübergeschlafen hat. Wir müssen nur dafür sorgen, daß die Eindrücke nicht alle auf einmal auf ihn einstürmen. Sonst könnte er -- vorausgesetzt, daß sein Gedächtnis für die Vergangenheit nicht verwischt ist -- wirklich an den neuen Dingen irre werden.«

»Und der Direktor?«

»Sie können sich denken, daß der kaum von der Seite seiner Tochter weichen will, denn Marianne versteht unseren alten Krankenvater immer wieder daran zu erinnern, daß er auch für die anderen da ist, nicht nur für Richard. Aber nun heißt es wieder an die Pflicht.«

Freundlich verabschiedete sich Professor Brunner von dem jungen Arzt und schritt sinnend auf dem sonnenbeschienenen Waldweg weiter, der vielverschlungen durch das Gehölz zog. Dr. Corbett aber ging nach dem Ärztehaus.

Der junge Arzt, der das Glück hatte, im Gesundungsheim »Föhrenwald« seine drei Jahre Heimatspraxis zu machen, gewann hier mehr als ärztliche Kunst, ehe er auf Staatskosten hinausgeschickt wurde, um nach Neigung, Anlage und freier Wahl andere Universitätskliniken der Vereinigten Staaten von Europa oder Nord- und Süd-Amerika, Indiens oder der großen ostasiatischen Republik, der »gelben Republik« oder des südafrikanischen Staatenbundes oder der nordafrikanischen Republik zu besuchen. Keiner dieser jungen Ärzte war aus dem »Gesundungsheim im Föhrenwald« noch hinweggezogen, hinaus in die Welt, ohne davon vieles mitzunehmen, was das Kennzeichen des großen Arztes ist: echte tiefe Menschlichkeit.

Direktor, Ärzte und Schwestern des Gesundungsheimes im Föhrenwald bildeten mit dem Buchführer und dem Kassaverwalter wie mit dem Hausverwalter und der Küchenleiterin und allen ihren Gehilfen und Gehilfinnen, mit dem Anstaltsgärtner und seinem Stab wie mit den ganzen Mitarbeitern des Hauses, mochten sie welche Dienste immer verrichten, eigentlich eine einzige große Familie, und wie die Kranken, so sahen auch alle Mitarbeiter zu dem Direktor, dem berühmten Arzt und Menschen Friedlieb Meister, wie zu einem Vater und Führer auf.

Meisters Ruf war über den ganzen Bereich der Vereinigten Staaten von Europa gedrungen, und aus allen Staaten drängten sich die Bewerber, die hier ihr soziales Dienstjahr machen wollten, das die europäische Bundesregierung schon 1950 bald nach der Begründung der Vereinigten Staaten von Europa als eines der ersten Bundesgesetze eingeführt hatte. Die allgemeine Abrüstung, die seit der großen Weltabschlachtung in den Gehirnen einiger erleuchteter Diplomaten gespukt hatte, in der Volksseele aber zur Sehnsucht verdichtet worden war, war gerade beschlossen. Wenn die Staaten Europas vereinigt waren, brauchten sie auch keine Armeen mehr, um sich gegenseitig zu bekriegen. Der bewaffnete Friede ist Krieg. Endlich hatte dieser Satz Geltung bekommen, endlich hatte der Geist menschlicher Erleuchtung auch die Gesetzgebung erfaßt.

Diese hoffte man am ehesten zu erreichen, wenn man der Erziehung im allgemeinen größte Aufmerksamkeit zuwendete, im besonderen aber, wenn man jeden jungen Menschen zwischen der Vollendung seines 18. und vor Erreichung seines 25. Lebensjahres auf ein Jahr zum öffentlichen Dienst einberief. Man nannte das »die allgemeine Hilfspflicht«, wie man früher von einer »allgemeinen Wehrpflicht« gesprochen hatte. Das wurde zum europäischen Bundesgesetz erhoben, und es hat unendlichen Segen gestiftet.

DOKTOR MEISTERS PLAN

Als Meister am Morgen seinen Waldspaziergang machte, wie er seinen täglichen Rundgang durch das Gesundungsheim nannte, beschäftigte ihn besonders das seelische Problem: wie wird sich wohl dieser Richard Fröhlich in diese Welt finden. Ehe er seinen Waldgang angetreten hatte, hatte er noch seinen Freund, den Schulrektor Ensler, angeklingelt, dem er in schwierigen Lagen so manchen guten Rat zu danken gehabt hatte. Nun lud er ihn ein, in das Gesundungsheim zu kommen, um mit ihm gemeinsam »das große Kind« zu unterrichten und die Überleitung der »Mumie« ins Leben zugleich zum Nutzen für die seelische Forschung zu gestalten.

Wie er so dahinschritt, hörte er schon das Rattern des Propellers über sich. Es war Enslers Luftvogel, der über dem Föhrenwalde kreiste, um sich auf dem kleinen Landungsplatze niederzulassen. Wie eine Taube glitt er nieder, um erst im letzten Augenblick in leichten Schwebeflug überzugehen und mit flatternden Flügeln zu landen. Seit der Erfindung des Auffluges ohne Anlauf und der kippsicheren Flugzeuge war das Flugzeug für alle Fernfahrten, ja selbst für weitere Stadtfahrten das wichtigste Verkehrsmittel geworden. Jeder vielbeschäftigte Mensch hatte seinen Luftvogel, der in ruhendem Zustand leicht aufzubewahren war. Auf den flachen Dächern standen die Garagen, und da mit einem Hebeldruck die Flügel der Luftzeuge so aufgestellt werden konnten, wie die Tagfalter unter den Schmetterlingen sie zusammenklappen, wenn sie sitzen, so nahmen die Flugzeuge auch wenig Raum ein. Nur für den Abflug mußte eine Fläche bleiben, die so groß war, daß sich die Flügel ausspreiten konnten. So war es also gar nicht verwunderlich, daß Ensler schon in einer Viertelstunde aus der Hauptstadt da war.

Kaum gelandet, schlug Ensler seinen Weg nach dem »Haus der Mumie« ein und traf dort ein, kurz nachdem der Direktor das Haus betreten hatte. Auf leisen Sohlen trat er in das Zimmer der »Mumie«. Obgleich er den »schlafenden Gast« schon früher gelegentlich gesehen hatte, erschrak er jetzt doch sehr über den Anblick, der sich ihm bot. Das war kein Mensch. Das war ein menschliches Gerippe, das noch in einer eingeschrumpften Haut stak, in einem ledergelben, faltigen Hautsack. Tief in den Höhlen lagen die Augen, und konnte man früher, da sie noch geschlossen waren, über das Grauen des Anblickes dadurch hinwegkommen, daß es das Bild eines Schlafenden war, so wirkten nun die tiefliegenden Augen um so stärker auf den Beschauer. Sie flackerten unruhig auf, als sie des neuen Besuchers ansichtig wurden.

Ensler war der erste Mensch, der vor die Augen des Kranken ohne Pflegerkleidung trat, ohne den Leinenkittel des Arztes oder der Pflegerinnen. Fast schien es, als wollte sich die Mumie im Bette aufrichten. Schwester Marianne beugte ihren blonden, seitlich gescheitelten Kopf nieder und brachte ihr Ohr ganz in die Nähe

von Richards Mund.

Da glitt eine Glutwelle über ihr durch die Überanstrengung der letzten Tage und Nächte etwas abgespanntes Antlitz. Es war freudige Erregung, die sich ihrer bemächtigte.

»Wo bin ich?«, hauchte der Kranke, nur der Schwester verständlich.

»Wo bin ich?«

»Bei guten Freunden«, gab sie leise zurück und streichelte ihm mit ihren weichen rosigen Fingern die eingefallenen Wangen, aus denen die Backenknochen hervortraten.

»Sie haben lange geschlafen«, fügte die Schwester ihren Worten bei und dann nach einer Pause: »Wünschen Sie etwas, Richard Fröhlich?«

Bei der Nennung seines Namens war es wieder, als huschten die erwachenden Lebensgeister über sein ledernes Gesicht.

Professor Brunner, der mit den anderen Ärzten und dem Direktor am Krankenlager stand, gebot Einhalt. »Nicht zu viel, liebe Marianne, nicht zu viel auf einmal. Er muß sich langsam, sehr langsam in der neuen Welt zurechtfinden.«

Da Marianne seine Wangen streichelte, begannen sich seine Lider wieder zu schließen. Leise gingen die Helfer in die Halle, in die die Türen aller vier Räume des Zauberschlößchens mündeten. Hier berieten sie sich. Ensler, Brunner wie Meister waren der Meinung, daß man wie mit der körperlichen Wiedereroberung Fröhlichs, so auch mit seiner geistigen und seelischen sehr behutsam zu Werke gehen müsse. Sie billigten schließlich den in der gemeinsamen Aussprache gewonnenen Plan, Richard Fröhlich so ins Leben zu führen, wie es die neuzeitlichen Erziehungskünstler mit den kleinen Kindern tun.

Marianne sollte die Führerin dieses Unterrichtsganges sein. Natürlich würde ihr, um sie zu entlasten, eine zweite pädagogisch geschulte Krankenschwester, eine sogenannte Kinderschwester, beigesellt werden. Auch der junge Arzt, der gleich anfangs geraten hatte, daß man da nicht den Arzt allein lassen sollte, und dadurch schon pädagogisches Verständnis bewiesen hatte, sollte als ständiger Arzt zugeteilt werden. Professor Brunner hatte von seiner Begegnung erzählt und hatte Dr. Corbett-Fisher vorgeschlagen. Als Kinderschwester aber war eine junge Russin ausersehen, die, von Meisters Ruf als Soziallehrer angelockt, aus dem fernen Osten in das europäische Zentrum gekommen war. Sie gewann durch ihre Hingabe an jede ihr gestellte Aufgabe im Sturme die Beachtung, Anerkennung und schließlich das Vertrauen ihrer Umgebung. Manchmal sogar die Liebe. Auch Meister schätzte die kleine dunkeläugige Frau sehr.

DAS HUNDERTJÄHRIGE BABY

Am nächsten Morgen war in Richards Stube schon die neue Ordnung der Dinge. Unsichtbare Feenhände hatten während der Nacht, die Richard ruhig schlafend verbracht hatte, den Raum in einen förmlichen Blumengarten verwandelt. Der brave Gärtner Alois Walter hatte es sich nicht nehmen lassen, die schönsten Dahlien seiner Züchtung herbeizuschleppen. Aus dem Blattgrün der Fensternischen lugten Veilchen und Maiglöckchen hervor und die samtigen Glocken der Gloxinien. Die blonde Marianne und die Schwester Alexandra, die ihr kurzes schwarzes Haar wellig zurückgebürstet hatte, waren in Erwartung.

Da klang wieder das leise: »Wo bin ich?« an ihr Ohr. Richard war erwacht. Und so erwacht, wie andere Menschen erwachen. Er schlug nicht nur die Augen auf, er rieb sich auch mit den knöcherigen Händen, und dann traf sein voller Blick Marianne, die an dem Leinenkittel eine dunkelrote Rose angesteckt hatte. Dr. Corbett war ein galanter Mann, und er hatte, da er davon gehört hatte, daß die Wahl auf ihn gefallen sei, Marianne als Botschaft guten Zusammenwirkens einen Strauß Rosen geschickt, und sie hatte, um dem jungen Engländer mit dem fast knabenhaft frischen Antlitz sichtbar zu danken, die schönste angesteckt.

»Wo bin ich?«

»Im Föhrenwald?«

»Im Föhrenwald?«

»Ja, setzen Sie sich nur einmal auf, Richard Fröhlich, und schauen Sie selbst.«

Richard versuchte sich aufzusetzen, aber noch versagten seine Kräfte.

»Alexandra!«, sang Mariannens Sopran hinaus... »Alexandra!« Und Mariannens Gegenstück erschien, die schwarze Russin mit dem Stumpfnäschen. Auch sie im weißen Kittel aber ohne Rose.

»Hilf mir, Alexandra, Richard will den Föhrenwald sehen.«

Und schon faßten die beiden Frauen Fröhlich behutsam, kreuzweise seinen Rücken umspannend, unter den Achseln an. Ein Ruck, und er saß und schon war auch ein Wall von Kissen aufgerichtet, in den er sich lehnen konnte. »Sehen Sie nun den Wald?«

Richard griff sich mit der Rechten an die Stirne, so, als ob er sich an etwas erinnern wollte.

»... den Wald... den Wald...«, lallte er.

»Ja, den Wald, den schönen grünen Wald.«

»... den Wald, den schönen ... grünen Wald.«

»Bravo, mein Baby!«, sagte Marianne lachend, es geht ja schon. »Sehen Sie den Wald, Richard?«

Anstatt einer Antwort faßte nun Richard Marianne ins Auge. »Wer seid Ihr?«

»Ich bin die Schwester Marianne.«

Da fiel Richards Blick auf die Russin. Wie entgeistert starrte er sie an. »Und wer sind Sie?«

»Das ist Schwester Alexandra, die sich mit mir in den Dienst teilt.«

»Dienst teilt... komisch...«, ein leichtes Lächeln umspielte Richards Mund.

Alexandra aber legte ihre weiche Hand auf seinen blonden Scheitel und strich ihm leise über die Haare.

»Wo bin ich?« Die ewige Frage kehrte wieder.

»Im Gesundungsheim.«

»Bin ich denn krank?«

»Sie sind es nicht, Sie waren es; schwer krank...«

»Wer hat mich hierhergebracht? Wo ist Emma...?«

»Gemach, mein Lieber... Sie haben lange geschlafen...«

»Geschlafen?« Und wie, wenn er dadurch rückerinnert worden wäre an seinen langen Schlaf, gähnte er mächtig.

»Sie haben ja jetzt auch noch Schlaf!«, sagte die Russin lachend, und dabei wurden die vorderen Reihen ihrer blendend weißen Zähne sichtbar.

»Warum habe ich geschlafen?«

»Das wissen wir selbst nicht, aber lange, lange haben Sie geschlafen.«

»Wie lange?«

Da waren sie nun am Kern aller Schwierigkeiten.

Sollten sie ihm darauf sagen, daß er ein Jahrhundert verschlafen hatte. Oh, wäre doch Dr. Corbett jetzt hier. Sie drückte auf einen Taster auf Richards Tischbett, und im nächsten Augenblick stand der Engländer in der Tür.

»Was gibt's?«

»Kommen Sie, Doktor.«

In Sekunden stand er an Mariannens Seite.

»Unser Baby ist neugierig. Richard will wissen, wie lange er geschlafen.«

Schon saß Dr. Corbett in dem Korbstuhl neben dem Bette und fühlte Richards Puls.

»Wer sind Sie?«, fragte der Kranke.

»Dr. Ruben Corbett-Fisher, klinischer Assistent des Gesundungsheims, Ihnen augenblicklich zugeteilt.«

»Mir zugeteilt?... Ja, wer bin ich denn? Wo bin ich denn?«

»In unserer Hut Sie sind im Kreisgesundungsheim im Föhrenwald von Wiener-Neustadt, eine Stunde von Wien ich bin Arzt, und diese beiden lieben Damen sind Ihre Tagpflegerinnen...«

»Träume ich oder ist das alles Wirklichkeit, Herr Doktor?«

»Es ist Wirklichkeit. Erinnern Sie sich nicht, was gestern war?«

»Gestern, gestern ... Emma ... Tor-pe-do...«

»Ganz richtig, Lufttorpedo... Was war es damit...«

»Hier bin ich gesessen, hier. hier...«

Richard Fröhlich sah sich in dem schönen Raum um, von dessen weißblinkenden glänzenden Wänden sich das Grün der Blattpflanzen, der Waschtisch und ein Ruhebett abhoben.

»Aber hier war ich doch gar nicht...« Und wieder die Frage:»Wo bin ich?«

»Sie hören doch ... im Kreisgesundungsheim im Föhrenwald von Wiener-Neustadt und hören Sie ... seit zwanzig Jahren...«

»Seit zwanzig Jahren?«

»Und diese ganze Zeit haben Sie geschlafen...«

»Zwanzig Jahre geschlafen?«

»Zwanzig Jahre allein hier im Föhrenwald und noch ein paar Jahre vordem im Kreisgesundungsheim am Wannsee.«

»Wannsee? Wannsee? Bei Berlin?«

»Ja, ganz richtig, bei Berlin. Dort waren Sie zehn Jahre.«

»Und die habe ich auch geschlafen?«

»Ja, mein Lieber, und zwanzig Jahre im Gesundungsheim Rapallo, wo Sie die berühmte Ärztin Ada Boschetti...«

»Aber das ist doch Italien...«

»Ganz richtig. Es ist ein italienischer Kreis der Vereinigten Staaten.«

»Welcher Vereinigten Staaten?«

»Der Vereinigten Staaten von Europa...«

»Sind Sie irrsinnig ... Vereinigte Staaten von, von Europa? Bin ich in einem Tollhaus ... Vereinigte Staa ... Staa... Staaten von Europa...«

Dr. Corbett wechselte mit Marianne einen Blick, der sagen sollte:

»Soll ich noch weitergehen?«

»Nur Ruhe, mein Lieber, Sie sind in keinem Tollhaus, Sie haben ganz richtig gehört... Wir haben seit dem Jahre 1950 die Vereinigten Staaten von Europa.«

»Seit 1950. Ja, welches Jahr schreiben wir denn?«

»Hören Sie, Richard!«

Dr. Corbett hatte seine Hand ergriffen und sah ihm fest ins Auge: »Wir schreiben heute das Jahr 2025.«

Nun war es heraus...

»2025?...gestern hatten wir doch das Jahr 1925...? Das Jahr 2025? Da hätte ich also hundert Jahre geschlafen? Hundert Jahre...«

»So ist es, lieber Freund«, sagte der Arzt, und beide Schwestern beugten sich zu ihm nieder, wie die guten Patinnen einer neuen Zeit.

»Und wir haben Sie dem Leben wiedergewonnen«, jubelte Marianne.

Und die kleine Russin klatschte vor Freude in die Hände wie ein kleines Kind. Am liebsten wäre sie im Zimmer herumgesprungen.

»Ruhe! Ruhe! liebe Freundinnen«, mahnte Dr. Corbett.

»Hundert Jahre...«, hauchte Richard tonlos... »hundert Jahre...«

In diesem Augenblick erschien Mutter Anita im Rahmen der Tür... eine Mahnerin, daß man vor lauter »Einführung ins Leben« nicht den Lebensquell vergessen solle, die Milch. Die Stunde, da das »große Kind« die warme Muttermilch empfangen sollte, war gekommen. Lautlos glitt Alexandra zur Tür und grüßte die Italienerin, der das herrliche Erbe der Mütter ihres Landes in höchster Vollkommenheit geworden war, die võllige Hingabe an die süße Mutterpflicht des Säugens. Ein mütterlicher Blick traf auch das Gerippe dort. Ein fast liebender Blick. Sie gab dem großen Kinde gern ihre Milch.

Dr. Corbett hatte Richards Hand nicht ausgelassen. »Ruhen Sie wieder, und dann kommt die Milch, und dann wollen wir wieder weiterreden. Sie sollen alles erfahren.« Mit Hilfe des Arztes legte Schwester Marianne den Kranken zurück. Dann strich sie ihm über den Scheitel. Da war aber auch schon Alexandra mit dem süßen Muttertrank Anitas zur Stelle und schob Richard den Sauger in den Mund.

»Hier, mein Lieber.«

Gierig machte Richard einige tiefe Züge, dann plötzlich zog er den Sauger aus dem Mund und betrachtete ihn: »...Ja, bin ich denn ein Säugling?«

Dabei machte er ein so hilfloses Gesicht, daß über die Gesichter seiner drei Helfer unwillkürlich ein Lächeln huschte.

»Trinken Sie nur wieder«, mahnte Alexandra, die die in ein Tuch gehüllte Flasche am untern Ende hielt, »ehe die Milch erkaltet.«

Wieder war Richard das folgsame Kind und sog den Rest aus der Flasche, dann aber wiederholte er die Frage, ob er denn ein Säugling sei.

Der Doktor lachte.

»Fürs erste wohl. Wer hundert Jahre geschlafen hat, der muß wieder von vorne anfangen. Übrigens wenn Sie glauben, schon aus einer Schale trinken zu können, wir wollen es dann mit der Kraftbrühe versuchen.«

Um Richard rasch zu Kraft zu bringen, wurde ein altes Tiroler Volksrezept von Dr. Meister angewendet. Er ließ ein halbes Kilo Ochsenfleisch ohne Wasserzusatz in einer Retorte fest einschließen und diese Retorte in siedendem Wasser kochen. Dadurch wurde der ganze Saft, der in dem Fleisch war, herausgezogen. Ein kleines Schälchen voll Brühe wurde gewonnen, aber es hatte, ohne dem Magen große Arbeit zuzumuten, den ganzen Nährwert eines halben Kilo Fleisches.

Der Doktor hielt sein Versprechen. Diese Brühe wurde Richard zwei Stunden später in einer Schale gereicht. Er schlürfte den Nährtrank mit Behagen, und da er den letzten Schluck unten hatte, entschlüpfte ihm ein »ah«. Er hatte das Schälchen sitzend ausgetrunken, ja er hatte es selbst zitternd in der Hand gehalten. Die erste Kraftleistung des großen Kindes. Sie wurde in dem »Tagebuch«, das im Gesundungsheim über jeden Kranken geführt wurde, besonders verzeichnet.

Nachmittags kamen Dr. Meister, Professor Brunner und Direktor Ensler zu Besuch. Dr. Corbett und die beiden Schwestern berichteten alle ihre Beobachtungen. Dann erst traten die drei leichtangegrauten Häupter an das Bett des »Kindes«. Dr. Meister setzte sich in den Korbstuhl.

»Wie geht es Ihnen, Richard Fröhlich?«, leitete Meister das Gespräch ein.

»Danke«, sagte Richard verbindlich, »mit wem habe ich die Ehre?«

»Ich bin Dr. Meister, der Leiter des Gesundungsheimes im Föhrenwald.«

»Ja, richtig ... Wiener-Neustadt... Föhrenwald ... Aber hier ist doch eine Waldschule?«

»Sie erinnern sich?«

»Wie sollte ich nicht. Das ist doch die berühmteste Schule. Wie oft habe ich doch selbst Fremde hierhergeführt, die dieses Kind der Revolution begucken wollten.«

»Sie ist heute noch hier und heute noch ein Glanzpunkt im Föhrenwald Erst vor einigen Jahren haben wir ihr hundertjähriges Bestandsjubiläum gefeiert. Es waren damals tüchtige Menschen am Werk. Wir haben noch die Bilder von einst aufbewahrt, diese einfachen Holzbaracken, von denen doch so viel Segen ausging. Die Waldklassen selbst sind nicht viel anders geworden. Sie sind auf denselben Plätzen und haben noch dieselben Namen: die Klasse am 'Bach', die 'Föhrenklasse', die 'Rosenklasse', die 'Klasse der Roten Falken' ... das ist alles geblieben, wie es damals in dem pädagogischen Vorfrühling der neuen Zeit von den Kindern selbst geschaffen wurde. Nur haben wir heute, um jeden Zwang von der Jugend fernzuhalten, wie in allen Schulen so auch hier, die Schulbank entfernt. Jedes Kind hat seinen eigenen leicht beweglichen Tisch und seinen leicht transportablen Stuhl.«

»Vor allem, mein Lieber, werden Sie das Rebenschlößchen kennenlernen«, führte Meister das Gespräch fort.

»Das Rebenschlößchen?«

»Ja, dieses Häuschen, in dem Sie die letzten zwanzig Schlafjahre zugebracht haben! Indes haben die Waldreben Zeit gefunden, das ganze Häuschen zu umspinnen und so wurde dem Schlößchen dieser Name... Das wollen wir nun einmal von außen und innen ansehen.«

»Jetzt gleich...« Richard tat so, als ob er aus dem Bette heraus wollte, sank aber gleich wieder kraftlos zurück.

Meister lachte. »So rasch fliegen Vögel nicht aus ihrem Nest. Gemach, mein Lieber... Einige Tage und es wird vielleicht möglich sein... einige Tage noch brav sein.«

Und auch dieser Tag kam. Die süße Muttermilch Anitas, die Kraftbrühe aus der Küche, das zarte Biskuit als erste feste Nahrung und dann als Beikost süße Möhren hatten Wunder getan. Eine Woche nach seinem ersten Erwachen konnte Richard sein Bett zum erstenmal mit einem zum Bette gestellten Rollstuhl vertauschen, und eine Woche später machte er seine »ersten Schritte«, unterstützt von seinen beiden getreuen Helferinnen Marianne und Alexandra.

War das eine Freude im ganzen Gesundungsheim.

»Er geht schon...«

»Er ist heute einige Schritte gegangen.«

»Quer durchs Zimmer ...«

»Vom Bett bis zur Türe«, so lauteten die Berichte. Und wem ein Bericht wurde, der strahlte vor Freude. Morgen schon kommt er in die »gläserne Burg«. Die ersten Schritte des großen Kindes waren zum Ereignis in dem Waldidyll geworden, und sobald er wirklich gehen konnte, sollte er durch alle Häuser des Gesundungsheims geführt werden, denn überall war die Neugierde groß.

Um seine seelische Wiedergeburt durch den Anblick anderer Kranker nicht zu gefährden, war ein ganzer Seitenflügel der »gläsernen Burg«, der abzuschließen war, für Richard bereitgestellt worden. Hier hatte man inmitten eines wahrhaft paradiesischen Gartens, in dem tausend Blüten aufleuchteten, sein Liegebett aufgeschlagen. Richards Haut hatte tausend kleine Risse und Sprünge bekommen. Unter dem Einfluß der feuchten Wärme sollte sie wieder geschmeidig werden. Und sie wurde es.

AUS ALTEN UND NEUEN TAGEN

»Auf Ihre vielen Fragen, mein Lieber, wird es das Beste sein, daß ich Ihnen vor allem eine kurze zusammenhängende Darstellung von dem Werden des Neuen gebe.«

Direktor Ensler saß Richard gegenüber auf dem sonnigen Vorplatz des »Rebenschlößchens«, beide leicht beschattet von einem mächtigen Ständerschirm, der neben dem Tisch aufgepflanzt war, Richard saß in einem gepolsterten Rohrstuhl, und außerdem war sein Rücken durch ein Kissen gestützt.

»Gestern haben Sie mich noch drüben in dem gläsernen Wunderpalast gefragt, warum wir unser Gesundungsheim so nennen und nicht, wie es zu Ihrer Zeit war, Krankenhaus? Sie haben ganz richtig auch aus dieser Kleinigkeit den Wandel der Zeiten herausgefühlt. Und doch, wenn Sie ein wenig nachdenken... der Ausdruck Gesundungsheim ist etwas Uraltes. Er hat auch schon zu Ihren Zeiten bestanden. Sie nannten das damals nur Sanatorium zum Unterschied von den Krankenhäusern des Staates und der Gemeinden. Sanatorium ist nur der lateinische Ausdruck für Gesundungsheim. Den Reichen, die zu Ihrer Zeit allein Sanatorien benützen konnten, wollte man schon durch die Wahl dieses Wortes den Seelenmut heben, der Krankheit Widerstand zu leisten -- für die breite Masse der Nichtbesitzenden machte man keine Umstände für die gab es Krankenhäuser und in diesen traurigen Anstalten mit wenigen Ausnahmen freudlose nüchterne Säle. Der einzige Schmuck war das Bild des gekreuzigten Christus oder ein holzgeschnitzter Christus am Kreuz, und zwischen den langen Bettreihen wandelten schwarzgekleidete Nonnen mit weißen Flügelhauben, nicht solche Idealgestalten, wie wir sie heute auf Schritt und Tritt finden ... solche Frauen, wie Marianne ...«

»... und Alexandra.«

»Ah, unsere kleine Russin ... eine ideale Frau das ist schon auch so Die hat es Ihnen wohl angetan?«

Ensler blinzelte mit einem lachenden Auge hinüber.

Wenn man den braunen Schatten, der über das ledergelbe Antlitz Richards fuhr, Erröten nennen kann, so errötete Richard bei diesen Worten wie ein bei seinen ersten Liebesregungen ertappter Schüler.

Richard versuchte auch gar nicht zu leugnen.

»Sie ist das Ebenbild meiner Emma ... meiner wohl längst verstorbenen Braut...«

»... die bis an die Grenze ihrer Tage an Ihrem Schlafbette Pflegerinnendienst machte, wie uns Ihre Krankengeschichte übermittelt. -- Welch seltsame Fügung!«, setzte Ensler noch diesen Worten hinzu und versuchte dann wieder zurückzufinden. »Ja, Ihre Emma war auch so eine Idealgestalt. Fünfunddreißig Jahre hat sie dem Schläfer Richard in Treue gedient. Die Universität hat auch ihre Dienste hochgeschätzt. Emma hat auch ihren redlichen Anteil an der Neugestaltung der Krankenpflege. Ein kleines Denkmal erinnert noch heute an sie. Sobald Sie nur einmal hinaus können, wollen wir dem »Emmaheim« im Rohrwald auch ein Wiener Gesundungsheim einen Besuch abstatten.

Die Entwicklung des Luftverkehrs hat es möglich gemacht, daß wir diese Heime weit außerhalb der Rauch- und Staubzone der großen Städte verlegen konnten. Ein viertelstündiger Flug entspricht der Zeit, die auch früher einmal mit dem Auto für den Krankentransport aufgewendet werden mußte.« »Aber die Ambulatorien?«

»Die haben wir in jedem Stadtviertel, ja in jedem Häuserviertel. Der Arzt ist heute eine öffentliche Einrichtung. Es hat jeder Bürger Anspruch auf ärztliche Hilfe, so wie zu Ihrer Zeit, wo die Volksgesundheitspflege noch in den Kinderschuhen stak, jeder Wiener Anspruch gehabt haben mag auf gesundes Trinkwasser. Da die Ärzte aber Menschen sind, konnte nicht erwartet werden, daß jeder in dem gleichen hohen Maße den Anforderungen jedes einzelnen genügen werde. Bei den Menschen spielen ja immer auch Zuneigung und Abneigung eine Rolle. So wurde also der Arzt in zwei Persönlichkeiten geteilt. Jeder Häuserblock hat seinen Arzt, wie er seinen Kindergarten, seinen kleinen Kinderspielplatz, seinen Kinderhort, seine Bücherei, seinen Klub für die Erwachsenen hat. Der Arzt ist vor allem der Überwacher der öffentlichen Gesundheit. Die Häuser sind so gebaut, daß nie mehr als drei Stockwerke übereinander sind, und daß in jedem Stockwerk nur zwei Familien wohnen. Jede Wohnung hat mehrere Schlafräume, einen großen und ein bis zwei kleinere Tagräume. In einem dieser ist eine kleine elektrische Kocheinrichtung in einer Wandnische versteckt. Die Gemeinschaftsküche des Häuserblocks, zu dem etwa zwanzig Häuser zusammengefaßt sind, befindet sich im Klubheim, wie auch der Speisesaal, der Lese- und Spielsaal, der Hörsaal mit kinematographischer und radiographischer Einrichtung, der Musiksaal und was sonst zu einem Klubheim gehört. Das Parterre nimmt der große Turnsaal mit dem Bad ein. Da in jedem Hause (die Familie durchschnittlich zu fünf Köpfen gerechnet) dreißig Menschen wohnen, muß ein Arzt also die Gesundheit von etwa 600 Bewohnern überwachen. Er soll nicht Heilkünstler sein. Er ist der Hausarzt. Er muß in erster Linie vorbeugen. Vorbeugen ist billiger,

besser und vor allem menschlicher als heilen. Das ist der Grundsatz, nach dem die öffentliche Gesundheit geregelt wird. So ist der Arzt mehr Lehrer, mehr Führer in Gesundheitsdingen, mehr Berater für gesunde Lebensführung als Medizinmann. Neben ihm wirken Spezialisten, die von jedem Kranken nach freier Wahl aufgesucht werden können. Es sind dies die Heilärzte. Der

Hausarzt überwacht auch die Durchführung der goldenen Gesundheitsregeln, die jedem Kinde schon durch das »Gesundheitsspiel« beigebracht werden.«

»Das Gesundheitsspiel?... oh, das kenne ich, das haben die Kinder schon zu meiner Zeit da und dort gespielt. Das war ja eine Erfindung des amerikanischen Roten Kreuzes, wenn ich mich recht entsinne?«

»Ganz richtig. Und dieses Gesundheitsspiels wegen ist auch das Andenken an das Rote Kreuz bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben.«

»Ja, haben Sie denn kein Rotes Kreuz mehr?«

»Wozu hätten wir es nötig? Das Genfer Kreuz wurde doch seinerzeit gegründet, als sich die Menschen noch gegenseitig in Kriegen die Schädel einschlugen. Aber seit es keine Kriege mehr gibt...«

»Keine Kriege?... Es gibt keine Kriege mehr?«

»Nein, lieber Freund, der letzte große Krieg war der, den Sie erlebt haben, der ruchlose Weltkrieg, der elf Millionen Menschen das Leben gekostet hat.«

»Seither kein Krieg?«

»Ja, kleine Geplänkel da und dort aber die internationale Ordnungspolizei des Völkerbunds konnte da bald Ordnung schaffen -- aber seit 1950, seit Gründung der V. S. E. -- wer hätte da noch Krieg führen sollen? Wir waren ja ein einziger Staat und die anderen großen Staatengebilde der Welt -- keines dachte daran, die anderen zu unterjochen. Das Wettrüsten war überwunden und so hörte auch die Notwendigkeit einer Gesellschaft auf, die auf den Schlachtfeldern die Verwundeten aufzulesen und ihnen zu helfen die Aufgabe hatte. Ohne Kriegskreuz kein Rotes Kreuz. Eine Zeit lang versuchte die Gesellschaft noch neben dem öffentlichen einen privaten Gesundheitsdienst aufrechtzuerhalten, aber mit der fortschreitenden staatlichen und gemeindlichen Organisation wurde letzten Endes auch diese Einrichtung überflüssig. Aber das »Gesundheitsspiel« und die »goldenen Gesundheitsregeln« ragen auch in unsere Zeit herüber. Sie sind ein lebendiges Denkmal, das sich das Rote Kreuz einstens selbst gesetzt hat. Es sind goldene Regeln der Körperpflege, die den Kindern seinerzeit spielerisch beigebracht wurden, und die heute längst Gemeingut aller sind: Luft den Lungen und der Haut! Offene Fenster bei Tag und Nacht! Sommer und Winter! Mit dem Wasser nicht sparen! Täglich frühmorgens Waschungen mit kaltem Wasser! -- wir haben keine Wohnung ohne Bade- und Waschraum! Vor jeder Mahlzeit die Hände waschen und den Mund spülen! Möglichst wenig Gifte dem Körper zuführen. Zu Ihrer Zeit war nur in den V. S. A. der Alkoholgenuß verboten -- heute kennt man den Alkohol als Getränk überhaupt nicht mehr. Das Rauschgift zerstört nicht mehr die Körper, es füllt nicht mehr die Irrenhäuser und Idiotenanstalten, es verkürzt nicht mehr das Leben des Menschen. Auch dem Rauchgift haben die Menschen längst den Abschied gegeben. Das war kein leichter Kampf. Aber stete Aufklärung führte auch hier zum Sieg. Schon zu Ihrer Zeit gab es Räume, in denen zu rauchen wider die gute Sitte verstoßen hätte. Man rauchte nicht in den sogenannten »Gotteshäusern«, in unseren heutigen Festhallen«

»Was, Sie haben keine Kirchen mehr?«

»Die Gebäude schon, aber die dienen nicht mehr irgendwelchem Götterkultus wie einst, sondern der Menschenkultur. Wir pflegen diese Festhallen sehr. Sie sind von ersten Künstlern erbaut oder umgewandelt und geschmückt worden und dienen dazu, uns weihevolle Stunden zu vermitteln. Das Gefäß ist geblieben -- der Inhalt ist ein anderer geworden: Menschendienst, nicht Götterdienst.«

»Eine seltsame Zeit...«

»Nicht so seltsam, wie Sie vermeinen. Mit der fortschreitenden Bildung der Menschen hat sich dieser Götterdienst überlebt und auch die große Mehrheit der Priester -- zu ihrer Ehre ist es in der Geschichte verzeichnet -- atmete auf, als man ihnen Gelegenheit bot, Menschendiener zu werden. Glaube und Wissen stritten ja auch in ihren Seelen, und nur die Angst vor dem Umsatteln ließ sie die mahnende Stimme ihres Gewissens überhören. Aber seit der Staat den Priestern aller Bekenntnisse durch eigene Umschulungskurse Gelegenheit bot, aus dem vorgetäuschten Leben scheinbar Heiliger zurückzufinden in das wirkliche Leben nützlicher Bürger, war der ökonomische Bann gebrochen, der auf ihnen lastete, und sie meldeten sich in Scharen. Viele von ihnen wurden dann Hüter der Fest- oder Volkshallen, Leiter der Konzerte und Vorträge in ihnen, der Ausstellungen, der Lesehallen, die aus den Kirchen wurden, und mit den Menschen und Räumen veränderten sich auch die Sitten.«

»Aber wie war es möglich, daß Sie die breiten Massen zu allen diesen Dingen bekommen haben?«

»... daß schließlich auch niemand auf der Gasse rauchte, daß die engen chinesischen Schuhe, die den Fuß verkrüppelten, bei den Damen ebenso verschwanden wie der Schnürleib Ihrer Tage, daß wir zurückfanden zu den edlen Linien des klassischen griechischen Frauenleibes... alles, alles wurde allmählich durch Bildung und Aufklärung, Pflege der edlen Körperübung erreicht. Aber für heute genug. Allzuviel auf einmal brächte Schaden. Da kommt übrigens auch schon Ihre... Emma.« Mit einem beziehungsvollen Lächeln blickte Ensler seinen alten jungen Freund an.

Alexandra stieg eben über die Freitreppe des Rebenschlößchens herab und trug eine Tasse mit Richards Kraftbrühe, dazu Schinken und Butter und weiße Brote. Richard zog die wollene Decke, die er über die Knie gebreitet hatte, besser hinauf und rückte sich zurecht. Der Direktor aber ging zu seinem Luftvogel, dessen Rauschen man wenige Minuten später hoch oben in den Lüften hörte.

DER ERSTE WALDGANG

Seit der ersten Einführungsstunde durch Ensler waren drei Tage vergangen. Indes hatten Dr. Meister, Corbett, Marianne und Alexandra fast Stunde um Stunde Gelegenheit gehabt, den Wißbegierigen vorwärtszubringen. Da Richard zusehends von Tag zu Tag kräftiger wurde -- seine Muskeln sich auch unter der Einwirkung der Bäder und leichten Turnübungen im Zanderinstitut des Gesundungsheimes zu straffen begannen, seine faltige Haut sich spannte, konnte die Muttermilch für die weitere Ernährung entbehrt und durch Kuhmilch ersetzt werden. Jetzt erst erfuhr Richard, daß er der Milch einer edlen Frau vielleicht sein Leben zu danken hatte. Was war natürlicher, als daß er Anita die Hand drücken wollte.

»Wie kann ich Ihnen danken?«

»Indem Sie ganz der Unsrige werden, ganz ein Sohn unserer Zeit.«

Gerührt ergriff Richard die Hand der jungen Frau, die gleich den Pflegerinnen über ihrem Kleid einen Leinenkittel trug.

»Sie sind Italienerin, Frau Anita?«

»Ich bin Bürgerin der V. S. E.«, sagte sie in vollendetem Deutsch und mit leichter Neigung ihres edelgeschnittenen Gesichtes.

»Aber Ihre Wiege stand in Italien?«

»Am Arno.«

»Also reinstes italienisches Blut... aber sagen Sie mir nur, wo haben Sie so vollendet das Deutsche erlernt?«

»In meiner Heimat, daheim bei Mutter, in der Schule und dann draußen im Tauschjahr.«

»Was heißt das: Tauschjahr?«

»Alle Kinder der V. S. E. erlernen neben der Sprache ihres Geburtslandes auch noch eine der sechs Weltsprachen so daß sich jeder überall zurechtfinden kann. Um sich in der fremden Sprache zu vervollkommnen, verbringt jedes Kind ein Jahr in einem Lande, wo seine Wahlsprache allgemeine Umgangssprache ist.«

»Aber was heißt das: Tauschjahr?«

»Die Kinder werden getauscht von Mutter zu Mutter. Aber da kommt eben ein Würdigerer. Direktor Ensler gehört dem großen Rat des Kinderamtes an... er wird Ihnen das alles viel besser sagen können...«, und sich an diesen wendend, sagte sie: »Gut, daß Sie kommen, unser hundertjähriges Kind möchte am liebsten alles auf einmal wissen. Erzählen Sie ihm doch, wie wir aus unseren Kindern Europäer machen.«

Ensler mußte lachen: »Und das verlangen Sie, Sie, das lebende Musterbeispiel?«

»Eben darum, Sie wissen das besser, warum Vater die Mutter freite.«

»Ich?«

»Ja, Sie, lieber Doktor«, sagte die junge Mutter mit einem artigen Knicks.

»Nun denn, dann sei es. Legen Sie los, Richard, ich stehe zu Ihren Diensten.«

Unbemerkt war Dr. Corbett zu der Gruppe getreten: »Wollen die Herren ihr Gespräch nicht mit einem Waldgang verbinden. Richard darf heute zum erstenmal eine Stunde unter den Föhren wandeln...«

»Um so besser, dann kommen Sie, junger Freund.«

»Junger Freund«, fragte Richard lächelnd zurück, »mit meinen 135 Jahren?...«

»Aber es ist doch so, zu unserer aller Freude sind die hundert Jahre Schlaf an Ihnen vorübergegangen, als wäre es eine Nacht gewesen, und so müssen Sie es sich schon gefallen lassen, daß wir Sie wie einen jungen Mitstrebenden in unseren Kreis aufnehmen.«

»Sie sind zu gütig, Direktor. Ein Mitstrebender bin ich aber noch lange nicht. Gewähren Sie mir nur weiter die Gunst, in ihren Kreis hineinzuwachsen, dann soll es mein größtes Glück sein, ein würdiger Bürger der V. S. E. zu werden.«

»Welch ein Fortschritt V. S. E. Bravo! Bravissimo!«

»Sie hätten sehen sollen, mit welch edlem Stolze sich eben Anita als Bürgerin der V. S. E. bekannte, als ich sie fragte, ob sie Italienerin sei.«

»Ja, das ist auch unser größter Stolz. Wir wollen Europäer sein, Menschen, die über die stets schwankenden alten Grenzen hinüberschauen gelernt haben. Übrigens, Anita ist ja schon eine Blutseuropäerin. Ihr Vater war als Sohn einer Spanierin und eines in Italien naturalisierten Norwegers nur darum Italiener, weil er in Italien geboren war, dort erzogen worden und in die Schule gegangen war, und ihre Mutter war die Tochter eines Italieners und einer Deutschen, von der sie auch die süßen Laute der Muttersprache mitbekommen hat. So kam es, daß Anita schon im Elternhaus -- ihrem Vater war das Deutsche Wahlsprache gewesen -- neben dem Italienischen das Deutsche erlernte, daß ihr das Deutsche Mutter- und Wahlsprache war, daß sie ihr Tauschjahr in Wien zubrachte, und daß sie später auch ihr soziales Dienstjahr in unseren Gefilden verbrachte unter Dr. Meisters Führung.«

»Sie verzeihen, Direktor, man hat mir seinerzeit rasche Auffassungsgabe nachgerühmt und der starke Wille zum Eindringen in Fremdes, Geheimnisvolles, hat mich ja auch bestimmt, die Fahrt mit dem Lufttorpedo zu wagen. Aber Sie gehen etwas rasch ins Zeug. In meinem Kopf wirbelt es ein wenig. Wahlsprache, Tauschjahr, Dienstjahr ... Lassen Sie mich das erst ordnen ... und Anitas Blut ... das ist ja eine gehörige Mischung: norwegisches, spanisches, italienisches, deutsches Blut...«

»Glauben Sie dabei nicht an einen Zufall, lieber Richard. Als Zeitungsschreiber werden Sie ja gewiß die Vorgänge ihrer Zeit ernster verfolgt haben, als andere. Wir nennen heute ihre Zeit die nationalistische Epoche Europas. Der Wahnsinn ward insbesondere nach dem Weltkrieg auf die Spitze getrieben, da sich auch das kleinste Natiönchen selbständig machte, sich eine Kanone kaufte und nach der Art der großen Räuber auch darauf aus war, das Stück Land, das es mit Recht behaupten konnte, weil es von den Angehörigen seiner Nation bewohnt war, durch Grenzland zu vergrößern, das zum größten Teil von Anderssprechenden bewohnt war. Insbesondere den Deutschen des Reiches und dem damals noch selbständigen Österreich wurde überall Land genommen, das sich die letzten Beherrscher dieses Landes mit dem Ehering und dem Schwert einst 'erobert' hatten; von den Italienern ein gut Stück des deutschen Südtirol, von den Südslaven deutsche oder doch vorwiegend deutsche Teile Steiermarks und Kärntens, von den Ungarn deutsche Grenzgebiete des Burgenlandes, die ehedem wohl staatlich zu Ungarn, aber sprachlich immer zu Österreich gehört hatten, von den Tschechen die großen von Millionen von Deutschen bewohnten Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens, von den Polen stark deutsch durchsetzte Gebiete in Posen und in Ostpreußen, von den Franzosen weite Strecken der deutschen Sprachgebiete im Westen, das Saargebiet vor allem. Aber auch den Ungarn wurden weite Gebiete von den Tschechen, Rumänen, Südslaven und Österreichern im Friedensvertrag abgesprochen, den Südslaven die stark von ihnen durchsetzten Gebiete von Istrien und des Küstenlandes und Norddalmatiens, die sich der Italiener holte. Jeder glaubte, mehr Macht zu haben, wenn er mehr Land und mehr Menschen hatte, und jeder dieser Staaten wirtschaftete sich mit den fremdsprachigen Grenzbürgern im Grunde nur innere Unruhe ein, die eine soziale und kulturelle Höherentwicklung ausschloß. So mußten diese Staaten alle entweder die bitteren Erfahrungen des zusammen- gekoppelten alten österreichischen Kaiserstaates von neuem machen, wie die tschechoslowakische Republik, die Tschechen, Deutsche, Slowaken, Ungarn, Ruthenen und Polen vereinigte und vor lauter Nationalitätenhader zu keiner aufbauenden Arbeit kam, oder sie errichteten eine Gewaltherrschaft, der sie den Sammelnamen 'fascistische Regierung' gaben, die aber erst recht zum Zerfall führte.«

»Fascistische Regierung? ... Fascismus... Gibt es das heute nicht mehr?«

»Aber bedenken Sie doch Hundert Jahre.. Das Irrenhaus war das Ende... Alle diese Ereignisse gingen natürlich nicht ohne schmerzliche Zuckungen des Volkskörpers vor sich. Es floß viel Märtyrerblut, viel Blut für die wirkliche Freiheit. Es war so, als ob der große Brand des Weltkrieges nicht auf einmal in sich zusammengebrochen wäre, als ob noch da und dort unter der Decke kleine Brände fortgeglommen hätten, die erst langsam erloschen. Zudem hatte die europäische Feuerwehr, der Völkerbund in Genf, noch keine Löschgeräte, noch keine Machtorganisation, um den kleinen unvernünftigen Mächten eines vor allem zu gebieten: Vernunft. Das kam, weil er eine einseitige Einrichtung der Klasse der Besitzenden war, und weil man Vernunft nicht gebieten kann.

Viel stärker war eine andere Macht, die in derselben Zeit erstarkte und die in der »Internationale aller Arbeiterparteien« ein weltumspannendes Machtgebilde schuf. Ihr ist der endliche Wandel zuzuschreiben. Was die einzelnen Staaten nicht vermochten, die Arbeiterinternationale baute es im stillen wenigstens für die Arbeiterklasse, für den »Staat im Staate« auf.«

»Verzeihung, lieber Direktor, wenn ich unterbreche... aber wo bleibt die Wahlsprache, das Tauschjahr...?«

»Nur Geduld, wir kommen auf diesem Wege rascher dazu. Lassen Sie mich das ganze historische Werden ruhig darstellen, und die Antwort auf Ihre Frage wird gegeben sein.«

Sie waren langsam wandelnd beim Dreiföhrensitz angelangt, eines zum Verweilen auf das freundlichste einladenden Plätzchen in einer Walddichtung, durch die goldenes Sonnenlicht spielerisch blitzte.

»Von der Arbeiterinternationale also ging«, fuhr Direktor Ensler fort, »der große Antrieb zum Wandel aus und den in ihr zusammengefaßten nationalen Gruppen. Unter diesen war ein edler Wetteifer, dem Gedanken des Sozialismus zum Siege zu verhelfen. Schon zu Ihrer Zeit gab es als Vorläufer der eigentlichen sozialistischen Bewegung mächtige gewerkschaftliche und politische Organisationen. Sie waren die geeigneten Mittel zum großen Zweck, die sozialistische Wirtschaftsordnung vorzubereiten und zu erobern und damit den breiten Massen der arbeitenden Menschen ein Leben in Kultur. Heraus aus der kapitalistischen Unkultur! Das wurde zum Feldruf der Massen. Heraus aus der Unkultur, die der Geldsack über die breiten Massen verhängt.

Für die Besitzenden gab es damals behagliche ge- sunde Wohnräume, für die Arbeitenden kleine, dumpfe enge Gelasse, die überfüllt von Menschen waren. Für die Besitzenden Konzerte und Theater; für die Arbeitenden Kino und Kneipe; für die Frauen dazu noch die Kirche, die darum auch im Seelenleben der Frau eine so große Rolle spielte -- konnte sie dort schon nicht das schönere Diesseits erobern, das bessere Jenseits, über das noch nie verläßliche Kunde gekommen war, das ward ihnen von den Kanzeln aller der verschiedenen Kirchen verbürgt. Für die Besitzenden Bücher, Bilder, kunstgewerblicher und hochkünstlerischer Schmuck in der Wohnung, für die Arbeitenden elende Kolportageromane, Schundschrifttum ärgster Sorte, auch in den billigen Zeitungen, die in ihre Wohnungen kamen und wie schleichendes Gift wirkten -- sie verkleisterten unrettbar die Gehirne -- und an Bildern schlechte Wiedergaben kitschiger Heiligen- und Marienbilder, die längst aus den Wohnungen der Besitzenden verschwunden waren, selbst auch in guten Originalen und Wiedergaben. Für die Besitzenden weite Reisen, elegante Kurorte; für die Arbeitenden erst nach dem Weltkrieg einen achttägigen bezahlten Urlaub, der ihnen kaum mehr erlaubte, als einige Tage mit dem Wandersack auszuschreiten; dagegen für die Besitzenden allen Luxus des Reisens. Im Technischen Museum zu Wien und im Deutschen Museum in München können Sie heute noch eine typische Eisenbahngarnitur aus der damaligen Zeit sehen. Da gab es in deutschen Landen noch vier Wagenklassen auf der Eisenbahn. Die erste war mit Samt gepolstert und hatte zwei Sitze auf jeder Bank, die zweite drei; in der dritten gab es nur Holzbänke und auf jeder Seite vier und fünf Sitze und in der vierten Klasse endlich einen einfachen Wagen mit Holzbänken und unbequemen Lehnen und außerdem als Unterteilung einen eigentlich leeren Waggon, der nur an den Wänden schmale Bänke hatte. Der Mittelraum war leer. Hier konnten die Reisenden ihre Lasten abstellen. Das waren die Wagen, die die Aufschrift trugen: 'Für Reisende mit Traglasten'. Dieser Eisenbahnzug gibt heute noch ein unübertrefflich klares Bild der Klassenscheidung in der Gesellschaft Ihrer Zeit, auch wenn nicht die Wachsfiguren in der Kleidung Ihrer Tage im Zuge säßen. Je größer die Last war, die einer zu tragen hatte, desto enger oder schmäler, also unbehaglicher und härter war der Sitz, der ihm während einer Bahnfahrt erschwinglich war, und je leichter die Arbeitslast eines Menschen war, desto bequemer, desto breiter, desto weicher saß er.«

»Wie, Sie haben heute auf Ihren Eisenbahnen keine verschiedenen Klassen mehr?«

»Aber wo denken Sie denn hin, lieber Richard? Unsere Welt ist doch eine soziale Welt. Wir unterscheiden nur Nah- und Fernzüge. In den Nahzügen ist auf die leichtere Reinigung Rücksicht genommen. Sie sind dem Massenverkehr angepaßt und haben Holzsitze, allerdings mit beiderseitigen ledergepolsterten Armlehnen und solchen Rückenkissen. Die Fernzüge sind aber alle als Schlafwagenzüge eingerichtet, d. h. mit Bade-, Schreib- und Eßräumen. Muß einer eine weitere Reise machen, so muß er, falls er nicht das absolut gefahrlose Fliegen vorzieht, alle Behaglichkeit vorfinden. Ganz Europa ist mit einem Netz elektrischer Schnellbahnen und Schwebebahnen überzogen.«

»Warum reisen nicht schon alle Menschen mit dem Flugzeug?«

»Weil man im Flugzeug noch gewisse Bequemlichkeiten entbehren muß. Ein Kaufmann zum Beispiel, der seine gewohnte Tätigkeit nicht unterbrechen will, reist mit der Bahn. In der Schreibstube hat er geschulte Kräfte zur Verfügung, denen er seine Briefe diktieren kann, er steht während seiner ganzen Reise telephonisch mit seinem Hause in Verbindung und er findet zugleich alle Behaglichkeit im Zuge, die ihm das Flugzeug mit seinem verhältnismäßig beschränkten Raum nicht bieten kann.«

»Da wäre also im Grunde genommen das Fliegen überflüssig?«

»Im Gegenteil. Wollen Sie vier Tage nach Amerika fahren? Wir fliegen heute in zwanzig Stunden.«

»Nach Amerika?«

»Ja, in unsere Vereinigten Bruderstaaten oder nach Indien, nach Persien, nach Australien... da muß man natürlich fliegen.

Aber finden wir wieder zurück. In dieser Welt des Unrechts und Vorrechts suchten die sozialistischen Parteien der einzelnen Länder den Ausweg, daß sie die Macht der Masse auch hier wirken ließen. Schon in Ihren Tagen gab es eine Menge von Arbeitervereinen, die sich die Erreichung irgendeines Kulturzieles zur Aufgabe gestellt hatten. Vor allem gab es einen Erziehungsverein, der sich 'Arbeiterverein Kinderfreunde' nannte. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, aus den Kindern der Arbeiterklasse denkende, aufrechte und hilfsbereite Menschen zu machen. Das erforderte einen großen Aufwand von Menschen und Einrichtungen.«

Ein Lächeln umspielte den Mund Richards. »Bemühen Sie sich nicht, lieber Direktor Ensler, ich selbst war Gruppenobmann der 'Schul- und Kinderfreunde', und nun, da Sie die Erinnerung wecken, steht alles klar vor mir. Das war ein Kampf! Überall gab es Arbeiterkinder und nur an 350 Orten des damaligen Österreichs Ortsgruppen und in diesen fehlte es am Nötigsten. Nur wenige von den Obmännern kämpften für hohe Beiträge, die meisten hatten Angst vor der Krise, die in diesen Jahren einige hunderttausend Arbeiter zur Arbeitslosigkeit verurteilte und damit zum Hungern samt ihren Familien. Leisteten aber die eigenen Mitglieder kaum mehr als einen Groschen täglich, was sollte man da von der Arbeiterklasse fordern? Denn daß die hunderttausend Kinderfreunde meiner Zeit nicht die Arbeit für die Million österreichischer Gewerkschafter leisten konnten, für deren Kinder auch Erziehungseinrichtungen geschaffen werden mußten, das war klar. Zahlten aber die 'Kinderfreunde' selbst nur einen Groschen täglich, wie sollte man von den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern den hohen Betrag hereinbekommen, den die Kinderfreunde Kindergroschen genannt hatten, und der darin bestand, daß jeder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter vorweg einen Groschen vom Lohnschilling, also ein Hundertstel seines Einkommens, für die Erziehung der Kinder seiner Klasse, gleichsam als Erziehungssteuer für den Staat im Staate zahlen sollte. Auch hier meinten viele Gruppenobleute, daß es die Krise nicht möglich mache, eine solche Steuer zu zahlen. Es war zum Verzweifeln. Auf der andern Seite standen die katholischen Bischöfe und erließen einen Bannfluch nach dem andern gegen die 'Kinderfreunde', und viele, besonders die Frauen, lie- ßen sich durch solche 'Hirtenbriefe', die von allen Kanzeln Österreichs verlesen wurden, abschrecken. Erst als der Wiener Bischof in einem Hirtenbrief in Beziehung auf die 'Kinderfreunde', die der Jugend Verder- ben brächten, nach einer seltsamen Bibelübersetzung das Wort Christi zitierte, daß 'der, der eines der Kleinen in seinem Glauben störte, verdiente, daß man einen Mühlstein an seinen Hals hinge und ihn in die Tiefe des Meeres versenkte', erst von diesem Tage an begannen die Mütter zu denken.«

Ensler lachte aus vollem Halse.

»Warum lachen Sie, Direktor?«

»Weil Sie sich so ereifern ... für mich war das ein sehr lebendiger Beitrag für den schweren Kampf, den es Euch, den Vorläufern der neuen Zeit gekostet hat, die Welt vorwärtszubringen, aber die Saat, die Ihr damals gestreut habt, ist herrlich aufgegangen... allen Mühlsteinbischöfen zum Trotz!«

»Wirklich?«, sagte Richard freudig bewegt.

»Wir Pädagogen behaupten, daß der ganze Wandel unserer Zeit seinen Anstoß empfangen hat aus Ihrer Bewegung.«

»Wie ist das gekommen?«

»Vor allem durch Vereinigung der Kräfte. Schon im Jahre 1930 hatten sich alle Erziehungs- und Kulturorganisationen Österreichs zu einem einzigen großen Gebilde zusammengeschlossen. Eine Zählung hatte ergeben, daß alle diese Organisationen zusammen eine Million Köpfe vereinigten. Durch Doppelmitgliedschaften bei verschiedenen Kulturvereinen sank diese Zahl auf die Hälfte, aber diese fünfhunderttausend proletarischen Männer und Frauen waren eine ebenbürtige Macht gegenüber den andern Organisationszweigen. Jetzt erst war die Kraft gegeben, die die Arbeiterklasse zur Leistung einer Erziehungssteuer für den Staat im Staate bewegen konnte. Vor allem die Fünfhunderttausend selbst! Sie gingen durch den denkwürdigen Beschluß vom 1. Jänner 1930, an welchem Tage sie sich zum ersten österreichischen sozialistischen Kulturtag zusammenfanden, mit gutem Beispiel voran. Sie beschlossen, von nun an die Kultursteuer zu bezahlen und von allen organisierten Arbeitern ein Gleiches zu fordern. Diese Fünfhunderttausend stellten etwa die Hälfte der organisierten Arbeiterschaft des damaligen Österreichs vor. Der Durchschnittswochenlohn betrug sechzig Schilling, ein Hundertstel davon sechzig Groschen. Diese Steuer sollte jeder Arbeiter auf sich nehmen. Das ergab sechzig Millionen Groschen wöchentlich oder sechshunderttausend Schilling und im Jahr dreißig Millionen Schilling. Das war ja nicht überwältigend viel, aber es war doch möglich, damit großartige Einrichtungen zu schaffen. Zu dem kam, daß alle Organisationen gewisse Werte mitgebracht hatten...«

»Ihre Heime, die Spiel- und Sportplätze«, ergänzte Richard.

»Am schwersten lastete damals noch auf der Arbeiterklasse der, Alkoholgenuß«, fuhr Ensler fort.

»Wie hält das heute die Arbeiterschaft?«

»Der Alkohol ist längst überwunden -- das Beispiel Amerikas war auf die Dauer von Europa nicht zu übersehen, auch Europa wurde trocken gelegt... Staat um Staat, zuerst die kulturell am höchsten stehenden nordischen Staaten, dann die Schweiz, bald darauf Österreich, das mächtige Rußland, dann England.«

»Also man trinkt nicht mehr?«

»Seit siebzig Jahren schon etwa nicht mehr.«

»Bravo! bravo! Da konnte es dann freilich mit Riesenschritten vorwärtsgehen.«

»Allerdings. Also damals anno 1930 waren die Arbeiter noch vielfach auf das Wirtshaus, auf die Alkoholstätte, angewiesen. Selbst die sogenannten Arbeiterheime waren Brauerheime, das heißt, sie waren nicht von den Spargroschen der Arbeiter errichtet oder von Steuergeldern für den Staat im Staate, die Arbeiterheime, die Bildungsburgen der Arbeiterklasse sein sollten, sie waren meist auf Schulden gebaut, und das Kapital hatten nicht selten die Brauherren vorgestreckt, die dann nicht nur die Geldverzinsung forderten, sondern auch, daß die Arbeiter möglichst viel von den Rauschgetränken trinken sollten. Man hätte an die Wände dieser Heime ruhig den Satz schreiben können: Arbeiter trinkt, damit wir die Zinsen zahlen können.«

»Das ist richtig! Aber zu meiner Zeit fehlte selbst den Einsichtigen dazu der Mut, die wenigen, die solches aussprachen, wurden als unheilbare Narren bespöttelt, und die Einsichtigsten unter den obersten Verantwortlichen der Arbeiterklasse klopften höchstens so einem 'Narren' wohlwollend auf die Schulter aber geschehen ist nichts...«

Richard hatte sich fast in Erregung hineingeredet.

»Nur keine Aufregung. Sie käme auch zu spät. Der Erziehungs- und Kulturgroschen hat hier Wandel geschaffen. Dreißig Millionen waren nicht zuviel, aber mit dem Aufwand von zwanzigtausend Schilling konnte ein Klubheim gemietet und behaglich einge- richtet werden, ein Klubheim mit einem größeren, für etwa zweihundert Personen berechneten Saal und mehreren kleinen Räumen, einer Bibliothek, einem Unterrichts- und Sitzungszimmer, einer Teeküche. Solche Heime wurden aus den Erträgnissen des ersten Jahres 1500 errichtet. In diesen Klubheimen des Kulturbundes konnte jeder frei und offen seine Meinung sagen, und die anderen versuchten ihn zu überzeugen. Sie wurden zu Kirchen der neuen Menschen, vergleichbar den Kapellen der ersten Christengemeinden.«

»Unsere kühnsten Träume sind übertroffen.«

»Das war aber nur der Anfang. Mit etwa 2000 solchen Klubheimen war für den Anfang genug getan. Erhalten mußten sie sich selbst, und das war sehr leicht, weil für jeden Besuch nur ein österreichisches Zehngroschenstück oder später nach der Vereinigung mit Deutschland fünf Pfennige eingehoben zu werden brauchten, um die dauernden Erhaltungskosten hereinzubringen. Früher mußte der Arbeiter im Gasthaus, im Arbeiterheim für ein Glas Bier vierzig Groschen bezahlen, nun enthielt er die Alkoholenthebungskarte um zehn Groschen, und damit konnte alles geleistet werden, was das Heim für den Alltag brauchte. Gab es Künstler- oder Kinoabende, dann wurden bescheidene Eintrittsgelder erhoben, die den höheren Aufwand deckten. So war also der Kulturgroschen für andere Zwecke frei. Nun wurden planmäßig Wanderhütten im Gebirge, Spielplätze, Nester der 'Roten Falken', eine Jungmannstruppe, die sich aus den älteren Kinderfreundekindern zusammensetzte, errichtet, Erholungsheime an den Seen und im Gebirge, Lehrer wurden bestellt für alle möglichen sportlichen Betätigungen, junge Malkünstler zogen, geleitet von ihren Professoren aus, um alle diese Heime künstlerisch zu schmücken, Wanderlehrer für alle Erziehungs- und Kulturfragen waren ununterbrochen unterwegs, um überallhin die Botschaft und die Tat sozialistischer Kultur zu tragen.

Es war ein freudiger Wetteifer aller, den andern und damit auch sich das Leben schön zu machen. Der Segen dieser ersten Kulturheime stellte sich auch augenblicklich ein. Sie wirkten wie eine Erlösung aus langem bösen Bann. Ganz besonders die Frauen, die bis dahin auf die enge Umwelt ihrer Wohnung angewiesen waren, denen als geistige Nahrung nichts wurde, als der Nachbarinnentratsch, das Kino und die Kirche, kamen nun in Scharen in diese Heime des Erziehungs- und Kulturbundes. Sie lebten förmlich auf. Nun strömten dieselben Frauen, die früher in die Kirchen pilgerten, abends in das Kulturheim, wo sie behagliche, seelische und geistige Wärme umfing. Es war aber auch wirklich alles danach angetan, die Seelen zu erfreuen. Die planmäßig durchgeführte Erziehung zur Kunst hatte die Arbeiter schauen gelernt, sie lernten Gutes von Schlechtem, Besseres von Gutem und Bestes von Besserem unterscheiden, und viele, die früher gar keine Wohnkultur gehabt hatten, wetteiferten nun, ihr Heim so schön wie möglich zu gestalten. Die Häuser selbst hatten ja schon künstlerischen Schmuck, seit der Wohnungsbau zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden war.«

»Wie das?«, fiel Richard ein, der mit wachsendem Staunen den Bericht vernommen hatte.

»Die Anfänge reichen ja noch in Ihre Zeit. Damals war freilich der Häuserbau scheinbar nur vorübergehend eine öffentliche Angelegenheit einzelner Stadtgemeinden, die, um der Wohnungsnot nach dem Weltkrieg entgegenzuarbeiten, mit Hilfe von Wohnbausteuern, die sie von allen Bürgern einhoben, neue Häuser errichteten.«

»Daran erinnere ich mich, besonders in Wien war diese Bewegung vielversprechend.«

»Ganz richtig! Da wurden in wenigen Jahren sechzigtausend Wohnungen errichtet.«

»Aber das private Kapital und der Staat setzten sich dagegen zur Wehr.«

»Das hat nichts genützt. Dieser Wiener Miet- und Baukrieg, der in der Geschichte eine gewisse Berühmtheit erreicht hat, war der Anfang der Sozialisierung des ganzen Wohnbauwesens. Nach zehnjähriger planmäßiger Bautätigkeit war die Gemeinde Wien nicht nur die größte Hausbesitzerin in der Stadt, ihr Besitz war so groß, daß sie durch ihre Mietpolitik den ganzen Wohnungsmarkt beherrschen konnte. Die alten Häuser mit ihren unzulänglichen sozialen Einrichtungen, mit ihren ungesunden, finsteren, licht- und sonnenlosen Wohnungen wurden immer mehr entwertet, sodaß ihre Besitzer schließlich froh waren, daß die Gemeinde diese Häuser übernahm. So hat die Gemeinde ganze Stadtviertel in ihre Hand bekommen und an die Stelle der früheren alten, baufälligen Rattenburgen neue schöne lichte sonnige Wohnhöfe mit hübschen Gemeinschaftseinrichtungen hingestellt. Sie waren der Anfang unserer heutigen Wohnweise, die es uns erlaubt, für alle unsere Gemeinschaftseinrichtungen das Feinste und Beste heranzuziehen. Das ist der Segen, daß die Sorge für die menschlichen Wohnungen schon so lange aus einer privatkapitalistischen zu einer öffentlichen wurde. Zu Ihrer Zeit, Freund Richard, war schon der ganze Verkehr in den Händen des Staates, aber daß der Staat Häuser gebaut hätte, das kam nicht vor, höchstens für öffentliche Zwecke oder irgendwo für seine Bediensteten.

Nur der erste sozialistische Minister Englands Mac Donald hatte in seinem Programm den Bau von Fünfzigtausend Wohnhäusern für Arbeiter auf dem Lande vorgesehen, ein Programmpunkt, der nicht wenig zu seinem Sturze durch die Konservativen beitrug, die in Mac Donald schon den Herkules sahen, der den Kapitalismus niederringen werde.

Heute aber versteht es sich so ganz von selbst, daß nur öffentliche Gewalten für die Wohnhäuser sorgen, wie Sie sich zu Ihrer Zeit kaum einen Zustand hätten denken können, in der der Staat und die Ortsverwaltung nicht für die Verkehrsmittel, für die örtlichen und Fernbahnen oder für das Wasser und das Brot gesorgt hätte.«

»Das Brot? Nein, lieber Direktor, da sind Sie im Irrtum. Das Brot wurde zu meiner Zeit noch in vielen kleinen Bäckereien hergestellt, es war ein wichtiges Mittel, die Bevölkerung zu bewuchern.«

»Ganz richtig, zu Ihrer Zeit!... Die Broterzeugung wurde erst staatlich bewirtschaftet, als wir zur europäischen Planwirtschaft übergingen, das war aber erst etliche Jahre nach der Bildung der Vereinigten Staaten.« »Europäische Planwirtschaft? Was ist das?«

»Ich fürchte, lieber Freund, es wird uns für heute zuviel, wenn wir auch noch darauf eingehen.«

»Aber die Wahlsprache, das Dienstjahr, das Tauschjahr ... vergessen Sie nicht!«

»Alles kommt, Freund Richard. Morgen ist auch ein Tag. Da kommt übrigens schon unser gestrenger Herr Dr. Corbett, die Stunde ist um. Auf Wiedersehen für morgen!«

Mit herzlichem Händedruck schieden die beiden Männer voneinander. Dr. Corbett aber schob seinen Arm unter den Richards und schlenderte mit ihm in den Gartenhof des Zauberschlössels, wo schon Marianne und Alexandra warteten, um dem Gast aus dem zwanzigsten Jahrhundert zu dienen.

DAS RADIO, DIE WELTGOUVERNANTE

Genau zur vereinbarten Stunde surrte am nächsten Morgen Enslers Vogel über dem Föhrenwalde. Richard, auf dessen Wangen sich schon blasse Röte zu zeigen begann -- ein Zeichen fortschreitender Gesundung stand schon auf der Freitreppe und neben ihm Alexandra. Mit einem fast schwärmerischen Blick sah sie zu dem blonden Riesen auf, der sie um Haupteslänge überragte. Jetzt erst, nachdem Leben in die »Mumie« gekommen war, wurde es sichtbar, was für ein körperlich prächtiger Mensch Richard einst gewesen sein mußte. Aber nun reckte und dehnte und wanderte und turnte er sich ja wieder in seine alte Gestalt hinein. Von Tag zu Tag schien er eine seltsame Erscheinung zu wachsen. Freilich als »Mumie« war Richards Leib mehr und mehr eingeschrumpft, das Knochengerüst nur war geblieben, aber nun füllten sich die erschlafften Muskeln wieder auf, ohne daß schon Gelegenheit gewesen wäre zu irgendwelchem Fettansatz. Dadurch erreichte die Natur ein Ebenmaß von seltener Schönheit. Und wie er zu reden verstand! Wie wohlgebildet er war, wirklich innerlich dankbar für jeden Handgriff, den jemand für ihn tat. Er ließ es für seine drei Mütter, wie er Marianne, Alexandra und Anita nannte -- diese war schon wieder ihres Dienstes ledig -- auch nicht an zarten Aufmerksamkeiten fehlen.

Wer näher zusah, hätte freilich sehen können, daß sich am häufigsten Richards Aufmerksamkeiten Alexandra gegenüber äußerten. Er wollte es sich nur noch nicht eingestehen. Immer wieder tauchten neben dem Bild Emmas, seiner einstigen Braut, die edelgeformten Züge der kleinen Russin auf.

Und hätte man Alexandra gefragt, auch ihr ging es ähnlich. Sie fühlte sich mehr und mehr zu dem hundertfünfunddreißigjährigen Manne hingezogen. Einhundertfünfunddreißigjährigen? Lächerlich, fünfunddreißigjährigen! Richard war ja jung, elastisch, geschmeidig -- eben hatte sie sich wieder in ihrem Innern in einen Eifer für Richard hineingeredet, der ihr selbst schon verdächtig vorzukommen schien, und ihr heißes Blut sandte dann zu Richard den schwärmerischen Blick. Ihre Unbefangenheit, mit der sie ihn noch vor wenigen Tagen Kind Richard genannt hatte, war dahin!

Aber oben in den Lüften surrte Enslers Vogel und erinnerte Richard an seine Verabredung. »Auf Wiedersehen, liebe Alexandra!«

»Auf Wiedersehen, Herr Richard...« Wie fremd das klang. Sie ergänzte auch gleich: »Kommen Sie gut zurück... Richard.«

Er reichte ihr die Hand zum Abschied.

Ensler hatte den Kreis schon ganz unten gezogen, der Motor war abgestellt, und schwebend ging der Vogel nieder. Es war, wie wenn sich eine große Taube flatternd setzte. Kaum hatte der »Wagen«, das an einen Kahn montierte Rädergestell des Flugzeuges, die Erde berührt, so stand es auch schon stille.

»Also die Wahlsprache, das Dienstjahr, das Tauschjahr, die Planwirtschaft waren Ihr letztes Begehr«, so begrüßte Ensler lachend Richard. »Gut geschlafen, mein Lieber? Gut ausgeruht? Heute gilt es, eine weite

Reise zu machen.«

»Danke, lieber Direktor, Ihr Schüler ist in bester Verfassung und auf das äußerste gespannt.«

»Nun, denn man los, wie man in Alt-Berlin sagte«, gab Ensler lachend zurück, schob seinen Arm unter den Richards und wanderte mit ihm dem Walde zu. »Also Europas Planwirtschaft...«

»Die Voraussetzung waren die Vereinigten Staaten Europas, und ihre Voraussetzung war, daß sich die Menschen verständigten. Da hat nun der sozialistische Kulturbund und vor allem Ihre, die Erziehungsorganisation, da haben die 'Kinderfreunde' Großes dazu beigetragen. Von den Kinderfreunden ist eine Idee ausgegangen, die die Menschen rascher näherbrachte, als alle vorhergegangenen Versuche, die auch mehr dem Weltfrieden diente, als alles, was vorher unternommen worden war. Die Menschen einander näherbringen, das konnte auf zweifache Weise geschehen, dadurch, daß man den Kindern die besten Schriftwerke aller Völker zugänglich machte, und dadurch, daß man die Kinder in andere Länder brachte. Die Not nach dem Weltkrieg hatte zu der ersten europäischen Kinderwanderung geführt. Zuerst war es das kleine zerstückelte Österreich, das gezwungen war, seine Kinder, wollte es sie vor dem Hunger und seinen Folgekrankheiten erretten, in das Ausland zu schicken. Nicht nur das verbündete Deutschland, wo doch noch etwas mehr Brot war, nahm Wiener Kinder auf, die neutralen Länder Holland, Schweden, Dänemark, Norwegen, vor allem die Schweiz wetteiferten, verhungerte Wiener Kinder zu erretten, aber auch die Feinde kamen. In wahrhaft großzügiger Weise das kurz nach dem Krieg sozialistische Italien, das viele tausend Wiener Kinder auf vier Monate aufnahm, Frankreich und auch England. Aus dieser einseitigen Kinderverschickung wurde der Gedanke des europäischen Kindertausches geboren. Er lag nahe. Wohl hatte der Ausgang des Weltkrieges zunächst über die Kinder der besiegten Länder besonderes Elend gebracht. Sie waren ja auch während des Krieges durch die Abschließung, die einem Aushungerungskrieg gleichkam, zu größerem Hunger verurteilt gewesen, als sonst Kinder kriegführender Länder. Aber bald zeigte es sich, daß ganz Europa schwerstes Kinderelend zu besiegen hatte.

Das wurde schon auf einem Kongreß in Mailand zwei Jahre nach dem Weltkrieg vorhergesagt. Dort wurde es auch zum ersten Male als wünschenswert bezeichnet, daß alle europäischen Länder ihre für die Jugend bereitgestellten Erholungseinrichtungen und ihre Gesundungsheime allen Kindern der Welt zugängig machen sollten. Bis dahin war es nur den Kindern der Reichen möglich, alle Segnungen fremder Zonen für sich in Anspruch zu nehmen. Alle Kurorte der Welt waren international, aber sie waren nur dem zugänglich, der auch die Rechnung für den Schutz seiner Gesundheit zahlen konnte. Es fehlte an Einrichtungen. Nun sollten alle europäischen Kinderheime zur Verfügung gestellt werden. Die Kinderfreunde sollten den Anfang machen.

Die europäische Kinderwanderung nach dem Weltkrieg, das war Wohltätigkeit, und für Wohltaten zahlen die Kinder die Zinsen der Demut aber der europäische Kindertausch wurde die wichtigste Erziehungsmaßnahme zur Erringung und Sicherung des dauernden europäischen Friedens. Es waren nur die wirklichen Kosten zu bezahlen, eine Kleinigkeit, die leicht wog gegenüber den Vorteilen, die den Kindern wurden. Der Tausch wurde immer so vermittelt, daß das Kind nicht nur ein fremdes Land mit anderer Sprache kennenlernte, sondern daß es auch in eine Familie kam, deren Oberhaupt einen andern Beruf hatte als der Vater oder die Mutter des Kindes, und daß es wenigstens ein Jahr im fremden Lande blieb, wo es auch die öffentliche Schule pflichtgemäß zu besuchen hatte. Daraus, lieber Richard, wurde die Wahlsprache.«

»Ich verstehe nicht.«

»Sie werden gleich verstehen. Das war der Anfang. Wie hier, so erwies sich der Umstand, daß die Menschen meist nur eine Sprache sprachen, auch auf vielen andern Gebieten hinderlich, die Staaten Europas konnten zu einem Gebilde erst dann werden, wenn sich die Menschen, die Europa bevölkerten, untereinander verständigen konnten. Daraus wuchs der Plan der Wahlsprache. Sie war von den Kinderfreunden und dem sozialistischen Kulturbund auch durch eine andere schöne Sache vorbereitet worden. Das war die Weltbücherei für Kinder.«

»Ist die zustande gekommen?«

»Ja, natürlich. Und sie hat ungemein segensreich gewirkt. Sie erinnern sich, daß zu ihrer Zeit jedes Jahr ein sogenannter Friedenspreis verteilt wurde. Er war von dem erfolgreichen Chemiker Alfred Nobel gestiftet worden. Dieser hatte das Dynamit, den einstens wirksamsten Sprengstoff erfunden, der die Kriege erst so furchtbar gestaltet hatte. Er hatte, vielleicht um sein seelisches Gleichgewicht herzustellen, den größten Teil des Ertrags seines ganzen Vermögens, etwa 35 Millionen Mark, für die Verteilung von jährlich fünf Preisen gestiftet, die für die wichtigste Entdeckung auf dem Gebiete der Physik oder der Chemie oder der Medizin und der Physiologie oder für das in einer beliebigen Sprache verfaßte Werk, das sich am meisten durch hohe ideale Tendenz auszeichnet, und für das verdienstvollste und wirksamste Bestreben zur Förderung allgemeiner Brüderlichkeit, Aufhebung und Verminderung der stehenden Heere und Errichtung von Schiedsgerichtshöfen zwischen den verschiedenen Staaten. Dieser fünfte Preis wurde kurz der Friedenspreis genannt. Er wurde mit den andern Preisen am 10. Dezember 1901, dem fünften Todestage des Stifters, zum ersten Male erteilt. Dieser Preis konnte auch einer Körperschaft ver- liehen werden, und darauf gestützt, legte die, Internationale für sozialistische Erziehung ihren Plan vor, durch die Vermittlung von gleichen Büchern die Geistigkeit der Kinder der ganzen Welt in gleicher Art zu beeinflussen. Es wurde jede europäische Nation gebeten, zehn kurze Erzählungen aus dem internationalen Schrifttum zu nehmen, von denen zu erwarten war, daß sie die Kinder am ehesten zu dem Geiste der Menschenliebe, der friedlichen Verständigung, der gegenseitigen Achtung, des gegenseitigen Sichverstehens, kurz, zum Geiste allgemeiner Brüderlichkeit führen würden. Diese Umfrage hatte glänzenden Erfolg. Eine ganze Reihe von Werken erhielt die Stimmen aller Nationen, andere die Mehrheit. Die zehn Werke, die die meisten Stimmen hatten, wurden zunächst in die zehn wichtigsten Sprachen der bewohnten Erde, das heißt in die zehn Sprachen mit größter Verbreitung, übersetzt, wobei den europäischen Sprachen sechs Plätze eingeräumt waren. Die Übersetzung besorgten erste Dichter der Nationen, in deren Sprache die Kunstwerke übersetzt werden sollten, ein Künstler aus dem Ursprungslande des Werkes aber lieferte die Bilder dazu und den Buchschmuck. Mit Hilfe des Friedenspreises konnten diese Bücher so billig hergestellt werden, daß der Grundpreis für jeden Band ein amerikanischer Cent war. Wirkung: diese dünnen Hefte -- jedes war nur einen Druckbogen stark -- konnten in Millionen Exemplaren hinausflattern, jedes Schulkind der damaligen bewohnten Erde, vorwiegend Europas und Amerikas, bekam dieselben zehn Geschichten mit auf den Lebensweg -- im ersten Jahr, und da die Sache einschlug, im zweiten Jahre wieder zehn und wieder zehn, und zum Schluß hatte jedes Kind während seiner Schulzeit die hundert besten Werke der Menschenversöhnung nicht nur in körperlichem Besitz, sondern hatte sie auch in sich aufgenommen und daraus erfahren, die Lebensweisheit geschöpft, nach der es sein ganzes künftiges Leben einrichten konnte -- daß überall in der Welt gute, vortreffliche, große Menschen wohnen, daß die Welt zu allen Zeiten voll herrlicher Gestalten war, und daß es nur galt, ihres Geistes voll zu werden, daß es nur galt, den Schatz zu heben. In allen Schulen waren diese Hefte Klassenlesestoff.

Beide Unternehmungen, sowohl der europäische Kinderaustausch wie auch die Weltbücherei der Kinder führten dann zwangläufig zur Wahlsprache. Es wurde zum Bundesgesetz der V. S. E., daß jeder Mensch neben seiner Muttersprache noch eine zweite von sechs Sprachen vollkommen beherrschen muß, die ebenfalls nach der Stärke ihrer Weltverbreitung ermittelt worden war: vier europäische und zwei asiatische, Englisch, Spanisch, Russisch und Deutsch als europäisch-amerikanische Weltsprachen, Malaiisch und Neuchinesisch als asiatische Sprachen. Eine von diesen sechs Sprachen mußte jeder Mensch neben seiner Muttersprache kennen und war eine dieser sechs Sprachen seine Muttersprache, dann mußte er eine zweite von den sechs beherrschen, welche, das stand in seiner, eigentlich in seiner Eltern Wahl denn die Beherrschung einer Sprache wird einem nicht ohne Mühe. Und diese Mühe muß in früher Jugend einsetzen. Auch hier wurde wieder ein aufreizender Unterschied zwischen der Bürger- und der Arbeiterklasse durch öffentliche Einrichtungen ausgeglichen. In jedem Schulsprengel gab es für alle Schulgrade die Möglichkeit der Erlernung der Wahlsprache. Schon mit drei Jahren kamen die Kinder in die Montessori-Heime, wo sie nach dem System der großen italienischen Erziehungsrevolutionärin ohne jede Gewaltanwendung nur durch das System der selbsttätigen Erziehung zum selbständigen Menschen erzogen wurden. Den Kindern stand alles offen, was ihr Herz begehren konnte, in guten, ungefährlichen Spielräumen ohne Unebenheit des Bodens und mit allen den Gesundheitsvorschriften entsprechenden Reinigungsmöglichkeiten fanden sie alles Spielzeug, dazu Musik und gute Bildwerke und Bilderbücher -- Bilderbücher ohne Peitsche! -- und was für des Lebens Notdürfte sonst noch nötig war. Sie konnten alles selbst aus den Kasten nehmen, sie mußten es nur nach der Benutzung wieder einräumen und an denselben Ort zurückbringen. So wurden sie zu nützlichen Gliedern der Gemeinschaft, die sie mit andern bildeten. Aber schon diese Schulen, die nur von Frauen geführt waren, von den mütterlichsten aller Frauen, waren sprachlich geschieden. Für jede Wahlsprache gab es in jedem Schulsprengel eigene Montessori-Schulen, die dann ganz in dieser Sprache und von Lehrerinnen geführt wurden, denen diese Sprache die Muttersprache war. Es war, als ob die Kinder in ein fremdes Reich gekommen wären -- alle Aufschriften in der fremden Sprache, kein Wort in der Muttersprache. Die Schule wurde zur Massengouvernante. Das Vorbild der Besitzenden, den Kindern spielerisch eine andere Sprache beizubringen, war gebrochen, jedes Kind konnte und sollte, ja mußte die Freizügigkeit gewinnen, die die võllige Beherrschung einer zweiten Sprache besonders dann bringt, wenn diese zweite Sprache als Weltsprache erklärt ist, und das waren ja die Wahlsprachen.«

»Wie fesselnd ist doch dieses System«, sagte Richard, »und um wieviel besser als das schulmäßige Sprachenlernen, das ja zu meiner Zeit schon in den nordischen Ländern, in Holland, auch in Hamburg schon in den Unterschulen betrieben wurde.«

»Und wie einfach! Das ist das Natürliche. Wo stand es denn geschrieben, daß nur die Kinder der Reichen die Möglichkeit haben sollten, eine zweite Sprache förmlich spielerisch zu erlernen?«

»Und in dieser Wahlsprache wurde dann dieses Kind weiter erzogen?«

»Ja, auch die Lese-und Arbeitsschule hatte die Sprachenscheidung.«

»Was ist das, Lese- und Arbeitsschule?«

»Wir haben schon einmal davon kurz gesprochen, aber auch heute wollen wir nicht tiefer eindringen, das werden Sie besser verstehen lernen, wenn wir einmal einer solchen Schule einen Besuch abstatten. Ihr Sinn war nur der, die Kinder im freien Gedankenaustausch heranzubilden, ihren geistigen Regungen zu folgen. Ihnen geordnete Kenntnisse schon aufzuzwingen, dazu war ihr junges Gehirn noch zu zart. Erst mit dem zehnten Jahre setzt dann die Lernschule ein. Diese dauert vier Jahre. Während ihr muß das Kind auf ein Jahr in die Fremde, in das Tauschland, dessen Sprache ihm Wahlsprache war. Es kam dann mit der der Altersstufe entsprechenden vollständigen Kenntnis dieser Sprache zurück und der Unterricht in der Lernschule konnte zwanglos in beiden Sprachen, in der Muttersprache und in der Wahlsprache erteilt werden. So wurde jeder Europäer zumindest ein doppelter Mensch. Aber viele Kinder -- und auch dazu war Gelegenheit geboten -- erlernten noch eine zweite Wahlsprache, die ihnen für ihre künftige Berufswahl wichtig schien, und fügten dann an die vier Klassen der Einheits- oder Lernschule ein zweites Tauschjahr in dem Lande der zweiten Wahlsprache an, wo sie zugleich die erste Klasse der vierklassigen Oberschule besuchten, die sie für ihren eigentlichen Beruf vorbereiten sollte.

Dieses ganze Schulsystem und das Sprachenlernen in ihm wird noch durch das Radio unterstützt. In den kleinen Landorten der Getreideländer ist es auch heute nicht möglich, für alle sechs Wahlsprachen eigene Schulen zu errichten, da konnten nur Lehrer Aufnahme finden, die mehrere Wahlsprachen beherrschen, und alle diese Schulen sind mit den Radiostationen der Wahl- sprachländer so verbunden, daß die Kinder durch das Radio nicht nur ergänzenden Sprachunterricht finden, sondern daß sie sich durch das Radiohören auch an den Lautklang der fremden Sprache gewöhnen können. So ist das Radio in unseren Zeiten zur Weltgouvernante geworden, und zwar dadurch zu einer sehr amüsanten Gouvernante, weil sie alles das, was sie gerade erzählt, auch... aber lassen wir das auch noch, das würde zu weit führen, es ergibt sich noch Gelegenheit, Sie in die Wunder des Radio einzuführen.«

»Warum diese Geheimnistuerei?«

Ensler lächelte eigen. »Kommt Zeit, kommt Rat, für heute würde es uns zu weit führen, wenn wir auch davon reden wollten. Nehmen Sie es als gegebene Wahrheit hin. Die Kinder des einundzwanzigsten Jahrhunderts lieben die 'Tante Radio' wie nichts auf der Welt. Sie ist ein ewig unausschöpfbares und ewig neues lebeniges Bilderbuch.«

»Ich verstehe nicht.«

»Wird werden mein Lieber, Sie werden bald verstehen lernen schon beim ersten Spitalbesuch. Wir müssen wieder zu unserer Oberschule zurückkehren, sonst zersplittern wir uns. In der Oberstufe gibt es Fach- und allgemeine Oberschulen, die wieder die Grundlage bieten für die Meisterschulen oder Hochschulen, wie sie früher einmal hießen. Meisterschulen gibt es für alle Wissensfächer. Aus ihnen gehen vor allem auch die Erzieher hervor. In Ihrer Zeit hatte man der Ausbildung der Erzieher wenig Raum gewährt, aber seit man erkannt hatte, daß nur höchste Bildung die Menschen befreien und erlösen kann, seither war der Ausbildung der Volksbildner die höchste Aufmerksamkeit zugewendet worden. Nicht nur, daß man die von Natur aus am meisten Befähigten sorgfältig auswählte, das hohe Ziel, Erzieher der Jugend werden zu können, konnte nur der erreichen, der mit seinen Herzenseigenschaften auch höchste geistige Eigenschaften vereinigte.

Nun, lieber Richard, wissen Sie endlich, was es für eine Bewandtnis mit der Wahlsprache und mit dem Tauschland hat.«

»Ich bekenne, daß ich in eine glückliche Zeit hinübergeschlafen habe.«

»Wir freuen uns auch des Lebens«, sagte Ensler, lachend, und ernster werdend fügte er hinzu: »und das Leben hat heute tiefen Sinn, den, daß wir Erdenbürger uns das Leben gegenseitig verschönern wollen.«

»Und die europäische Planwirtschaft?«

»Über die werden wir schon später einmal reden müssen. Vielleicht werden wir sie am besten besprechen, wenn wir einmal einen Gang durch ein Sozialmuseum machen in Paris, Berlin, Moskau oder Wien -- wohin Sie wollen.«

Richard mußte lächeln. Dem Fliegen als allgemeines Verkehrsmittel hatte sich der Gedankenflug durch den Raum angepaßt -- bei den andern. Die hatten schon Paris und Moskau in einem Sack, er mußte sich in diese Zeit erst einfühlen.

»Freilich müssen wir da noch warten, bis Sie ganz flügge geworden sind«, bemerkte Ensler lächelnd. »In den Sozialmuseen gibt es Karten und Statistiken und andere Behelfe, die uns besser als die schönsten Reden zeigen werden, wie unsinnig einst das zerstückelte Europa verwaltet wurde und welcher Segen aus den V.S. E. für alle erfloß.«

Eben stieg Alexandra die Freitreppe herab, als sich die beiden Freunde trennten.

EIN GANG DURCH DAS GESUNDUNGSHEIM

Der nächste war der große Tag Dr. Meisters. Im Einvernehmen mit Professor Brunner und mit Dr. Corbett war beschlossen worden, von nun an regelmäßig kleinere und größere Ausflüge und Führungen für Richard Fröhlich zu veranstalten. Der erste sollte, nachdem schon einige Waldgänge gemacht worden waren, dem Gesundungsheim selbst gelten, soweit er es noch nicht kennengelernt hatte. Meister selbst sollte die Führung haben. Aber weder Corbett noch die beiden Schwestern ließen es sich nehmen, Richard auf diesem Gange zu begleiten.

Schon im ersten Haus, dem Haus »zur alten Mühle«, bekam er einen Vorgeschmack dessen, was ihn erwartete. Es war ein Frauenpavillon für innere Krankheiten: Zwei, höchstens drei Frauen waren in einem der hellen freundlichen Zimmer mit weißem Ölanstrich und überall abgerundeten Ecken und Winkeln, auf daß die tägliche Reinigung auch nicht ein Stäubchen übersehen konnte. Durch ein breites, dreiteiliges Fenster, das nach dem Osten oder Süden ging, flutete Licht in reichem Maße herein. Nur nach diesen Himmelsrichtungen waren die Krankenzimmer angeordnet, die Nebenräume nach den anderen Richtungen Küchen und Laboratorien nach dem Norden. Da jedes Haus für sich in den Wald gestellt war, hatten es die Baukünstler leicht, diese Forderung zu erfüllen. Vor dem Fenster in gutem Abstand ein Blumenaufbau, ein langgestreckter Tisch mit einigen Aufsätzen und auf ihm herrliche Pflanzen aus dem Tropengarten der Glashäuser oder wenn die Natur selbst schon in verschwenderischer Fülle gab, die charaktervollen Boten der verschiedenen Jahreszeiten, die sich nicht künstlich ziehen lassen, die dem Menschen trotzen, wenn er ihrer Seele Gewalt antun will wie etwa die Schneeglöckchen.

Die Kranken wurden nicht wahllos in die Zimmer gebracht. Es waren immer womöglich gleichartige Kranke, aber Kranke verschiedener Grade, so daß der eine dem andern helfen, ihn aber auch trösten konnte. Fahr- und Liegestühle gab es. Konnte ein Kranker auch nur auf Stunden das Bett verlassen, so konnte er im Rollstuhl bei der Balkontür liegen, erlaubte es die Witterung irgendwie -- Sommer und Winter -- so gut eingehüllt im Freien auf dem Balkon. Und er konnte dann aus allen Hilfsquellen trinken, die die freie Natur, die Sonne, Licht und reine Luft an den genesenden Menschen heranbringen.

In diese Wunder sah nun Richard. Als sie sich der »alten Mühle« näherten, da wurde er schon von den Fenstern aus von den Kranken gesichtet, und da er die Freitreppe hinaufgestiegen war, kamen ihm einige Frauen, die in kleidsame Leinenschlafröcke gehüllt waren, mit Blumen entgegen:

»Wir grüßen den Wiedererstandenen! Schön willkommen!«, sagte die Sprecherin der Kranken, »wir freuen uns, Sie nun auch lebendig vor uns zu sehen, nicht mehr nur im Bilde.«

»Im Bilde? Haben Sie mich denn schon im Bilde gesehen, verehrte Frauen? Schönen Dank übrigens für Ihre so freundlichen Worte«, erwiderte Richard. »Natürlich. Eben vorhin haben wir Sie im Bilde gesehen, als Sie das Haus verlassen haben.«

Richard stand einem neuen Rätsel gegenüber. Er schien ganz hilflos.

Alexandra lächelte, und die anderen alle lächelten, bis der gutmütige Dr. Meister das Wort ergriff: »Es ist nicht so schlimm. Sie müssen uns verzeihen, daß wir Ihr Bild gezeigt haben, ohne Ihre Erlaubnis eingeholt zu haben. Wir wollten mit dem ersten Besuche im Gesundungsheim nur eine kleine Überraschung für Sie verbinden. Darum ist es geschehen. Wollen Sie Ihr Zimmer sehen und was dort eben vorgeht?«

»Mein Zimmer?«

»Ja, Ihr Zimmer im Rebenschlößchen. Bitte hier!« Damit ging Dr. Meister auf ein kleines Schaltbrett zu, das an der Wand angebracht war. Er stellte einen Hebel um -- ein Druck auf einen Knopf, und auf der weißen Wand gegenüber der Freitreppe erschien wie ein Zauberbild Richards Zimmer.

Gerade war der Gärtner Alois Walter, der berühmte Dahlienzüchter, im Zimmer und einer seiner Gehilfen, und sie ordneten aufs neue den Blumentisch.

Da war es Richard, als hörte er den Gärtner sagen: »Haben Sie die Zinerarien zur Hand?«

»In der Halle, Herr Walter«, und schon ging der Gärtner hinaus und brachte zwei prächtige Zinerarien ins Zimmer.

»Träume ich?« Hilflos sah Richard von einem zum anderen, »ich höre doch auch Stimmen? Walters Stimme und die seines Gehilfen?!«

»Warum sollen Sie diese Stimmen nicht hören?«, sagte Meister lachend, »unsere Radio-Visiographen sind ja sehr fein abgestimmt.«

»Das ist also nicht Spuk? Das ist Wirklichkeit?«

»Ja, lieber Freund, lebendigste Wirklichkeit«, sagte jetzt Ensler, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, »die lebendigste Wirklichkeit, und Sie verstehen nun, warum ich Ihnen gestern nicht das Letzte enthüllen wollte, als ich von der Allerweltsgouvernante Radio sprach, die uns den Sprachunterricht so verlebendigt. Schon dem dreijährigen Kinde wird durch diesen Zauber der Sprachunterricht zum lebendigsten Spiel. Das ist der Krug, das ist das Glas, das ist unser alter, lieber Freund, der Esel, das ist das Buch, das ist der Vogel, das ist sein Nest, hier rauscht ein Bach, und indem in der fremden Sprache Krug und Glas, Esel und Vogel, Bach und Nest dem Kinde vorgesprochen werden, erscheint an der Wand das Bild. Das ist unser lebendiges Bilderbuch, das unsere Kinder durch die ganze Schulzeit begleitet und vom einfachsten bis zu dem am meisten verwickelten Vorgang alles dem Kinde zeigt.«

»Wunderbar! Wunderbar!« Richard schien sprachlos.

»Gar kein Wunder! Nichts als natürliche Entwicklung! Der Menschengeist revoltiert auch heute noch gegen das verschleierte Bild von Sais, und immer weiter, immer tiefer gräbt der Forschergeist des Radio-Visiographen. In seiner heutigen Vollendung erfreuen wir uns schon annähernd fünfzig Jahre seiner Dienste. Wir alle, wie wir da sind, haben in der Schule den Niagara rauschen gehört und den Wassersturz zugleich gesehen. Das war seinerzeit das Glanzstück unseres erdkundlichen Unterrichts -- heute ist die Technik so weit, transportable Senderstationen zu bauen, die auch bei schwierigen Gebirgswanderungen von einem Mann getragen werden können. Dieser Umstand allein hat uns ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, insbesondere in Verbindung mit der Entwicklung des Flugwesens, das es uns ermöglicht, mit höchster Schonung der menschlichen Kräfte auch die schwierigsten Berge zu bewältigen. Jeder Gletscher, jede große Felsplatte erlaubt die Landung.«

»Daß sich da ungeahnte Möglichkeiten ergeben, das läßt sich denken. Herrlich! Das Radio das Auge der Welt, das Radio das Ohr der Welt!«

»Ganz so schätzen wir es ein, und für keinen von uns hat das Radio seine Wunderkraft verloren, immer wieder schaffen wir neue Möglichkeiten, zum Beispiel diese.«

Dr. Meister drückte auf den Taster, der das Haus zur »alten Mühle« mit dem Nachbarpavillon verband, und im nächsten Augenblick wechselte das lebende Bild an der Wand. Richard sah in einen Krankensaal, an dessen Wand ein Bild zu sehen war, das ihm einigermaßen bekannt vorkam. Es war die Halle, in der er eben stand, und er und seine ganze Gesellschaft belebten das Bild. Vor dem Bild aber standen die Frauen des anderen Krankenpavillons, um zu schauen, was hier vorgehe. Dr. Meister hatte mit dem Senken des Hebels die Generalverbindung mit allen Pavillons hergestellt. Da ihr Bild erschien, lachten die Frauen alle hellauf. Man sah ihnen das Vergnügen an, als sie sich plötzlich überrascht sahen und auf der Wand ihres Saales wieder ihr Saalbild als Wandbild in der Halle zurückgeworfen sahen. Einige hoben ihre vorbereiteten Blumensträuße und winkten Richard zu, so daß dieser nun schon einen Vorgeschmack von dem Empfang bekam, der ihn auch im nächsten Pavillon erwartete.

So war es auch überall, und Richard wurden aus so warmen Herzen kommende Achtungsbeweise, daß ihm selber ganz warm ums Herz wurde. Ein nie gekanntes Glücksgefühl bemächtigte sich seiner, das Glücksgefühl, mitten in einer so vornehmen Menschengemeinde sein zu können. Gewaltigen Eindruck machten auf ihn die technischen Vervollkommnungen der Medizin. Die Operationssäle, das Strahlenhaus, wo die Bestrahlung der Kranken mit den kräftigsten Elementen der Sonne erfolgte, das Zanderinstitut in Verbindung mit der schwedischen Turnhalle, vor allem aber das elektromechanische Institut, das alles war auf ungeahnter Höhe. Aber vor eine ganz besondere Überraschung wurde Richard gestellt, als sie das Untersuchungsinstitut für innere Medizin betraten, hier war der gewaltige Fortschritt der Medizin am deutlichsten sichtbar. Hatte zu Richards Zeiten der Arzt nur in den seltensten Fällen bei Erkrankung der inneren Organe ein sicheres Urteil abgeben können, so konnte man jetzt sagen, daß dank der technischen Vervollkommnungen in der Beobachtung des menschlichen Körpers auch schon die Medizinschüler ein sicheres Urteil abgeben konnten. Zu Richards Zeiten waren der Wärmemesser, der Blutdruckmesser und das Hörrohr fast die einzigen Behelfe des Arztes, um innere Krankheiten zu bestimmen. In den Instituten und Ambulatorien kamen noch die Röntgenuntersuchungen als wichtiger Behelf bei vielen inneren Krankheiten dazu. Das Mikroskop verriet dem Arzt die kleinen, unsichtbaren Feinde, die an der Menschenkraft zehrten. Nun aber stand dem Arzt ein ganzes Arsenal von Instrumenten zur Verfügung, die es ihm erlaubten, dem Kranken wie mit Röntgenaugen überall ins Innere zu schauen und wie mit Radiohörern sein Innerstes abzuhorchen. Und dazu die chemisch-mikroskopische Untersuchung aller Abscheidungen, die lebendige Beobachtung auch der durch das Mikroskop enthüllbaren inneren Vorgänge im Körper in riesenhafter Vergrößerung auf der Leinwand -- der Mensch unter den Mikro-Visiographen -- es konnte nur Nichtswissern geschehen, daß sie eine Fehldiagnose abgaben, eine Krankheit falsch bestimmten, daß aber nicht Nichtswisser heranwuchsen -- dafür war gesorgt. Als Hüter der menschlichen Gesundheit wurden nur solche bestellt, die ein gut begründetes Wissen hatten, und er war auch nicht mehr von der Ausbildung seiner eigenen Sinne so abhängig wie einst. Während zu Richards Zeiten ein guter Diagnostiker gewertet wurde wie ein prophetischer Dichter, dem auch die Ungläubigsten gerne glaubten, gehörte die sichere Feststellung einer Krankheit jetzt zum ABC des Arztes, der die Erlaubnis zur selbständigen Ausübung seines Berufes erlangen wollte.

Müde vor Bewunderung des vielen Neuen hörte Richard schließlich nur mit halbem Ohre zu. Dabei beschäftigte ihn halb im Unterbewußtsein ein anderer Gedanke.

Dr. Meister merkte die Abspannung Richards. »Sie sind müde. Wir wollen abbrechen. Es ist viel auf einmal.«

»Allerdings. Aber dazu kommt, daß mich ein Gedanke nicht losläßt.«

»Welcher?«

»Daß der Mensch durch den Radio-Visiographen seiner persönlichen Freiheit ganz beraubt ist. Jetzt haben die Wände ja nicht nur mehr Ohren, sondern auch schon Augen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Daß man durch den Radio-Visiographen seinen Nächsten im geheimsten Leben beobachten kann.«

»Nur dann, wenn es sein Wille ist. Sie müssen sich das so vorstellen, wie zu Ihrer Zeit das Telephon gewesen sein mag. Nur wer die Verbindung herstellte, konnte mit dem andern reden. So auch hier, und dazu kommt, daß das Bild des Sprechenden und seine Umwelt nur dann erscheinen, wenn er es will. Der Sprechende muß durch einen Druck auf den Visioknopf die Verbindung herstellen, die sonst nur eine Höhrverbindung ist.«

»Wie konnten wir aber dann den Gärtner Walter sehen und hören?«

»Er war mit im Spiel. Er hat auf mein Signal auf den Kopf gedrückt.«

»Ich danke Ihnen. Das wäre ja fürchterlich gewesen, wenn der Mensch so seiner persönlichen Freiheit verlustig gegangen wäre.«

Meister mußte lachen: »Nein! Solche Rückfälle in die alte Polizeistaaterei dürfen Sie unserer Zeit nicht zumuten. Persönliche Freiheit des Menschen achten wir über alles. Sie ist die Bürgschaft der freien Entwicklung. Ohne die persönliche Freiheit des Einzelnen gäbe es keinen freien Staat. Wie sollten sich auch unfreie Bürger zu einem freien Staat vereinen können?! Natürlich ist das nicht die Freiheit des Egoismus Ihrer Zeit, die des groß angelegten organisierten Diebstahls und des kleinen Gelegenheitsdiebstahls. Wir haben schon einen großen Schritt vom Ich zum Wir gemacht. Jeder Bürger hat gleiches Recht, jeder genießt gleiche Achtung, jeder hat gleich gute Entwicklungs- und Lebensmöglichkeiten -- eines nur muß er gelernt haben: sich einzuordnen in das allgemeine Ganze, ein guter Bürger sein. Das aber lernt er. Für heute indes genug. Wenn es Ihnen genehm ist, so wollen wir jetzt unseren Gang mit einem kleinen Flug auf den Schneeberg beschließen. Unsere Frauen brennen darauf, mit Ihnen eine frohe Stunde in freier Höhenluft zu verbringen. Wenn Sie wollen, es ist alles bereit.«

»Kommen Sie, Herr Richard, Sie werden sehen, man ist da oben, wie neugeboren.«

Zehn Minuten später hob sich eine kleine Luftflotte wie eine aufgescheuchte Vogelschar aus dem Föhrenwalde und flog über die Gartenstadt Steinfeld hin. Eine Viertelstunde später -- kaum daß sich noch Richard in die neue Lage gefunden hatte, landete Dr. Meisters »Taube« mit diesem, mit Richard und den beiden Schwestern auf dem »Ochsenboden«, von wo ein gut gepflegter Promenadenweg zur Bergsiedlung führte, die außer einem zum Gesundungsheim gehörenden Höhenheim einem Heim für Sonnenkuren noch Sport und Spielplätze, eine Pflanzenreservation für Alpenblumen und etliche Hotels, aber auch Wohnhäuser umfaßte. Natürlich auch eine Wetterbeobachtungsstation. Das Flugzeug hatte dem Menschen auch diese Welt im Schnee nähergebracht.

EUROPAS PLANWIRTSCHAFT

Diesem anstrengenden Tag folgte ein Rasttag für Richard. Das war notwendig, denn zu viele Eindrücke jagten einander. Aber für den zweiten Tag hatten Dr. Meister und Ensler mit Richard einen Flug in das Emmaheim im Rohrwalde vereinbart, das dem Andenken von Richards Braut gewidmet war, die den Schläfer durch fünfunddreißig Jahre bis an ihr Lebensende gepflegt hatte. Da die Einrichtung der beiden Gesundungsheime ziemlich ähnlich war, sollte es nur ein kurzer Besuch sein, mehr eine Besichtigung aus der Vogelschau, die ein entzückendes Bild bot. Im Walde versteckt lagen die kleinen Häuschen, und zwischendurch wanden sich Fußpfade und Fahrstraßen, alle besäumt von Eichen- und Fichtenbeständen, die hier, seit fast einem Jahrhundert geschont, zu gewaltiger Größe gediehen waren. Nur den Denkstein für Emma wollten sie sehen und damit einen kurzen Höflichkeitsbesuch bei dem leitenden Arzt verbinden, übrigens einem Schwager und Freund Dr: Meisters. Dr. Schmejkal wartete schon an der Landungsstelle.

»Schön willkommen im Emmaheim!« Er schüttelte Meisters Hände, die er beide ergriffen hatte. Dann wendete er sich Richard zu. »Seien Sie uns gegrüßt, Wunderkind aus einer versunkenen Welt! Die ganze Welt freut sich, daß Sie dem Leben wiedergeschenkt worden sind. Darf ich sie selbst zum Emmastein geleiten?« Damit faßte er ihn kameradschaftlich unter dem Arm und schritt mit ihm einen gewundenen Waldweg entlang. Dr. Meister und Ensler folgten. Es war ein Denkmal aus weißem Marmor. Darunter stand:

 

Emma Adler

hat fünfunddreißig Jahre an dem Bette ihres Bräutigams

Richard Fröhlich

gewacht, der in einem Betäubungsschlaf dahinlag und bis zum Tode seiner treuen Pflegerin nicht mehr zum Leben erweckt werden konnte. Sie hat durch ihre Pflege und genaue Beobachtung der Menschlichkeit und der ärztlichen Kunst gleich große Dienste erwiesen. Sie zu ehren, wurde dieser der Gesundung kranker Menschen gewidmete Ort

Emmaheim

genannt, und so soll er heißen für ewige Zeiten.

Die dankbare Stadt Wien. Die dankbare Universität.

 

Richard las die Inschrift. Dann griff er in die Tasche seines weiten faltigen Leinenmantels und holte einen kleinen Strauß Zyklamen hervor ... »Ihre Lieblingsblumen«, sagte er zu Dr. Meister gewendet.

»Ich danke dir, Emma!« Kaum hörbar kam es über seine Lippen. Er beugte sich tief und legte den Strauß zu Füßen des Denkmals.

Die anderen waren stumme Zeugen der Szene. Dann sah er noch einmal das Hochbild auf dem Denkstein. Es war, als ob er die Züge Emmas, die lebendig vor seinem geistigen Auge standen, mit denen der marmornen Gestalt vergliche.

Dr. Meister legte Richard die Hand auf die Schulter. »Kommen Sie, junger Freund!«

Da sie wieder auf dem gewundenen Waldweg waren, meinte Meister zu Dr. Schmejkal: »Jetzt müssen wir aber doch eine Nachschrift machen, daß Richard erwacht ist.«

»Das soll geschehen, ich werde alles in die Wege leiten. Aber nun, meine Herren, darf ich Sie zu einem kleinen Imbiß bitten. So ein Morgenflug macht Hunger.«

Beim Hause des Direktors machten sie Halt. Im Garten war zu einem Teefrühstück gedeckt. Besonders über den Reichtum der Früchte, mit denen der Tafelaufsatz hoch beladen war, erstaunte Richard. Die Fruchtwunder Indiens und des äquatorialen Afrika und Südamerika waren da in verschwenderischer Fülle gehäuft. Da gab es Granatäpfel, Bananen, indische Feigen und die Brotfrucht, kindskopfgroße Orangen, die Westindien zur Heimat hatten, neben den wie gemalten Früchten aus dem großen Obstgarten Kalifornien, Ananas natürlich und manche Richard völlig unbekannte. Richard war allein von dem Anblick und von dem fast berauschenden Duft, der den Früchten entströmte, so begeistert, daß er nicht nur alle Namen der Früchte auf einmal wissen wollte, sondern vor allem auch, wie es denn möglich sei, hier mitten im Walde sich auch dieser frischen Früchte zu erfreuen?

»Diese Erklärung erübrigt sich wohl, nachdem was wir neulich über die Entwicklung des Flugwesens gesprochen haben«, sagte Ensler. »In erster Linie dient das Flugzeug zur Beförderung leichtverderblicher Frachten. Zu Ihrer Zeit mußte man solche Frachten in Eiswaggons verpacken. Wir schrauben unsere Frachtflugzeuge in einer Viertelstunde in eine beliebig gewünschte Temperatur hinauf und ersparen uns Eis mitzunehmen, aber die Früchte kommen eisfrisch an ihren Bestimmungsort. Der europäische Indien-, Afrika- und Amerikadienst macht es möglich, Früchte drei Tage, nachdem sie vom Baume genommen sind, schon auf dem Tisch irgendeines Europäers zu haben. Diese Mangos aus dem Gangestal zum Beispiel können ganz gut noch vor vier Tagen auf dem Baum gehangen haben. Wir haben jetzt das ganze Jahr frische Früchte in Hülle und Fülle. Oder nehmen Sie hier die köstlichen Pomeloros, die uns Mauritius liefert.« Ensler wog die kindskopfgroße, orangenähnliche Frucht in seiner Hand.

»Oder hier die Popaya, die einer großen Gurke so ähnlich sieht, deren gelbrotes Fleisch ein Wunder an feinem Geschmack ist heute gibt es in Südafrika große Plantagen mit dieser Frucht, die zu Ihren Tagen in Europa vielleicht noch gar nicht bekannt war.«

»Ich gestehe«, warf Richard ein, »ich sehe diese Frucht zum erstenmal und höre von ihr zum erstenmal.«

»Vielleicht wird es Ihnen so auch mit der 'Avocatabirne' gehen aus Süd- und Westafrika oder mit den faustgroßen Datteln von Teneriffa. Nie hat man etwas Besseres gegessen als diese Frucht. Oder die Früchte der Opuntien, die 'Äquatorerdbeeren', wie der Volkswitz diese walnußgroßen Früchte wegen ihres erdbeerähnlichen Geschmackes und Aussehens nennt, die Jahrhunderte hindurch im ganzen Süden, in Sizilien wie in Spanien, Afrika und Mexiko gegessen wurden, aber nie den Gaumen eines Mittel- oder Nordeuropäers geletzt haben. Irgendwo auf der Erde ist immer Ernte und selbst aus den Früchteparadiesen Argentinien, Uruguay und Brasilien haben wir die frischen Früchte in vier Tagen hier. Dies alles war natürliche Entwicklung. Mochten zu Ihrer Zeit neben Kalifornien höchstens noch Südspanien, Sizilien, die Kanarischen Inseln, einzelne Striche Nordafrikas auf dem europäischen Früchtemarkt eine Rolle gespielt haben, nun mußte die ganze bewohnte Erde ihre Schätze allen öffnen. Das gehört auch schon mit zu unserer Erörterung von Europas Planwirtschaft bis zu der wir neulich in unserer Zwiesprache vorgedrungen sind.«

»Wie das?«

»Mit dem Aufhören des Alkoholverbrauches wuchs der Hunger nach frischem, eingelegtem oder gedörrtem Obst, nach giftfreien Fruchtsäften ganz gewaltig.«

Es wandelten sich mit Hilfe der Allgemeinheit die Weingelände an der Donau und am Rhein nach dem guten italienischen Beispiel in Obstgärten. Edelobst wurde in reicher Fülle gezogen, gute Speise-, Koch- und Einsiedesorten aber traten an Stelle der weiten Pflanzungen mit Mostobst. Auch hier wieder Planwirtschaft. Mancher Bauer im Mittelgebirge hatte oft sogar bis in höhere Lagen hinauf, ebenso wie er das Brot auf eigenem Grund erzeugen wollte, auch den Haustrunk, eben den Obstmost, gewinnen wollen -- aber der Ertrag war kümmerlich. Europas Planwirtschaft räumte damit auf. Das Gebirge mit seinen grünsaftigen Matten hatte die besten Zuchtbedingungen für das Vieh für die Milch, Käse und Fleischwirtschaft, also sollte es wieder wie einst in alter grauer Zeit, da sich noch nicht einige wenige Mächtige das Volksgut genommen hatten, indem sie es als persönliches Eigentum erklärten, gestützt auf die Macht ihres Schwertes, der Weide dienen. Die Ebene aber gab das Brot, das Viehfutter, das Stroh, das Obst, die billigen Wasserstraßen. Die Gebirge über der Erde lieferten noch das Eisen, das Kupfer und alle anderen Erze und die Edelsteine, deren kostbarste einst dem persönlichen Schmuck einzelner Menschen gedient hatten, zur Erhöhung ihres äußeren Machteindrucks, die also Beherrschungsmittel waren, genau so wie die Peitsche. Man hieß sie Orden. Das waren Schmuck- stücke aus Edelmetall, besetzt mit Edelsteinen, die man sich an die Brust zu heften hatte, oder die an einem Bande oder gar an einer Kette um den Hals zu hängen waren.

»Ich weiß, ich weiß«, lachte Richard, »ich habe ja die Ordensseuche noch miterlebt. Und heute gibt es keine Orden mehr?«

»Keine.«

»Keine? Ja, wie zeichnen Sie denn da die hervorragenden Bürger aus?«

»Wer hätte das Recht sie auszuzeichnen? Nur die Bevölkerung, und diese sieht die höchste Auszeichnung darin, daß sie dem Auszuzeichnenden wieder das Vertrauen entgegenbringt, daß es ihn wieder wählt, daß es ihn bei günstiger Gelegenheit ehrt. Es gibt goldene Bücher der einzelnen Gemeinden, goldene Bücher der verschiedenen Vereinigten Staaten auf der Erde und auch ein goldenes Buch des Erdkongresses, der alle zehn Jahre einmal in einem anderen Erdteil zusammentritt. In diese goldenen Bücher werden die Namen eingetragen, von deren Trägern die betreffende Körperschaft annimmt, daß ihr Wirken im Kreis der betreffenden Körperschaften besonders nützlich war. In das goldene Buch des Erdkongresses also die Namen derer, deren Wirken der ganzen Menschheit nützte: die Namen großer Entdecker, Erfinder, Dichter, Künstler, Denker, Forscher, Ärzte, Politiker, Menschenfreunde jeder Bürger der Erde kann in das goldene Buch des Kongresses kommen. Es ist eine Art Anweisung auf Unsterblichkeit. Hat Ihre Zeit solche Ehren zu vergeben gehabt?«

»Ich gestehe, so hohe Ehren gab es nicht.«

»Wollen wir nun aber nicht doch auch an den Heimflug denken?«

Die übliche Frühstückszeit war in der Tat reichlich überschritten und die Freunde rüsteten zum Aufbruch.

DIE WELT OHNE GELD

Der nächste Tag war dazu ausersehen, aus dem Kinde des zwanzigsten Jahrhunderts ein auch äußerlich würdiges des einundzwanzigsten zu machen. Richard sollte ausgestattet werden. Dabei waren natürlich die beiden Frauen seine Führerinnen. Die »Taube« Dr. Meisters ließ sich nach kurzem Fluge auf dem Dach eines mächtigen Gebäudes nieder.

»Das ist das Warenhaus Wien-Süd, dem wir zugeteilt sind«, erläuterte Marianne, als sie das bequeme Luftkupee verließen. Der Pilot klappte die Flügel des Fahrzeuges zu und schob es von dem Landungsdach in die Reihe der andern, um die Landungsstelle frei zu machen. Richard konnte diesen Vorgang noch immer nicht als einen alltäglichen hinnehmen und verfolgte aufmerksam das Tun des Piloten, der mit der mechanischen Fertigkeit, mit dem man Altgewohntes tut, den Luftwagen in die Reihe der andern schob und sich dann zum Fahrstuhl begab, der die ganze Gesellschaft vom Dach in die Tiefe brachte.

Die Wandlung Richards in den äußeren Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts währte nicht lange. In einen Probierraum brachten die Helfer der verschiedenen Abteilungen Wäsche, Schuhe, Kleider und Mäntel für Richard, nachdem ein Bekleidungsmeister die Wünsche entgegengenommen hatte. Wäsche und Kleidung waren von der ihm gewohnt gewesenen nicht wesentlich verschieden. Und doch zeigten sie einen grundsätzlichen Unterschied. Es war an ihnen alles vermieden, was dem Körper irgendwelchen Zwang antun konnte. Was dir wohltut, das ist schön. Das war der Grundsatz, der bei der Schöpfung der Wäsche und Kleider angewendet wurde, seit mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die auf Profit ausging, auch die Tyrannin »Mode« überwunden war, die immer Neues ersann, um immer neue Profite erzeugen zu können.

Alles was einschnürte, den Blutkreislauf oder die Atmung beengte oder gar einzelne Organe des Körpers zusammenquetschte und zur Verkrümmung oder doch zu schlechter Funktion zwang, war aus der Tracht der Menschen verschwunden.

So war nun ein Mensch auch rasch angezogen. Unterbeinkleider und Beinkleider wurden an Bändern getragen, die Füße waren nur mit Sandalen bekleidet, nur im strengen Winter auch mit Wollzeug. Der Hals blieb offen. Kein Kragen, keine Krawatte beengte ihn. Männer wie Frauen trugen um der ungehemmten Bewegunsfreiheit willen Beinkleider. Über den Oberkörper ein weiches Hemd und je nach der Jahreszeit stärkere oder leichtere Überröcke. Die einzige »Mode«, die Geltung hatte, war die Mode der Abhärtung und der höchsten Reinlichkeit. Was die Kinder im Gesundheitsspiel gelernt hatten, sie gaben es im Alter nicht auf. Beides bedingte aber auch höchste Einfachheit in der Kleidung, um den täglichen Wäschewechsel möglich zu machen. So war denn auch Richards Toilette bald zusammengestellt. Keine Viertelstunde später stand er in seiner neuen Kleidung vor seinen beiden Freundinnen. Alexandra faßte ihn, als er so dastand, vertraulich unter, als wollte sie sagen: »Jetzt erst bist du der Unsere, ganz der Unsere.« Laut aber sagte sie: »Wollen Sie, lieber Freund, nicht die Gelegenheit benützen, die Einrichtung des ganzen Warenhauses kennenzulernen?«

»Gerne.«

Und nun ging es treppauf, treppab, oft auf lebenden Treppen hinauf, hinunter: in das Möbelhaus, in das Werkzeughaus, in das Spielhaus, wo vor allem die reizenden Ausstattungen der Kinderstuben zu sehen waren, alles der kindlichen Größe angepaßt. Das machte tiefen Eindruck auf Richard.

»Das hatten Sie in den Anfängen doch auch schon zu Ihrer Zeit? Im Montessori-System stak doch auch dieses Stück Vernunft. Wir brauchten nur auszubauen«, fügte Marianne erklärend bei. Und Alexandra ergänzte: »Das war überhaupt nicht zu verstehen. Man gab den Kindern zu Ihrer Zeit passende Kleider, Wäsche, Schuhe, alles der Größe angemessen, aber das Kind sollte auf dem Stuhl sitzen, der für Erwachsene gebaut war, oder es sollte den schweren Hammer schwingen, der den Kräften des Vaters angepaßt war oder die Säge handhaben, die der Mannesgröße entsprach. Das war so unlogisch, daß es geändert werden mußte.«

Als sie sich recht müde gegangen hatten, drängte Richard zum Aufbruch. Plötzlich blieb er stehen. »Ja, aber unsere Rechnung!«

»Das ist eine Unterhaltung für unseren Rückflug.«

Schon waren sie im Aufzug, der sie auf das Dach zurück zu ihrem Vogel brachte. Bald saßen sie in dem bequemen Kupee und nun nahm Marianne wieder den Faden des Gespräches auf. Ein kurzes Rasselgeräusch des anlaufenden Motors, und dann hob sich der Vogel geräuschlos in die Lüfte. Der Flieger mußte nicht mehr den entsetzlichen Lärm des ratternden Motors mit in den Kauf nehmen.

»Die Rechnung erhalten Sie zu gleicher Zeit mit der Lieferung. Das heißt Rechnung kann man nicht gut sagen, wir nennen diesen Schein heute Bezugsschein. Die Summe dieser Bezugsscheine ist so begrenzt, daß es jedem Bürger möglich ist, seinen Bedarf an Gütern zu decken. Jeder Bürger bekommt Bezugshefte, etwa vergleichbar den Scheckheften alter Zeit, und was er braucht, zahlt er mit diesen Schecks.«

»Da geben Sie also dem Bettler auf der Straße einen Scheck?«

»Bettler?« Alexandra lachte, »was ist denn das wieder für ein Rückfall, lieber Richard! Eine soziale Ordnung kennt keinen Bettler. Der war eine notwendige Erscheinung in der sozialen Mißordnung des Kapitalismus, aber in unserer Zeit gibt es so etwas nicht. Jeder Arbeitsfähige arbeitet sein Teil für die Gesamtheit. Alle Arbeit schafft Werte, alle Arbeit ist Arbeit für die Allgemeinheit. Sie kommt allen zugute, also auch ihr Wert. Wer aber nicht arbeiten kann, wer krank ist oder wer sein Ruhealter erreicht hat oder noch nicht sein arbeitsfähiges Alter, der steht unter dem Schutze der Stärkeren, derer, die arbeiten können, oder kurz unter dem Schutz der Gesamtheit, des Staates, der menschlichen Gesellschaft. Da kann es also keinen Bettler geben.«

»Sie sprachen da von Ruhealter? Dieses tritt wohl mit dem Tag ein, von dem an der Bürger Anspruch auf die öffentliche Versorgung hat, ohne arbeiten zu müssen?«

»Ganz richtig.«

»Wann tritt dieser Tag ein?«

»Mit dem erreichten fünfundvierzigsten Lebensjahr.«

»Mit fünfundvierzig Jahren? Gerade wenn der Mann beginnt, den Höhenweg seines Lebens und seiner Erfahrung zu begehen? Ist das nicht gewagt?«

»Nein, es gibt auch hier ein Sicherheitsventil. Hat ein Mann besondere Fähigkeiten gezeigt, dann gilt es als hohe Auszeichnung, wenn er vor Vollendung seines fünfundvierzigsten Lebensjahres gebeten wird, noch län- ger seine Kraft der Allgemeinheit zu widmen. Da darf er dann noch fünf Ehrenjahre machen. Nach dieser Zeit endet auf jeden Fall sein öffentlicher Dienst. Aber wer der Allgemeinheit dienen will, hat auch dann natürlich reichlich Gelegenheit dazu. Er kann bis zum sechzigsten Jahre Mitglied der öffentlichen Körperschaften sein und in den höheren Lehrämtern bis zum siebzigsten Jahre wirken. Solcherart ist Vorsorge getroffen, daß nützliche Kräfte der Bürger nicht so leicht verlorengehen können. Die andern aber haben nach ehrlicher fünfundzwanzigjähriger Arbeit im öffentlichen Dienst das Recht, den Rest des Lebens ihren Neigungen zu leben. Auch dabei kommt sehr viel heraus. Denn viele von diesen haben nie die Muße gefunden zu Basteleien, Sammlungen, zu literarischem Schaffen, zur Durchforschung der Natur, zu chemischen oder physikalischen Versuchen, und manches gute Buch und manche Entdeckung und manche Erfindung und manche wertvolle Bereicherung der öffentlichen Museen ist solchen Menschen zu verdanken. Manches Werk der Kunst auch. Gerade weil es Menschen auf der Höhe des Lebens waren, denen es nun möglich war, befreit von täglicher Berufssorge zu leben, drängte in ihnen alles zum Ausdruck, was in ihnen an Schönem, Großem, Gutem lebte.«

»Das alles ist einleuchtend und hilft sicher mit zu weiterem Aufstieg der Menschen aber noch etwas muß ich wissen, damit ich ganz sicher bin. Wenn Sie also keine Bettler haben, so haben Sie auch keine Arbeitslosen?«

»Gibt es auch nicht! Woher sollten wir sie auch nehmen?«

»Was für eine glückliche Zeit! Zu meiner Zeit jagte immer eine Krise die andere. Bald Krise, bald Hochkonjunktur, bald war jeder fünfte oder sechste arbeitslos, bald war so viel Arbeit zu leisten, daß der in vielen Ländern schon gesetzliche Achtstundentag nicht ausreichte, daß Überstunden gemacht werden mußten, oder es war in dem einen Zweig eine Überleistung nötig, indes es in den anderen Stillstand gab, oder der Mensch war so einseitig ausgebildet, daß er überhaupt nur einen Teil des Jahres arbeiten konnte, wie zum Beispiel alle Bauarbeiter, die nur während der schönen Jahreszeit Häuser bauen konnten und nur während dieser Zeit regelmäßigen Verdienst hatten, im Winter aber Hunger- und Lungerzeiten, manchmal auch kein Obdach. Das waren die, die Dächer bauten.«

»Wie entsetzlich«, fiel Alexandra ein, »und was geschah dann mit den Kindern?«

»Oh, das war schrecklich, meine Liebe; den Winter über hungerten sie, und im Sommer hatte man Mühe, sie in Erholungsstätten wieder hinaufzufüttern. Welch grausiges Spiel mit der Gesundheit. Das waren aber nur die gescheitesten und besten Eltern, die sich darum bekümmerten. Die anderen überließen ihre Kinder dem grausigen Schicksal, und eine ungeheuerliche Kindersterblichkeit war eines der schrecklichsten Zeichen der kapitalistischen Zeit. Und jetzt gibt es keine Arbeitslosigkeit mehr?« »Nein, keine.«

»Keine Müßiggänger! Denken Sie, wie widersinnig das einmal war, damals im sozialen Aufstieg, als die Gesellschaft in das Schicksal der Arbeitslosen einzugreifen begann. Früher einmal hatte man sie einfach ihrem Schicksal überlassen. Als aber dann unter dem Druck der aufsteigenden und mächtig werdenden Arbeiterbewegung die staatliche Arbeitslosenunterstützung eingeführt wurde, da wurde die ganze Sittlichkeit auf den Kopf gestellt. Die Menschen standen damals noch unter der Gewaltherrschaft der Ichsucht, die von allen Kanzeln gepredigte Liebe zum Nächsten wurde so verstanden, daß jeder seinem Nächsten das Schlechteste zutraute. Sich auf Kosten der anderen zu bereichern, das war die eigentliche Sittlichkeit des Kapitalismus.«

»Und das hat niemand gesehen?«

»Oh, gesehen haben es die Sozialisten, und sie haben es auch gesagt, aber dank dem Unverstand der Massen, und ihrer Gewaltübung waren die anderen stärker. Die Besitzenden hatten, obgleich sie an Zahl eine viel kleinere Klasse darstellten, doch mehr Stimmen bei der Wahl auf sich vereinigen können. Sie hatten die Mehrheit in den Parlamenten. Sie waren die Herren, und der Einfluß der sozialdemokratischen Minderheiten war wechselnd größer oder kleiner, aber so stark waren die Sozialdemokraten nie, um diesen Wahnsinn zu besiegen.«

»Um so freudiger werden Sie also gestimmt sein, wenn Sie hören, daß unsere Gesellschaft keine Arbeitslosen mehr kennt. Diesen Wahnsinn hat die sozialistische Wirtschaftsordnung beseitigt... Aber eigentlich sind wir von unserem Gespräch abgewichen. Sie wollten doch wissen, wie es mit den kleinen Ausgaben ist, ob man da auch mit Scheck bezahlt?«, führte Alexan- dra das Gespräch wieder zurück. »Ja, der Scheck ersetzt unser Geld. Unsere Scheckhefte sind so mit abtrennbaren Scheinen ausgestattet, daß man beliebige Summen zusammenstellen kann. Die Warenstelle bestätigt nur die Summe im Scheckheft, und die Summe aller dieser Quittungen ergibt dann die Summe der Ausgaben, die ein Bürger gemacht hat.«

»Und gibt es da keine Grenze nach oben?«

»Ja, die der Nützlichkeit und Notwendigkeit. Was ein Bürger braucht, kann er haben. Er wird sich selbst einschätzen, und keiner wird von der Allgemeinheit mehr begehren, als ihm zukommt.«

»Was müssen das für ideale Menschen sein, und dieser Wandel hat sich mit der Menschheit in der kurzen Spanne von hundert Jahren vollzogen? Das ist doch kaum zu fassen!«

»Nicht allgemein. Es gibt schon noch Rückfälle, manchmal sogar unheilbare Verschwendungssucht, aber da sind auch bald die Grenzen gefunden. Die Verschwendungssucht wird wie eine andere Krankheit behandelt, und unsere Gesundungsheime haben auch solche Kranke. Erweisen sie sich als wirklich unheilbar, dann allerdings kommen sie in öffentliche Anstalten, vor allem zu dem Zweck, um zu verhüten, daß sich solche unsoziale oder gar gegensoziale Menschen fortpflanzen. Sie brächten der Menschheit keinen Gewinn, nur neue Rückschläge, und gegen diese muß sich die Gesellschaft schützen. Menschen, die in solchen, natürlich streng nach Geschlechtern geteilten Anstalten untergebracht sind, haben kaum Aussicht, Anwert bei einem geistig gesunden Bürger zu finden. Man verachtet sie nicht, man verabscheut sie nicht, wie Ihre Zeit das einst mit ihren Verbrechern getan hat, aber man geht weiter als die kapitalistische Gesellschaft, die auch die Idiotin in der Irrenanstalt schwanger werden und die Frucht aus- tragen ließ, weil es fast zum katholischen Kirchendogma geworden war, daß man der werdenden Mutter unter keinen Umständen die Frucht nehmen dürfe. Heute, wo wir sicher sind, daß die Senate, die darüber zu befinden haben, nie mißbraucht werden, verhüten wir durch Bestrahlungen, die die Unfruchtbarkeit herbeiführen, daß solche ererbte krankhafte Triebe oder Eigenschaften fortvererbt werden. Die menschliche Gesellschaft von heute will sich planmäßig höher züchten. Aber wenn das auch nicht wäre. Solche Menschen bekämen kaum Gelegenheit zur Fortpflanzung. Das widerspricht zu sehr unserer Sittlichkeit, die das, 'Wir' dem 'Ich' vorangestellt hat. Auch der Engländer schreibt das 'I' für sein 'Ich' nicht mehr groß.«

»Was heißen Sie aber Verschwendungssucht? Wenn ich zum Beispiel ein Jahr reisen möchte, um dieses neue Europa kennenzulernen...«

»So wird das keine Verschwendung sein. Die V.S.E. werden dieses Unternehmen nicht nur fördern, sie werden es fordern. Ein Mann, wie sie, der binnen kurzem diese neue Zeit kennenlernen soll, muß Gelegenheit haben, den Anschauungsunterricht in größtem Stil zu genießen.«

»Und wenn ich wo einen Monat sitzenbleiben will?«

»So gehört dies auch dazu. Ein Mensch, der seinen Geist so anstrengt, wie Sie es werden tun müssen, wenn Sie reisen, der wird sogar bemüßigt werden, ab und zu zu rasten. Wir kennen auch die Menschenökonomie, und darum wird es uns freuen, wenn Sie in diese neue Zeit genießend hineinwachsen. Die Arbeit kommt schon noch. Vergessen Sie doch nicht, lieber Richard, Sie sind doch noch Schüler. Auch Sie müssen ja Ihr Tauschjahr, Ihr soziales Hilfsdienstjahr noch durchmachen, ehe wir Sie auf die Menschheit des einundzwanzigsten Jahrhunderts loslassen können.«

Ein schalkhaftes Lächeln umspielte die Mundwinkel Alexandras, und auch Marianne konnte sich nicht enthalten, dieses große, kleine Kind mit wohlwollendem Lächeln zu betrachten.

»Und auf der Eisenbahn zahle ich auch mit dem Scheckbuch? Und im Luftschiff? Und im Auto, wenn ich über Land mit dem Auto fahren will?...«

»Ganz nach Neigung, und überall ist das Scheckheft der Sesam.«

»Und wo bekomme ich das Scheckheft?«

»Sobald wir Sie in unsere Gesellschaft aufgenommen haben, erhalten Sie das Scheckheft von der Post zugestellt, und Sie sind nur verpflichtet, an jedem Ersten eines Monats dem Postboten das alte Heft mitzugeben, damit das Kontrollamt die Buchungen vergleichen kann.«

»Das muß aber doch einen ungeheuren Verwaltungsapparat erfordern?«

»Wir haben Distriktsverwaltungen, und jeder ist eine Buchhaltung angeschlossen. Öffentlich Rechenschaft muß gegeben werden, wie das von allen erzeugte Gut verwendet wird, und wir gewinnen dadurch auch den einzigen und sehr richtigen Überblick über die Erzeugung, damit wir nie mehr erzeugen, als nötig ist. Auch das gehört mit zur europäischen Planwirtschaft. In der kapitalistischen Zeit wurden unendlich viel Güter verzettelt, verworfen, verpraßt, dem Verderben anheimgegeben, ohne daß ein Mensch was davon gehabt hätte. Mit dieser Wirtschaft haben wir natürlich nichts gemein.«

»Sie sagen: am Ersten eines jeden Monats. Da muß doch auch bei der Ungleichheit der Monate die Summe ungleich sein?«

»Ist sie auch. Im übrigen mit der Ungleichheit der Monate ist es nicht so arg. Unser Kalender kennt nur zwei Monate. Einen zu dreißig und einen zu einunddreißig Tagen. Die vier ersten Vierteljahrsmonate, Jänner, April, Juni und Oktober haben einunddreißig Tage, die anderen dreißig Tage.«

Richard rechnete rasch.

»Da haben Sie jetzt also ein Jahr von dreihundertvierundsechzig Tagen?«

»Nein, nach der Kalenderreform vom Jahre 1938 haben wir vier Vierteljahre zu einundneunzig Tagen, das sind zusammen dreihundertvierundsechzig Tage, und der dreihundertfünfundsechzigste Tag, der heute so zum Jahre gehört wie ehedem, weil sich ja die Zeit der Sonnenumkreisung nicht geändert hat, dieser dreihundertfünfundsechzigste Tag ist als Mittsommertag in die Mitte des Jahres verlegt, und das ist heute einer unserer größten Festtage im Jahr, der Tag der V. S. E.... In wenigen Wochen werden wir ihn wieder festlich begehen, da werden Sie sehen, wie die heutige Menschheit solche Feste zu begehen versteht.«

»Und die Schaltjahre?«

»Sie gibt es wie einst. Das Kalenderjahr stimmt mit der Zeit, in der die Erde die Sonne umkreist, nicht überein. Es ist etwas kürzer, und in vier Jahren ist diese Zeit so groß, daß ein ganzer Tag in den Kalender eingeschaltet werden kann. Auch dieser Tag ist heute allen Menschen zum Geschenk gemacht worden. Er ist ein großer Festtag, den wir zwischen den 30. Dezember des letzten und den 1. Jänner des Schaltjahres gelegt haben. Diesen Tag, der einst der Schalttag genannt wurde, heißt man in den V. S. E. den Kongreßtag. Er wird darum immer mit großer Spannung erwartet, weil an ihm der europäische Kongreß die von ihm als fördernswert erkannten besten Ideen zur geistigen und sittlichen Höherführung der Menschheit bekanntgibt.«

»Wie werden sie ihm übermittelt?«

»Er unterhält ein großes Bureau von gelehrten Männern und Frauen aus allen menschlichen Betätigungszweigen, die alle öffentlichen Vorgänge zu beobachten haben. Sie müssen alle Berichte der Parlamente und Verwaltungen aller europäischen Staaten verfolgen, übrigens auch die der übrigen Länder der Erde, und wo sie etwas besonders Auffallendes finden, es in regelmäßigen kollegialen Beratungen nach bestimmten Gesichtspunkten reihen. Jahr um Jahr wandern die in diesen Vorberatungen gewonnenen Ideen in den Ideenkataster, und alle vier Jahre werden die drei besten Ideen ausgewählt und am Kongreßtag feierlich kundgemacht an allen europäischen Plätzen zugleich!«

»Wenn nun aber einer eine Idee hat, aber keinen Sitz in der öffentlichen Körperschaft.«

»So hat er hundert Wege, diese Idee bekanntzumachen. Vor allem den, daß er in das Rathaus seiner Stadt geht und dort in das Ideenbuch einträgt, was er ersonnen hat.«

»Das Ideenbuch?«

»Ja, das werden Sie wohl noch kennenlernen. Es ist übrigens keine neue Sache. Schon zu Ihrer Zeit war sie bekannt. Ich glaube, es hat schon im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Einrichtung der inquire office gegeben. Das war die Erfindung einer englischen Seifenfabrik. Mitten im Betrieb stand ein Glaskasten, und in diesem lag auf einem Pult ein dickes Buch. Der Kasten stand den ganzen Tag offen, und jeder Mitarbeiter konnte auch während der Arbeitszeit diese inquire office betreten und in das Buch eintragen, was ihm an Verbesserungen, Arbeitserleichterungen, Ersparungen an Kraft und Material gerade eingefallen war. Die Fabrik ließ am Ende des Jahres durch eine gemischte Kommission alle diese Eintragungen überprüfen, und die besten Anregungen bedachte sie mit Preisen, für die Jahr um Jahr 10000 Pfund ausgesetzt waren für die damaligen Verhältnisse eine Riesensumme, aber sie machte sich für den Unternehmer bezahlt, denn er war bei den Verbesserungen seines Betriebes, die diesen natürlich um so einträglicher machten, nun nicht mehr allein auf sein und seiner Direktoren und Ingenieure Gehirne angewiesen, die Gehirne aller sechstausend Arbeiter und Angestellten seines Betriebes dachten für ihn. So etwas wie eine inquire office hat heute jede Stadt, jedes Parlament, jede Distriksverwaltung und natürlich auch der europäische Kongreß. Auch an ihn können alle Ideen gesendet werden, die irgend jemand hat, um die Menschheit geistig und sittlich höher zu führen. Diesen Ideen danken wir grundsätzliche Änderungen in unseren Auffassungen. Das sollen Sie gleich erfahren, heute noch. Aber unser Vogel flattert schon. Wir sind am Ziel.«

In der Tat senkte sich der Luftvogel auch schon auf den Rasenplatz vor Richards Waldschlößchen.

DIE WELT OHNE PRÜGEL

Marianne hatte Richard für den Abend in ihr Haus zu ihrem Vater Dr. Meister gebeten. Mariannens Mutter, Frau Else, brannte schon vor Begierde, den wiedergeborenen Sohn aus dem vorigen Jahrhundert zu begrüßen. Sie empfing ihn denn auch wie einen Sohn. Natürlich war auch Alexandra mit ihrer Freundin mitgekommen. Als sie nach dem Abendessen beim Tee saßen, nahm Richard den Faden des Gesprächs wieder dort auf, wo er vorhin abgerissen war.

»Sie sagten mir, daß durch die Ideen zur geistigen und sittlichen Höherführung der Menschen, die der Kongreß der V. S. E. alle vier Jahre veröffentlicht, grundsätzliche Änderungen in den Auffassungen erzielt worden seien. Welche Auffassung wurde grundsätzlich geändert? Ein Beispiel bitte!«

»Vor allem unsere Stellung zur Erziehung der Jugend.«

Erziehung! Da wurde Richard lebendig. Marianne, die abwechselnd mit Alexandra die Unterhaltung bestritt, hatte nicht ohne Absicht gerade dieses Beispiel gewählt.

»Welche grundlegende Änderung hat sich da vollzogen?«

»Für uns ist es schwer, eine herauszugreifen, aber ich glaube, es war zu Ihrer Zeit noch üblich, Kinder zu schlagen, wenn sie, wie die Eltern meinten, nicht gehorsam oder unartig waren?«

»Ja, leider war das. Und wir, Kinderfreunde haben dagegen einen verzweifelten Kampf geführt, oft auch unterstützt von der öffentlichen Schulverwaltung und von den Lehrern, aber im großen und ganzen gerade deshalb von den Dienern der Kirche, die damals auf die Frauen und Mütter noch übermächtigen Einfluß hatten, verfolgt... Und heute werden Kinder nicht mehr geprügelt?«

»Nein, längst nicht mehr. Und keine von uns beiden« sagte Alexandra, »denkt die Zeit, wo der letzte Vater deshalb vor dem Volksgericht stand. Heute hat das die allgemeine Gesittung überwunden. Durch Erziehung der Eltern, durch das Beispiel der Guten und Besten ist das Kinderprügeln in den V.S. E. seit zwei Geschlechtsfolgen so gut wie ausgerottet. Es kommt einfach nicht mehr vor.«

»Es kommt einfach nicht mehr vor... welch glückliche Zeit! Und zu meiner Zeit war es eine alltägliche Sache. Ich selbst, wenn ich mich zurückerinnere, wie oft bin ich vor großen Mütter- und Väterversammlungen gestanden und habe die Menschen gefragt, ob es keinen unter ihnen gäbe, der noch nie geprügelt worden ist, und oft konnte in großen Versammlungen nicht einer die Hand erheben, nicht in Deutschland, nicht in Österreich, nicht in Dänemark oder in der Schweiz, in Polen oder Böhmen, nicht in Italien, Rumänien oder Ungarn, wohin immer mich meine Werbereisen für die Kinder brachten, überall sprach ich immer wieder vor lauter Geprügelten.«

Die beiden Frauen horchten auf. Sie hätten gerne mehr über diese Zeit erfahren, darum ermunterte ihn auch Alexandra.

»Aber Sie konnten die Menschen doch wenigstens überzeugen, Richard?«

»Oft bin ich mit dem Gefühl nach Hause gegangen, daß ich einige Seelen gewonnen habe. Einmal in der Schweiz kam nach so einer Versammlung eine Mutter zu mir und dankte mir mit Tränen in den Augen dafür, daß ich ihr die Augen geöffnet hätte. Nie mehr werde sie ihr Kind berühren.

Und eine Mutter aus Saarbrücken schrieb mir nach Monaten, daß sie meine Mahnung beherzigt und ihren Kindern nun auch nicht mehr einen 'Wisch' gebe. So oft sie die Hand höbe, sähe ich sie ernst mahnend an, die Hand sinke und es gehe auch so. Ja, viel besser gehe es. Empfindsamen Kindern sei ein gutes Wort oder ein betrübtes Gesicht mehr. Kein Gutenachtkuß von der Mutti sei für ihre Kleinen immer noch die schlimmste Strafe. Ich überzeugte die Frauen damals mit einem dialektischen Witz. In den verschiedenen deutschen Dialekten wurden damals drei Arten von Schlägen mit der flachen Hand in das Gesicht eines anderen Menschen unterschieden.«

»Schrecklich, in das Gesicht?«, rief Marianne.

»Ja, und dafür gab es eine Anzahl Namen, ein Beweis, wie diese Schändung des Menschenantlitzes im Schwung war.«

»Wie roh! Wie entsetzlich roh!«, rief Alexandra dazwischen.

»Ja, und im Dialekt kündigte man solche Schläge ins Gesicht auch verschieden an, je nach dem Größenverhältnis der beiden, des Schlagenden und des Geschlagenen. Ich hau' dir eine 'runter, hieß es, wenn der Prügler größer war als der Geprügelte. Vater, Mutter zum Kind! 'Ich hau' dir eine hinein!' sagte ein gleich großer Kamerad dem anderen, wenn er ihm einen Schlag ins Gesicht ankündigte. 'Ich hau' dir eine hinauf!' hieß es, wenn der Kleinere gegen den Größeren aufrieb. Und das klang durch alle deutschen Dialekte.«

»So war also das Prügeln damals keine Ausnahmserscheinung? Es war wirklich gang und gäbe?«

»Ja, wirklich gang und gäbe in deutschen Landen. Niemand sah etwas Besonderes daran. Erst die, Kinderfreunde machten Front gegen diese Erziehung durch körperliche Gewalt und zur Gewalt. Das war es ja auch, was sie zuerst mit der Kirche in schweren Widerstreit brachte. Die 'Kinderfreunde', die zunächst in Österreich wirkten, hatten es mit der katholischen Geistlichkeit zu tun. Österreich war ein katholischer Staat, die katholische war die Mehrheitsreligion. Die katholische Kirche war die Herrin über die Seelen. Die katholischen Priester konnten sich geben, wie sie leider in der Mehrheit waren. Sie waren die eigentlichen Vorkämpfer für das Herrenrecht gegen das Volksrecht. Diese streitbaren Priester waren die letzte Stütze des Kapitalismus. Indes also die 'Kinderfreunde' predigten, daß aufrechte Menschen erzogen werden müssen, verkündigten die katholischen Bischöfe, die sich in ihrem Hochmut damals noch Hirten und Oberhirten nannten, ohne zu bedenken, daß die Herde langsam denkend geworden war, in ihren Hirtenbriefen Erziehungsratschläge, die das Gegenteil von dem waren, was die 'Kinderfreunde' wollten. 'Sparet nicht die Rute, denn Rute und Strafe geben Weisheit' hieß es in dem ersten solchen Hirtenbrief, und diese Hirtenbriefe wurden an einem bestimmten Sonntag von allen Kanzeln verlesen und alle katholischen Pfarrer Österreichs predigten an diesem Tage gegen die Kinderfreunde und riefen den unten aufhorchenden Müttern zu, daß sie ihre Kinder mit Ruten züchtigen sollten.«

»Das haben Priester der Lehre Christi getan, der Lehre von der Nächstenliebe!?«, rief Alexandra.

»Nur nicht ereifern! Daß sie sich das ohne Widerspruch haben sagen lassen, war auf den geringen Stand der damaligen Volksbildung ebenso zurückzuführen, wie auf den übermächtigen Einfluß der katholischen Kirche. Sie können sich doch von der Frau von damals keine Vorstellung machen, wie gedrückt, wie gedemütigt, wie ewig geprügelt sie durchs Leben ging, wie gering die Bildung war, die sie mitbekam, wie eng der Gesichtskreis war, der ihr im Leben gezogen war. Eine Stube und eine Küche, daraus bestand die Familienwohnung. In engen dumpfen Gassen, nirgends ein Blick ins Weite. In den Kerker eines solchen Haushaltes, einer solchen Wohnung war die Frau gebannt, die als Haussklavin diente, als Mutter der Familie und daneben auch als Heimarbeiterin etwas verdiente, um zum Haushalt auch das Ihre beizutragen. Dem Manne war sie selten die geliebte Frau, die Gefährtin in guten und bösen Tagen, in der Regel nur seine Geliebte, sein Lustweib, so lange er an ihr Lust empfand, im übrigen auch im Liebesleben die Gedrückte, die Geprügelte, die Sklavin. Aus der Enge dieser Welt trat die Frau eigentlich nur am Sonntag, wenn sie in die Kirche ging, und

und da hatte die katholische Kirche für großartige Aufmachung gesorgt. Direktor Ensler hat mir unlängst erzählt, wie Sie alle diese Kirchen, diese Kultushäuser in Kulturhäuser gewandelt haben. Viele waren erlesene

Werke der Baukunst. Begnadete Baumeister, Maler, Bildhauer, Geschmeide- und Mosaikkünstler haben sich vereinigt, um das Werk zustande zu bringen. Die Kunst, Bleiglasfenster zu fügen, hatte eine gewaltige Höhe erklommen. In einen solchen, oft in geheimnisvolles Dunkel getauchten Raum tritt die Frau aus der Enge ihrer Wohnung. Spielerisch fällt die Sonne durch blaue, rote, gelbe Scheiben. Irgendwo bricht so ein Strahl göttlichen

Lichtes in das Dunkel und läßt irgendeine marmorne Heiligengestalt oder eine goldene oder silberne Statue im zauberischen Farbenlicht erscheinen. In der Jesuitenkirche in Wien war hinter dem Altarbild so geschickt

ein Fenster angebracht, daß der Kopf der hohen Mariengestalt wie von einem natürlichen Heiligenschein umstrahlt schien. Trat man in die sonst in geheimnisvolles Dunkel getauchte Kirche, dann wurde der Blick unwillkürlich zu dieser unsichtbaren, aber vom Auge empfundenen Lichtquelle gezogen. Die Augen der Frau waren gefangengenommen, schaute sie solches. Der alte Wunderglaube, der Glaube an höhere Wesen fand

wieder Nahrung. Sie hielt für Gotteswerk, was Menschenwerk war, allerdings das Werk begnadeter Künstler und noch mehr begnadeter Wunderglaubenstechniker. Die Seele der Frau badet sich in dieser Schönheit, die ihr das Auge vermittelt. Sie sitzt versunken in holde Träume da. Da beginnt oben auf dem Chor die Orgel zu spielen, das herrlichste Instrument, das Menschen erfunden haben. Wieder öffnen sich die Seelentore. Unter Wonneschauern sitzt die Frau da. Ihre Ohren vermitteln ihr ein Hohelied des Schönen, des Gewaltigen. An hohen Feiertagen bleibt es nicht bei der Orgel. Ganze Konzerte gibt die Kirche, Geigen und Posaunen wirken mit und helle und tiefe Menschenstimmen, liebliche Kinderstimmen -- eigene Sängerknaben erziehen sie sich -- und alles vereint sich, den Boden der Seele aufzuwühlen. Es war, wie wenn ein Ackersmann über das Feld führe und tief schürfend mit dem Pfluge die Schollen aufwürfe, ehe er die Saat streut. Oh, sie haben es verstanden, die katholischen Herren meiner Zeit! War so eine Proletenfrau einmal so weit, dann erst stieg der Priester auf die wundervoll geschnitzte Kanzel und verkündete das Wort Gottes, wie sie frevlerisch sagten, denn es war kein göttliches Wort, dieses 'Sparet nicht die Rute, denn Rute und Strafe geben Weisheit!', es war ein Wort der Rache, der menschlichen Gewaltübung des Stärkeren über den Schwächeren.«

»Ja, war es denn in allen Familien so?«

»Nein, nur in den Proletarierfamilien und bei den Kleinbürgern. Die Adeligen hatten sich schon im 17. Jahrhundert den Prügelknaben zurechtgelegt, den Gespielen ihrer Söhne, der für diese die Prügel empfangen mußte, wenn die Söhne Verfehlungen begangen hatten, für die nach der rohen Meinung der Zeit des Dreißigjährigen Krieges dem Kinde Prügel gegeben werden mußten, und die Herren des großen Bürgertums, sie hielten sich Hofmeister und Erzieher für ihre Söhne, die es nie gewagt hätten, so ein Kind zu prügeln. Nur für die Kinder der Geprügelten ziemten sich wieder Prügel, nur diesen predigte auch die katholische Kirche.«

»Und konnten die, Kinderfreunde' gar nichts dagegen unternehmen?«

»O doch, wir haben damals eine gewaltige Agitation entfesselt, in Wort und Schrift. Auch eine Umfrage an die Kinder haben wir veranstaltet in einer sehr gelesenen Zeitschrift für die proletarischen Frauen, in der 'Unzufriedenen'.

Erstens: Bist du schon geprügelt worden? Zweitens: Von wem? Drittens, wenn ja, hältst du diese Strafe für gerecht? Viertens, wenn nein, was würdest du an die Stelle dieser Strafe setzen? Das waren die Fragen, und sie wurden von mehr als zweihundert Kindern beantwortet. Eine Siebenjährige aus dem schlimmsten Schornsteinbezirk Wiens schrieb: In der Schule lerne ich, man soll kein Tier schlagen, warum denn dann uns Kinder? Als ich diesen Brief der Kleinen las, war ich erschüttert. Ich kämpfte damals schon ein Jahrzehnt lang, seit ich im öffentlichen Leben stand, gegen die Prügelstrafe, aber dieser so kräftige Beweis dagegen war mir nicht eingefallen. Erst ein Kind mußte uns Alte auf diesen Widerspruch zwischen dem gesprochenen Wort in unserer Erziehung und unserer Handlung aufmerksam machen. Und eine Dreizehnjährige schildert die letzte Prügelszene ihres Lebens. Der Vater geht mit dem Stocke auf sie los, will sie schlagen. In ihrer Seelenangst hält sie die Hand vor und ruft dem Vater entgegen: 'Aber Vater, du bist doch ein Sozialdemokrat!'

Da besinnt sich der Vater und läßt den Stock sinken. Eine Erfüllung des Sozialismus mit der Peitsche gibt es nicht. Das war es, was diese Dreizehnjährige ihrem Vater zugerufen hatte. Aber all unser Werben hatte doch wenig Erfolg. Die Kirche wurde kühner und kühner. In einem zweiten Hirtenbrief sprachen die Bischöfe das schreckliche Wort: 'Wenn du Söhne hast, so beuge sie beizeiten.' Ja, für wen sollten die Proletarier ihre Söhne beugen? Für die Kapitalisten. Je mehr die Proletarier ihre Söhne prügelten und beugten, desto verprügelter und gebeugter kamen sie in die Hand ihrer Ausbeuter, und desto leichteres Spiel hatten die Kapita-

listen, sie noch mehr zu prügeln und zu beugen.«

»Und das haben die Mütter auch ruhig hingenommen?«

»Auch das. Wir hatten die größte Mühe, ihnen zu zeigen, wohin solche Erziehung führen müßte. Der Glaube an die Kirche war eine ungeheure Macht, vòn der sich Ihre Zeit wohl gar keine Vorstellung mehr machen kann. Die Menschheit war einfach blind. Was so ein Mann von der Kanzel verkündete, es wurde blindgläubig, nicht als Menschenwort, es wurde als Gotteswort hingenommen.«

»Arme Kinder«, konnte sich Alexandra nicht enthalten, dazwischen zu rufen.

»Ja, wirklich arme Kinder! Aber auch arme Eltern! Der Staat hatte ihnen die Bildung versagt. Die Sozialdemokratie war noch nicht mächtig genug, ihnen die ganze Bildung zu ersetzen, die ihnen der Staat vorenthielt, und die Kirche nützte ihre alte Macht. Sie gingen noch weiter, viel weiter. Als wir gegen das Beugen der Söhne mit der ganzen Macht unserer Werbearbeit loszogen, mit dem ganzen Feuer von Menschen, die überzeugt waren, daß nur aufrechte Menschen eine neue Welt, eine neue Welt ohne Gewalt werden aufrichten können, da kamen die Oberhirten mit dem gröbsten Geschütz. Die 'Gewerkschaften', das waren damals die Arbeitervereinigungen zum Zwecke der Sicherung des Verhältnisses der Arbeiterklasse zur Unternehmerklasse, 'Die Gewerkschaften' sind das Unheil der Erwachsenen, wie die 'Kinderfreunde' das Verderben der Jugend sind. So verkündeten sie es an einem Festtag der Kirche von allen Kanzeln. Es war ein Wort des Hasses, der schlimmsten Verfolgung, und dieses Wort des Hasses, es wurde am Weihnachtstag verkündet, am 25. Dezember, und es klang aus in die furchtbare Drohung gegen die 'Kinderfreunde': Mühlsteine um ihren Hals und versenket sie dort, wo das Meer am tiefsten ist. Wieder einmal wurde das alte schreckliche Wort hinausgerufen 'Kreuziget sie! Kreuziget sie!' Ein Wort des Evangeliums wurde frevlerisch gegen die angewendet, die sich gleich Christus schützend vor das gequälte Kind stellten, und es wurde von denen ausgesprochen, die heuchlerisch auf ihre Fahnen das herrliche Wort Christi geschrieben hatten: 'Laßet die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.«

»Auch das haben die 'Kinderfreunde' überwunden?«

»Mitten in dem Kampf gegen dieses Wort bin ich in meinen Schlaf verfallen. Wie der Kampf geendet hat, ich weiß es nicht, aber ich weiß noch, wie der Kampf eingesetzt hat. Einer der Führer der 'Kinderfreunde' hatte

Jahre vorher einmal in einem Kinderheim eine eiserne Kette beschlagnahmt, mit der die Kinder an Händen und Füßen krumm geschlossen wurden, wenn sie nach der Meinung ihrer Erzieher unbotmäßig gewesen waren. Und im Vorstande dieses Rettungshauses für verwahrloste Kinder, wie es sich nannte, saßen neben dem Obmann, einem Rechtsanwalt, der katholische Oberhirte, der Erzbischof von Wien und der jüdische Oberhirte, der Oberrabbiner von Wien. Die Kette hatte jahrelang in der Schreibtischlade des Kinderfreundes geruht, er hatte damals die Macht gehabt, die Kinder aus dieser Kettenerziehung zu befreien und weil es ihm nicht um Skandal zu tun war. Aber als der Erzbischof den Hirtenbrief herausgab, der den 'Kinderfreunden' Mühlsteine um den Hals legen wollte, da legte der sozialistische Kinderfreund dem Bischof die Kette um den Hals und zeigte dadurch öffentlich auf, wo die Erziehung mit der Rute und dem Beugen der Söhne endet, daß die Kinder des Proletariats schließlich in Ketten geschlagen werden.«

»Entsetzlich! Entsetzlich!«, riefen die beiden Frauen, »und das haben Sie alles selbst erlebt?«

»Buchstäblich, wie ich es hier erzähle, und Sie verstehen, liebe Alexandra und verehrte Schwester Marianne, was diese Botschaft für mich bedeutet, die Sie mir brachten, daß eine der ersten Taten zur sittlichen Höherführung der Menschen die war, daß die Prügelstrafe abgeschafft wurde, und Sie verstehen nun, wie hoch ich diese Zeit preise. Jetzt erst ist die Menschheit am Morgen ihrer Gesittung.«

»Wir sind davon überzeugt. Aber nun, mein Lieber, lassen Sie uns einer besseren Gegenwart leben. Mutter Else ruft schon zu Tisch.«

IM KINDERGARTEN

Richard war so erfüllt von der Botschaft, daß Kinder nicht mehr geschlagen werden, daß er kaum den nächsten Morgen erwarten konnte, an dem er mit Ensler wieder einen Ausflug in die neue Welt machen sollte. Noch am Abend bat er Ensler durch den Fernsprecher, daß er ihn am nächsten Tage in die Geheim- nisse der öffentlichen Erziehung einführen möge. Ensler hatte dies lachend zugesagt und sich für den nächsten Tag ein Führungsprogramm zurechtgelegt.

Es war ein harter Tag. Kaum, daß sie eine Viertelstunde geflogen waren, ließ sich Enslers Vogel auf dem flachen Dach eines Hauses nieder, das mitten im Grünen stand. »Wir werden bei den ganz Kleinen beginnen. Wir sind hier im Mutterhaus der Montessori-Schulen. Hier wollen wir einmal sehen, wie es unseren kleinen Kindern ergeht bei ihren ersten Schritten in das Leben freier Bürger. 'Einordnung in das Wohl des Ganzen', das ist auch hier oberster und erster Grundsatz.| Damit stiegen die beiden Besucher über die Dachtreppe in das Innere des Gebäudes, das durch seine Einrichtung und seine Bauart sofort auffiel. Beim ersten Schritt schon, den er über die Treppe machte, wäre Richard bald gestolpert. Die Stufen waren nämlich so niedrig, daß sie auch von kleinen Kindern ohne Mühe genommen werden konnten.

»Achtung, wir sind in Liliput«, lachte Ensler, »hier ist alles der Größe der Kinder angepaßt. So wie die gewöhnlichen Stufen einer Stiege 15 cm hoch sind, also etwa dem Zwölftel bis Zehntel der Körpergröße eines normalen Menschen entsprechen oder einem in der letzten Wachstumsstufe Befindlichen, so hält man es auch hier mit den Kindern. Kinder von dritthalb bis sechs Jahren sind 100 bis 120 cm groß. Soll die Stie- genstufe von ihnen leicht genommen werden, so darf sie nicht höher als höchstens zehn Zentimeter sein. So sind denn auch alle Stufen in diesem Haus auf dieses Maß eingerichtet.«

»Das ist sehr einleuchtend«, sagte Richard, »wie müßte sich ein Erwachsener plagen, wenn er eine Stiege erklimmen müßten, deren Stufen nicht 15 sondern 25 cm hoch wären und doch hat man zu meiner Zeit an solche Dinge nicht gedacht. Eines einzigen solchen Hauses denke ich. Es entsprang der Laune einer der vielen italienischen Herzöge alter Zeit vor der Einigung Italiens. Ich glaube, es war der Herzog von Gonzaga, zu dessen Hofhaltung auch einige Hofnarren gehörten, die von zwergenhafter Gestalt waren, und diesen Zwergen ließ einer dieser Gonzagas ein Zwergenhaus bauen, dessen Maße ganz der Körpergröße seiner kleinen Bewohner angepaßt waren. Es wurde zu meiner Zeit noch als ein Zeugnis der Macht dieser Herzöge oder wenigstens ihres Machtwahnsinns gezeigt.« »Vielleicht ist dieses Denkmal vergangener Tage auch heute noch erhalten«, ergänzte Ensler, »was dort herausfordernde Laune war, hier ist es mit Bedacht im ganzen Hause durchgeführt«, fuhr Ensler fort. »Sie kennen ja das System der selbsttätigen Erziehung. Die Kinder haben das Bestreben, die Tätigkeit der Erwachsenen nachzuahmen. Geben wir ihnen dazu Einrichtungen und Werkzeuge, die ihren Körperkräften angepaßt sind, so sind sie nicht minder geschickt, als die Erwachsenen.«

»Bei einigen Dingen hat man das schon zu meiner Zeit allgemein eingesehen. Zum Beispiel waren die Fingerhüte der Größe der kindlichen Finger angepaßt, auch Fahrräder wurden für Kindergröße erzeugt aber das ganze Hausgerät und Werkzeug entsprach keineswegs der kindlichen Größe. Es war auf den Gebrauch für die Alten zugeschnitten. Daraus allein ergab sich, daß sich viele Kinder, die sich selbsttätig einordnen wollten in das Ganze, gar nicht einordnen konnten. Das hat Frau Dr. Maria Montessori als erste richtig erkannt und ihr System darauf aufgebaut, den Kindern

auch brauchbare Einrichtungen und Werkzeuge zu geben. Ja, das alles haben wir auch schon gehabt. Diese niederen Fenster, die die Kinder selbst öffnen und schließen konnten, diese kleinen Türen, diese niedlichen

Kasten, diese kleinen Werkzeuge, Tische, Stühle und Suppentöpfe, alles, alles war wie bei den sieben Zwergen über den sieben Bergen, und die Kinder fühlten sich wohl, weil es ihr Reich war.«

»Ganz so ist es auch heute noch«, fuhr Ensler fort. »Ein einziger Unterschied: damals hatten Sie ein Musterhaus und wir haben heute ein Mutterhaus. Sie hatten zu Ihrer Zeit nur die Möglichkeit ein solches Haus einzurichten -- auch das nur, weil einige pädagogisch weit vorgeschrittene reiche Leute das Geld dazu hergaben -- bei uns ist das, was Sie hier sehen, die allgemeine Einrichtung. Der Kindergarten war einst eine Wohlfahrtseinrichtung, die wesentlich nur dem Mittelstand zugänglich war. Die Eltern mußten dafür besonders zahlen. Das war eine ganz falsche Stellung der Gesellschaft zu dieser wichtigen Sache. Heute ist der Kindergarten in das allgemeine Schulsystem einbezogen. Er stellt die erste Stufe der allgemeinen Schulpflicht dar. Zu Ihrer Zeit konnte die Arbeiterklasse oder, wie Sie sie damals nannten, das Proletariat, die Kinder nicht ausnahmslos in den Kindergarten schicken, nur die Eltern, die Verständnis und die Zeit dafür hatten, waren so glücklich, ihre Kinder solcher Erziehung zuführen zu können, und die reichen Leute verzichteten darauf, sie hatten Geld genug, um ihren Kindern Gouvernanten und Hof- meister zu halten, die die Kinder entsprechend dem Willen der Eltern ausbildeten. Die Kindergärten waren auch nicht so dicht gesät. Bei dem Fünfzigjährigen Jubiläum der neuen Schule wurde berichtet, daß in Wien gerade jetzt vor hundert Jahren erst siebzig Kindergärten bestanden haben -- gegenüber einem Stand von fünfhundert Volks- und Bürgerschulen. Dabei hatte eine Volksschule, die fünf Klassen umfaßte, in der Regel dreihundert bis fünfhundert Kinder, ein Kindergarten aber wenn es hoch ging hundert bis hunderfünfzig Kinder. Man hätte also nicht auf neun Volks- und Bürgerschulen einen Kindergarten gebraucht, sondern für jede Volksschule zwei bis drei. Heute ist es so. Sie können sich denken, daß das eine Weile gebraucht hat, bis diese gewaltige Umwälzung vollzogen war. Es war wirklich keine kleine Aufgabe. Das kleine Kind braucht noch mehr Bewegungsfreiheit als die größeren, wenigstens im geschlossenen Raum. Im Freien brauchen die Größeren mehr Raum, weil sie rascher einen Raum durchmessen. Aber im geschlossenen Raum, da kommt man mit Bänken nicht aus, wie es einst für die Großen in den Schulen der Brauch war.«

»Auch in den Kindergärten!«, fiel Richard lebhaft ein.

»Umso schlimmer! Ein Kind in eine Bank zwängen, heißt so viel, wie einem Zicklein die Beine binden und es am Herumspringen zu hindern, oder ein Füllen so zu behandeln. Nein, die Bank mußte weg.«

»Und ist sie heute völlig weg?«, Richard brannte vor Neugierde.

»Restlos. Wir kennen die Bank nicht mehr. In keiner Schule!«

»Großartig!«

»Ja, das war die natürliche Folge. Da wir uns ausnahmslos für die zwanglose Erziehung entschieden hatten, mußten wir auch die Zwangsbank beseitigen. Am leichtesten ging es im Kindergarten, denn hier verstanden es die Bürger am raschesten, daß sich so ein kleiner Bürger von zweieinhalb Jahren aufwärts nicht in eine Bank zwingen läßt, daß er Bewegungsfreiheit braucht, und daß sein Wille nicht gehemmt werden darf, wenn sich sein Körper richtig entwickeln und durch den Widerstand nicht seine Seele gereizt werden soll.«

Dann durchschritten sie die Säle. Das war wirklich das Reich der Liliputaner, und alles war blitzblank, die mit weißer Ölfarbe gestrichenen Tische und Stühle, die weißen Wandverkleidungen, über denen die Wände mit hellgrüner Ölfarbe gestrichen waren, alles sauber, alles hell, man sollte auch das kleinste Stäubchen auf allem sehen. Alles war waschbar eingerichtet. Es gab hier kein »Gründlich-machen« zu allen heiligen Zeiten, sondern es wurde täglich und immer alles in peinlichster Ordnung und Reinlichkeit gehalten, und die kleinen Bürger dieses Reiches halfen dabei mit. Zweieinhalbjährige wußten schon den Feger zu handhaben und das Wischtuch, und sie hängten beide, nachdem sie sich ihrer be- dient hatten, wieder auf den allgemein zugänglichen Platz, und ebenso hielten sie es mit all dem vielen Spiel- und Arbeitszeug, das alles frei zur Verfügung stand. Alle Kasten standen offen, alle diese allen Kindern zugänglichen Kasten. In allen war Ordnung, eine Ordnung, die die Kinder selbst hielten, die in wenigen Tagen das oberste Gesetz jeder Gemeinschaft begriffen: Es gehört alles allen. Ihr könnt mit allem spielen, alles aus dem Kasten nehmen, aber ihr müßt auch alles wieder auf den Platz zurückgeben, damit der nächste es wiederfinde. Da holten sich die kleinen Bürger einen Teppich aus dem Kasten, rollten ihn auf, setzten sich nach türkischer Art darauf und spielten miteinander. Ein anderer nahm aus dem Glasschrank ein Henkelglas, ging zur Wasserleitung, die so niedrig war, daß er sie selbst handhaben konnte, füllte das Glas fast bis zum Rand voll und ging nun, das Glas in der Hand haltend, einen Kreis ab, der auf den Boden gezeichnet war. Das war eine schwierige Gleichgewichts- und Ordnungsübung. Sein Bestreben war darauf gerichtet, nichts von dem Inhalt des Glases zu verschütten. Verschüttete er aber doch einen Tropfen, dann unterbrach er das Spiel, stellte das Wasserglas ab und wischte zuerst den Tropfen auf.

Das sah eine der jungen Frauen, die hier Mutterdienste im edelsten Sinne des Wortes leisteten. Als der Junge wieder das Glas aufnahm, um seinen Gang um den Kreis fortzusetzen, setzte sie sich zu dem Piano und schlug einige Takte an. Sofort ging der Junge mit dem Glas im Takte nach der Musik, und bald gesellten sich zu ihm einige andere, die es ihm gleichtun wollten. Bald liefen sie alle, sogar die ganz Kleinen, und mit solcher Kunstfertigkeit, daß keiner auch nur einen Tropfen verschüttete. Wie mußte solche Übung ihr Selbstbewußtsein, das Zutrauen in ihr eigenes Können stärken!

Ensler und Richard saßen in der Beobachtungsecke. Um die Kinder in ihrem Tun nicht zu stören, war in halber Höhe des Saales ein kleiner Balkon angebracht, den man von außen betreten konnte, ohne daß es die Kinder merkten, und hier saßen die zwei und sahen dem Treiben der Kinder zu.

Plötzlich kam neue Bewegung in die Schar. Einige Jungens und Mädels von kaum mehr als drei oder vier Jahren hatten niedliche weiße Schürzen umgebunden und kamen gar geschäftig von der Küche her in den Saal.

»Essenszeit wird!«, verkündeten sie, und die übrigen Kleinen packten ihr Spielzeug, den Teppich, ihr Werkzeug oder die Bilder, die sie gerade angesehen hatten, zusammen und räumten alles besonders in die Kasten ein. Die Gruppe der Speisenträger aber rückte die Tische im Halbkreis eng aneinander und ordnete dazu die vier Stühlchen, so daß kein essendes Kind dem anderen im Wege war. Dann brachten sie kleine allerliebste Tellerchen, und auf jedem war ein anderes Bild, ein Vogel, ein Schmetterling, einige Blumen, einige Beeren, ein Nest mit Jungen, ein Eichkätzchen, lauter liebe oder lustige Bilder aus der Natur. Dazu brachten sie Löffel, Messer und Gabel, alles den kindlichen Körpermaßen entsprechend, und dann kam das allerliebste: wie eine Schar Köche und Köchinnen aus dem Reich Liliputs kamen vier Kinder, zwei Buben und zwei Mädels. Jedes der Kinder trug auf einer Holzplatte einen kleinen Suppentopf mit kleinem Schöpfer, und mit lieben Knicksen stellten sie auf jeden Tisch einen Topf und den Schöpfer, und die Kinder konnten sich nun selbst bedienen.

Bald löffelten etwa zwanzig Kinder ihre Suppe, und keines mußte die Saalmutter zum Essen nötigen, alle aßen mit Appetit, ohne Geschrei, ohne Zwang, ohne böses Wort. Wie war das nur möglich?

»Das war schon in unserer Musteranstalt so. Das Geheimnis war ein Gesetz, das den Kindern vom ersten Tag an beigebracht wurde: Du nimmst dir selbst so viel du willst, so viel du glaubst, daß du essen kannst -- aber was du dir herausnimmst, das mußt du auch essen. Tust du es nicht, so wird die nächste Speise an dir vorbeigetragen. Und diese nächste Speise war gar oft etwas, wonach die Kinder noch mehr gelüstete, irgendwelche Obstspeise oder eine andere Süßigkeit, etwas Schokolade, Rosinen, Zucker, es gibt ja so gute Sachen auf der Welt. Wenn sie sich dagegen auflehnten und weinten -- die Mütter blieben fest.

»Du kannst die Speise sofort haben, wenn du aufgegessen hast.«

»Ich mag die Suppe nicht.«

»Ich bitte, Kind, du mußt die Suppe nicht essen -- du hast keinen Hunger, mein liebes Kind.«

Und weinte das Kind dann noch, dann vertröstete es die Mutter auf die nächste Mahlzeit, die bald sein werde. In der Tat gab es alle zwei Stunden etwas zu essen, damit dem kleinen Kindermagen nicht auf einmal eine zu große Aufgabe gestellt wurde. Und wenn es gar nicht ging mit Trost und Ablenkung, dann führte die Mutter das Kind mit sanfter Hand in eine andere Stube, in den Vor- oder Liegeraum, in den Garten, in die Küche oder was sonst den Neigungen des Kindes entsprach und sagte ihm dort mit liebevollen, aber bestimmten Worten: »Wenn du wieder gut bist, kommst du wieder zu uns.«

Und in der Regel dauerte es nicht eine Minute, daß so ein kleiner Mensch wieder gut war, daß seine Laune wieder verflogen war, und daß er sich wieder ohne Schwierigkeit in die Gemeinschaft einordnen konnte. Es war geradezu wunderbar, wie so eine Mutter mit ihren zwanzig Kindern fertig wurde, ohne Gewalt, ohne Geschrei, ohne Kommando, ohne jeden Befehl -- gerade deshalb.

Ja, das wäre ein Sieg, dieses Montessorisystem«, sagte Richard, seine lange Rede schließend so als ob die Einführung dieses Systems erst erreicht werden müßte.

Ensler lachte: »Warum seufzen Sie? Denken Sie schon wieder 1925?«

»Ja, so war es. Ich habe mich beim Anblick der Kinder so in die alte Zeit versenkt, wo wir zum Beispiel in der großen Stadt Wien nur eine einzige Anstalt hatten, und darum habe ich geseufzt.«

»Ja, von solchen Mustern bei uns und anderswo, in der Geburtsstadt des Montessorisystems in Rom, in London, in Berlin, in Hamburg sind die heutigen Mutteranstalten hervorgegangen. Viel zur Verbreitung des Systems hat auch die Wiener Revolution im Bauwesen beigetragen.«

»Wie das?«

»Dadurch, daß die Gemeinde Wien durch die allgemeine Einhebung der Wohnbausteuer zu zinsenlosem Baukapital kam, konnte sie diese großen Häuserblocks und Siedlungen nicht nur bauen, sondern sie konnte auch allen diesen Wohnstätten allgemeine Wohlfahrtseinrichtungen anfügen, die allen zugute kamen. Darum war es ja auch möglich, in jedem Häuserblock einen

Kindergarten zu schaffen. Das, was Maria Montessori einst erträumt und in einem Beispiel in Rom auch verwirklicht hatte, das ist heute Allgemeingut der Welt. Jeder Wiener Häuserblock, aber auch jeder in New York oder Sidney, in Kalkutta oder Barcelona, in Stockholm oder Rio de Janeiro hat einen Montessori-Kindergarten, in dem die Kinder förmlich unter den Augen der Mutter spielen können. Aber das werden wir anläßlich eines Hausbesuches in der Nähe sehen, für heute glauben Sie es mir so, daß es nicht nur ein Recht jedes Kindes ist, im Kindergarten die erste Unterweisung zu empfangen, daß es auch Pflicht der Mutter ist, die Kinder diesem Kindergarten zuzuführen. Im Mutterkindergarten, dem wir auch eine der Ausbildungsanstalten für die Kindergärtnerinnen angegliedert haben, werden die Kinder in der meist verbreiteten Wahlsprache, dem Englischen unterwiesen.«

»Woraus folgt, das jede angehende Kindergärtnerin auch Englisch können muß?«

»Ja, das stimmt. Das ist eine Voraussetzung, eine Bedingung. Sie muß neben einer der fünf übrigen Wahlsprachen auch Englisch können. Das hat sich ergeben, weil in England das Montessori-System zuerst allgemein durchdrang und eine Kindergärtnerin ohne ein Jahr Englandpraxis gar nicht zu denken war. Darum wurde es für ganz Europa zum Gesetz erhoben, daß neben der Mutter- und der andern Wahlsprache von jedem Lehrer vom Kindergarten bis zur Meisterschule auch die võllige Beherrschung der englischen Sprache begehrt wird, und dieses Gesetz hat sich erstaunlich schnell und leicht durchgesetzt.«

»Da geben Sie also der englischen Sprache den Vorzug?«

»Das nicht. Aber es entspricht einer natürlichen Entwicklung. Wenn ich nicht irre, so haben zu Ihrer Zeit schon sechshundert Millionen Menschen Englisch gesprochen, mehr als ein Drittel, heute sind es doppelt so viel, das heißt, mehr als die halbe Menschheit, die die Erde bevölkert, spricht Englisch. Ein solches Überwiegen einer Sprache übt naturgemäß auf sehr viele Menschen seine Anziehungskraft aus, und so kam es, daß man von allen Lehrern forderte, daß sie die meistverbreitete Sprache der Welt beherrschen. Das hat sich auch ganz zwanglos ergeben. Das waren dann die Schüler mit zwei Wahlsprachen. Es entsprach unserem System der Auslese nach der Eignung. Im allgemeinen war die zweite Wahlsprache noch kein unbedingt verläßlicher Gradmesser, aber sie zeugte doch wenigstens für den Ernst des jungen Menschen, der solche Lernlast auf sich nahm. Es war wahrscheinlich, daß in ihm das Zeug zum Lehrer steckte, mehr als in einem andern.«

»Auch die Freizügigkeit des Lehrers muß dadurch doch gehoben worden sein«, warf Richard ein.

»Ganz richtig. Besonders in unseren Meisterschulen finden wir gerade wegen dieses Beschlusses Männer und Frauen aus allen Zonen, die Indianerin neben dem Neger, den Australier neben dem Amerikaner und Europäer.«

Die beiden Männer hatten sich längst in den Elternraum zurückgezogen, um dort auch ihrerseits einen Imbiß einzunehmen.

Das Essen war vorzüglich.

»Auch das bekommen die Kinder umsonst?«

»Das kann man nicht sagen, denn was sie hier verzehren, essen sie ja zu Hause nicht und so erspart sich der Staat die gesonderte Verrechnung. Bei uns geht die Verrechnung in Massen, ist also einfacher.«

»Und wird diese Bewirtung der Kinder in den Schulen allgemein geführt, auch in den Schulen für die größeren und großen Kinder?«

»Allgemein. Dies auch aus einem wichtigen Grunde der Volksernährung. Jede Altersstufe hat ein anderes Nahrungsbedürfnis. Wenn ich für die verschiedenen Altersstufen koche, so kann ich auf dieses verschiedene Nahrungsbedürfnis leichter Rücksicht nehmen, ohne den Erwachsenen Zwang antun zu müssen. Das Kind braucht nicht nur passende Stiegenstufen, Kleider, Möbel, sondern auch passende Nahrung. Es ist nur ein logisches Durchdenken des ganzen Systems, um alle diese Weisheit zu schöpfen. Alles das empfinden wir heute als das Natürlichste der Welt.«

»Aber sagen Sie mir doch«, platzte Richard endlich heraus, den diese Beobachtung von allem Anfang an beunruhigt hatte, »sagen Sie mir doch, warum trennen Sie die Kinder nach Geschlechtern und schon im Kindesalter?«

Ensler sah ihn an wie ein lebendiges Fragezeichen. »Wir trennen die Kinder? Woraus schließen Sie das?«

»Nun, weil Sie hier lauter Mädchen haben.«

Jetzt lachte Ensler aus vollem Halse. »Ah, Sie bestimmen das Geschlecht nach der Kleidung. Sie meinen, weil alle Kinder Kleidchen tragen, wie einstens die Mädchen. Das ist das Kleid der untersten Altersstufe. Bis zum Eintritt in die Lesearbeitsschule tragen alle Buben und Mädels Kleidchen, kurze Kleidchen, so kurz, wie die Kleiderröcke der historischen schottischen Soldaten, aber doch Röcke.

Indessen, lieber Freund, ich will nicht zuviel sagen, die Anschauung wird uns das beste Bild geben --«

Und schon wendete sich Ensler wieder der Liliputstiege zu und schritt voraus aufs Dach.

DER GLÄSERNE SAAL UND DIE VIKTOR-ADLER-HALLE

Minuten später hob sich der Luftvogel und hatte bald seine »Gasse«. Für Stadtflüge war eine Flughöhe von etwa zweihundert Meter gesetzt. Flugbojen, kleine Fesselballons zeigten die wichtigsten Kreuzungspunkte an, um es dem Flieger zu ermöglichen, sich zurechtzufinden. Während der Nachtzeit flammten diese Bojen am Stadthimmel auf. Ein Kranz elektrischer Lampen umgürtete sie. Nahflüge hatten in fünfhundert Meter Höhe etwa freie »Gasse«, nur für Fernflüge wurden die höchsten Höhen aufgesucht. Kaum waren sie um einige Bojen herum, als Ensler auch schon auf ein Dach zusteuerte und sich auf ihm niederließ, nachdem er eine Weile über ihm geflattert war. Es waren Kinder auf dem Dach der Lesearbeitsschule, so daß er nicht gleich landen konnte. Der Lehrer -- oder war es eine Lehrerin? -- hatte den Kindern eben etwas von dem Stadtbild zu erklären gehabt und sie darum auf das Dach geführt. Das bartlose junge Geschöpf mit den rosigen Wangen trug ebenfalls die kleidsame kurze Hose der Jugend, die die Knie freiließ, Strümpfe und Halbschuhe und ein Seidenhemd mit weit ausgeschlagenem Kragen und darüber eine ganz leichte hellblaue Leinenjacke. Das schwarze Haar war seitlich gescheitelt. Erst als die beiden grüßten und ihnen ein weicher Sopran antwortete, wußte Richard, woran er war.

»Schön willkommen, meine Herren.« Ensler streckte sich eine schlanke Frauenhand entgegen.

»Herr Richard Fröhlich«, stellte er vor. »Frau Hilda Schniderschitz... Unser berühmter Gast ist heute daran, die Lesearbeitsschule zu studieren. Wollen Sie uns sagen, liebe Kollegin, was Sie gerade auf das Dach der Schule geführt hat?«

»Wir waren gestern in der Viktor-Adler-Halle und heute wollten die Kinder wissen, wie hoch der Turm sei. Ich gab ihnen die Höhe an, um ihnen aber den richtigen Begriff zu machen, was hundertsechsunddreißig Meter sind, führte ich sie auf das Dach, da konnten sie sehen, wie weit dieses Wahrzeichen Wiens alle andern Gebäude überragt.«

»Wo ist der Viktor-Adler-Turm?«, fragte Richard.

»Hier vor Ihrer Nase.« Ensler deutete mit der Hand auf einen schlanken Turm, der sich über ein spitziges hohes Kirchendach hob.

»Aber, das ist doch der Stephansturm!«

»War einmal! Seit wir aber die herrliche Stephanskirche in die Viktor-Adler-Halle gewandelt haben, seit dieser Bau nicht mehr einer Religion dient, sondern Gemeingut allen Volkes geworden ist, das an die höchste Menschheitsreligion glaubt, an den Sozialismus, seither ist uns dieser Bau zur würdigsten Kulturstätte dieser Stadt geworden. Es ging hier wie überall: Kultus und Kultur. Früher diente er dem Kultus einer Religion, heute dient er der Kultur aller Menschen, und diese Rangerhöhung in der Zweckbestimmung des Baues haben wir dadurch ausgedrückt, daß wir den herrlichen Bau auch unbenannt haben, und zwar nach dem Erwecker des österreichischen Proletariats, nach Dr. Viktor Adler.«

»Bravo! Einundzwanzigstes Jahrhundert! Bravo!«

»Tun Sie ihrem Jahrhundert nicht gar so unrecht. Das ist ein Werk der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Schon um 1950 war die Mehrheit der katholischen Kirchengemeinden von sozialdemokratischen Predigern besetzt, und zwanzig Jahre später war auch im alten katholischen Zentrum Europas, in Wien, die katholische Kirche bereit, gemeinsame Sache mit der Weltreligion des Sozialismus zu machen und alle bisherigen Kultusstätten dauernd in Kulturstätten zu wandeln. Das meiste, was an die alte Erziehung zum Aberglauben in der Kirche erinnerte, war ja ohnehin schon verschwunden. Die sozialistischen Pfarrer hatten diese Zeugnisse irriger Beeinflussung der Bevölkerung beschämt beiseitegeräumt. In den Schatzkammern der Kirchen war ihnen Raum geworden, denn unter diesen Amuletten, Kreuzen, Bildern waren auch manche von hohem Wert, die nicht vernichtet werden sollten. Das Weitere ging dann leicht.«

Mit freundlicher Gebärde lud Frau Hilda die beiden ein, den Kindern in das Haus zu folgen. Schon hatten sie die Treppe betreten.

Unten im Haus wartete Richards erst die rechte Überraschung. Er trat, der Einladung Frau Hildas folgend, in einen gläsernen Saal. Blendendes Licht durchflutete den Raum, der ganz gegen den Garten zu gelegen war.

Die Hauptwand des Raumes war eigentlich eine einzige Glasfläche, die nur ab und zu von schmalen Wandrippen unterbrochen war. Richtung Nord-Ost. In den ersten Morgenstunden konnte die Sonne das Zimmer durchdringen, in den eigentlichen Lernstunden aber, die die Kinder hier verbrachten, brach durch die Fensterwand das dem Auge so wohltuende zerstreute Licht der Nordrichtung. Daß er sich hier in einem Schulzimmer befand und nicht in einem Festsaal, wie er im ersten Augenblick vermutet hatte, merkte Richard sofort an dem Benehmen der Kinder. Gegen die Fensterwand zu waren etwa zwanzig bequeme Korbstühle mit breiten Seitenlehnen, die auch als Auflagetischchen gelten konnten, in zwei Reihen im Halbrund aufgestellt. In der Mitte der Fensterwand war mit dem Rücken gegen das Licht ein Tisch zu sehen, auf dem einige Bücher lagen. Ein mächtiger Blumenstrauß stand auf ihm. Hinter dem Tisch ein bequemer Korbstuhl und neben diesem eine Schiebetafel. Die anderen Wände waren in helles Grün getaucht. Waschbarer Ölfarbenanstrich. Nur eine der beiden Breitwände zeigte eine weiße Fläche, die für die Vorführung lebender Bilder nötig war. Auch der Fußboden war mit einer waschbaren Holz- und Korkmasse eingelassen, die den Schritt weich und elastisch erscheinen ließ wie auf einem Teppich und so warm hielt wie ein solcher. Jede Staubbildung war verhindert. An der zweiten Längswand waren in Wechselrahmen prächtige Bilder zu sehen -- immer Bilder eines Meisters. In dieser Woche war Segantini an der Reihe mit seinen sonnigen Hochlandbildern, denn während dieser Woche sollte die Frühsommeralpenfahrt vorbereitet werden, zu der alle Kinder aller vier Jahrgänge der Lesearbeitsschule Jahr um Jahr kamen. Das war eine Art Vorarbeit für den erst später einsetzenden planmäßigen naturwissenschaftlichen Unterricht, aber auch eine der vielen Maßnahmen zur körperlichen Ertüchtigung der Jugend. Dazu gehörten natürlich Hochlandwanderungen von früher Jugend an.

Frau Hilda nahm ihren Platz vor dem Tisch ein und begann zwanglos die Plauderstunde weiterzuführen. »Ich glaube, Kinder, wir werden unseren beiden Gästen die größte Freude bereiten, wenn wir unser Plauderstündchen fortsetzen, so, als ob wir unter uns wären. Glaubt ihr nicht auch?« Und als ihr ein helles »Ja!« aus vielen Kinderkehlen antwortete, da griff sie den Faden ihres Gesprächs von vorhin wieder auf.

»Wir haben also über den Viktor-Adler-Turm gesprochen.

Viktor Adler, liebe Kinder, war Arzt. Aber er war mehr als das, er war Mensch. Und dieser Mensch erwachte in ihm, als einmal in die Sprechstunde des Arztes Viktor Adler ein zerlumpter Mann trat, der recht übel roch. Er hatte sich aus einer Branntweinflasche Mut angetrunken, um dem jungen Arzt, von dessen Güte er schon oft gehört hatte, das Schicksal der Arbeiter darzustellen. Der Zerlumpte war ein Ziegelarbeiter, ein Mann, der Tag für Tag vierzehn bis fünfzehn Stunden Ziegel schlug, der sein Weib vor den Lehmkarren spannen mußte und seine Kinder zum Zutragen und Schlichten der Ziegel verwenden mußte und doch nichts erntete als Hunger samt seiner Familie. Sie schlugen die Ziegel für ganz Wien, da draußen auf dem Wienerberg, aber sie selbst hatten keine menschlichen Wohnungen. Roh aufgeschichtete Ziegelwände, nicht mit Mörtel verbunden, schlossen die Holzschuppen gegen außen ab. Das waren die Wohnungen, in denen diese Menschen hausen sollten und mußten, und in den wenigen gemauerten Baracken fanden nicht alle Ziegelarbeiter Platz. Es mußten Familienschlafsäle geschaffen werden. Vier, fünf, oft noch mehr Familien, wohnten in einem solchen Raum, und ein Kreidestrich bildete die Wand zwischen den einzelnen Wohnungen, die denen, die die Ziegel für alle schlugen, zugewiesen waren. Da lag alles durcheinander, Frauen, Kinder, Männer, junge Burschen, junge Mädels, alles in fürchterlicher Enge, alles in Armut und auf Lumpen. Das Einzige, was diesen Menschen manchmal auf Stunden eine schönere Welt vorgaukelte, das war die Schnapsflasche. Das war ja die Eigenschaft der Rauschgetränke jener Tage, daß sie den Menschen, der sie genoß, gleich dem verdurstenden Wüstenreisenden Phantasiebilder zeigten, die grüne Oase, in der der lebensrettende Wasserquell sprudelte. Griffen sie aber danach, dann war dieses Luftbild in nichts zerronnen, und sie waren ärmer als früher. War der Rausch mit den schönen Bildern verflogen, so kam der Katzenjammer, die Reue über das vergeudete Geld und die Erkenntnis, daß der arme Mensch, der sich solchem Genuß hingegeben hatte, nun noch ärmer war. Es war eine fluchwürdige Verführung der Menschen.

So ein Mensch also, liebe Kinder, kam zu Viktor Adler. Dieser untersuchte ihn zuerst als Arzt. Er fand einen abgezehrten, ausgehungerten, vernachlässigten Körper, der schon lange nicht Wasser und Seife gesehen hatte. Läuse krochen auf dem Kopfe des Mannes, dessen Gesicht ein struppiger Bart umrahmte. Adler wandelte ihn zuerst in einen Menschen, labte ihn und gab ihm Mittel an die Hand, sich von der Läuseplage zu befreien. Dann erst untersuchte er den Struppigen als Menschen, und nun gewann er das ganz grauenhafte Bild von dem Lose der Wienerberger Ziegelarbeiter. Da zog er hinaus an die Grenze der Stadt, drang in das Werk ein, überzeugte sich mit eigenen Augen von dem unmenschlichen und menschenunwürdigen Los, das hier die Arbeiter zu tragen hatten, und von diesem Tage an war der Arzt und Mensch Viktor Adler der treue Hüter der Mühseligen und Beladenen, ihr Vorkämpfer, ihr Erwecker aus der Schmach der Sklaverei. Und er hat Tausende und Tausende aufgeweckt und zum Denken gebracht. Er hat das erste große sozialistische Heer formiert, er hat diese Menschen zum Kampf geführt mit geistigen Mitteln. Nicht die rohe Gewalt, der Geist sollte und mußte siegen.

Den Behörden aber war das sehr unangenehm, daß die Arbeiter in Viktor Adler einen so warmen Freund gefunden hatten, und jedes freie Wort, das der junge Arzt sprach, wurde ihm als Verbrechen angerechnet, und Prozeß um Prozeß folgte und Kerker und Arreststrafen ebenso in langer Reihe. Auch als die Wiener Arbeiter, allen anderen Arbeitern der Welt voran, am ersten Mai die Arbeit ruhen ließen, getreu dem Beschluß des Sozialistenkongresses von 1889, und am Nachmittag im ernst feierlichen Zuge in den Prater marschierten, auch an einem solchen ersten Mai war Viktor Adler im Kerker. Die dankbaren künftigen Geschlechter haben darum auch diesen Tag ausersehen, um seine hundertste Wiederkehr zu benützen, die einst größte Wiener Kirche, die damals schon zwei Jahrzehnte lang als Kulturhalle diente, mit dem Ehrennamen dieses großen Mannes zu bedenken, mit dem Ehrennamen Viktor Adlers.

Ihr habt, liebe Kinder, jetzt diese Geschichte gehört. Was können wir aber tun, um das Andenken dieses großen Mannes zu ehren? Sollen wir es überhaupt ehren?«

»Ja, ja, ja«, scholl es der Jugendführerin im Chor entgegen. »Ja, ja, ja!«

»Aber wie?«

Eine Achtjährige hob die Hand. »Nun, Maus, wie?«

»Wir wollen uns bemühen, ebenso gut und hilfsbereit zu werden, wie es Viktor Adler war.«

»Bravo! Bravo! Das ist das Richtige!«

»Wir wollen uns bemühen, ebenso gut und hilfsbereit zu werden, wie es Viktor Adler war. Ja, liebe Kinder, so wollen wir es halten.«

Richard hatte mit innerer Wehmut während des ganzen Gesprächs seines Freundes Viktor Adler gedacht, nun aber überwältigte ihn beinahe Rührung, da er sah, wie herrlich die Saat aufgegangen war, die der große Mensch, Viktor Adler, gestreut hatte.

Ohne erst darum zu bitten, ergriff er das Wort, um in einigen Sätzen zu sagen, wie gewaltig ihn diese Stunde in der Lesearbeitsschule ergriffen hatte.

»Eines nur, liebe Kinder, erlaubt mir zu sagen. Ich bin ein Zeitgenosse Viktor Adlers. Oft und oft haben sich unsere Augen in ihren Blicken begegnet. Viktor Adler konnte den Menschen mit seinen großen ernsten und doch so gütig blickenden Augen bis auf den Grund der Seele schauen. So, als ob er euch jetzt anblickte und bei allen euren Handlungen in euer Innerstes schauen könnte, so sollt ihr euren herrlichen Vorsatz auffassen, daß ihr euch bemühen wollt, ebenso gut und hilfsbereit zu werden, als es Viktor Adler war.«

Und wieder ergriff die Maus das Wort. Sie verließ ihren Lehnstuhl und sagte zu Richard: »Wir grüßen in Ihnen den Freund Viktor Adlers, wir grüßen Sie und danken Ihnen. Wir wollen einander helfen.«

Damit streckte sie ihm die Hand hin.

Richard aber beugte sich nieder und drückte, vielleicht auch um seine Bewegung zu verbergen, einen Kuß auf die Stirne des herzigen kleinen Lockenkopfes.

Dann wendete er sich an alle Kinder.

»Geht ihr gerne in die Schule?«

»Es ist das Schönste, was wir haben«, gab ein Junge prompt zur Antwort.

»Wie lange seid ihr täglich in der Schule?«

»Ein bis zwei Stunden in der Leseschule und zwei Stunden in der Arbeitsschule.«

»Ist das eine andere Schule?«

»Nein, sie ist auch hier im Hause, aber in den Arbeitssälen.«

»Was macht ihr dort?«

»Allerlei Schnitzarbeiten, zeichnen, malen, pappen, eine Hobelbank haben wir dort und Laubsäge. Und einen Amboß und ein Schmiedefeuer. Und Bücher binden wir. Aus Ton modellieren wir.«

So riefen die Kinder lebhaft durcheinander.

»Ihr seid also dort in allen Künsten zu Hause? Und hier in der Leseschule?«

»Da lernen wir lesen oder wir besprechen, was wir auf dem Stadtgang erlebt haben, oder unsere Schulmutter liest mit uns etwas über das Erlebte, ein Märchen, eine Sage, eine Beschreibung...«

»Und fragen dürfen wir, was wir wollen«, warf eine andere dazwischen.

»Die Kinder lernen lesen«, ergänzte Ensler, »damit sie auf der Straße alle Aufschriften lesen können. Dabei stoßen sie auf viel Neues. In der Schule fragen sie dann. Das ist dann für uns ein wichtiger Behelf zu ergründen, woran ein Kind den größten Anteil nimmt. Gerade diese ersten Fragen sind oft so bestimmend für die ganze Entwicklung des Menschen. Ein Kind, das die Namen aller Blumen wissen will, wird vielleicht einmal ein guter Gärtner oder Botaniker werden; ein Junge, der einer Flugmaschine in die Eingeweide guckt und alles von der Maschine und über sie wissen will, wird einmal der richtige Flugtechniker werden; ein Kind, das am liebsten täglich in ein anderes Gesundungsheim ginge, wird zum Arzt oder Pfleger das Zeug haben; ein Kind, dem alle Bilder auffallen, die es auf Stadtgängen sieht, wird Maler, Kunstgelehrter, Bildhauer oder ein tüchtiger Kunsthandwerker werden können. Die Kinder lesen erfahrungsgemäß auf der Straße das am ehesten, was auch sonst aus irgendeinem Grunde ihre Aufmerksamkeit erregt hat. Das nützen wir, indem wir in den Beschreibungsbogen jedes Kindes solche Fragen vormerken. Wir können dann das Kind nach einer bestimmten Richtung beobachten, und kommt der Tag der Entscheidung, dann wissen wir den Eltern zu raten.«

»Aber warum lesen Sie nur mit den Kindern, warum nicht auch schreiben, rechnen?«

»Weil wir die kleinen Gehirne nicht unnötig beschweren wollen: All das geordnete Wissen, das die alte Schule schon den Kindern von sechs bis zehn Jahren beizubringen trachtete, können die von der Leseschule vorbereiteten Kinder samt dem Lehrstoff der Oberstufe leicht in den vier Oberjahren in sich aufnehmen. Früher einmal war das eine endlose Wiederholung, bis es im Kindesgehirn festsaß. In der Unterstufe war es mehr ein mechanisches Lernen als ein geistiges Erfassen, heute bereiten wir die Kinder in der Unterstufe, eben in der Leseschule, ernstlich geistig vor. Die Kinder haben feste Anschauungen über viele Dinge der Welt, wenn sie auch noch nicht das Einmaleins kennen oder die Kunst des Schreibens. Übrigens schreiben können die meisten. Der Nachahmungstrieb wird ihnen da zum Lehrer. Sie wollen die Schriftzeichen, die sie lesen gelernt haben, auch durch Schrift festhalten, aber sie werden nicht gedrillt, nicht genötigt, soundso viele Stunden schwer gebückt über ihren Heften zu sitzen, gezwängt in die Schulbänke wie einst. Nein, der bequeme Armstuhl ist dem Kinde angemessen, da hat es Bewegungsfreiheit, und auch hier muß es nicht sitzen, die Kinder können sich während der Stunde auch frei bewegen, sie können ohne weiteres zum Fenster treten und hinaussehen, wenn sie das nicht fesselt, was gerade besprochen wird.«

»Und das lassen sich die Lehrer gefallen? Das ist doch eine Mißachtung ihres Vortrags?«

»Ja, wenn wir Menschen bestellten, die nur über äußere Autorität verfügten, dann wären sie beleidigt, aber so weit sind wir heute schon, daß wir keinen Lehrer haben, der den jüngeren Menschenkindern, die ihm da anvertraut sind, nicht dasselbe Recht einräumen würde, das er selbst in Anspruch nimmt. Das machen die Alten doch auch oft im Theater oder Konzert oder bei einem Vortrag. Erinnern Sie sich an unseren Besuch im Gesundungsheim. Wie Sie da zum Schluß müde waren. Wie oft sind wir nicht ganz bei der Sache und niemand versucht, uns zu zwingen, bei der Sache zu bleiben. Warum soll nicht auch das Kind dieses Recht haben? Dazu kommt, daß wir die früher für ewige Wiederholung verschwendete Zeit nützen, um das Kind körperlich zu ertüchtigen. Die Lese- und Arbeitsschule ist auch die Grundschule der körperlichen Durchbildung.«

»Das ist sehr bemerkenswert«, warf Richard ein.

»Diese Sechs- bis Zehnjährigen haben neben dem Lesen und neben allerlei Werkzeugübungen in der Arbeitsschule als Pflichtgegenstände des Unterrichts: Turnen, Schwimmen, Radfahren, Bergsteigen, Skifahren. Und auf dem Spielplatz werden sie mit allen Bewegungsspielen vertraut gemacht. Heute gibt es kein zehnjähriges Wiener Mädel, keinen Buben, die nicht drei Meter weit springen könnten, die nicht mit Leichtigkeit hundert Meter schwömmen, die nicht Rettungsschwimmer wären, die nicht schon wenigstens einen Zweitausender erstiegen hätten, einen zweitausend Meter hohen Berg, die nicht Karten lesen könnten, die nicht die Ausdauer hätten, zwanzig Kilometer auf dem Rade zu fahren, und die nicht Skifahren könnten. Ein gesunder Körper ist das Gefäß, in das wir den Geist versenken wollen. Darum vor allem diesen den Kindern geben! Und daß die geistige Beeinflussung der Kinder in der Schule ...«

»keine schwache ist«, fiel ihm Richard ins Wort, »das habe ich heute freudig miterlebt. Ja, das ist wirklich glaubhaft, daß die Kinder in den zweiten vier Jahren alles geordnete Wissen spielend leicht aufnehmen, das ihnen einst in acht Jahren vermittelt wurde. Euer System ist großartig. Es ist eben das Natürliche, und als Sondergewinn bringen die Kinder noch heim allerlei handwerkliche Fertigkeit, einen sicheren Gebrauch aller Werkzeuge und einen gewandten, gestählten Körper. Das lasse ich mir gefallen. Eine Frage nur noch. Ist der Lehrplan der vier Jahre Oberschule...«

»Der Lernschule meinen Sie?«

»Ja, der nächsten vier Jahre... nicht doch allzusehr belegt?«

»Nein, nicht mehr als sonst der Lehrplan der einstigen Bürgerschulen oder der Unterklassen der Mittelschulen. Eher weniger, weil wir auch in der Lernschule reichlich Raum lassen müssen für die weitere körperliche Ertüchtigung. Aber auch das erreichen wir durch glückliche Verbindung beider Zwecke. Wir sind nie mit den Kindern beisammen, ohne daß sie körperlich oder ohne daß sie geistig gewinnen. Eine Teilung von geistiger und körperlicher Ertüchtigung gibt es nicht. Wir haben die Vermählung beider Ertüchtigungen nur in ein System gebracht. Wir machen mit den Kindern viele Reisen, Wanderungen, sportliche Übungen auf unseren weiten Rasenspielplätzen. Alle Sandspielplätze sind als lungenmordend beseitigt worden. Und bei allem dienen wir wie dem Körper, so der Seele des Kindes. Doch für heute wollen wir es genug sein lassen. Morgen ist auch ein Tag, und zwar, wie die Wettermacher vorhersagen, bestimmt ein sonnengesegneter.«

Eine Viertelstunde später saß Richard schon mit Alexandra auf der Terrasse des Rebenschlößchens im Gesundungsheim im Föhrenwald.

»Glauben Sie nicht, liebe Schwester, daß es nun bald Zeit wird, daß ich diese gastliche Stätte verlasse?«

Jähes Rot schoß in die Wangen Alexandras. »Sie wollen uns verlassen?«

»Nicht doch, meine Liebe, aber ich denke, daß ein Gesunder kein Recht hat, den Kranken den Platz zu nehmen.«

»In der Tat, so gesehen, sind Sie im Rechte, Herr Richard. Aber gilt denn das Rebenschlößchen noch als Teil des Gesundungsheims? Es war durch ein Vierteljahrhundert Ihr Heim, und nie hatte man damit gerechnet, daß es anders werden könnte.«

»Und nun ist es doch anders geworden.« Richard lachte vor Vergnügen aus vollem Halse.

»Aber das Heim müssen Sie darum nicht verlassen.« Und schalkhaft fügte Alexandra hinzu, »Es ist nicht gut, wenn Kinder zu rasch in die Welt hinaustreten.«

»Wenn diese Kinder aber so vorsichtig wären, sich eine Ihrer Mütter als Führerinnen mitzunehmen hinaus in das Leben? Was dann, Alexandra?«

Wieder schoß jähe Röte in das Antlitz Alexandras. Wenn Richard in Liebesdingen so erfahren gewesen wäre, wie es sich für so einen alten Knaben von hundertfünfunddreißig Jahren schließlich geschickt hätte, so hätte er allein daraus erkennen können, daß es Mütter gab, die gerne bereit waren, ihm zu folgen. Aber der Hundertfünfunddreißigjährige war in Herzensdingen der reine Knabe. So einen schönen Anlauf hatte er sich genommen, um sich zu erklären, und nun war es wieder nichts, denn gerade als die errötende Russin ihm die Antwort geben sollte, eine gesprochene, nicht eine Antwort heißer Blutwellen, die ihr in die Wangen schossen -- gerade in diesem kritischen Augenblick erschien Marianne in der Türe und lud die beiden zum Abendessen ein.

IN DER ALMSCHULE

Der nächste Tag sollte also ein Tag der Entschädigung sein. Richard hatte nun Tag für Tag bei seinen Rundgängen nicht nur Einblick in das Leben bekommen, auch die Abende mußte er noch nützen, um einschlägige Schriften zu lesen und dadurch zu ergänzen, was er gesehen hatte. Darum hatte Ensler im Einvernehmen mit Dr. Corbett-Fisher und Dr. Meister in das planmäßige Studium des Lebens nun einmal einen längeren Flug eingeschoben, einen Flug in die Hochalpen. Er wollte dort mit Richard eine Freiluftschule besuchen. Er beschloß, mit ihm in die Hohen Tauern zu fliegen, auf die Mauracher Alm, zwei Gehstunden oberhalb der berühmten Badestadt Hofgastein. Früher einmal -- noch vor hundert Jahren -- sprudelte der Jungbrunnen der Gasteiner Heilquellen fast ausschließlich für die Reichen und Reichsten. Jetzt aber, wo der Staat endlich den hohen Wert der Volksgesundheit erkannt hatte, jetzt ließ er nicht mehr die heißen Quellen, die aus vulkanischem Boden sprudelten, in die Ache verlaufen. Er sorgte durch entsprechend große Anlagen dafür, daß Sommer und Winter der mächtige Badebetrieb aufrechterhalten werden konnte, und daß Tausende und Tausende von Bürgern Heilung finden, während früher die Wasser in die Ache verrannen. Nun waren ja auch diese Heilquellen Volksgut geworden.

Das Dorf hatte sich gewaltig verändert. Bald nach der Vereinigung des kleinen Österreichs mit dem großen Deutschland, bald nachdem also auch dieses Dorf deutsches Gebiet geworden war, hatte die große deutsche Organisation der Sozialversicherung weite Grundflächen angekauft und dort Jahresheime für bedürftige Mitbürger errichtet. Daß man die Heilquellen nur im Sommer benützen könne, war ja schon längst als falsch erkannt worden. Es entsprach dies nur dem persönlichen Bedürfnis vieler Stadtmenschen, daß sie in der warmen Zeit der Stadt entfliehen wollten. Aber der große Andrang von Heilbedürftigen führte dann doch endlich zur planmäßigen ganzjährigen Ausnützung der ununterbrochen fließenden Quellen. Natürlich mußten auch Gesellschaftsanlagen geschaffen werden, Konzert-

und Vortragssäle, Lesehallen, ein Theater wurde gebaut, das ganzjährig spielte, abwechselnd Schauspiel und Oper, und um Sommer und Winter auch die Jugend anzulocken, die noch nicht kurbedürftig war, wurden

großzügige Wintersportanlagen geschaffen und für den Sommer ein Strandbad, das zehntausend Gäste zu gleicher Zeit aufnehmen konnte. Es war ein Riesenbassin, umgeben von weiten Sandflächen, an deren Rand sich

anmutige Zeltdörfer ansiedelten. Von Anfang Juni an bis in die oft sehr warmen Septembertage hinein war dieses Strandbad, in das auch das Überfallwasser der heißen Quellen geleitet wurde, der Zielpunkt vieler tausender Bergwanderer, die nach ermüdender Gipfelwanderung oder zwischendurch hier ihre Rasttage verbrachten. Im Winter aber war dieses Strandbad der schönste Eislaufplatz der Welt. Die Berge waren bis in das tausend Meter hohe Tal herunter, von Ende Oktober bis Ende März verschneit. Über der Waldgrenze schienen die Gletscher zu beginnen, und inmitten dieser herrlichen Natur drei große Eisflächen von je zehntausend Quadratmeter, die miteinander noch durch breite Arme verbunden waren.

In diese Welt hinein führte Ensler mit seinem Flugzeug Richard. Ein gemütlicher Zweistundenflug brachte sie vom Föhrenwalde über die niederösterreichisch-steirischen Grenzgebirge, über die Rax, den einstigen Lieblingsberg der Wiener Alpinisten, auf dem sie ihre Kraft erproben konnten, dessen zweitausend Meter hoch gelegenes welliges Hochplateau nun aber schon längst zum Höhenkurort geworden war, ging der Flug. Staunend blickte Richard auf eine förmliche Stadt hinunter, als sie das Raxplateau überflogen. In der Tat war dieser Höhenkurort Sommer und Winter ein Ziel vieler tausender talmüder Menschen aus ganz Europa, die dort oben, der Sonne einige Meter näher, in reinster Höhenluft Genesung suchten und fanden. Der Flug ging weiter über die Ennstaler Berge und über die Radstätter Tauern durch das Tal der Enns und Salzach nach Bischofshofen und von dort in geradem Flug über das Vorgelände der Hohen Tauern hin zur Mauracher Alm. Es war eine köstliche Fahrt. Wie eine Reliefkarte lag die herrliche Alpenlandschaft zu Füßen der beiden Reisenden, die sich ganz dem Schauen hingeben konnten, weil Ensler, der sonst seinen »Vogel« selbst zu lenken pflegte, diesmal einen alten Piloten gebeten hatte, das Flugzeug zu steuern.

Schon landeten sie auf der Alm. Da harrte Richards eine Überraschung. Die Jahrhunderte alte Alm war in ihrer ganzen Ursprünglichkeit erhalten, aber sie diente nicht mehr der Gesundung des Rindes allein, die Alm war nun auch schon dem Kinde erobert. Auf allen Almen ringsum im Lande waren nach dem System der Waldschulen Freiluftschulen eingerichtet, und wenn die Landwirte im Mai ihr Vieh auftrieben, da wanderte auch Jugend mit dem Rucksack bergwärts, um oben in freier Natur einige Tage zu verbringen, der Gesundung des Körpers zu dienen, wie der Bereicherung des Wissens. Solcher Almwanderungen gab es vom Mai bis Oktober Monat um Monat eine, um die Jugend immer mit den jeweiligen Erscheinungen der Natur vertraut machen zu können. Einen naturwissenschaftlichen Unterricht nach dem Buch, den gab es nicht, wohl aber war jeder Schüler mit einigen Werkzeugen ausgerüstet, die sein Auge und sein Ohr bei der Beobachtung unterstützen sollten. Da ihr »Vogel« niederrauschte, war Richard auch schon plötzlich mitten hineingestellt in diese Welt. Ensler hatte ihn absichtlich nicht darauf vorbereitet, was seiner hier wartete, und so war denn Richard auch aufs höchste überrascht, das Einfachste der Welt in schönster Vollendung zu sehen. Die Almschule Maurach lag fünfzehnhundert Meter über dem Meere, mitten in einem Hochkessel, der rings umsäumt war von hohen Bergen, von lauter Zweitausendern. Dem Westen zu lag das Mooskarr bis zum Kamm fast noch bewaldet, von Südwest her grüßte die zackige Linie des Steinkarrs, im Süden lag die Seewand, die das Echo zurückwarf, ein etwa fünfzig Meter hoher senkrechter wildzerklüfteter Fels, der bis hinauf auf seinen Kamm von schwarzgrünen Fichten bestanden war. Nach dem Osten zu fiel der Fels weniger schroff, aber noch immer fast unzugänglich, jäh gegen einen kleinen See ab, gegen den Mauracher See, eines der herrlichen, bald tiefblauen, bald schwarzgrünen Augen, das die Natur in die schönheitsgesättigte Landschaft gefügt hatte. Alpenmolche und Frösche belebten ihn und eine Unzahl von kleinen schwarzen Schwimmkäfern, die sich, alle Motorbootgeschwindigkeit weit übertreffend, im Wasser fortbewegten. Hier gab es für den kleinen Almforscher immer etwas zu schauen, und gerade als Enslers »Vogel« niederrauschte, war so eine junge Schar mit ihrem Lehrer daran, die Geheimnisse des Sees zu erforschen. An einer schier unzugänglichen Stelle, die überschattet war von einer gerade in Blüte stehenden Eberesche -- wie mögen die roten Beeren dieses Baumes im Herbste leuchten! -- stand der Lehrer und fischte mit einem Planktonnetz Beobachtungsmaterial fürs Mikroskop heraus, die vielen kleinen, dem unbewaffneten Auge unsichtbaren Kerbtiere, mit denen die Natur auch in einem solchen Alpensee den Tisch der Kaltblütler deckt, die ihn bevölkern. Die Kinder aber fischten in ihre Beobachtungsgläser junge Molche und Kaulquappen, Schwimmkäfer und Froschlaich, und jeder hatte etwas anderes zu bestaunen und zu entdecken. Der Lehrer konnte gar nicht genug rasch alle die vielen Fragen beantworten.

»Bitte, Herr Muhr, schauen Sie, wie niedlich!«, rief ein etwa elfjähriges Mädel, »die Kaulquappen haben schon Hinterbeinchen.«

»Meins bekommt schon die Vorderbeine«, rief ein Zwölfjähriger dazwischen, und beide hielten dem Lehrer ihre Gläser hin, eben als Ensler und Richard in den Gesichtskreis der Kinderschar und des Lehrers traten. Sie hatten beim Landen beobachtet, daß die Kinder gerade bei dem etwas tiefer gelegenen See waren, und so gingen Sie dorthin.

Es war ein wunderschönes Plätzchen, besonders der Vogelbeerbaum, der mütterlich behütet von einigen Fichten am Ende des Hanges stand, der von der Seewand gegen den See abfiel, hart am Rande des Sees, brachte mit seinem hellen Grün und seinen Blüten Farbe in das Düster des Bildes. Die Blütenbüschel spiegelten sich in dem an dieser Stelle schwarzgrünen See.

Herr Muhr blickte auf. Er erkannte seinen einstigen Lehrer Ensler und schritt freudig überrascht auf ihn zu.

»Sie, geschätzter Herr Direktor, bei uns?«

»Wie Sie sehen, und mit einem seltenen Gast.«

»Ich kann es mir denken«, sagte Muhr, »mit ihrem ältesten Schüler... wohl Herr Richard Fröhlich?«

Lachend schüttelte Richard dem jungen Mann die Hand.

»Der bin ich.«

»Otto Muhr«, stellte sich dieser vor.

»Otto Muhr ist ein mir nicht unbekannter Name. Ich erinnere mich aus meiner Zeit, da gab es einen Naturbeobachter dieses Namens, der den ersten Schmetterlingsgarten angelegt und eingerichtet hatte.«

»Mein Urgroßvater.«

»Also ererbte Kunst? Und diese führt Sie wohl mit den Kindern her?«

»Ja«, stellte Ensler ergänzend vor, »Muhr ist einer unserer besten Freischullehrer. Er ist wie verwachsen mit der Natur.«

»Sie sind zu gütig, Direktor. Was wir hier tun, ist, daß wir gemeinsam die Natur durchforschen. Zwanzig Augenpaare sehen mehr als eines.«

»Das ist Ihr naturwissenschaftlicher Unterricht?«

»Ja, wenigstens der wichtigste Teil des Unterrichts: selbst mit der Natur in Berührung zu kommen. Das andere findet sich dann schon noch. Wie Sie sehen, haben wir hier ein sehr ergiebiges Feld. Es wird gar nichts schulmäßig gemacht im alten Sinne. Schon am frühen Morgen, noch vor dem Morgengrauen oft, verlassen wir unser Heulager, den Sonnenaufgang auf freier Höhe zu erwarten oder die Hirsche zu beschleichen, die Rehe, die zur Tränke gehen, die Gemsen mit dem Scherenfernrohr zu erspähen. Oft sind wir auch nachts aus, das Käuzchen zu belauern oder den Fuchs. Falken gibt es hier, Bussarde und ungezähltes Kleingetier. Unsere Kinder lernen die verschiedenen Vogelrufe unterscheiden, sie kennen die ganze herrliche Alpenflora. Sie lieben diese Pflanzen. Aber nicht so, wie einst die Menschen, die sie vor lauter Liebe ausrotteten. Unsere Kinder hegen die Alpenblumen. Hoch oben über jeder Alm gibt es heute an geeigneter Stelle einen Schutzgarten für Alpenpflanzen. Diese Gärten sind wesentlich von unseren Freiluftschulen angelegt worden, und Schülergeschlecht um Schülergeschlecht pflegt sie weiter, und während frühere Geschlechter die schönen Alpenpflanzen beinahe ausgerottet haben, ja an vielen Stellen wirklich, sammeln wir jetzt in unseren Schutzgärten die Samen, und auf unseren Wanderungen streuen wir sie an geeigneten Stellen aus, um diese wundersamen Pflanzen wieder in altem Reichtum erblühen zu lassen.

Am Abend erst vollends, wenn sich lautlose Stille über die Natur legt, da werden die Geister des Radio lebendig, und wie Sphärenmusik klingt es zu uns herauf aus der Beethovenstadt an der Donau, aus der nahen Mozartstadt oder aus der Heimat Gounods, aus dem ewig singenden Italien, ungarische Zigeunerweisen erklingen, oder wir hören das Urwaldrauschen hier oben, den tosenden Lärm in einer der großen Welthäfen, und der Visiograph läßt zugleich hier oben an unserm und an dem erstaunten Auge des Micherl und der Sennerin, der Rosl, diese andere Welt vorüberziehen, die Welt der Massenansammlungen von Menschen an einzelnen Plätzen, die Welt des großen Verkehrs, des gewaltig pulsierenden Lebens als wirksame Ergänzung der gelegentlichen Stadtreisen, die natürlich auch der Micherl und die Rosl machen, um die Zusammenhänge mit der städtischen Kultur fester zu gestalten.

An solchen Abenden kommt es auch vor, daß die alte Rosl zur Lehrerin wird und den aufhorchenden Kindern von den alten bösen Zeiten erzählt. Am liebsten erzählt die Rosl die Geschichte von ihrer Urgroßmutter Rosl, die in jungen Jahren vom Rheumatismus geplagt war und Schmerzen leiden mußte, obgleich sie bei einem Bauern in Hofgastein arbeitete, obgleich hier in ihrem Heimats- und Arbeitsorte die heißen Quellen aus der Erde sprangen, die sie von den Schmerzen ebenso befreit hätten, wie Tausende andere, die jedes Jahr in weiter Reise hierhergekommen waren. 'Eine Bauerndirn im Bad!' 'Rosl, was fallt denn dir ein, da werd'n mir bald g'schiedene Leut' sein! A kranke Dirn kann der Bauer net brauchen.' Mit solchen Reden war sie abgefertigt worden und mußte weiter leiden und arbeiten.

An solchen Geschichten aber lernten die Kinder, die gute, alte Zeit besser kennen, als aus dem dicksten Geschichtsbüchel. Auch hier war das Leben Lehrmeisterin geblieben.

Daß die Freiluftschulen umgekehrt auch wieder den Almkindern zugute kamen, verstand sich am Rande, aber noch eins brachten diese Ausflüge mit sich, diese Almkinder waren von den Stadtkindern immer so umworben, daß sie sich der Einladungen in die Stadt kaum erwehren konnten. Daraus wurde dann das System, daß umgekehrt, wie die Kinder der Stadt zu naturwissenschaftlichem Studium auf die Alm gebracht wurden, die Kinder der Berge wieder klassenweise Besuche in den Städten machten, um dort immer wieder einige Tage zuzubringen und ihren Gesichtskreis zu erweitern. Es war wirklich eine völlige geistige Vermählung von Stadt und Land, die die bösen Gegensätze von einst völlig aufhob. Der Mann hinter dem Pflug und der Mann hinter dem Amboß und Schreibtisch, sie hatten sich gegenseitig verstehen gelernt, und ihre Kinder waren unzertrennliche Freunde.«

BEI DEN TAUSEND AUFRECHTEN

Nur schweren Herzens war Richard von der Alm geschieden. Der Tag war wie im Fluge dahingeeilt, und ehe er den ganzen großen Wandel noch recht begriffen hatte, der in dem Geschauten lag, fand er sich schon wieder in dem Luftwagen an der Seite Enslers.

»Das können also die Kinder der Alpen machen, aber wo finden die deutschen Kinder solche Gesundheitsquellen oder die Kinder Frankreichs und zugleich Quellen solcher Erkenntnis?«

»Natürlich auch hier in den Alpen. Aber auch in den vielen deutschen Mittelgebirgen, auf der Heide und an der See, in den Vogesen, in der Schweiz, das Leben ist überall vielgestaltig, im Harz, im Thüringer Wald, im Taunus, auf der Lüneburger Heide, an der Ostsee, in der Bretagne, in der Landschaft Schleswigs, mit ihren von alten Eichen beschatteten und von Buschwerk begrenzten Koppeln. Überall können wir mit den Kindern ein Leben in freier Natur führen und dabei tief eindringen in die Natur. In den dänischen Fjörden, in den schwedischen und norwegischen Bergen über die schon 'der fröhliche Bursch' Björnsons gewandert ist.«

»Und im Ausland?«

»Was meinen Sie damit, Ausland?«

»Ach so, wir haben ja die V.S. E., da gibt es ja kein europäisches Ausland. Also bei unsern Brüdern in Spanien oder Italien und Serbien.«

»Damit Sie aber unsere Zeit ganz begreifen, schlage ich vor, daß wir nächster Tage einen etwas größeren Flug unternehmen. Wohin Sie wollen! Vielleicht in ein Tauschland, das weiter weg liegt, damit Sie die Wirkung des europäischen Kindertausches studieren können und damit zugleich das Schulwesen, das ja für ganz Europa einheitlich ist.«

»Einverstanden!« Richard glühte vor Erlebnisfreude. »Einverstanden. Aber wohin?«

»Wohin Sie wollen. Wir leben im Frühsommer. Da wird vielleicht ein Ausflug in die Pyrenäen und nach Spanien noch zeitgemäß sein, Madrid oder Barcelona? Vielleicht mit Rücksicht auf die warme Zeit lieber ans Meer?«

»Ja, ans Meer!«

Und zwei Tage später ging es wirklich durch die Lüfte dahin, zuerst nach Paris, wo kurze Rast gehalten wurde, und dann geradeswegs, von der Luftlinie kann man das wirklich sagen, nach Barcelona, wo sie noch am späten Abend reichlich müde eintrafen.

Schon am nächsten Morgen begann ihre Wanderung. Zunächst einmal durch die Stadt selbst. Richard hatte genug vom Luftschiff. Er wollte wieder einmal Erdenmensch sein und sich tüchtig in der schönen Stadt ergehen, erst hineinwachsen in das Barcelona des einundzwanzigsten Jahrhunderts und dann erst nach den Kindern sehen. Ensler war damit einverstanden. Für ihn war die schöne spanische Stadt noch unbekanntes Gebiet. Gerade hierher hatte ihn noch nie sein Lebensweg geführt. Aber Richard erinnerte sich wohl, daß er einstens hier geweilt und in mancherlei Dinge hineingeschaut hatte, die ihn von der schönsten Stadt Europas mit bedrängtem Herzen scheiden ließen. Vor allem auch in die Greuel tiefster Unterdrückung der Menschheit.

Die Seufzer der auf der Festung Montjuich zu Tode Gequälten waren für ihn nicht verhallt. Da stand es noch, das Bauwerk der einstigen Festung heute ein Museum grauenhafter Vergangenheit da standen auch noch die vielen Kirchen von einst, die gewaltigen Arenen, in denen einst die Stierkämpfe ausgefochten wurden, und auch sie weckten in Richard eine grauenhafte

Erinnerung. Er hatte damals, um auch diese Entartung der Volksseele studieren zu können, einem solchen Stierkampf beigewohnt, keinem eigentlichen Stierkampf, sondern einem solchen Nationalfeste, das die echten Spanier damals darum verächtlich das »Kälberstechen« nannten,

weil bei solchem »Kälberstechen« nur junge Stiere verwendet werden durften, einjährige Stiere, deren Wildheit noch nicht auf der Höhe war und weil diesen nicht altgeübte Espadas entgegentraten, sondern Toreros,

Banderillas und Picadores von gestern, die sich zum erstenmal als Matadore, als Stierkämpfer in der ursprünglichen Bedeutung eigentlich Stierschlächter erproben wollten.

Die beiden Freunde gingen auf eine Arena zu, um zu sehen, welchem Zwecke heute diese Bauten dienten. Keine Tierhetzen mehr, keine Verletzung der Menschenwürde. Die Arena ist heute zum Schauplatz der großen gymnastischen Wettkämpfe der Jugend geworden, der historischen Schauspiele, in denen das ganze grauenhafte Spanien, vom Zeitalter der Inquisition über das Zeitalter der Schrecken von Montjuich bis zum Zeitalter der Stierkämpfe vor dem geistigen Auge des Schülers vorüberzieht. Freilich nicht in naturalistischer Aufmachung, sondern nur gezeigt an den Kostümen und Werkzeugen dieser Zeit.

»Aber diese Bauten sind dem Verfall geweiht«, erklärte der Verwalter der Arena. »Künftige Geschlechter werden hier nur mehr Ruinen sehen, so wie unsere Zeit noch römische Arenen kennt, die Vorläufer der unseren. Wie die Menschheit aber die neronische Zeit überwunden hat, in der es ein Volksschauspiel war, die ersten Christen als lebende Fackeln im Zirkus zu verwenden oder aber sie in die Arena zu stoßen, in der sie dann ausgehungerten wilden Tieren zum Fraße überlassen wurden, wie die Menschheit diese Zeit überwunden hat, so werden einst auch nur mehr Ruinen von der Schande Spaniens erzählen: die Ruinen von Montjuich, in dessen Festungshof noch vor einem Jahrhundert als einer der letzten Märtyrer freier Gesinnung der Buchhändler Francesco Ferrer erschossen wurde, und die Ruinen der Arenen.«

Der lebhafte Mann hatte spanisch gesprochen, und Ensler verdolmetschte Richard die hoffnungsvollen Worte.

Erst bei dieser Gelegenheit erfuhr der Verwalter Richards Namen und gab nun in wohlgesetzten deutschen Worten seiner Freude über Richards Erwachen Ausdruck. Jetzt erst wurde es Richard bewußt, zu welcher Berühmtheit ihn sein hundertjähriger Schlaf gemacht hatte. Das Radio hatte die Botschaft in alle Weiten getragen, das Radio, die einzige Zeitung dieser glücklichen Zeit. Der Verwalter prophezeite ihm große Ehrungen, wenn es ruchbar werden sollte, daß Richard in Barcelona weilte. Da die beiden Freunde aber zunächst ihren Studien obliegen wollten, baten sie den Verwalter, zu schweigen, was er auch zu tun versprach.

Nur nach einer Richtung hin wollte Richard seine Neugierde gleich am ersten Tag befriedigen. Er wollte sehen, ob sich eine Prophezeiung bewahrheitet hatte, die ihm ein Jahrhundert früher hier in Barcelona gemacht worden war. Er besuchte damals ein im Werden begriffenes Wahrzeichen des neuen Barcelona. Es war die Kirche der »heiligen Familie« (el Templo Expiatorio de la Sagrada Familia), an der damals schon fünfzig Jahre lang gebaut wurde. Aber es waren erst die zwei Seitentürme und ein Teil der Hauptmauern fertig. Der Baukünstler, Don Antonio Gaudi, der den ganzen Plan ersonnen hatte, war damals schon tot. Er hatte die Vollendung des Werks erst nach weiteren hundert Jahren vorgesehen.

»Als ich dieses Bauwerk besichtigte, erzählte mir der Fremdenführer diese Geschichte, die er mit den Worten schloß:

'Ist es nicht für die heilige Familie, so wird dieses Werk einem profanen Zweck dienen, aber das ist sicher, daß solche Kunst nicht untergehen wird.'Es war der echte stolze Spanier, der diese Worte sprach. Aber er hatte Recht, es war wirklich unvergängliche Kunst, die hier geschaffen wurde. Und daß die katholische Kirche noch vor einem Jahrhundert fest daran geglaubt hat, daß der Bau in hundert Jahren für ihre Zwecke fertig sein werde, das zeugt für den Glauben, den die Kirche damals noch in ihre Kraft setzte. Und nun möchte ich sehen, was daraus geworden ist.«

»Sicher eine Kulturhalle«, antwortete Ensler. »Es gibt in ganz Europa keine Kirchen mehr.«

»Auch nicht im Lande der Inquisition?«

»Auch nicht im Sonnenlande Spanien.«

Wenige Minuten später waren sie dort und standen nun vor einem gewaltigen Bau. Die vier Türme der nördlichen, der sogenannten Geburtsfassade, die Richard schon vor hundert Jahren gekannt hatte, waren je hundert Meter hoch, aber die vier Haupttürme an der Hauptfront, die nun auch schon standen, überragten sie noch um dreißig Meter, und die monumentale Kuppel im Zentrum reicht gar bis zur gewaltigen Höhe von hundertsechzig Metern. Der Autler, der die beiden Gäste hergebracht hatte, erklärte ihnen, daß diese Kulturhalle offiziell den Namen Ferrer-Halle trug, im Volksmund aber den Namen führe: »Die Halle der Märtyrer.«

»So hat«, fügte Ensler hinzu, als sie durch das hohe Portal in das Innere schritten, »eine spätere Zeit gutgemacht, was Ihre Zeit an diesen armen Menschen verbrochen hat. Wenn ich zurückdenke an die Schrecken von Montjuich, von denen Sie mir heute morgen er- zählt haben, an die 380 Gemarterten und Gequälten...«

»Und wenn wir über sie hinaus denken an die unübersehbare Reihe der andern Märtyrer, an Busiqui, Lomela, Cervera, Zarzuela, Lebrijano, Pallas Saldani, Salvador French, Aragon, Massa, die alle in dem Festungshof von Montjuich entweder an dem Galgen oder durch Flintenkugeln endeten, wenn wir an die Opfer der spanischen Inquisition denken, an die Opfer der Scheiterhaufen, dann wissen wir, daß Francesco Ferrer, das letzte sichtbare Opfer dieses finsteren Geistes des ausgehenden Mittelalters förmlich nur als Symbol gelten kann, aber wir fühlen es vielleicht auch, daß alle diese vielen Opfer fallen mußten, ehe die Menschheit aus dem ererbten Irrtum der Gewalt heraus den Weg zur Verständigung finden konnte.«

Der Geist der Toten war lebendig, sie hatten doch nur ihren Leib töten können.

»Wie Ferrers Geist hier waltet«, ergänzte Ensler, »so in Toulouse der Geist Vaninis, Hussens Geist über dem goldenen Prag, der Geist von Jean Jaurès über Paris, Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs Geist über Berlin, Kurt Eisners Geist über München, Giordano Brunos Namen aber gibt Schutz der größten Kulturhalle der Welt, der einstigen Peterskirche in Rom. Und so auch sind den tausend Opfern letzten Aufflackerns aller Gewalten, den Opfern der fascistischen Bewegung und des um seine Macht geängstigten Kapitalismus im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts, in den Kulturhallen aller Städte der Erde Denkmäler gesetzt. Wohin Sie kommen werden, Richard, überall werden Ihnen Freunde begegnen aus der großen Familie der Aufrechten: des italienischen Fascismus grausames Opfer Matteotti, die Opfer der ungarischen Reaktion, die Opfer Bulgariens, Rumäniens, Litauens, des amerika- nischen Geldmagnatentums letzte Todesopfer Sacco und Vanzetti, die man mit Hilfe des wassergetränkten Schwammes auf dem Haupte mit elektrischem Strom -- an den Marterpfahl des elektrischen Stuhls geschnallt -- zu Tode sott.«

»Entsetzlich! Entsetzlich!«

»Wie eine ersterbende Flamme noch einmal hoch aufschießt, so war es auch in den ersten Jahren, die Sie verschlafen haben. Die alten Gewalten wollten sich behaupten, und so wurde noch einmal die ganze Grausamkeit lebendig, aber und das ist der Trost unserer Zeit: Diesen tausend Aufrechten danken wir alles. Der aufrechte Mensch ist Sieger geblieben. Ihm huldigen wir.«

Die beiden Freunde drückten sich warm die Hände.

DAS TAUSCHJAHR

Gesättigt von den großen Eindrücken wendete sich nach zwei Tagen Richard wieder dem andern Spanien zu, dem der freudigen Gegenwart und dem der noch größeren Zukunft. Das Sonnenland war seit Europas Planwirtschaft zum Obstgarten des Kontinents geworden. Es konnte wohl kaum ein glücklicheres Volk irgendwo leben. Das ganze südliche Spanien war ein einziger großer Orangenhain, und nie hörten die Wälder zu blühen auf, und mehr als ein halbes Jahr lang gab es reiche Ernte. Es war nicht wie im Früchteparadies am Pazifischen Ozean, in Hollywood, wo die Orange das ganze Jahr hindurch ge- erntet wird, am spätesten in den höheren Lagen, wo es manchmal schon geschieht, daß die Früchte knapp vor der Ernte mit Schnee bedeckt werden, aber auch ein halbes Jahr Apfelsinenernte läßt sich sehen, und sie erlaubt, die Sonne auch noch für die hohe Blumenkultur zu nützen. Die ganze Südküste war auch ein einziger Blumengarten, der von den Bergeshöhen terrassenförmig gegen das Meer zu abfiel, zum ewigblauen Mittelmeer. Die europäische Lufthansa sorgte dafür, daß die duftigen Grüße aus dem Blumenparadies Europas, das schon bei Genua begann und sich über Monte Carlo, Nizza und Marseille hinzog bis Cadix am Atlantischen Ozean, am nächsten Tage schon, oft noch am selben, mit ihrem Farben- und Formenrausch, mit ihrem Duft die Wohnungen der Nordländer erfüllten. Auch diese einst so teuren Blumen waren jedem zugänglich. Wer immer nur nach ihnen langen wollte, konnte sie haben. Blumen im Zimmer, auf dem Speise-, auf dem Arbeitstisch zu haben, war kein Vorrecht der Besitzenden mehr. Wie es keine Besitzenden gab, so gab es auch keins ihrer Vorrechte mehr. Es war eine Forderung der Gesundheitslehre. Wo Blumen gediehen, gediehen auch die Menschen.

Diesem neuen Spanien also wendeten die beiden Freunde nun ihren Blick zu.

Ihr erster Weg ging in eine Schule. Richard sollte ja die Wirkung der Einrichtung des Tauschjahrs kennenlernen. Es war die erste Lernschule, die Richard betrat. Auch hier äußerlich eine große Veränderung. Die zehn- bis vierzehnjährigen Jungen und Mädels, die diese Schule in vier Altersjahrgängen bevölkerten, waren um ihre Lehrer in Gruppen von je zwanzig geschart. Sie lernten in hellen Sälen, die nach Norden zu mit einer Glaswand abgeschlossen waren. So wie er es vor wenigen Tagen erst in Wien in der Lese- und Arbeitsschule gesehen hatte, so war es auch hier. Aber jedes Kind hatte nun neben dem bequemen Lehnstuhl auch einen eigenen kleinen Arbeitstisch. Und alle waren im Halbrund gestellt um den Tisch des Lehrers, nicht mehr in Reih' und Glied, alle Kindergesichter dem doppelten Lichte zu, dem Sonnenlicht draußen und dem geistigen Licht, das vom Lehrer strahlte. Wie die Jugend, so auch ihr Führer oder ihre Führerin. Wie in der Lese- und Arbeitschule Buben und Mädels zusammen. Ihre Kleider sind der Bewegungsfreiheit angepaßt, kurze kniefreie Beinkleider, Hemd und Joppe, keine Uniform, jeder und jede nach eigenem Geschmack, nur die Richtlinien sind allgemein sichtbar: fußfrei! halsfrei! kopffrei! Natürlich auch ohrenfrei. Die Negerinnen tragen keine Nasen-, die weißen Frauen keine Ohrringe mehr. Trotz äußerer Gleichheit doch große Unterschiede unter den Kindern.

»Seltsam, wie verschiedene Typen unter diesen Kindern sind.«

Das war Richards erster Eindruck.

Lächelnd reichte ihm der junge Lehrer -- er hatte einen ausgesprochenen Schillerkopf -- die Klassenliste hin. Richard las die Herkunft all dieser Kinder, der Reihe nach, wie sie dastanden: Riga, Dublin, Utrecht, Padua, Barcelona, Sofia, Berlin, Lyon, Zürich, Dubrovnik-Ragusa, London, Stockholm, Breslau, Tarnok bei Budapest, Moskau, Athen, Ternitz bei Wien, Barcelona, Barcelona, Oslo. Ganz Europa wurde vor seinem geistigen Auge lebendig.

»Das ist ja ein Völkergemisch in dieser Klasse!«

»Der europäische Mensch in seinem Anfang«, sagte der Lehrer, »ich wünschte Ihnen, so beobachten zu können, wie es uns gegönnt ist. Wie sich da Freundschaften fürs Leben spinnen, wie der Blondrote dort mit der etwas plattgedrückten Nase ganz im Banne steht unserer Eugenia aus Barcelona, wie die dunkeläugige Ragusanerin unseren lieben englischen boy um seine Ruhe bringt, wie sich zwischen Moskau und Berlin, zwischen Stockholm und Athen, zwischen Lyon und Sofia, zwischen Zürich und Utrecht Fäden zu spinnen beginnen.«

»Und ist das in allen Tauschklassen so?«

»Ja, in allen.«

»Auch in Sofia?«

»Dort gibt es keine Tauschjahrkinder. Die kann es natürlich nur in den Wahlsprachländern geben. Für Europa also nur in England, Spanien, Rußland und Deutschland, um die Länder nach der Stärke der Verbreitung ihrer Sprache zu nennen. Aber wo es Tauschklassen gibt, dort gibt es auch ein Völkergemisch. Es ist aber dafür gesorgt, daß immer auch das Wahlsprachland in jeder Klasse mit einigen Kindern vertreten sei. Das ist nötig, sonst würde über den internationalen Charakter so einer Klasse das Wahlsprachland zu sehr in den Hintergrund gedrängt werden. Das aber wollen wir nicht! Wir wollen Aber, das werden Ihnen besser die Kinder selbst sagen, was wir wollen oder besser, was sie wollen, die Kinder.«

Damit wendete sich der spanische Friedrich Schiller an die Kinder: »Wer kann unseren Gästen sagen, warum wir in dieser Klasse auch einige Brüder und Schwestern aus Barcelona haben?«

»Weil wir doch in ihrer Stadt sind und mit ihnen gut Freund werden wollen«, sagte die Breslauerin.

»Seid Ihr schon gute Freunde? Wirst du Giacomo morgen nicht vermissen, wenn du wieder daheim bist?«

»Er kommt doch zu uns!«

»Oh, das habt Ihr schon ausgemacht?«

»Für ihn kommt mein Bruder her.«

»Aber warum müssen auch Spanier in der Klasse sein, das ist noch nicht beantwortet.«

»Weil wir doch in ihrem Lande sind. Das wäre dann doch keine Verbrüderung.«

»Das ist es, wir wollen uns verbrüdern. Und wie sprecht Ihr untereinander?«

»Spanisch, unsere Wahlsprache«, antwortete wieder die Breslauerin deutsch, die aus dem Umstande, daß die Unterhaltung in deutscher Sprache geführt worden war, geschlossen hatte, daß Richard nur deutsch verstehe.

Ensler drängte, in eine andere Klasse zu gehen, und die beiden empfahlen sich, aber Richard sah noch nicht klar. Auf dem mit prächtigen Bildern geschmückten Schulgang fragte er Ensler: »Da kommen aber die Nichtwahlländer zu kurz. Bitte, Athen zum Beispiel oder Riga, die bekommen nie fremde Kinder hin!«

»Nicht auf ein Wahljahr. Aber unsere drei Ferienmonate im Jahr benützen wir fleißig, um zu reisen. Einige Tage Rast nach der Schule Reisevorbereitung nötig auch für die dann aber geht es dahin. Dreimal im Jahre! Nach der vierjährigen Lernschule hat jedes Kind zwölf große Europareisen hinter sich.«

»Drei Ferienmonate? Wie sind die aufgeteilt?«

»Die ersten Ferien sind im Frühling. Das sind die Hauptferien. Nach ihnen beginnt das neue Schuljahr, für das wir noch den Frühlingsschwung nützen wollen, der da über die Menschen kommt. Dann folgen die Sommerferien. Da geht es irgendwohin an die See oder ins Gebirge, es gibt Wanderungen oder freies Leben in den Alpen oder Masuren, in Schweden oder auf dem Balkan, und dann kommen die Wintersonnwendferien im Dezember, hinüber in den Jänner. Sie dienen vorwiegend für Städtereisen.«

»Und wie sind die Kinder da untergebracht?«

»Wir haben in allen Städten gut eingerichtete Schülerherbergen nach dem Kölner System, in denen es gut sein ist. Diese sind das ganze Jahr besetzt, denn neben diesen drei großen Ferienreisen gibt es das ganze Jahr hindurch Unterrichtsreisen. Übrigens Ferien und Schuljahr, das ist schwer zu scheiden. Die Kinder haben immer sehr viel Freiheit, und sie gehen nie müßig, sie lernen immer, und sie genießen immer. Der einzige wirkliche, sichtbare Unterschied ist der, daß während der Ferien das Schulhaus nicht betreten wird, aber Lehrausflüge und Lehrreisen haben wir das ganze Jahr hindurch. Auch unsere sportlichen Veranstaltungen bringen den Kindern viele Reisen. Aber besser als meine beste Erklärung wird es sein, wenn wir in eine vierte Klasse gehen, in die höchste Klasse der Lernschule, und wenn Sie dort nach Belieben ein Kind herausgreifen. Es wird uns von seinen Reisen erzählen.«

Schon waren sie in einer solchen Klasse. Die zwanzig vierzehnjährigen Mädels und Buben, die hier beisammen waren, begrüßten die Fremden sehr achtungsvoll. Sie waren alle aufgestanden, und einige boten den Gästen gleich ihre Stühle an. Diese machten davon auch Gebrauch, setzten sich zu dem Kreis, und Ensler bat die Lehrerin, die diese Klasse führte, daß Richard, den er natürlich vorgestellt hatte, einige Fragen an die Kinder richten dürfe. »Unser Gast möchte etwas über die Ferienreisen wissen.«

»Das trifft sich gut, wir haben gerade Geographiestunde, und das wird unsere heutige Stunde sehr beleben.« Und zu Richard gewendet: »Bitte, Herr Fröhlich, fragen Sie.«

»Ich kann aber nur Deutsch sprechen.«

Sofort meldeten sich einige Kinder, die Deutsch sprachen. An eine Dunkelhaarige richtete er seine erste Frage. Die hatte ihn mit ihren schwarzen Augen so eigen angesehen. Da mußte er unwillkürlich fern vom Föhrenwalde an Alexandra denken.

»Wie heißt du?«

»Adelaida.«

»Und woher bist du?«

»Aus Neapel.«

Wieder erlebte er das Wunder, daß eine Vollblutitalienerin, dem Typus nach, bestes Deutsch ohne fremden Klang sprach.

»Du bist im vierten Jahr der Lernschule?«

»Ja.«

»Wo hast du die ersten drei Jahre zugebracht?«

»In meiner Heimat.«

»Habt ihr da jedes Jahr eine Reise gemacht?«

»Jedes Jahr drei.«

»Erinnerst du dich noch an alle Reisen? Wo wart ihr da?«

»Oh, ganz genau weiß ich alle Reisen.«

»Wohin ging die erste?«

»Meine ersten Ferien fielen in den Sommer. Da waren wir in den Julischen Alpen, am Wocheiner und Vel- deser See, auf dem Triglav und in der herrlichen Seisera. Es waren unvergeßliche Wandertage in den slovenischen Alpen.«

»Und die zweite Reise ging wohin?«

»Die war im Winter. Da ging es nach Palermo, Trapani, Girgenti, Messina, kurz nach Sizilien, mit einer längeren Rast in Taormina und einer Wanderung auf den Ätna und nach Syrakus.«

»Und die dritte?«

»Die war während der großen Ferien im März. Da ging es über die Adria nach Albanien und quer durch nach Saloniki. Um Griechenland herum ging es mit dem Schiff nach Korfu, nur kurze Rast in Athen, und von Korfu sind wir zurückgeflogen.«

»Und im zweiten Schuljahr?«

»Da haben wir im Sommer schon eine große Reise gemacht, bis nach Dänemark, das wir kreuz und quer durchwandert haben. Von Haderslev ist dieser, mein Freund, her.« Dabei zeigte die Schwarzäugige auf den flachsblonden Jungen, der neben ihr saß.

»Habt ihr euch dort kennengelernt?«

»Ja, und wir sind im Briefwechsel geblieben. Er hat dasselbe Tauschjahr gewählt.«

»Auch dieselben weiteren Reisen?«, fragte Richard schmunzelnd.

»Das geht nicht«, erwiderte die schlanke Italienerin. »Aber jetzt im Tauschjahr reisen wir mitsammen.«

»Wohin ist dann deine zweite Reise im zweiten Jahr gegangen?«

»Da ich das Spanische als Wahlsprache gewählt hatte, nach England. Wir machten einmal ein Christmasfest in England mit. Es waren wunderschöne, unvergeßliche Tage. Wir waren Gäste auf einem Landgut, mitten in einem schönen Park mit drei großen Teichen.«

»Und die zweiten großen Ferien?«

»Die verbrachten wir wieder im Mutterland, wir waren in Rom und Florenz.«

»Ist das so gedacht, daß die Reisen immer auch auf das Mutterland Rücksicht nehmen?«, wendete sich Richard an Ensler.

»Ja, vom Stammland geht die Welteroberung aus.«

»Aber auch der Geographieunterricht«, warf die Lehrerin ein. »Darf ich dieses Frage- und Antwortspiel auch für meinen Unterricht nützen?«

»Bitte.«

»Dann gestatten Sie, verehrter Gast, daß wir den Saal verdunkeln.«

Im nächsten Augenblick saß Richard wieder einem der »Wunder« gegenüber, deren Werden er verschlafen hatte. Die Lehrerin drehte einige Knöpfe an einem Apparat, und plötzlich erschien auf der Rückwand des Saales ein Stadtbild. Vor dem Colosseum in Rom flutete das reiche Leben der Stadt, farbenbunt wie in der Natur, an den Beschauern vorüber. Eben kam eine Schar von Kindern, geführt von einem Erwachsenen, auf einem Gesellschaftsauto angefahren. Man hörte das Trompeten der Autos, das Gezwitscher der jungen Ausflügler, die nun auf die gewaltigen Mauern zusteuerten, die noch von den alten Römerzeiten her standen, Jahrtausende überdauernd.

»Adelaida, kannst du mir sagen, wo wir da sind?«

»Das ist das Colosseum in Rom.«

»Ganz richtig. Du hast dir dein Rom also gut ange sehen. Und wie ist es mit Florenz?«

Wieder ein Kurbeln, und schon zeigte der Radiovisiograph das Bild des stillen, schönen marmorweißen Platzes, der Piazza della Signoria, und den gedämpften Straßenlärm der Stadt übertönend, flog ein Lied durch den Saal, das irgendein unsichtbarer Sänger in Florenz, gerade beim Fenster stehend, singen mochte.

»Bravo! Bravo!«, riefen die Kinder, als es verklungen war.

Richard wußte nicht, wie ihm geschah. Lebte er oder träumte er. Er griff sich an den Kopf und drückte sich dann fest die Hände, um sich zu überzeugen, daß er lebte, daß er wach war. Er saß doch hier in Barcelona, in einer Schulklasse, und da flutet plötzlich das Leben von Rom und Florenz an ihm vorüber, und er hört den Lärm in der Stadt und lauscht einem Sänger, der seiner Liebsten gegenüber auf dem Platze vielleicht gerade die Morgenhuldigung singt. Vielleicht tausend Kilometer von hier -- welch wunderbare Zeit! ...

Im dritten Schuljahr war Adelaida dann nach War schau und nach den Vereinigten Ost-Republiken gekommen, im Winter nach Dresden, Leipzig und Berlin, in den Ferien zum vierten Schuljahr endlich nach Rumänien und nach dem Schwarzen Meer mit Odessa und der Krim. Und alle diese Bilder wurden vor den Kindern lebendig, sodaß sie sich schier nicht sattsehen konnten.

Das Schwarze Meer war bewegt. Auf den Wellen tanzte ein Riesenschiff ohne einen rauchenden Schornstein, nur ein gewaltiger Luftzylinder in der Mitte des Schiffes hob sich vom Deck. Sonst unterschied sich das Schiff in nichts von dem auch Richard geläufigen Anblick von großen Seeschiffen. Aber, daß die Rauchsäule fehlte, fiel ihm auf.

»Das ist ein Speicherschiff. Das Meer selbst liefert die elektrische Kraft, durch die sich das Schiff fortbewegt. Die Riesenkräfte der Wellen werden in elektrische Energie gewandelt und gespeichert. Wie das Schiff früher Kohlen geladen hat oder Öl, um die Kessel zu heizen, so ladet jetzt das Schiff in den dazu bestimmten Stationen elektrische Energie, und diese wird auf dem Schiff umgesetzt in Betriebskraft, Licht und Wärme.«

Wie ein Pfeil schoß das schöne Schiff über die hochgehenden Wellen dahin, man hörte, wie sich die Wellen am Bug rauschend brachen.

»Da können Sie ja auch das Spiel der Delphine vor dem Bug beobachten?«

»Haben wir auch schon gesehen«, riefen die Kinder, »und Haifische und fliegende Fische und Walfische im Atlantischen Ozean.«

»So ist also diesem kleinen Kasten die ganze Welt untertan?«

»Die ganze Welt, buchstäblich die ganze Welt! Was wollt Ihr sehen, Kinder?«

»Den Niagara, Frau Lehrerin, den Niagara!« Noch immer war er das Glanzstück des Geographieunterrichts. Einige Drehungen der Kurbel und schon erfüllte dumpfes Brausen, das mehr und mehr anschwoll, den Raum, und von der Wand stürzte in gewaltigem Strom der Niagara hernieder, und immer stärker wurde sein Brausen, bis es sich zu ohrenbetäubendem Lärm steigerte. Die Lehrerin hatte den Lautverstärker eingeschaltet.

Dann verschwanden wieder die Bilder, und es wurde im Saal hell.

»Da durchwandern Sie also in einer Stunde die ganze Welt?«

»Wenn wir wollen, schon.«

»Und die Kinder können es sich ersparen, hinzureisen, wenn sie alles so lebendig hier vor Augen sehen.«

»Diese Anschauung ersetzt uns vielfach das Buch, aber die Reisen, die möchten wir nicht missen. Im Gegenteil, je mehr die Kinder in solchen und anderen Unterrichtsstunden von der Schönheit der Welt schauen nicht nur in meiner Stunde machen wir Ausflüge in die weite Welt, auch in der Geschichtsstunde, beim Kunstunterricht, in der Naturgeschichtsstunde, wenn wir das Tierleben Afrikas oder am Mississippi oder im brasilianischen Urwald auf die Leinwand zaubern immer wieder machen unsere Kinder kurze Blicke in die weite Welt, und diese kurzen Blicke wecken ernste Sehnsuchten in der Seele unserer Jünger und Jüngerinnen, und nicht selten werden sie vom Forscherfieber gepackt und möchten sich wie im Fluge die ganze Welt erobern.«

»Ihr glücklichen Kinder!« Mehr konnte Richard nicht sagen. Er war einfach überwältigt.

Ensler aber lud ihn zu einem kleinen Pyrenäenflug ein.

»Nach den Anstrengungen der letzten Tage werden Ihnen einige Stunden in freier Natur gut tun ... und mir auch, Sie wissen es ja, wie beengt ich mich immer in der Stadt fühle.«

Als sie abends in dem abgelegenen Pyrenäendorf auf der Terrasse des Gästehauses saßen und den Blick weithinaus über das herrliche Land fliegen ließen, da konnte sich Richard immer noch nicht fassen.

»Das ist also die Bildungsrevolution des Radiovisiographen, von der Sie mir gesprochen haben?«

»Mehr als das. Erst seit wir uns des Radiovisiographen bedienen können, können wir von wirklicher Durchbildung des Menschen reden. Es geht auch mit Riesenschritten vorwärts. Wenn Sie eine Probe machen wollen, wie tief heute selbst der weltabgeschiedene Pyrenäenbauer, der zu Ihrer Zeit kaum schon lesen und schreiben konnte, in die Bildung eingedrungen ist, so gibt es ein einfaches Mittel. Ich brauche nur den Bürgermeister unseres Ortes anzuklingeln und ihm verraten, welchen Gast der kleine Ort innerhalb seiner Grenzpfähle birgt, und Sie werden etwas erleben. Wollen Sie es auf den Versuch ankommen lassen, dann kommen Sie mit mir zum Apparat.«

Und die beiden Freunde schritten durch den Speiseraum des Gästehauses in Enslers Zimmer, und dort teilte dieser in kurzen Worten dem Bürgermeister des Bauerndorfes mit, daß Richard Fröhlich im Gästehaus anwesend sei. Nichts sonst. Ensler legte schmunzelnd den Hörer wieder ab. Dann gingen die beiden wieder auf die Terrasse.

DER DORFBÜRGERMEISTER

Es währte keine zehn Minuten, so meldete die Hausvorsteherin den beiden Fremden, daß der Bürgermeister die Herren zu sprechen wünsche. Und schon erschien in der weiten Flügeltüre, die zur Terrasse führte, ein großer stattlicher Mann, fast schwarz gebräunt von der spanischen Höhensonne, und ging dann ohne weiteres auf Richard zu, dessen Rechte er ergriff und herzlich schüttelte.

»Welche Überraschung! Welche Auszeichnung!«, rief der lebhafte Spanier in seiner Muttersprache.

Als ihm aber Ensler sagte, daß Richard nur Englisch neben dem Deutschen verstünde, da begrüßte Don Antonio Martianez den Gast in bestem Englisch. Wenige Minuten darauf saßen sich die drei wie alte Freunde gegenüber, und Don Antonio gab den Gästen Aufschluß über alles, was sie wissen wollten.

Das Dorf Libero war einst eine pyrenäische Hirtengemeinde. In Hungersnot und politisch bewegten Zeiten galt es unten in der Ebene als uneinnehmbare Räuberfestung. Aber das war mehr böse Legende als Wahrheit. Freiheitsliebende Menschen hatten sich ab und zu zu den einfachen Hirten da oben in der Felsenwelt geflüchtet, und was man diesen Verfolgten andichtete und nachsagen wollte, das ging dann auf das Hirtendorf über. Auch heute ist es noch Aufgabe des Dorfes, die Weiden zu nützen und die gewonnenen Produkte der Allgemeinheit zu liefern. Milch, Butter, Käse und schließlich das Vieh selbst. Aber unter welch geänderten Verhältnissen.

Alle sechzig Anwesen des Ortes waren eigentlich ein einziger Betrieb. Von Anwesen konnte man nicht gut reden, das waren nicht Bauernhöfe, wie einst, das waren schmucke Wohnhäuser, Einfamilienhäuser mit kleinen Gärtchen ringsum, und in diesen sechzig Häusern lebten etwa hundertachtzig Männer und Frauen verschiedener Altersstufen, denen alle Arbeit gemeinsam oblag.

Don Antonio trat an den Rand der Terrasse und bat auch Richard und Ensler hin.

»Sehen Sie dort den langgestreckten Bau?«

»Ja. Der rotgedeckte?«

»Das ist unser Stall, und in Verbindung mit ihm steht das Molkereigebäude mit der Käserei und dem Expeditionsraum. Und hier zur Linken inmitten der kleinen Häusergruppe sehen Sie einen etwas größeren Bau. Das ist die Zentralküche von Libero mit dem Speisesaal, und in seiner Nachbarschaft das zweite größere Haus, das mit der gläsernen Wand...«

»Das ist die Schule«, ergänzte Richard.

»Ganz richtig, die Schule, und zugleich birgt das Haus die Ortsbücherei und den Festsaal. Dort haben wir unsere Sonntagsfeiern.«

Jetzt erst fiel es Richard auf, daß in dem Dorf, dessen schmucke rote Dächer sich vielgestaltig aus dem Grün abhoben, eine Kirche fehlte.

»Haben Sie denn nie eine Kirche gehabt?«

»Hier nie. Nur eine kleine Kapelle stand einmal am Waldrande. In ihr lasen die Priester alle Monate einmal die Messe. Es trug nichts ein, und der Weg da hinauf war beschwerlich. Aber seit der neuen Ordnung der Dinge ist die Kapelle ganz verfallen. Sie zu erhalten, hätte keinen Sinn gehabt, sie stellte keinen künstlerischen Wert dar.«

»Da bilden Sie also alle eine Gemeinschaft?«

»Ja, und diese Gemeinschaft heißt: Dorf. Jedes Dorf ist eine Gemeinschaft. Das ist viel schöner als zu Urgroßvaters Zeiten. Damals hatte jeder Bauer noch die Sorge um sein Vieh, um sein Gras, um seine Milch, um seine Butter, um seinen Käse, um seinen Herd heute sorgen wir alle uns um unser Vieh, um unser Gras, um unsere Milch, um unsere Butter, um unseren Käse, um unseren Herd und um unsere Jugend vor allem, die das Dorf einstens schrecklich ausgebeutet hat. Einstmals hatte jeder der zwanzig Bauernhöfe unseres Ortes sein Weideland, und dieses war mit Steinmauern und Holzzäunen oder mit lebenden Hecken oder durch Wassergraben abgetrennt heute ist es das Weideland aller. Wir haben keinen Grenzstreit mehr wie einst. Einstens hatten sich höchstens einige Höfe zu gemeinsamer Weide zusammengefunden, heute ist alles Weideland das Land von allen. Oft griffen diese Weiden ineinander. Das Feld hatte der Bauer am Südhang des Dorfes, die Weide im Osten, sein Waldstück im Norden. Nicht einmal zusammenlegen wollten sie die Grundstücke, damit sie sich Fuhrwerk erspart hätten. Jeder hätte geglaubt, er würde bei solchem Austausch der Grundstücke, der jedem Bauernhof ein geschlossenes Gebiet sichern sollte, von dem anderen übervorteilt werden. Die Ichsucht, mehr als das, die Habsucht, die Habgier, ließ die Menschen damals viel Arbeitskraft und Zeit verschwenden, nur aus der Angst heraus, daß der andere vielleicht ein besseres Grundstück bekommen könnte. Dieses Zusammenlegen der Grundstücke nannte man die Commassierung, aber sie war bei den Bauern aller rückständigen Länder Europas arg im Verruf, wie wir aus der Agrargeschichte wissen.«

»Ist das alles so überliefert worden?«

»Ja, freilich. Was der Urgroßvater nicht erzählt hat, das haben wir in der Fachschule gelernt. Einstens baute jeder Bauer sein Korn, seinen Hafer hier hoch oben im Gebirge, wo nichts recht gedieh, heute hat unsere Dorfküche die Sorge dafür, die Lebensmittel herbeizuschaffen. Wir liefern ihr nur Milch, Butter, Käse, Fleisch und einiges Grüngemüse, das in unseren Strichen noch gut gedeiht, in unserem Gemüsegarten in der Südlage des Dorfes, alles andere bringt unser Dorfflugzeug Tag um Tag vom großen Stadtmarkt herauf, nachdem es unsere Produkte abgeliefert hat.«

»Und wer hat das alles gebaut?«

»Die Gesamtheit, der Staat, wenn Sie wollen; nachdem aller Privatbesitz als Staatsbesitz erklärt worden war, als Besitz der Gesamtheit, mußte diese Gesamtheit auch darangehen, die Privatwirtschaft in Gemeinwirtschaft zu wandeln. Hier haben Sie ein Musterbeispiel davon.«

»In der Tat, das ist ein Selbstlob, das zu Recht besteht«, warf Richard ein.

»Das heute lebende Geschlecht ist unschuldig daran, das ist Arbeit unserer Altvordern, und wir freuen uns ihrer. Wir sind Glieder der Gemeinschaft wie alle andern Bürger irgendwo im Lande oder in den V.S.E., mit denselben Rechten und Pflichten, jeder von uns muß sein Teil an Arbeit für die Gesamtheit leisten, jeder hat das Recht auf alle Lebenserhaltung und Lebensfreude wie alle andern.«

»Wie teilen Sie diese Arbeit auf? In der Landwirtschaft gibt es doch unangenehme und angenehme Arbeiten. Das Stallmisten, den Mist auf die Wiesen ausführen und verstreuen, das ist gewiß weniger angenehm, als das Vieh zu weiden oder etwa in der Gemeinschaftsküche tätig zu sein. Haben Sie eine Reihenfolge eingeführt, nach der jeder zu jeder Arbeit kommt, zu der angenehmen, wie zu der unangenehmen?«

»Das wäre arge Kraftvergeudung und ganz gegen die Planwirtschaft. Wir haben auch hier eine Arbeitsteilung vorgenommen. Jeder ist in seinem Fach tüchtig und leistet darum das Beste für die Gemeinschaft.«

»Da ist also einer immer Hirte und der andere immer Stallmensch?«

»Nein. Die beiden Tätigkeiten decken sich. Im Sommer Hirte, im Winter Stallarbeiter.«

»Und Sommer und Winter bis zur Unendlichkeit vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht?«

»Nein! So haben wir uns die Arbeit nicht eingeteilt. Das war früher einmal nötig, wo der Hirte Knecht des Besitzenden war, wo er im Stall mit dem Vieh schlafen mußte und wo so ein Hirte auch nur ein paar Stück Vieh zu übersehen hatte. Heute ergänzen sich alle Hüter des Viehs und alle Stallarbeiter. Sie leisten Schichten. So wie in einer Fabrik. Jeder ungefähr sechs Stunden. Da hat einer, wenn er das Vieh wirklich beaufsichtigen will, reichlich genug. Immer wieder muß er bergauf, bergab, das Vieh zusammenzuhalten. Jede Hirtengruppe hat vier Mann.«

»Wirklich Männer?«

»Junge Burschen -- das ist verhältnismäßig die leichteste Arbeit -- und junge Mädels. Unser Ort bildet drei Weidegruppen. Am Abend wird das Vieh gemolken, und auch hier helfen die Hüter mit.«

»Das ist eine schwere Arbeit, das Melken.«

»Nicht mehr, seit wir die elektrischen Melkmaschinen haben, die mit ihren Kautschukhänden durchaus die Menschenkraft ersetzen. Die Menschenarbeit besteht nur darin, den Tieren die Melkhauben an den Euter anzulegen.«

»Und wer schafft die Milch von den Hütten zu Tal?«

»Das können Sie jetzt eben sehen. Sehen Sie dort den glänzenden Punkt über dem Grün des Hanges?«

»Ja.«

»Das ist die Milchseilbahn, die den Bürgern auf der Weide auch das Essen aus der Gemeinschaftsküche bringt. Die Milch aber bringt sie zur Molkerei. In wenigen Minuten ist die frischgemolkene Milch von der Alm bei uns und kann noch kuhwarm gereinigt, keimfrei, gekühlt und in Flaschen fertig abgezogen oder der Verbutterung zugeführt werden oder der Käserei.«

»Wieviel Liter führen Sie täglich zu Tal?«

»Je nach dem Butter- oder Käsebedarf viertausend oder fünftausend Liter.«

»Von wieviel Kühen?«

»Unser Stall hat gegenwärtig zweihundertfünfzig Kühe.«

»Da gibt dann ja jede Kuh im Durchschnitt zwanzig Liter täglich?«

»Gibt sie auch. Eigentlich noch mehr. Unser Durchschnitt ist gegenwärtig dreiundzwanzig Liter, jetzt, wo wir so reichlich Grünfutter haben.«

»Das ist dann ja ein Musterbetrieb erster Güte.«

»Ist es auch.«

»Ein Ausnahmebetrieb!«

»Das wieder nicht. Das ist so ziemlich die Durchschnittsleistung in den Pyrenäen. Wo sie nicht erreicht wird, da fehlt es an etwas. Wir wissen schon, dreiundzwanzig Liter sind eine hohe Leistung, aber da müssen sie auch« -- er sagte das nicht ohne Stolz -- »unseren Stall anschauen, dann werden Sie es begreiflich finden, daß unter solchen Umständen das Vieh gedeihen kann. Das gibt es nicht, wie wir es in einem landwirtschaftlichen Freilichtmuseum in einem Bauernhof noch erhalten haben, daß der Stall eigentlich eine finstere, enge Kammer ist! Alle Lebewesen brauchen zu ihrem Gedeihen Sonne, Licht, Wärme. Was für die Pflanzen und den Menschen gilt, gilt auch für das Vieh. Wo die Sonne nicht Zutritt hat, kann kein Lebewesen gedeihen. Kommen Sie doch morgen früh, wenn die Sonne leuchtet, in unsern Stall. Da werden Sie das Geheimnis des Erfolges unserer modernen Wirtschaft selber erforschen.«

»Es ist durchaus einleuchtend, was Sie sagen, Don Antonio. Und wie teilen Sie die hundertachtzig Arbeitskräfte sonst noch auf?«

»Es gibt in einer Gemeinschaft vielerlei Dienste. Von diesen sind nur die hochschwangeren, die säugenden Mütter und natürlich die Kranken befreit und natürlich auch die Alten, die ja überhaupt als Arbeiter nicht mehr mitzählen. Alle andern helfen mit, die Frauen, die einer Hauswirtschaft vorstehen, im Fünfstundentag, die andern im Sechsstundentag, denn diese Frauen haben auch im eigenen Haushalt noch allerlei Arbeit, die ja auch der Gesamtheit zugute kommt. Die Ordnung im täglichen Leben ist die Grundlage guter Arbeit, und für diese Ordnung sorgen auch in unserer Gesellschaft doch zumeist die Frauen, wenn auch dafür gesorgt ist, daß viele lästige Arbeiten von einst entfallen.«

»Gehört dazu auch das Geschirrabwaschen?«, warf Richard scherzend ein.

Don Antonio lachte. »Das will ich meinen. In der Gemeinschaftsküche wie im Haushalt. Das besorgt der da oben«, und dabei zeigte er auf den Wasserfall, der über die Felswand stürzte, »dieser flüchtige Sohn der Berge liefert uns die elektrische Kraft, die wir für unsere kleine Gemeinschaft brauchen, und er treibt auch die elektrischen Besenspindeln, die wie beim Flaschenreinigen in der Molkerei, so auch beim Geschirrabwaschen Menschenarbeit leisten. Der Mensch braucht nur die Geschirre hinzuhalten.«

»Und wer reinigt den Stall?«

»Auch der da oben. Die Druckleitung gibt uns einen so kräftigen Wasserstrahl, daß wir den Stall Tag um Tag blitzblank haben.«

»Und die Streu?«

»Liefert der Wald soweit es nicht der Forstwirtschaft schadet und das Tal, das uns auch die Beikost für den Winter liefert, die Rüben und Kartoffeln, die wir mit verfüttern. Übrigens ist die Streu im modernen Stall entbehrlich. In den Zementboden des Standes muß nur eine achtzig Zentimeter breite, Euterdiele eingefügt sein, wir wir das nennen, achtzig Zentimeter Holzboden, damit es die liegenden Kühe beim Euter warm haben.«

»Und der Dünger?«

»Er ist die Gegenleistung an das Tal. Soweit wir ihn nicht selber als Zusatz zum Kunstdünger brauchen, auch die Jauche, die wir sorgfältig sammeln. Sie rinnt ohne unser Zutun in die Jauchengruben und von dort je nach der Entfernung von der Ebene in Jaucheleitungen oder in eigene Jauchetransportwagen, in denen sie zu Tal gebracht wird.«

»Ja, haben Sie denn bis hierher ins Gebirge gut fahrbare Straßen?«

»Wie könnten wir sonst das Leben aufrechterhalten? Straßen sind für das Land das, was für den Körper die Blutbahnen sind.«

»Verzeihung, Don Antonio, welche Studien haben Sie?«

»Nach der Lernschule die landwirtschaftliche Fachschule.«

»Wie lange dauert die?«

»Samt den Wanderjahren vier Jahre.«

»Was sind das, die Wanderjahre?«

»Jeder Schüler der landwirtschaftlichen Fachschule muß nach dem eigentlichen theoretischen Unterricht zwei Lehrjahre in der Praxis zubringen, und zwar in zwei verschiedenen Ländern. Darum Wanderjahre. Dann erst kann er in sein Heimatland zurückkehren.«

»Wo haben Sie ihre Wanderjahre verbracht?«

»Im Schweizer Hochland und in Schottland. Mit achtzehn Jahren kehrte ich dann in meine Heimat zurück, die ich nur noch einmal zwei Jahre später verließ, um in Deutschland mein soziales Dienstjahr zu verbringen.«

»Und seit wann sind Sie Bürgermeister?«

»Oh, schon geraume Zeit. Meine Mitbürger haben mich vor vierzehn Jahren zum erstenmal gewählt und seither bin ich schon zweimal wiedergewählt worden.«

»Immer auf fünf Jahre?«

»Ja.«

»Schon vierzehn Jahre? Haben Sie denn schon SO lange das wählbare Alter hinter sich?«

»Ja, ich bin heute einundvierzig, und mit dem fünfundzwanzigsten Jahre ist jeder Bürger reif, auf den höchsten Posten berufen zu werden, vorausgesetzt, daß er auch die übrigen Bedingungen erfüllt.«

»Und die sind?«

»Eigentlich nur eine in meinem Fall: Landbürgermeister kann nur ein Mitbürger werden, der eine landwirtschaftliche Fachschule mit Erfolg zurückgelegt hat.«

»Also nur ein 'Misthaufenprofessor' kann Bürgermeister werden«, lachte Richard, »wie die rückständigen Bauern zu meiner Zeit studierte Landwirte genannt haben. Wenn es da einer anders gemacht hat, wie sein Vater, Großvater und Urgroßvater, so war er der ganzen Gemeinde schon verdächtig, und er konnte sicher damit rechnen, daß er sich die Achtung der Gemeinde verscherzt habe. Nur sehr selten kam zu meiner Zeit so ein Mann, der etwas mehr gelernt hatte, im Dorf auf den rechten Platz. Darum verrann auch noch so viel Jauche auf die Straße, indeß die Felder hungern mußten. Ja, lieber Don Antonio und Freund Ensler, was Ihr heute treibt, das ist wirklich Planwirtschaft.«

»Wir sind dankbar für dieses gütige Urteil«, sagte Ensler verbindlich.

»Und es gibt natürlich verschiedene landwirtschaftliche Schulen?«

»Natürlich, für jedes Fach eigene Schulen und alle immer mitten in dem Gebiet, das in der Planwirtschaft diesem Zweig dient: Ackerbauschulen, Obstschulen, Gartenschulen, Viehaufzuchtschulen, Molkereischulen, Gemüsebauschulen...«

»Aber keine Weinbauschulen und Hopfenbauschulen«, lachte Richard.

»Soweit wir noch Wein bauen, gehört er zum Obstbau.«

»Na, und Hopfen?«

»Den brauchen wir wirklich nicht mehr, seit Europa trockengelegt ist.«

»Eine letzte Frage noch, Don Antonio, ist ihr Dorf ein Musterdorf oder ist das die Regel?«

»Die Regel. Alles, was Sie hier sehen, können Sie in entsprechender örtlicher und sachlicher Anpassung überall sehen.«

»Und die Einrichtung des Gästehauses, was soll die?«

»Sie ersetzt die Hotels Ihrer Zeit. Wenn Fremde kommen, müssen wir doch vorgesorgt haben, und in einer so reiselustigen Zeit wie der unsrigen gibt es täglich Gäste.«

»Reisen auch Sie?«

»Auch ich natürlich. Warum gerade ich nicht? Jeder Landbürger ist sogar verpflichtet, einen Monat im Jahr in der Stadt zuzubringen, damit er den Zusammenhang mit städtischer Kultur nicht verliere, der übrigens das ganze Jahr ständig durch den Radio-Visiographen aufrechterhalten wird und durch die Einrichtung der Wanderbüchereien, Wanderredner, Wanderkünstler, Schauspieler und Sänger und Ausstellungen aller Art. Aber es ist gut, daß wir Landmenschen immer wieder eine Zeit in der Stadt zubringen.«

»Na, und die Stadtmenschen, die schickt man aufs Land?«

»O doch. Das ist ein gar weises Gesetz der V. S. E. Jeder Stadtbürger muß alljährlich einen Monat bei ländlicher oder Gartenarbeit zubringen.«

»Jeder Stadtbürger? Auch der Bürgermeister? Auch Sie Ensler?«

»Auch ich und auch der Stadtpräsident, wie wir jetzt die Bürgermeister heißen. Damit ist ausgesprochen, daß wir den Zusammenhang mit der Natur nicht verlieren sollen, wir Stadtmenschen.«

»Und wir nicht den Zusammenhang mit der Kultur, wir Landmenschen.«

»Bravo! Das heiße ich eine Vermählung von Stadt und Land.«

»Ich gestehe«, sagte Ensler, »das war eines der besten Gesetze, die bisher beschlossen wurden. Der Stadtmensch, der wieder einmal zum Spaten greifen muß, der wieder einmal mit dem Pflug die Scholle aufreißt, den Heurechen kutschiert oder die Stallspritze in Tätigkeit setzt, gesundet körperlich und geistig. Der Erdgeruch vertreibt manche Schrullen. Freiere Gedanken fliegen uns wieder zu, wir verknöchern nicht, wir bleiben jung.«

»Wir sind jung, und das ist schön«, trällerte Richard vor sich hin, die alte Kinderfreundeweise... »Und gilt das für alle Menschen, auch für die Frauen?«

»Auch für die Frauen. Und Sie sollten sehen, wie erfrischt unsere Frauen nach solcher Arbeit wieder heim- kommen. Körperliche Arbeit im Freien, das ist der reine Jungbrunnen, ein ganz anderer, als der Lippenstift Ihrer Tage.«

Längst hatten sich schon die Schatten des Abends niedergesenkt, als die Freunde voneinander schieden, aber noch lange fand Richard nicht die so nötige Ruhe. Was war das für eine andere Welt, in die er hinübergeschlafen hatte! Endlich kamen ihm Traumgesichte. Ein schwarzer Lockenkopf beugte sich über sein Bett und drückte ihm die Augen zu.

DER SIEG ÜBER DIE BLINDHEIT

Ein Zufall brachte die beiden Freunde an einem der nächsten Tage auf ein Problem, dessen Lösung Jahrhunderte hindurch die Menschheit beschäftigt hatte, auf die Lösung des Problems, wie man die körperliche Blindheit überwinden konnte. Die Anstrengungen der letzten Tage und die für Richard damit verbundenen seelischen Aufregungen ließen es geraten erscheinen, einige Tage wirklicher Erholung zu suchen, und die hoffte Ensler am ehesten in freier Bergeshöhe zu finden. Ein Auto brachte sie in knappen zwei Stunden auf den Montserrat, in das elfhundert Meter hoch gelegene Bergidyll nördlich von Barcelona, das einstens eines der wichtigsten Stützpunkte der Machtpolitik der katholischen Kirche war.

Auf dem Montserrat war einer stark verbreiteten Volkssage nach einem spanischen Granden, der die Freuden der Liebe bis zur Neige durchkosten wollte und der sich mit seinem erfolgreichen Liebeswerben auch an die Königstochter herangemacht hatte, als er da oben in der Bergwildnis in einer Höhle hauste, um im härenen Gewande Buße zu tun für seine Vermessenheit, daß er als gewöhnlicher Graf oder Fürst seinen Leib mit einer leibhaftigen Königstochter, gewissermaßen mit einer Gottesgesandten, vermählt hatte: diesem Granden im Büßerkleid also war eines Tages im tiefsten Dunkel seiner Höhle eine Madonna erschienen, die Madonna, und ganz schwarz war ihr Antlitz, aber von diesem schwarzen Grunde strahlte ihm ein lichter Glanz entgegen, daß er schier geblendet war. Da ging der Liebesbold von gestern in sich, und aus dem Don Juan wurde ein heiliger Johannes, der auf den Knien rutschend in hysterischer Verzückung solange die Madonna sah, bis sie auch die andern sahen oder sich wenigstens, in seinem hypnotischen Banne stehend, einbildeten, sie zu sehen und zu dem nun »Heiligen« in der Höhe und zu seiner schwarzen Madonna zu pilgern begannen.

Aus diesen Anfängen entwickelte sich einer der größten, wenn nicht der größte katholische Wallfahrtsbetrieb der Welt, entwickelte sich ein Großhandelshaus der Wunder, dessen Ruhm die ganze katholische Welt von einst erfüllte. Der Ruf der Wunder von Lourdes verblaßte beinahe daneben. In einem jedenfalls überbot das gläubige, das wundergläubige Spanien Lourdes, in dem künstlerischen Prunk der Aufmachung. War der Büßer einst über schwindeligen Steinbockpfad zur Höhle gelangt, so wurde daraus allmählich eine breite Heerstraße der Wundergläubigkeit und eine Heerstraße, wie sie ihresgleichen nicht in der ganzen Welt hatte. Was die Hand der erlesensten spanischen Bildhauer aus Stein zu formen vermochte, hier war es vereinigt. Es war eine Denkmalsstraße, zu der der Pfad geworden war, der von der großen zur Höhe führenden Automobilstraße abseits und etwas bergab zur Höhle geleitet hatte. Mit dem Felsen vermählt, in eins mit ihm verwachsen, erschien immer wieder die Gestalt Christi, des großen Menschheitserlösers und immer wieder auch Maria, im katholischen Glauben die Mutter Gottes genannt, und alle möglichen Heiligen. Schritt um Schritt wurde die Seele mehr in den Bann der Gläubigkeit gezogen. Inmitten einer wilden, von den Naturgewalten zerrissenen, vielfach zerklüfteten Berglandschaft, die für sich schon in gewaltigen Tönen zu der Menschheit sprach, inmitten solcher Landschaft erlesenste Kunst förmlich aus dem unzugänglichen Felsen wachsend oder mit dem Felsen zu künstlerischem Zusammenklang vereint. Und zum Schluß die düstere Kapelle, aus deren tiefstem Dunkel das Auge der schwarzen Madonna sprühend leuchten sollte. Es gab viele, viele Tausende, die darauf schworen, daß auch ihnen das Auge der Madonna mit seinem Blitzen gefunkelt habe, das Auge der schwarzen Madonna, das Auge der Moreneta.

Und dann trat das Wunder ein. Lahme konnten wieder gehen und warfen die Krücken weg, Schwerkranke, die man hergebracht hatte, erhoben sich von der Tragbahre und wollten den Weg zurück zu Fuß machen, Blinde wurden sehend, heller Glanz blendete plötzlich ihre Augen, und das Geschäft blühte. In anderen Wallfahrtsorten, in kleineren Betrieben vor allem, zog die Kirche aus dem Wunderglauben nur insofern einen Nutzen, als die Gläubigen die Priester beschäftigten, gegen hohe Summen Messen lesen ließen, als sie der Kirche Geldbeträge und Kostbarkeiten widmeten, votierten, oft Kunstwerke, nicht selten aber Gegenstände aus gediegenem Metall, goldene Arme, Finger, Beine, Augen oder Herzen, je nachdem die Madonna durch ihr Augenblitzen gerade eine Krankheit geheilt hatte. Alle diese Dinge lagen auch hier in der Schatzkammer der großen Kirche zuhauf, als die Zeit erfüllet ward und der große Betrieb des Kultus einem großen Betrieb der Kultur weichen mußte.

Aber hier war die Kirche noch weitergegangen. Während anderswo aller Handel mit den sogenannten Devotionalien, d. h. mit den Gegenständen, durch die der einzelne Gläubige seine Devotion, seine Ergebenheit ge- genüber der Kirche erweisen konnte, der Handel mit Andenken, Schmuckgegenständen, Ansichtskarten, Photos in den Händen Privater war, riß in diesem Wallfahrtsort die Kirche alles an sich, ja sogar eine Fremdenherberge unterhielt sie und wahrscheinlich hatte sie auch ihre Geschäftsanteile an den großen Gastwirtschaften und an der Seilbahn, die bis zur höchsten Spitze des Berges führte, wie an den anderen Verkehrsunternehmungen, die den Wallfahrtsort mit der Welt verbanden. Mönche standen hinter den Verkaufsschaltern, und in der Herberge waren sie wohl auch Koch und Kellermeister und Reinemacher.

Nun aber war der Montserrat der »Hausberg« Barcelonas geworden, die große Zuflucht aller Müden, die Zuflucht, in der man in freier Höhenluft binnen wenigen Tagen gesunden, wieder neuen Lebensmut, wieder neue Arbeitsfreude gewinnen konnte und wo man -- was Ensler bei dieser Wahl besonders bedacht hatte -- besser als anderswo und ohne Anstrengung die gewaltige Spanne mit dem geistigen Auge durchmessen konnte, die zwischen der Kultuszeit und der Kulturzeit des Montserrat lag. Die Kapelle und der denkmalgeschmückte Weg zu ihr wurden weiter so erhalten, wie sie einstens waren, als eine Art Freilichtmuseum, die große Kirche aber im Zentrum des Ortes, sie wurde samt ihrer Schatzkammer in ein ethnographisches Spezialmuseum gewandelt, das alle Werkzeuge und Behelfe des Götzen- und Götterdienstes in allen damals bekannten Religionen zeigte. Da waren die Werkzeuge der indianischen Medizinmänner und ihre Masken und Maskeraden ebenso zu sehen, wie neben dem Rosenkranz, durch den Gott in unzähligen Gebeten belästigt werden sollte, die Gebetsmühle, in die die einstigen Bewohner des Hochlandes von Tibet ihre Gebete klebten oder mit Sticheln eingruben, und die nun so oft zu Gott gesendet wurden, so oft das Gebet mit dem Rade der Mühle eine Drehung machte. Reiche Tibetaner hatten sich Gebetsmühlen mit Wasserantrieb gebaut, und als die Elektrizität ihren Siegeszug über die Erde nahm und auch das Hochland von Tibet erreichte, da gab es förmliche Wettrennen zu Gott. Bis zu tausend Umdrehungen in der Minute! Andere stellten sich einen Radiosender auf, an den ein Phonograph mit der Gebetsplatte geschaltet war. Sie sandten ununterbrochen ihre Gebetwellen zu Gott. Was für ein armseliges, rückständiges Werkzeug vor Gottes Thron war da der Rosenkranz der katholischen Kirche, von dem Perle um Perle heruntergebetet werden mußte. Eine Sonderabteilung dieses Museums bildete die Schatzkammer, die in ihrer Unberührtheit erhalten geblieben und nur durch erklärende Aufschriften verständlich gemacht worden war.

Der Hotelbetrieb aber und alle anderen Anlagen, die ausgedehnten Spaziergänge auf freier Bergeshöhe, auf der eine Anzahl ewig grüner Gewächse gediehen, sie wurden einem großzügigen Erholungsbetrieb dienstbar gemacht, der mit dem Auto in zwei Stunden, mit dem Flugzeug in einer Viertelstunde von Barcelona erreicht werden konnte und darum Sommer und Winter täglich eine Station für tausend Müde war, über den eine vornehme, durch schweres Leid zu höchster Menschlichkeit geläuterte Frau, eine ewige Helferin, Enriqueta Blanca wachte, so eine Art Sorgenmutter Europas.

Hierhin also waren Ensler und Richard geflüchtet, und es waren schon einige Tage ins Land gegangen, während derer sie sich immer von neuem an der Herrlichkeit dieser begnadeten Natur erquickt hatten. Nun war es Zeit, einmal einen Gang durch das Museum zu machen. Es bot Richard im Allgemeinen nichts Besonderes, nur das bunte Nebeneinander der Behelfe der verschiedenen Religionen, die Gläubigen zu fesseln, der Gebetriemen der Juden neben den Opfergefäßen des chinesischen Ahnenkults und viele andere Dinge waren in ihrer reichen Hülle eine Überraschung auch für Richard. So eine Sammlung wäre ja auch zu seinen Zeiten nicht möglich gewesen. Jeder Glaube hätte die Entartung des andern zeigen können, und das geschah auch in den ethnographischen Museen: aber die Religion des eigenen Staates, sie stand unter dem Schutz der weltlichen Gewalten. In ihr war alles gut.

Auch in der Schatzkammer war für Richard wenig Neues zu sehen. Er hatte den Brauch, solchen Wallfahrtskirchen Votivgeschenke zu machen, die anzeigten, welche Art von Hilfe in jedem Falle die heilige Madonna gebracht hatte, noch in guter Erinnerung. Auf einer Insel in der Bocce di Cattaro, der man zuschreibt daß sie den Schweizer Maler Böcklin zu seinem berühmten Bilde: 'Die Insel der Toten' angeregt hat, steht eine Wallfahrtskirche, die auf allen ihren Wänden nur Schiffe im Sturm zeigt, in Metalltreibarbeit, oft aus Gold und Silber, in Zeichnungen, in Gemälden, in Plastiken, lauter Geschenke von gläubigen Schiffern, die mitten im Sturm gelobt hatten, daß sie der Maria etwas schenken wollten, wenn sie auch diesmal wieder mit dem Leben davonkommen sollten. Hier aber auf dem Montserrat, wo der schwarzen Madonna Heilkräfte für allerlei Leiden zugeschrieben wurden, hier gab es keine Schiffe im Sturm, wohl aber alle möglichen menschlichen Gliedmaßen und Bilder, die zeigten, wie Menschen durch die Wundertätige geholfen worden war.

Da fiel Richards Blick plötzlich auf ein dreiteiliges Bild, das zeigte, wie eine Blinde dahintastete und wie sie frei mit leuchtenden Augen dahinschritt, dazwischen aber grüßte der starre mit Edelsteinen geschmückte Kopf der schwarzen Muttergottes, und die Inschrift sagte:

»Dir, o Maria, sei mein Herzensdank gebracht Du hast die Blinde wieder sehend gemacht.«

»Blinde sehend machen! Ja, wenn das möglich wäre!«

Ensler sah Richard betroffen an.

»Haben Sie schon einen Blinden gesehen, seit sich Ihre Augen aus hundertjähriger Blindheit zu neuem Sehen öffnen konnten?«

»Nein, in der Tat, noch keinen.«

»Und glauben Sie, daß das ein Zufall ist?«

»Ich habe darüber nicht nachgedacht. Es stürmen täglich so viele Eindrücke auf mich ein, daß ich wirklich nicht Zeit habe, mir darüber hinaus noch über irgend etwas Gedanken zu machen.«

»Es ist kein Zufall. Unsere Zeit kennt keine Blinden!«

»Keine Blinden? Ja, wäre das möglich?«

»Wir haben die Blindheit überwunden.«

»Wie das?«

»Wie so viele andere Gebrechen der Menschheit. Die Wissenschaft ist einfach ihren Weg weitergegangen und hat auch hier den Weg ins Freie gezeigt, wie wir Pest und Cholera, die Lungenseuche, die Pocke, die gräßliche Kinderlähmung und so viele andere böse Krankheiten und Plagen überwunden haben, die über die Menschen gekommen sind, so haben wir auch die Blindheit überwunden.«

»Wie war das möglich?«

»Wir sind verschiedene Wege zugleich gegangen. Der Gesetzgeber, der Naturforscher, der Arzt, der Chirurg, sie alle haben mitgewirkt, die Menschheit von dieser furchtbaren Geißel zu befreien. Unsere blinden Mitbürger selbst waren es, die uns in ihrer Not förmlich wie Hellseher die Wege gezeigt haben, die freilich dann von dem Sehenden gebahnt werden mußten, etwa wie neue Wege durch das Urwaldgestrüpp.«

»Erzählen Sie, lieber Freund! Erzählen Sie!«, rief Richard lebhaft.

»Lassen Sie uns zunächst diese Stätte verlassen, die zu sehr erfüllt ist von dem Moder der Vergangenheit. Draußen werden wir freier atmen.«

Und da sie wieder draußen im Sonnenschein dahinschritten, legte Ensler los.

»Es ist auch hier eigentlich das Natürliche geschehen, das, was geschehen mußte. Es galt auch hier, und hier mehr als anderswo, vorzubeugen, da das Heilen zunächst unmöglich schien.«

»Und heute kann man Blindheit heilen?«

»Heilen eigentlich nicht, aber beseitigen.«

»Erzählen Sie! Erzählen Sie!«

»Wenn wir dieses Kapitel des menschlichen Aufstiegs aus der Finsternis alter Zeiten geschichtlich betrachten werden, werden wir mehr Gewinn davon haben. Ich setze voraus, daß Sie etwas aus der Befreiungsgeschichte der Blinden wissen. Die Blinden waren einst noch im 18. Jahrhundert, die schlimmsten Gefangenen der Gesellschaft. Als Narren kostümiert, mußten Blinde Musikkonzerte geben, um ihr Dasein fristen zu können. So fand sie der französische Menschenfreund Häuy. Er war es, der die erste Erziehungsanstalt für Blinde begründete. Durch Bildung sie frei zu machen, frei von dem Joch des Mitleids der Mitmenschen, das war sein Ziel. Er konnte seine Idee von seinem Heimatlande Frankreich über Deutschland nach Rußland tragen und wurde so zum Vater der Blindenbildung. Das Werkzeug zur Bildung lieferten manche andere. Die blinde Wienerin Maria Theresia von Paradis hatte die ersten Lese- und Schreibapparate für Blinde ersonnen, und Braille schenkte den Blinden die Blindenschrift, die Punktschrift, die er zu einem gewaltigen Befreiungsinstrument auszugestalten verstand. Der lernende Blinde, der gelehrte Blinde, sie waren seither keine Seltenheit mehr. In alle möglichen Wissenszweige drangen die Blinden ein. Da war auch einmal ein junger blinder Lehrer, namens Hartl -- es war ein Wiener -- dem sein eigenes Schicksal und das seiner leidenden Mitbürger keine Ruhe ließ. Er erdachte ein ganzes System, die Blindheit zu besiegen. Und was in dem Kopfe dieses Blinden rumort hatte, die sehende Wissenschaft, die Kunst der Naturforscher und Ärzte, der starke Wille weitblickender Gesetzgeber hat es geschaffen.

Vor allem galt es vorzubeugen.

Die Statistik ergab, daß die überwiegende Mehrheit der blinden Kinder noch ihr Augenlicht hätte, wenn sie nicht durch das furchtbare Trippergift angesteckt worden wären. Daraus ergab sich ein erstes Vorbeugungsgesetz: Allen Müttern, die mit irgendeiner ansteckenden Krankheit behaftet sind, sind die Kinder von den öffentlichen Gewalten abzunehmen und so lange von diesen zu erziehen und zu betreuen, bis der Mangel bei der Mutter wieder behoben ist. Als solche Krankheiten gelten alle bekannten Infektionskrankheiten (Masern, Diphterie, Scharlach, Blattern usw.), die Tuberkulose, alle Augenkrankheiten, alle Geschlechtskrankheiten. Alle diese Frauen dürfen ihrer Kinder unter ärztlicher Beihilfe nur in den öffentlichen Gebärhäusern entbunden werden.

Damit allein war eine der Hauptquellen verstopft, daß Menschen, die sehend zur Welt gekommen waren, von Blindheit ereilt wurden.«

»Was geschah aber mit den Geburtsblinden?«

»Auch über ihr Schicksal dachte Dr. Hartl nach, und er, der Blinde, hat der Wissenschaft förmlich wie ein Hellseher die Wege gewiesen. Die Wundheilkunde hatte damals schon Großes geleistet. Auch die innere Medizin bediente sich ihrer Errungenschaften. Bei weit ausgedehnten Brandwunden zum Beispiel, die ein Mensch erlitt, konnte ihm auf zweierlei Art Hilfe gebracht werden: dadurch, daß dem Verwundeten andere Menschen Blut liehen, und dadurch, daß sich andere Menschen ein Stück Haut vom Körper ablösen ließen, das die verbrannte Hautfläche des Verunglückten ersetzen konnte. Waren solche Übertragungen, Überpflanzungen menschlicher Haut aus einem Körper möglich und das war in ein ganzes großes System gebracht, die Arbeiter Wiens zum Beispiel gründeten eine Blutbrüderschaft, um sich bei Unglücksfällen gegenseitig mit ihrem Blute beistehen zu können so mußte es doch auch möglich sein, das lebende Auge eines Menschen in den Augapfel eines anderen zu verpflanzen, mit den Sehnerven wieder zu verbinden und dadurch den Blinden sehend zu machen.«

»Ein herrlicher Gedanke«, rief Richard.

»Ein herrlicher Gedanke fürwahr, und er wurde zur Wirklichkeit.«

»Zur Wirklichkeit? Wie großartig!«

»Jahrzehntelang kämpfte die Wissenschaft mit dieser ihr gestellten großen Aufgabe, jahrzehntelang, aber dann gelang es doch. Es war ein fieberhaftes Ringen einiger Ärzte, Naturforscher und Chirurgen, die sich zusammengetan hatten, um zunächst an Tieren zu versuchen, ob die Erreichung dieses Zieles möglich sei. Mit einer kleinen Fischart, mit dem Schlammbeißer, wurden die ersten Versuche unternommen, und sie glückten. Die Schlammbeißer, denen man ihre eigenen Augen herausgenommen und durch die Augen eines andern Schlammbeißers ersetzt hatte, zeigten nach einigen Tagen ganz deutliche Anzeichen, daß sie einen Lichtstrahl, der plötzlich in ihren gläsernen Behälter gelenkt wurde, wahrgenommen hatten. Das war aber der Beweis dafür, daß ihre neu eingefügten Augen Lichtempfindungen hatten, daß sie sahen. Die nächsten Versuche wurden mit Ratten gemacht, mit diesen von den Menschen so verachteten und verfolgten Tieren, die dank der unterirdischen Schlupfwinkel, in denen sie sich, vor den Verfolgern sicher, heimisch niedergelassen haben, in ihren Pelzen manchen Keimen böser und bösester Krankheiten Quartier geben. Die Ratten brachten zum Beispiel immer wieder die Pest nach Europa. Nun sollten sie aber zu Wohltätern der Menschheit werden, wie schon oft früher. Zum Tierversuch hat man immer wieder gerne Ratten verwendet, auch die berühmte Verjüngungstheorie des Professors Steinach, eines Sohnes Vorarlbergs, wurde zuerst an Ratten erprobt, die Steinach nach Belieben in Männlein und Weiblein wandelte mit allen Eigenschaften der beiden Geschlechter, und die er auch durch Verjüngung zu neuer Kraft brachte. So folgte auch hier dem Schlammbeißer die Ratte. Den Versuchstieren wurden beide Augen herausgenommen und durch die Augen eines andern Versuchstieres, einer andern Ratte, ersetzt. Die Sehnerven mußten verbunden werden, eine künstlerische Chirurgenleistung höchsten Ranges. Aber sie gelang. Und kühner und kühner wurden die Männer, die dem hohen Ziel ihre Arbeit widmeten, die Menschheit von der Blindheit zu befreien. Nach der Ratte kam das Meerschweinchen, nach dem Meerschweinchen ein Kaninchen, dann ein Schwein -- und alle Versuche gelangen. Alle diese Versuchstiere genasen von dem Eingriff, und alle sahen wieder. Ziegen, Hunde, Affen, Kühe folgten, Pferde, und hier machte man, weil viele Pferde auch von Blindheit befallen sind, zuerst den Versuch, ob auch blinde Tiere durch Einpflanzungen eines gesunden Auges wieder sehend gemacht werden könnten. Und auch das gelang. Jetzt konnte man den Versuch am Menschen wagen.« »Aber woher nahm man die Augen?«

»Woher? Für jedes Auge, das eingepflanzt werden sollte, stellten sich den Ärzten zehn Sehende zur Verfügung, die gerne eines ihrer beiden Augen hergaben, um einen andern Menschen sehend zu machen. Wie bei der Blutsbrüderschaft, die bald nach dem Wiener Beispiel von der ganzen Welt geschlossen wurde, die Menschen in Blutgruppen eingeteilt wurden, um einem Kranken immer das Blut zuführen zu können, das in der Zusammensetzung seinem eigenen entsprach, so auch hier. Jeder, der sein Auge anbot, um dadurch einen Blinden sehend zu machen, wurde in eine bestimmte Augenklasse eingeteilt, nach Größe, Farbe, Alter und Sehkraft des Auges und brauchte man dann ein Auge, so fand der Arzt immer die richtige Adressen. Arme Menschen verkauften auch ein Auge. Das war eine der schändlichsten Ausgeburten des Kapitalismus. So wie Mütter ihre Milch verkauften, die sie den eigenen Kindern entzogen, so wie Menschen in Not in den Krankenhäusern ihr Blut oder ihre Haut, hier buchstäblich zu verstehen, zu Markte trugen, so verkauften Arbeitslose auch ein Auge, um eine Zeitlang ihren Hunger stillen zu können.«

»Welch scheußliche Entartung!«

»Das empfinden wir auch. In der Regel aber waren es die Schwester, der Bruder, die Mutter oder andere Blutsverwandte, die gerne ein Auge hergaben, um einen lieben Angehörigen sehend zu machen. Die erste war eine Wienerin, Adele Groß, die ein Auge hergab, um ihr Kind sehend zu machen, ihr rührend schönes Kind.«

»Herrlich, herrlich. Das konnte also später Erblindeten wirklich helfen. Aber war dies auch bei Geburtsblinden möglich?«

»In manchen Fällen schon. Dort, wo schon im Mutterleib eine Infektion erfolgt war. In Fällen, wo der Sehnerv schwand, da konnte so ein Eingriff allerdings auch keine Hilfe bringen.«

»Was geschah also in diesen Fällen?«

»Das waren, wie die Erfahrung lehrte, in der Regel ererbte Gebrechen. Da war in einzelnen Fällen nichts zu machen. Aber hier griff wieder die Gesellschaft mit einem Gesetz der Vorbeugung ein. So wenig sie duldete, daß sich unsoziale oder gar gegensoziale Menschen fortpflanzten, ebensowenig duldete sie, daß so ein Geburtsblinder oder so eine Blinde Kinder zeugen konnten. Ihre Keime wurden unfruchtbar gemacht. Damit war die Fortpflanzung verhindert, und heute, wo wir die dritte Geschlechtsfolge seit dem großen Feldzug gegen die Blindheit zählen, heute haben wir keine Blinden mehr. Es kommt kein Blinder mehr zur Welt, es gibt keine Geburtsblinden mehr -- einige wenige hochbetagte Blinde leben nur noch in Europa -- und alle später Erblindeten, alle durch einen Unglücksfall später ums Augenlicht gekommenen Menschen können wir wieder sehend machen.«

»Oh, du herrliche, du große Zeit! Wie preise ich mein Schicksal, daß ich in diese Welt schauen kann. Was das bedeutet«, rief Richard in heller Begeisterung, »das kann nur der ermessen, der schaudernd den Weltkrieg miterlebt hat, währenddessen Tausende von blühenden jungen Männern ums Augenlicht gebracht wurden, Tausende, die man mit Bomben, Giftgasen, Feuerschlangen angegriffen und mit Absicht blind gemacht hatte, um der gegnerischen Armee, der andern Gruppe der Menschheit also, die da drüben stand, jenseits des Grabens Schaden zuzufügen. Was weiß eure glückliche Zeit, von dem Schrecken der Tage, die ich noch miterlebt habe, was weiß eure glückliche Zeit!«

»Wir werden davon schon hören, wenn unser Richard Fröhlich, Lehrer der Weltkriegsgeschichte sein wird, der sittlichen Verfallsperiode der Menschheit«, sagte Ensler lachend und stellte Richard damit zugleich ein hohes schönes Ziel zukünftiger Einordnung in die neugewonnene Welt.

DIE REVOLUTIONÄRIN SONNE

Zwei Tage später waren die Freunde, nachdem sie noch einer Orangenernte als studierende Zuseher beigewohnt hatten, mit dem Geschwader der Orangenluftflotte über alle Berge. Der Rhein war ihr Ziel. Dort wollten sie in einem der großen Betriebe, die einst der Schrecken der Arbeiter waren, Studien machen. Der ungeheuerlichen Macht dieser Betriebe hatten sich die Arbeiter kaum entziehen können, welche organisatorischen Anstrengungen sie auch machten. Richard war es gleich, wo sie landen mochten, im einstigen Königreich »Stumm« im Saargebiet, im Königreich »Krupp« in Essen oder im Reiche eines andern Industrieherrn. Er wollte nur die Betriebsorganisation kennenlernen, die Stellung des einzelnen Menschen im Betriebe. Hatte sich auch hier der große Wandel vollzogen wie auf allen Gebieten?

Ensler unterließ es, Richard früher zu unterrichten, er sollte aus eigener Anschauung das neue Bild kennenlernen. Daß es völlig verändert war gegen die Weltkriegszeit, das wußte ja Ensler, aber es reizte ihn auch, zu erleben, welchen Eindruck diese Veränderung auf einen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts machen würde. Noch auf dem Wege überlegte Ensler, daß es besser wäre, nicht gleich den größten Betrieb zu betrachten, sondern ein kleineres Zentrum der einstigen Kohlen- und Eisenindustrie aufzusuchen. Sie nahmen darum von der Seidenstadt Lyon direkten Kurs an die Ufer der Saar, wo Ensler die einstige gewaltige Eisenindustrie des Freiherrn von Stumm als einen kleinen Mittelpunkt der Eisenverarbeitung und Stahlerzeugung wußte.

Es war am Spätnachmittag, als der 'Nimführ' -- so hieß nach einem Vordenker und eifrigen Propagandisten des Segelfluges, Dr. Raimund Nimführ, das Fernflugzeug, dessen sie sich bei ihrer Fahrt bedient hatten -- über grünen Abhängen plötzlich stoppte und Ensler seinen Gast fragte, ob er nicht in Saarbrücken das Wesen des großen Betriebes studieren möchte?

Minuten später kreiste der 'Nimführ' im Gleitfluge über das Gelände und steuerte dann auf den Mittelpunkt der ausgedehnten Stadt zu, die mit ihrem vielen Grün, in das die Häuser förmlich gebettet waren, und mit dem silbernen Band der Saar, die sie in Schlangenwindungen durchquerte, vielfach überbrückt und von mächtigen Straßenzügen übersetzt, gar nicht den Eindruck einer großen Industriestadt machte. Dennoch werkten in dieser Sektion der europäischen Industrie an die zweihunderttausend Menschen. Mehr im äußeren Gelände der Stadt nach dem Süden wie nach dem Norden zu waren die großen Hüttenwerke dem Kinde aus dem zwanzigsten Jahrhundert freilich kaum erkennbar zu sehen. Nur viele große lange Hallen, mit fast gläsernen Dächern ließen schon durch ihre Gleichförmigkeit erkennen, daß es sich um menschliche Arbeitsstätten handeln mußte. Aber Hüttenwerke, nein, wie solche sahen sie wirklich nicht aus, nirgends schlugen

lohende Feuer zum Himmel, nirgends ein Schachtturm, nirgends das schwarze Land der Kohlengräber, keine Hochofengicht war sichtbar, nur viele schlanke Türme verschiedenster Gestalt überragten die Glasdächer, aber auch hier gab es Abwechslung für das Auge. Als sie so über das Gelände kreisten, da war es Richard, der keinen Blick von der Landschaft verlor, als ob neben einzelnen dieser Türme in beträchtlicher Höhe blühendes Land schwebte: Gärten hoch über den Bäumen, die mit ihrer Krone diese grünen Flächen neben den Türmen nicht erreichen konnten. Und so war es auch. Es waren Dachgärten, die die praktischen Erbauer auf den flachen Dächern der Industriegebäude angelegt hatten, soweit diese nicht Oberlicht brauchten. Und die Türme, es waren sogenannte Schädlertürme, die Erfindung eines Schweizer Klempnermeisters namens Schädler, der es sich, als er ein Blechpreßwerk baute, in den Kopf setzte, durch ein gutes Beispiel den Kampf gegen die häßlichen Schornsteine aufzunehmen. Er konstruierte einen Turm, der in seinem Mittelschlauch Raum für die abziehenden Gase, für einen Personen- und Warenaufzug, für alle nötigen Leitungen, für Gas, Wasser und elektrische Leitungen, und auch für die für das Preßwerk nötige Wasserkraft Raum hatte, hoch über den Dächern der andern Wohnhäuser aber auch reizende Wohnstuben, Studierstuben für Freunde der Einsamkeit, Dichterstübchen, und der bekrönt wurde von einer freien Galerie, die rund um den Hals des Turmes führte. Ein rechter Luginsland, von dem aus der glückliche Konstrukteur den Bodensee, an dessen Ufern seine Heimatstadt lag, überschauen konnte bis hinüber zum andern Ufer, zum einstigen schwarzen Ufer religiöser Unduldsamkeit, die damals noch in diesen alten Zeiten, da Schädler lebte, das westliche Ländchen des alten Österreich, Vorarlberg, kennzeichnete. Von dem Turm aus aber sah der glückliche Erbauer auch hinüber bis ins St. Gallener Land, von wo es schon heller herüberleuchtete. Diese Türme hatten ihren Siegeszug schon in der letzten kapitalistischen Periode, in der rationalistischen, begonnen, in der vernunftgemäß alle Kraft auf das beste genutzt werden sollte, nicht nur wie bis dahin in der roh ausbeuterischen Periode die Menschenkraft allein, während mit den Gütern vielfach Raubbau getrieben wurde. Diese Schädlertürme hatten ihren einsamen Bewohnern ein Stück grünes Land zu geben, ohne daß sie erst mit dem Lift in die Tiefe fahren mußten, auf einem oder dem andern flachen Dach auch Gärten, reizende, üppig gedeihende Gärten, denn auf die breiten Dächer war eine Humusschicht von mehr als einem Meter aufgetragen worden. Da aber trugen auch Zwergobstbäume, die nicht allzu tiefe Wurzeln schlagen, Früchte, und alles Beerenobst gedieh, Gemüse und viele, viele Blumen, auch manche exotische Seltenheit, wie etwa die Papageienpflanze, deren grüne Früchte ganz die Gestalt von kleinen Sittichen hatten, oder Agaven. Ja, an die Zentralheizungsröhren ange- lehnt, gediehen auch in nördlichen Zonen, zur Freude ihrer Besitzer, Feigenbäume, Kinder des Südens, die freilich nur einmal im Jahre Früchte trugen. Andere flache Dächer hatten nur Rasenboden. Sie waren die Spielplätze der Kinder, und Richard konnte auch ganz deutlich Spielgruppen von Kindern auf solchen Dächern ausnehmen.

»Im Winter haben diese Gebäude in so luftiger Höhe oft auch Eislaufplätze angelegt«, erläuterte Ensler, »im Winter, d. h. solange es die Menschen freut. Da...« und er zeigte lebhaft auf ein Dach »da haben sie Schlittschuhläufer, die sich herumtummeln.«

»Ende Juni in Süddeutschland...wahrhaftig, und diese blitzblanke Eisfläche...«

»Ist dem Überschuß an Energie zu danken, die unten in der Halle gewonnen wurde. Das gehört auch zu der rationalistischen Methode, die Sonne in Eis zu wandeln vermag.«

Eines dieser Dächer neben dem Schädlerturm erkor auch der Pilot als Landungsplatz. Es war einer der öffentlichen Landungsplätze Saarbrückens.

Richard konnte sich vor Staunen nicht fassen. »Das ist Saarbrücken? Diese Gartenstadt? Wo sind die Rauchschwaden? Wo die Feuer der Essen?«

»Der Rauch ist überwunden. Die Menschenlunge machte es nötig, und der Verzicht auf die Kohle machte es möglich.«

»Der Verzicht auf die Kohle? Ja, ist denn in dieser Welt alles auf den Kopf gestellt?«

»Im Gegenteil, lieber Richard, eure Welt stand auf dem Kopf, oder sie war auf den Kopf gefallen, wenn Sie wollen. Sie holte aufgespeicherte Sonnenwärme in Form der Kohle aus der Erde, zündete sie an und verbrannte sie, um die Wärme wieder aus dem Stein zu holen. Das war ein recht umständliches Verfahren, zumal man ja erst Wunden in die Erdrinde schlagen mußte, die Kohle zu gewinnen. Und es war auch ein ewiger Menschenmord damit verbunden.«

»Sie meinen die furchtbaren Grubenkatastrophen, die sich immer wieder von Zeit zu Zeit ereigneten?«

»Ja, das meine ich. Heute wissen wir aus der statistischen Erfahrung, daß im Jahrhundert der Kohle, es war zum Glück nur eines, täglich vier Menschen ihr Leben lassen mußten im Kampf mit den in der Kohle gefangenen Geistern vergangener Jahrmillionen. Den Grubengasen fielen täglich vier Menschen zum Opfer, das waren im Jahr 1500 Menschen und in den rund hundert Jahren, während derer die Menschen auf die Kohle angewiesen waren, 150000 Menschen, die Bevölkerung einer großen Stadt.«

»Aber woher nehmen Sie heute die Kraft?«

»Auch aus der Sonne. Der einzige Unterschied besteht darin, daß wir heute nicht die durch Jahrmillionen gespeicherte Sonnenwärme tief heraus aus der Erde holen, sondern, daß wir alle Sonnenstunden des Jahres nützen, um die Sonnenwärme gefangenzunehmen und zu speichern.«

»Auch zu speichern?«

»Ja. Umgewandelt in elektrische Energie wird sie uns zur unendlichen Kraftquelle.«

Richard mußte lachen.

»Ich denke an einen kleinen Gernegroß der Weltgeschichte, der sich rühmte, daß in seinem Reich die Sonne nie unterging. Was ist dieses Reich gegen die heutige Welt, der immer die Sonne scheint, Tag und Nacht, Sommer und Winter, im Norden und im Süden.«

»Ja, so ist es. Unsere nicht mehr dem einzelnen Kapitalisten, nicht mehr dem Menschen des Privateigentums, sondern der Allgemeinheit dienende Zeit, sie hat die rationalistischen Methoden ausgeweitet. Unser Leben ist so reich geworden, weil wir die Quelle alles Lebens mit unserer Vernunft in den Dienst aller stellen konnten, die Quelle alles Lebens, die Allmutter Sonne.«

Ensler feierte seinen höchsten Triumph.

»Aber, lieber Freund, nun wollen wir das Gästehaus aufsuchen und uns ein wenig von dem Überland- und Geisteshöhenflug erholen, den Sie heute machen mußten. Aber endlich einmal mußten Sie ja erfahren, daß wir nicht nur sozial und kulturell, sondern auch naturwissenschaftlich mit Riesenschritten vorwärtsgekommen sind, ja, daß die wachsende naturwissenschaftliche Erkenntnis die eigentliche revolutionäre Kraft war, die die Grundlage zu diesem Fortschritt bot, der durch die sozialistische Organisation für die Allgemeinheit nur gesichert zu werden brauchte. Als die ersten Anzeichen zu sehen waren, daß der kühne Menschengeist darangehe, die Sonnenstrahlen direkt in Energie zu wandeln, -- ein Versuch, der in seiner ersten Form mißglückt war -- da lebten wir noch in der kapitalistischen Zeit, und am liebsten hätten die Kapitalisten auch die Sonne und ihre Strahlen als ihr Privateigentum erklärt und damit als

ein Mittel, die übrige Menschheit dauernd in ihre Fesseln zu schlagen. Am liebsten hätten die Fleisch und Blut gewordenen Geldschränke einen Sonnentrust mit der Wirksamkeit über die ganze bewohnte Erde gebildet.

Aber sowohl das Unvermögen, diese Gelüste technisch zu befriedigen, wie die Wachsamkeit der sozialistischen Organisation verhinderten dies. Im Gegenteil, diese größte Entdeckung des Menschengeistes, sie machte mit einem Schlage der kapitalistischen Weltausbeutung ein Ende. Eine Welttagung der Staatsregierungen aller Kontinente machte die Gewinnung der Sonnenenergie zum Weltstaatsmonopol. Damit war praktisch auch die Enteignung aller privaten Betriebe ausgesprochen.«

»Wie das?«, wendete Richard ein, der schon längst an der Seite Enslers dem Herzen der Stadt Saarbrücken zuschritt, um in einem der Gästehäuser unterzukommen.

»Wie das? Ganz einfach. Da der Staat das Monopol für die billigste Kraftquelle hatte, konnte er nun auch die Staatsvernunft zu Worte kommen lassen und die große ungereimte Wirtschaft des Kapitalismus, diesen Wettlauf der Ichsucht, beseitigen und durch die Planwirtschaft ersetzen. Nun endlich konnte der Menschenarbeit und der Ausbeutung der Menschen ein Ziel gesetzt werden. Wer nicht mittun will, bekommt keine Kraft geliefert. Oh, er konnte ja weiter mit Kohle arbeiten, wenn er wollte. Er konnte ja weiter versuchen, ob die Wasserkraft den Kampf aushalten würde mit dem ewigen Quell der Sonnenkraft -- wer aber die billige Sonnenkraft haben wollte, der mußte sich bereit erklären, seinen Betrieb und die Produktion seines Betriebes in Einklang zu bringen mit den Bedürfnissen aller. Er mußte sich einordnen in das Ganze zu seinem und der anderen Besten. Dabei sind die enteigneten Besitzer keineswegs schlecht gefahren. Alles, was sie sich bisher leisten konnten, und bei vielen der Kleinern von ihnen galt es als ausgemacht, noch viel mehr, als sie sich bisher leisten konnten, war ihnen für alle Zukunft verbürgt. Der Unterschied gegen früher bestand nur darin, daß sie sich durch diese reicheren Genußmöglichkeiten nicht mehr von den nichtbesitzenden Bürgern abhoben. Auch die anderen konnten nun die Errungenschaften menschlicher Kultur mit genießen.

Aber nun denken wir an unsere müden Körper. In einer Stunde treffen wir uns im Speisesaal.«

Damit gingen die beiden Freunde jeder in seinen Raum im Gästehaus, und nach erfrischendem Bade und umgekleidet trafen sie sich um die siebente Stunde im Speiseraum.

WIE DIE SONNE GEFANGEN WURDE

Richard konnte kaum die Stunde des Abendessens erwarten. Dabei mußte ihm Ensler endlich Aufschluß geben. Er brannte vor Wißbegierde, wie denn die Menschen das Problem gelöst haben, die Kraft der Sonne gefangenzunehmen und sie den Menschen jeweilig dienstbar zu machen jede beliebige Kraftmenge zu jeder beliebigen Stunde. Er war auch der erste auf dem Platze. Als Ensler kam, erkannte er sofort, was in Richard vorging. Ein unheimliches Feuer brannte in seinen Augen.

»Gleich sollen Sie alles wissen, soweit ich es weiß, wenigstens. Aber vorher lassen Sie uns für den Ersatz unserer eigenen Kraft sorgen. Ihrer augenblicklich konzentrierten Lebensweise entspricht auch konzentrierte Nahrung. Ein Stück Fleisch mit Eiertunke, und als Nachtisch ein Auflauf aus Bananenmehl, Sojabohnenkäse und Früchte, das wird so das Rechte sein.«

Es war ein herrliches Mahl, und Richard gab sich recht freudig dem Genusse der Mahlzeit hin.

»So, nachdem wir jetzt die Kinder der Sonne vor uns haben«, begann Ensler, als die große Schüssel mit den seltsamsten Früchten aufgetragen wurde, von denen Richard einige schon im Emmaheim kennengelernt hatte, »kann ich Ihnen ja erzählen, was wir größten Kinder der Sonne, wir Menschen, der Sonne zu danken haben, und wie wir es angestellt haben, daß die Sonne immer bei uns ist, allmächtig und allgegenwärtig, so wie es einst die Sonnenanbeter geträumt haben mögen. Ja, sie ist beides. Sie treibt nicht nur das vieltausendfache Getriebe in unseren Hüttenwerken und großen Fabriken, sie treibt nicht nur unsere Bahn und Kraftwagen, unsere flinken Wasserautos und Elektroboote auf den Flüssen und Seen, sie gibt uns auch die Wärme in der Stube, sie nährt das Feuer am häuslichen Herd, sie macht die Nacht zum Tag, kurz, sie ist die richtige Allmutter der Menschen geworden. Es gibt heute keinen Zweig der menschlichen Tätigkeit, bei dem nicht die Sonne so direkt mithülfe, wie sie einst im Kohlenzeitalter indirekt mitgeholfen hat.«

»Aber wie haben Sie sie gefangennehmen können? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

»So, Sie großes kleines Kind, das können Sie sich nicht vorstellen? Aber mit einem Brennglas haben Sie auch schon einmal gespielt?«

»Mit einem Brennglas? Sicher. Mehr als das. Solange ich noch Raucher war, hat mich das Brennglas auf meinen Höhenwanderungen auch aus einem andern Grunde begleitet, als daß ich mit Hilfe so einer Linse die Pflanzen und die kleinen Tiere besser sehen wollte, etwas vergrößert. Ich habe die Linse auch dazu benützt, meine Pfeife anzubrennen oder meine Zigarette.«

»Na also, da haben wir's. War selbst ein großer Entdecker und Nutznießer der Sonnenkraft, und jetzt kann er es sich nicht erklären, wie die Menschen die Sonne gefangengenommen haben.«

»Doch nicht durch Linsen?«

»Wie denn sonst? Konnte eine Linse eine Zigarette entzünden, eine Pfeife, wenn man in ihr ein Bündel Strahlen sammelte und die Zigarette in ihren Brennpunkt hielt, warum sollte diese Energie nicht gebändigt werden? Warum konnte man nicht Tausende und Tausende solcher Feuer anzünden und ihre kleinen Kräfte zu einer großen Kraft sammeln? Warum sollte, wenn eine kleine Linse eine Zigarette in Brand stecken konnte, nicht die vieltausendfache Kraft in einem Punkt gesammelt, Erz erweichen können und es zum Schmelzen bringen? Und Versuch auf Versuch gelang. Und heute sind wir längst Herren der Sonnenkraft, anders als Ihre Zeit mit der unzulänglichen Sonnenmaschine.«

»So brauchen wir keine Kohle mehr?«

»Keine. Das Licht, nach dem Sie sich immer so gesehnt haben, tief unten in der Grube, die Sonne, sie hat die Bergleute befreit. Keiner muß mehr in die Tiefe steigen. Der Mensch wühlt nicht mehr in den Eingeweiden der Erde, um Kohle herauszuholen.«

»Aber wie können Sie die Sonne speichern? Gut, daß Sie sie auf solche Art gefangennehmen können, das scheint mir glaubhaft -- wie aber speichern Sie die Sonnenkraft?«

»Dazu war nicht einmal eine neue Methode nötig. Die Kraft tritt nur in wechselnden Gestalten auf, als Feuer zuerst, als elektrische Energie dann, und nach den Lehren der Atomtheorie, die bis in Ihre Tage zurückreicht, die heute aber längst praktische Bedeutung gewonnen hat, vervielfältigt man diese Energie, indem wir die Atome freimachen, die Energien losbinden, die in ihnen, wenigstens für die Menschheit, seit je gefesselt waren, und wie wir früher den elektrischen Strom akkumuliert, zu deutsch: aufgehäuft haben, so machen wir es jetzt auch, nur daß wir durch die rationalistische Auswertung der so angehäuften Kräfte mit viel weniger Vorrat auskommen. Und es geht nichts verloren heute von diesen Kräften, deren auch die Atmosphäre voll ist. Wir haben heute zu jeder Behausung dreierlei Strom geleitet, zu jeder Fabrik auch, in jeden Eisenbahnzug, wie zu diesem auf Luftwellen auch zu jedem Luftschiff: einen Arbeits-, einen Heiz- und einen Lichtstrom. Große Werke wie etwa die, die wir morgen sehen werden, die Werke der Sektion Saarbrücken der europäischen Stahlindustrie, haben eigene Speicher, von denen der Sonnenstrom jeweils nach Bedarf umgeformt wird. Unter solchen Umständen wurde erspart, drei eigene Leitungen zu bauen.«

»Bei solcher Wirtschaft kann ich manches begreifen.«

Und er begriff schließlich alles, als er einen Tag in einer Saarbrücker Hütte, sachverständig geführt, herumgegangen war, nachdem er vor dem großen Linsenglobus gestanden war, der in einer Riesenhalle mit verstellbarem Dach und Seitenwänden untergebracht war. Dieser Linsenglobus drehte sich so um seine Achse, daß er genau der Bewegung folgen konnte, und daß die Sonne, solange sie schien, immer ein Linsensystem -- es waren ihrer einige hundert in dem Globus vereinigt -- bestrahlen mußte, sodaß das Brennfeuer nie erlosch, solange die Sonne leuchtete.

Je mehr Kraft aus der Sonne geholt wurde, die nun nicht nur die Nahrungsmittel hervorzubringen hatte, die nun nicht nur mehr das Bau- und Schiffsholz lieferte, die zur täglichen Dienerin der Menschen geworden war, in allem und jedem, je mehr die Sonne für die Menschheit arbeitete, desto weniger brauchte diese selber zu arbeiten.

»Da ist der Achtstundentag jetzt also schon allgemein durchgesetzt in den Betrieben?«

»Nein, das ist er nicht. Er ist vielmehr längst überwunden. Welche Zeit bliebe denn dem Menschen für seine Bildung, für seine Kultur, für seine körperliche Ertüchtigung?«

»Sie haben heute ...«

»Einen Sechsstundentag vorläufig, aber das große Kulturgesetz erlaubt uns, von dieser großen Stundenzahl abzugehen, ja, es gebietet es uns, sobald wir erkennen, daß wir zur Herstellung der notwendigen Erzeugnisse weniger Zeit brauchen.«

»Und ist das eingeteilt?«

»Wir haben heute viermaligen Schichtwechsel im Tag.«

»Wie, Sie arbeiten immer noch Tag und Nacht?«

»In den Betrieben nur, wo ewige Feuer brennen müssen. Auch das gehört zur Rationalisierung.«

»Aber ist es denn wirklich genug, daß die Menschen nur sechs Stunden arbeiten?«

»Übergenug, wenn keine Sachgüter verschwendet, wenn keine unnötige Arbeit geleistet wird, wie dies auch heute vielfach im Verkehrswesen zum Beispiel noch der Fall ist. Sie können auch heute noch ab und zu einem Holzzug begegnen, der aus den waldreichen Gebieten des südlichen Böhmerwaldes zum Beispiel Holz nach den Waldbergen Salzburgs bringt, aber solche Unge- reimtheiten Wasser in Flüsse zu tragen, Holz in den Wald sind heute allerseltenste Ausnahmen, und man kann fast immer sicher sein, daß es sich um ein besonderes Holz handelt, das für irgendeinen besondern Zweck anderswo gebraucht wird. Seinerzeit exportierte man Holzhäuser aus den Alpen nach Holland und baute sich selbst Steinhäuser, und Holland, das die besten Ziegel erzeugte, schickte sie nach Kanada in den Wald, wo man Ziegelhäuser vorzog.«

Endlich war die erste Wißbegierde Richards gestillt.

Als sie am nächsten Morgen die erste der großen Hallen mit den gläsernen Dächern betraten, die sie am Nachmittag vorher aus der Vogelschau gesehen hatten, da wurde Richard der Wandel der Zeiten erst recht fühlbar. Er sah die ersten Arbeiter vor sich, die ersten freien Arbeiter. Keine Lohnarbeiter mehr. Es war eine Schar junger Männer und Frauen, die hier am gemeinsamen Werk schafften, riesige Roheisenblöcke zur Schmelzglut zu bringen und durch allerlei Zusätze zu Stahl zu härten. In gewaltigen Pfannen, die an schweren Ketten hingen, war das glühende Metall gefangen, und es wurde dann in Bäche geleitet, die über ein Formenbett liefen. So oft eine Form voll war, zog der Glutstrom weiter, wie von unsichtbaren Händen geleitet. Indes sich der Glutstrom weiterwälzte, öffneten unsichtbare Hände Formenwände, und die noch rotglühenden, aber schon erkalteten Stahlblöcke kamen dann unter die schweren Hämmer zwischen die Walzen, und wie von Zauberhänden vollbracht, wickelte sich dieses ganze Werk vor den Augen der beiden Freunde ab, die ein junger Mann führte. Er verriet ihnen jeweils das Geheimnis, auf welchen Knopf jetzt er oder auf welchen jetzt der Betriebsführer zu drücken hätte, um die Sonne zu einer Arbeitsleistung zu veranlassen, zum Tragen der Riesenpfanne oder sie zu kippen, die Formklappen zu öffnen, die Wagen mit den Stahlblöcken in Bewegung zu setzen oder den Hammer oder die Walzen, die den glühenden Leib des Stahls solange quetschen und martern, bis er die Form annimmt, die der denkende Mensch ihm zu geben wünscht.«

»Welch ein Sieg! Welch ein Sieg! Und wer leitet diesen ganzen Riesenbetrieb, Herr Ingenieur?«

»Wir.«

»Wer wir?«

»Die technische Arbeitsgruppe.«

»Aber bei einem müssen doch die Fäden zusammenlaufen, einer muß doch den Arbeitswillen der Gesamtheit verkörpern.«

»Ganz richtig.«

»Wer ist dieser Eine?«

»Augenblicklich ein junger Kamerad von mir.«

»Auch ein junger Ingenieur?«

»Nein, so wenig wie ich. Wir sind alle Schüler der Hüttenfachschule.«

»Gut, aber der eine muß doch der Arbeiter, der andere der Ingenieur sein?«

»Diese Unterscheidung kennen wir nicht. Wir sind alle Arbeiter am gemeinsamen Werk, und wir versuchen jeden dorthin zu stellen, wo er glaubt und wo wir glauben, daß er das Beste leisten kann. Der ganze Stahlprozeß ist nichts als gewandeltes Leben. Auch da gibt es förmlich dichterische Eingebung. Erfahrung, höhere Beobachtungsgabe lassen zum Beispiel den einen immer mit größter Sicherheit erkennen, wann der eigentliche Augenblick zum Abstich gekommen ist. Es gibt nichts in irgendwelchem Verwandlungsprozeß der Natur, was sich mit der Uhr in der Hand genau vorbestimmen ließe. Dieser Eine wird also der Birnenwart sein. Er wird die Schmelzbirne zu beobachten haben und das Zeichen zum Abstich geben. Ein anderer wird besonderes Geschick zum Kran-, zum Hammer- oder Walzenführer haben, zum Gußmeister, der die Formen zu überwachen hat jeden auf seinen Platz stellen, das ist das größte Betriebsgeheimnis.«

Der junge Mann hatte in so wohlgesetzten Worten gesprochen, daß Richard kaum glaubte, einen Arbeiter in dem überkommenen und in dem falsch gewesenen alten Sinne vor sich zu haben. Es war dem auch nicht so. Der junge Mann war ein Arbeiter der neuen Zeit, ein Mitarbeiter am Ganzen, nicht mehr ein Sklave, der auf einen bestimmten Platz gestellt worden war. »Da können Sie ja auch Leiter des ganzen Unternehmens werden?«

»Gewiß, jeder von uns.«

»Wer bestimmt das? Der Staat?«

»Ja. Über unsern Vorschlag. Unser Betriebsrat ist die oberste örtliche Stelle. Ihm liegt die Überwachung des ganzen Betriebes in jeglicher Hinsicht ob, in technischer, wie sozialer, wie gesundheitlicher, und in Ansehung der Einordnung der Betriebsproduktion in das allgemeine Produktionsbedürfnis. Er überprüft die Vorschläge der einzelnen Abteilungen auf Bestellung der Arbeitskräfte, er setzt auf Grund dieser Vorschläge die technischen Leiter ein und die Verkehrsdirigenten, denen die Herbeischaffung der Rohstoffe und der Abführung der fertigen oder Halbfabrikate obliegt. Hier in Saarbrücken werden zum Beispiel nur Stahlbarren und Schienen erzeugt.«

»In diesem Riesenbetrieb werden nur Barren und Schienen erzeugt? Wieviel Arbeiter sind denn hier tätig?«

»Zweihunderttausend alles in allem.«

»Oh, so viel? Und nur für Barren und Schienen?«

»Diese aber für das ganze nördliche Mitteleuropa, die skandinavischen Länder ausgenommen, von der Bretagne bis zur Weichsel; jenseits der Weichsel beginnt die Wirksamkeit der Schienensektion des Uralgebiets und Skandinavien, Holland und England sind von der Sektion Schweden versorgt. Da gibt es schwere Arbeit.«

»Da haben Sie gleich ein Stück der europäischen

Planwirtschaft«, fügte Ensler ergänzend hinzu, »hier sind die besten Bedingungen für Schienenerzeugung gegeben, also werden hier Schienen erzeugt, wie anderswo die Brücken für halb Europa gemacht werden und in einer dritten Zentrale die Maschinen von der einfachsten Wäschewaschmaschine bis zum elektrischen Baumfäller oder zur Melkmaschine, die Sie in den Pyrenäen gesehen haben.«

»Wie ist es aber, wenn ein Arbeiter nicht taugt ... Was dann?«

»Dann wird er ausgetauscht. Es ist schon möglich, und es kommt auch ab und zu vor, daß sich ein junger Mensch in der Wahl seines Berufes geirrt hat, daß Lehrer und Eltern die Anzeichen falsch gedeutet und seine Lebensbahn in eine falsche Richtung gelenkt haben -- einem solchen Menschen steht es aber jederzeit frei, umzusatteln. Er kann einen kurzen Einführungskurs in einen andern Beruf durchmachen, einen Umschulungskurs, und in dem andern Beruf von neuem beginnen. Oft entdecken Menschen ihre eigentlichen Fähigkeiten erst in reiferem Alter.«

»Und es gibt keine Vorgesetzten im Betrieb?«

»Jeder von uns ist für seinen Teil der Arbeit verantwortlich. Aber darüber hinaus gibt es auch Hauptverantwortliche, solche, die einen Teil des Betriebes zu übersehen haben und für das Klappen der Zusammenarbeit verantwortlich sind. Aber vorgesetzt sind diese nicht. Wir alle achten in ihnen nur das größere Maß Verantwortlichkeit, das sie zu tragen haben, und wir setzen unseren Stolz darein, ihnen dabei zu helfen.«

»Betriebsunfälle? Gibt es die?«

»O ja, wir haben schon welche gehabt. Das glühend-flüssige Metall, mit dem wir es zu tun haben, ist nicht immer gutartig. Ein kleiner Fehler im Gemenge, eine kleine Blase, und der Stahl spritzt. Da gibt es Gefahren trotz der Schutzkappen, die wir tragen, und es gibt auch ab und zu Verletzungen. Erst vor einem Jahre erlitt einer meiner Kameraden in dieser Halle Brandwunden.«

»Vor einem Jahre? Seither niemand?«

»Seither keiner mehr!«

»Wie ist das möglich? Im alten Hüttenprozeß gab es täglich Verwundete.«

Eben trat eine kleine Arbeitspause ein, und einige der Arbeiter lüfteten ihre Gesichtskappen und gesellten sich zu der Gruppe. Der junge Führer stellte vor: »Richard Fröhlich aus Wien. Ihr werdet Euch das ohnehin schon gedacht haben, daß solche Fragen aus dem vorigen Jahrhundert nur ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert stellen kann.«

Die Arbeiter lachten, und jeder einzelne trat auf Richard zu und schüttelte ihm die Hand.

»Das glaub' ich«, ergriff wieder der Führer das Wort, »daß es im alten Hüttenprozeß täglich Verwundete gab. Wenn ich so Bilder aus der alten Zeit anschaue oder Schilderungen lese, wie die Menschen bis zur Selbsterschöpfung mit Stahl und Feuer ringen mußten, Tag um Tag oder Nacht um Nacht es gab lange die Zwölfstundenschicht so wundert es mich nur, daß nicht noch viel mehr Unglück geschehen ist. Wie viele der Arbeiter in den Hütten waren Tag um Tag über- müdet, bis zur Erschöpfung ausgebeutet. Mußten sich da nicht viele Unglücksfälle ereignen? Sehen Sie sich gegenüber den Arbeitern von damals diese frische Jugend an, diese frischen unverbrauchten Menschen. Der Sechsstundentag ist doch ein großer Sieg!«

»Ja, an diesen Menschen und an der geringen Zahl von Unglücksfällen sieht man es Was machen Sie mit Ihrer freien Zeit?«, wendete sich Richard an einen der jungen Leute, der wettergebräunt neben ihm stand.

»Mit meiner freien Zeit?«, antwortete der Angeredete, »sie wird mir fast zu wenig. Eine Stunde geht täglich für den Weg zur Arbeitsstelle und nach Hause auf, verbleiben dann nur noch neun Stunden zur Erholung und Ertüchtigung, acht Stunden zum Schlaf. So neun Stunden, wie rasch sind sie dahin. Ein wenig turnen, schwimmen, laufen, ein wenig lesen, ein wenig Wissenschaft treiben, daß wir nicht verrosten, ein wenig Musik, ein wenig Bruder und Schwester, ein wenig Freunde, die Zeit wird mir täglich zu kurz.«

»Dafür aber der Urlaub! Wieviel Urlaub haben Sie?«

»Wir haben dreimal im Jahr je eine Woche und einmal vierzehn Tage.«

»Also viermal Urlaub haben Sie?«

»Ja, alle Vierteljahre.«

»Wie groß ist Ihre Arbeitswoche?«

»Sechsunddreißig Stunden täglich sechs Stunden.«

»Der Sonntag ist frei?«

»Ja, unter allen Umständen. Am Sonntag ruht die Arbeit, soweit nicht der Betrieb ununterbrochene Fortführung technisch nötig macht, und soweit es sich nicht um eine Arbeit handelt, die für alle Bürger lebenswichtig ist. Essen müssen wir auch am Sonntag und auch die Verkehrsmittel müssen zur Verfügung stehen, und die Sporttätigkeit ist auch stark auf den Sonntag eingestellt, auch da gibt es viele notwendige Arbeit.«

Ensler, der bisher nur Zuhörer war, griff nun auch in die Debatte ein.

»Im übrigen ist jetzt schon ein Gesetz in Vorbereitung, das den viermaligen Schichtwechsel in einen fünfmaligen Schichtwechsel ablösen will, den Sechsstundentag also durch den Viervierfünftelstundentag. Je mehr sich die Weltproduktion dem Bedürfnis anpaßt, desto leichter wird es, die allgemeine Arbeitszeit auf ein solches Maß herabzudrücken, daß sich die Menschen wirklich frei fühlen können.«

»Wir fühlen uns auch heute schon frei«, ergänzte ein junger Arbeiter, ein frischer blonder Bursch mit kurzem Haar, das sich nach rückwärts legte. »Das wär' nicht schlecht, jedem von uns macht seine Arbeit Freude, und er ist davon überzeugt, daß sie notwendig ist. Aber wenn morgen auf der Welt weniger Stahlschienen nötig wären, warum sollten wir länger arbeiten?«

»Aber wenn von Stahlschienen dieselbe Menge nötig wäre, nur die Erzeugung anderer Waren überflüssig wäre und die Herabsetzung der Arbeitszeit in diesem Zweig nötig machte, nicht aber in der Hüttenindustrie, was denn?«

»Dann würde sich eben die Stahlindustrie den allgemeinen Gesetzen anpassen, eine Herabsetzung der Arbeitszeit für den einen Bürger und nicht für alle andern, wäre eine Ungleichheit vor dem Gesetz, die kein Bürger gutheißen könnte. Sie müßte dann nur entsprechend mehr Arbeiter einstellen. Solche, die anderswo frei werden.«

Beinahe wäre der junge Blondkopf in Aufruhr geraten. Nur der Gedanke daran, daß einer sein gleiches Recht antasten könnte, erregte ihn.

»Da wird also Ihr Betrieb und folgerichtig jeder andere ganz demokratisch geführt?«

»Vollkommen.«

»Und wer überwacht es, daß es so zugeht?«

Jetzt antwortete der Führer der beiden Freunde: »Wir alle! Es gibt keinen unter uns, der ein Abweichen von dem Gesetz zugeben würde. Demokratie heißt nicht, daß jede Kleinigkeit von allen Zuständigen beschlossen werden muß, Demokratie heißt Verantwortlichkeit auf sich nehmen und tragen. Wir lasten jedem ein Stück Verantwortlichkeit auf, und wir stellen jeden unter die Kontrolle aller, ob er dieses Stück Verantwortlichkeit auch zu tragen vermag. Auch bei uns sind, wie ich schon vorher sagte, Menschen manchmal auf falschem Posten, aber da sind sie die ersten, die das fühlen und die Gesamtheit bitten, sie möge ihnen helfen, den Fehler gutzumachen, einen andern an ihre Stelle zu berufen und sie dorthin zu stellen, wohin ihre Eignung und Neigung sie treiben und wozu sie sich selber befähigt fühlen.«

»Das ist ein wahres Wort«, wiederholte Richard, »Demokratie ist nicht Vereinsmeierei, ist nicht Beratung jeder Kleinigkeit im Gemeinschaftskörper -- die Kinderkrankheit der Demokratie meiner Tage! -- Demokratie heißt, für den einzelnen Verantwortung, für die Gesamtheit Kontrolle. Und in dieser Überwachung liegt auch jederzeit die Möglichkeit, begangene Fehler wieder gutzumachen.«

VOM KLEIΝΕΝ ΜΑΝN, VON EUROPAS GROSSEN MÄNNERN UND FRAUEN UND VON DER GERECHTIGKEIT

»Wie aber ist es mit den Kleinbetrieben?«, so nahm Richard, als die beiden Freunde am Abend in bequemen Lehnstühlen auf einer Saarterrasse saßen und unter Platanen Kaffee schlürften, das Gespräch wieder auf. »Da ist eine solche Einordnung in das Ganze, und da ist doch auch die demokratische Kontrolle sehr erschwert. Wie wird dort der Sechsstundentag eingehalten? Wie wird dort dafür gesorgt, daß jeder Fähige auf den richtigen Platz kommt?«

Ensler lachte. »Ihre Einwände, lieber Freund, sind ganz berechtigt. Ihre Sorge war auch unsere, und so haben wir dafür gesorgt, daß es keine kleinen Betriebe mehr gibt.«

»Da haben Sie also alle die kleinen Leute, die Millionen selbständiger Existenzen vernichtet?«

»Aber, aber, Richard! Sie sprechen ja fast schon wie der seelige Lueger, der letzte Apostel des kleinen Mannes!«

Beide lachten. »Nein, so schlimm ist das nicht. Ich hatte nur Sorge, wie das möglich war, den berechtigten Selbständigkeitsdrang so vieler kleiner Leute zu besiegen, die es müde waren, sich von andern befehlen zu lassen, für andere zu arbeiten, und auch den daraus wachsenden Eigentumsdünkel dieser kleinen Leute.«

»Ganz einfach. Schon Ihre Zeit hat diese Wege gezeigt, und viele tausende kleine Leute waren zu Ihrer Zeit schon selbständig und doch frei von Eigentumsdünkel. Die Produktivgenossenschaft, das war die Form, in der wir die kleinen Selbständigen vom Ich zum Wir hinüberleiteten, und sie sind dabei gut gefahren. Aus diesen Produktivgenossenschaften sind aber -- was haben wir in Libero anderes gesehen, als das Bild einer ländlichen Produktivgenossenschaft? -- große Produktivverbände geworden, wie der pyrenäische Produktivverband für Milch, Käse und Vieh, der seinerseits wieder ein Zweig, ein ganz kleiner der mächtigen Gesellschaft 'Produktion' ist, die den Ernährungsdienst für die ganze pyrenäische Halbinsel besorgt und die zugleich die oberste verantwortliche Stelle für die Verwertung der Landesernte im Sinne der europäischen Planwirtschaft ist.«

»Produktion? Eine Gesellschaft dieses Namens hat es schon zu meiner Zeit gegeben, eine Arbeiterkonsumgenossenschaft...«

»Die Hamburger 'Produktion'«, fiel ihm Ensler ins Wort.

»Sie wissen darum?«

»Wie sollte ich nicht um so eine Sache Bescheid wissen? Die Hamburger 'Produktion' hat doch durch ihre mustergiltige Organisation das Vorbild geschaffen, nach dem später aller Ernährungsdienst eingerichtet wurde. Sie trieb schon so etwas wie Planwirtschaft im kleinen, besonders seit sie mit den englischen, belgischen und schwedischen Arbeiterkonsumgenossenschaften im Gegenseitigkeitsverhältnis stand und mit ihnen die Überseekäufe gemeinsam besorgte und auf eigenen Schiffen verfrachtete, wie sie früher eigene Eisenbahnzüge und eigene Fabriken, große Schlächtereien und andere Betriebe geschaffen hatte. Der belgische 'Vooruit' unterhielt sogar eine eigene Fischerflotte, die in allen Meeren daheim war. Ja zu Ehren der Hamburger 'Produktion' hat der europäische Ernährungsdienst diesen kurzen Namen angenommen.«

Ensler wußte gar nicht, welche Freude er Richard mit diesen Mitteilungen machte.

»Die Hamburger 'Produktion'«, ergänzte dieser nun, »war auch die erste, die auf eine kollektiv kulturelle Verwendung der Reingewinne hingearbeitet hat. Während die Ichsucht viele Genossenschaften anderer Städte bestimmte, immer wieder den einkaufenden Frauen am Ende des Jahres Einkaufsprozente als Gewinnanteil rückzuerstatten, versuchte die Hamburger 'Produktion' als erste den Weg zu gehen, die Reingewinne nicht an die einzelnen Mitglieder zu verteilen, sondern damit Werke zu schaffen, die den schwächsten unter den Mitgliedern zugute kommen sollten, und damit letzten Endes der gesamten Organisation. Das erste solche Werk war ein Kinderheim an der Ostsee, das nur den Kindern der Mitglieder der 'Produktion' zugänglich war. Der Arzt wählte die schwächsten Kinder aus und diesen schenkte die 'Produktion' zur Freude ihrer Mütter aus der Kraft der Allgemeinheit ihre Gesundheit wieder.«

»Da wissen Sie wahrscheinlich auch noch die Sache vom Konsumpfennig?«

»Nein, was ist das?«, fragte Richard.

»Nachdem sich diese Einrichtung zumal in der Nachkriegszeit als außerordentlich segensreich erwiesen hatte, so daß die Mitglieder begannen, darauf stolz zu sein, daß sie Träger einer so guten Sache waren, wurden die Hamburger 'Kinderfreunde', so berichtet die mir auf diesem Gebiete zufällig recht geläufige Chronik, eines Tages kühner, und sie beantragten, damit genug Geld vorhanden sei, tausende und tausende Hamburger Kinder am Elbestrand der Gesundung zuzuführen, daß die Mitglieder der Hamburger 'Produktion', und das waren fast alle organisierten Arbeiter Hamburgs, gestatten sollten, daß bei allen ihren Einkäufen ein Hundertstel des Preises auf die Waren aufgeschlagen werde. Wofür sie bis jetzt hundert Pfennig bezahlt hatten, dafür sollten sie freiwillig in Hinkunft hundertein Pfennig zahlen. Dieser eine Pfennig wurde ihnen in Form eines Rechenzettels als Konsumpfennig quittiert.« »Aber das ist ja der Konsumheller, den die österreichischen Kinderfreunde schon zu meinen Zeiten verlangt hatten!«

»Möglich, davon weiß die Geschichte jedenfalls nichts. Da hat wieder einmal der Prophet nichts im eigenen Lande gegolten«, lachte Ensler, »aber die Hamburger haben es durchgesetzt, um das sind sie euch weicheren Österreichern voraus und der Segen blieb nicht aus.«

»Das glaube ich! Bei uns wurde dem ersten Antragsteller zugerufen: 'Du bist ja ein Narr!' -- Das müssen ja Riesensummen gewesen sein?«

»Im Anfang nicht. Aber schon nach fünfjähriger Übung des Brauchs verlangte die ganze Mitgliedschaft stürmisch, daß der Kinderpfennig allgemein aufgeschlagen werde. Die freiwilligen Beiträge hatten die Kinderfreunde in die Lage versetzt, nicht nur tausend Kinder in die Ferien zu bringen und ihnen als beste Dividende für die Mütter zu schenken: Rote Wangen. Sie konnten auch in der Stadt selbst einige mustergültige Kulturheime einrichten, in denen sich die Mütter samt den Kindern und später mit ihnen auch die Väter ungemein wohl fühlten. Das weckte den Neid der 'besitzlosen Klassen'. Die Bezirke, in denen solche Heime noch nicht errichtet worden waren, verlangten sie auch, und so wurde der Konsumpfennig zur allgemeinen Steuer. Er hat nicht wenig dazu beigetragen, daß sich die schönen Ideen der 'Kinderfreunde' letzten Endes allen Widerständen zum Trotz doch durchgesetzt haben.«

»Und wo hat die spanische 'Produktion' ihren Sitz?«

»Ihren Hauptsitz in Madrid, natürlich mit großen Unterabteilungen in allen Distrikten zur Warenverteilung, Ernteverteilung und Ernteverschickung.«

»Und wie in Spanien gibt es...«

»Überall in Europa denselben Ernährungsdienst 'Produktion'. Der Hauptsitz für Europa ist in Wien. Die Wiener haben immer etwas auf guten Ernährungsdienst gehalten«, lachte Ensler, »schon Schiller hat es

ihnen nachgerühmt:

'Immer ist Sonntag

Immer dreht sich am Herde der Spieß.'

Aber nicht nur das war ausschlaggebend, sondern vielmehr der Umstand, -- und darauf sind wir Wiener stolz -- daß man diese große organisatorische Aufgabe nur in die Hände von Leuten geben konnte, die alte Übung in der Erfassung von Massen hatten. Die Organisation der Wiener Arbeiter galt damals in Europa als mustergültig. Die Wiener Arbeiter waren darin ein wenig Pioniere. Aber entscheidend für diesen Entschluß war die geographische Lage Wiens an der großen Verkehrsstraße Donau, auf der auf dem billigsten Wege alle Brotfrucht nach dem Westen gebracht werden konnte. Alles, was das serbische Banat und die wallachische Tiefebene in reicher Fülle hervorbrachten. Besonders Rumäniens Urboden, den noch der Urschlamm des Meeres gedüngt hatte, gab verschwenderisch Weizen, Mais und Korn, seit auch in Rumänien rationelle Methoden des Bodenbaues angewendet wurden, vor allem Werkzeuge und Ackergeräte, die nicht an die Zeiten des seeligen Noah erinnerten, seit auch in Rumänien mit tiefschürfenden Dampf- und Elektropflügen und mit Bodenfräsen die Scholle tief aufgeworfen, der Boden nicht mehr nur gekratzt wurde, wie noch um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Auch die serbische Schweinezucht hatte bei Beginn der Planwirtschaft Europas keine rechten Absatzgebiete. Die Abschnürung Serbiens von dem europäischen Markt war seinerzeit ja eine der wichtigsten ökonomischen Tatsachen, die zum Ausbruch des Weltkrieges geführt hatten. Jetzt war der Weg auch für das serbische Schwein frei und auch die 'türkischen Pflaumen' eroberten sich ihren Markt. Nirgends in der Welt gediehen die Pflaumen so köstlich süß wie auf dem Balkan, und die europäische Planwirtschaft nutzte nun auch die althergebrachte Pflege des Pflaumenbaums auf alt- und neutürkischem Gebiet. Sie mußte nicht mehr die Riesenpflaumen aus Kalifornien beziehen. Sie vergaß auch nicht des Reichtums der Adria. Die Edelfische der südlichen Gewässer deckten nun ebenso den Tisch aller Städte wie früher die Fische der Nord- und Ostsee. Die dalmatinische Riviera lieferte für die europäischen Blumenfreunde köstliche Gaben, so köstliche wie Italien, Südfrankreich und Spanien. Von dem Blumenzentrum Dubrovnik-Ragusa aus, das die alte Insel Lakroma in ein Blumenparadies gewandelt hatte, wurde der Osten Mitteleuropas versorgt, wie Livadia und Trapezunt am Schwarzen Meer die Mittelpunkte der osteuropäischen Blumenkulturen waren.

Wien lag auch, von der Donau abgesehen, so mittenwegs von ganz Europa, daß es nützlich war, einige der großen europäischen Volksdienste hierher zu verlegen.«

»Hat denn die europäische Zentralregierung nicht an einem Orte ihren Sitz?«

»Nein. Der Präsident Europas sitzt wohl im Haag, in der Stadt, die seinerzeit den Friedenspalast gebaut hat, und dort hat auch das Ministerium für Weltfreundschaft seinen Sitz.«

»Das Ministerium für Weltfreundschaft?«, unterbrach ihn Richard, »was ist das?«

»Das ist heute dasselbe, was sie einmal unter dem Titel 'Ministerium für auswärtige Angelegenheiten' zusammengefaßt haben. Da es heute nur eine auswärtige Angelegenheit gibt: Freundschaft mit allen Völkern der Erde zu halten, so haben wir das Kind auch gleich beim rechten Namen genannt. Und Sie verstehen, ein Minister für Weltfreundschaft hat so gebundene Marschrouten daß ihm gar nicht der Gedanke an Feindschaft kommen könnte. Jeder Akt seiner Amtstätigkeit erinnert ihn daran, daß er dazu bestellt ist 'Freundschaft' zu halten, genau so, wie einmal in der 'guten alten Zeit', die Kriegsminister schon durch den Titel, den sie führten, immer und immer wieder daran erinnert wurden, was ihres Amtes war.«

»Großartig! Großartig, wie alles Einfache!«, rief Richard begeistert, »Ihr seid ja die reinen Idealmenschen. Wie wird da der Bürger aus der Versenkung vor Euch bestehen!«

»Wie er sich bis jetzt anläßt, ganz gut. Ich glaube, daß er uns noch recht viel Freude machen wird.« Richard lächelte und wies dabei seine gesunden, nun schon wieder gefestigten Zähne.

»Und wo haben die andern Ministerien ihren Sitz?«

»Die andern europäischen Volksdienste? Je nachdem. In London sitzt der Seeverkehrsdienst, in Frankfurt am Main der Eisenbahndienst, in Paris der Flugdienst, in Moskau der Straßendienst.«

»Da haben sie auf den Verkehr aber viel Rücksicht genommen?«

»Ist auch das Wichtigste. Wie soll aus den hunderten Völkern Europasiens einmal ein Volk werden, eine Seele, ein Wille sie leiten, wenn sie nicht zueinander kommen können.«

»Europasiens haben Sie jetzt gesagt? Ist das ein politischer Begriff?«

»Nein, nur so ein Stückchen Zukunftsmusik. Wenn alle Grenzen gefallen sind, warum soll Asien ein eigener Kontinent sein? Es ist doch mit Europa untrennbar verbunden, und tausend Straßen laufen heute schon hinüber und herüber.«

»Da hat die Pionierarbeit Sven Hedins also genützt?«

»Und ob! Diesem friedensbereiten Manne dankt Europa viel. Aber kehren wir zu unserer europäischen Diensteinteilung zurück. Der Arbeitsdienst hat in Essen seinen Sitz, der Erziehungsdienst in Rom zu Ehren Montessoris, der Baudienst in Stockholm, die schönen Künste in Madrid, die Volksgesundheit in Berlin, das schon von altersher auf diesem Gebiete Vorbildliches geleistet hatte.«

»Und der Rechnungsdienst?«

»Den haben wir nach Prag verlegt. Diese schöne alte Stadt ist auch ziemlich zentral gelegen und von überallher leicht erreichbar, und sie hat den Vorzug, ganz in der Nähe Karlsbads zu liegen, neben Genf einer der besten Orte für die Ministerratssitzungen. Häufig halten die Dienste ihre Beratungen zwar im Haag ab, um den Präsidenten Europas nicht allzusehr zu bemühen, aber mehr oder weniger üben sie ihr Gewerbe doch im Umherziehen, was auch darum gut ist, weil der einzelne Minister dadurch auch manchmal persönliche Eindrücke und Einblicke gewinnen kann.«

»Gibt es sonst noch Dienste? Die Finanzen fallen ja weg, wenn Sie kein Geld haben.«

»Ganz richtig. Aber einen wichtigen Dienst haben wir noch, einen der wichtigsten, den Schuldienst. Den haben wir natürlich in das Land Pestalozzis, und zwar nach Zürich, verlegt. Er ist in engster Fühlung mit dem Erziehungsdienst.«

»Und der Justizdienst?«

»Ganz richtig, den hätten wir bald ganz vergessen, das kommt, weil er in der Zeit, in der es kein Privateigentum gibt, so wenig zu tun bekommt. Dem Justizdienst obliegt eigentlich nur die Herausgabe der Gesetzbücher. Er hat seinen Sitz im Zentrum des deutschen Buchhandels in Leipzig. Es waren rein praktische Erwägungen, die dazu geführt haben. Der technische Apparat zur Herstellung der Gesetzbücher ist nirgends in solcher Vollkommenheit vorhanden, wie in der alten Buchstadt.«

»Und sonst hat die Justiz nichts zu tun? Gibt es denn keine Gerichte?«

»Nein, Gerichte kennen wir nicht. Wir haben nur Fachkommissionen, ärztliche, pädagogische, Bürgerkommissionen, die in jedem einzelnen Fall einer Gesetzesübertretung untersuchen, wie denn der Bürger dazu kommen konnte, das Gesetz zu mißachten. Der Arzt und der Erzieher leisten in diesen Kommissionen die wichtigsten Dienste. Sie erforschen die Ursache der Erkrankung.«

»Erkrankung?«

»Ja, wir kennen nur Kranke.«

»Da haben Sie also auch keine Gefängnisse?«

»Sollen wir Kranke einsperren? Wieviel Tage Arrest hat zu Ihrer Zeit jemand bekommen, weil er eine Halsentzündung gehabt hat? Sollen wir vielleicht Seelenentzündungen anders behandeln? Wir suchen auch sie ohne Gewalt zu heilen.«

»Aber die Zivilstreitsachen?«

»Worüber sollen die Bürger streiten, wenn alles allen gehört. Wir brauchen keine Grundbücher und keine Justizpalāste.«

»Da möcht' ich bei Ihnen nicht Advokat sein! Das ist ja im neuen Europa der reine Hungerberuf.«

»Würde stimmen, wenn wir überhaupt Advokaten hätten.«

»Ja, was ist aber da aus den vielen Staatsanwälten, Richtern, Rechtsfreunden geworden?«

»Auch das sind nützliche Menschen geworden«, erklärte Ensler lachend. »Im römischen Kulturmuseum können Sie so eine Gerichtsverhandlung sehen, gestellt von Wachspuppen. Alle haben sie wichtige Mienen aufgesetzt. Jeder hat einen langen Talar an mit verschiedenen bunten Aufschlägen auf den Ärmeln und Achseln. Auf den Köpfen haben sie runde Kappen und eine Bibel und eine Thora liegen auf dem Tisch, und zwischen zwei Kerzen steht ein Kruzifix, der aus Gußeisen gegossene Leib Christi auf dem Kreuze, und dem Tisch der Richter gegenüber steht ein eiserner Gitterkäfig. In diesem sitzt der Angeklagte, wie ein wildes Tier gefangen. Zwei Soldaten in einer abenteuerlichen Operettenuniform bewachen ihn, jeder der beiden hat auf der Schulter ein Gewehr hängen und darauf ein Bajonett, aufgepflanzt. Sie sind stets schuß- und stichbereit gegen das arme Opfer der, Gerechtigkeit hinter dem Gitter. In dieser Abteilung des Kulturmuseums ist die Entwicklung des menschlichen Rechts gezeigt. In Bild und Plastik und durch tausend Zeugnisse und Urteile bestätigt ist der ganze Leidensweg gezeigt, den das natürliche Rechtsempfinden gehen mußte, von den Raubtierhatzen gegen Gefangene im alten Rom beginnend hinüber über die Zeiten der Hungertürme und Folterkammern, der geheimen Feme und Inquisition, des scheußlichen jus primae noctis, des Rechtes des Gutsherrn auf die erste Nacht einer eben einem hörigen Bauern angetrauten Frau, der Bastonaden und der anderen entsetzlichen Grausamkeiten des Orients, an die man lieber nicht denkt, bis zu dem letzten Aufflackern der Gewaltherrschaft einiger weniger über alle andern, bis zu den Polizeimethoden des absterbenden Kapitalismus, bis zu der Wiedereinführung der Prügelstrafe für Erwachsene durch den einstigen Admiral Horthy, der sich dann zum Gewaltherrn Ungarns aufwarf, und den täglichen Gewalttaten, die über höheren Auftrag von Polizisten an friedlichen Bürgern verübt wurden, bis zu den elektrischen Todesstühlen der amerikanischen Gewaltherren, bis zu den Galgen, Guillotinen und Richtpflöcken, auf die der Verurteilte noch sein Haupt legen mußte, das dann der Henker mit einem Beilstreich vom Rumpfe trennte, und bis zu den steifen Gerichtssitzungen, in denen aller dieser Gewalt die Mäntelchen von Rechtsparagraphen umgehängt wurden.«

»Wie richtig alles das, wie wahr!«

»Mit alledem hat unsere Zeit natürlich gründlich aufgeräumt. Das natürliche Rechtsempfinden des Volkes, seine angeborene Sittlichkeit und als Grundlage die Abschaffung des Privateigentums jeder hat für alles, was er scheinbar besitzt, nur ein Nutzungsrecht, das allerdings auch erblich gestaltet werden kann -- das alles hat es mit sich gebracht, daß wir heute nur einen Richter kennen: unser eigenes Gewissen.«

»Und der ist für ganze Menschen der strengste«, ergänzte Richard.

»Ausgezeichnet, Herr Zukunftsbürger! Das war ja wie ein Leitsatz einer Sittengemeinde.«

»Auch das hat es zu meiner Zeit gegeben. In Wien hat lange Jahre ein Verein sehr gut und aufklärend gewirkt, der sich 'Ethische Gesellschaft' genannt hat.«

»Ethische Gesellschaft?«, wiederholte Ensler, »wie komisch, im Grunde genommen...«

»Eigentlich nicht. Die Gesellschaft hatte eine ganz notwendige Funktion: die neuen Sittengesetze zu formulieren. Freilich baute sie nicht auf die Tatsachen auf, die die Gesetze bedingen, auf die ökonomischen Tatsachen, das war ihr Fehler, aber der Wille, der die Männer und Frauen beseelte, die da zusammenwirkten, war der beste. Heute freilich brauchen Sie keine ethische Gesellschaft, heute sind Sie...«

Ensler stand auf und neigte sich tief vor Richard: »Ich quittiere diese Verbeugung des zwanzigsten Jahrhunderts vor dem einundzwanzigsten in gebührender Ehrfurcht.«

Damit machten die beiden Freunde für heute wieder Schluß. Sie hatten den Tag wieder einmal sehr überschritten. Bald träumte Richard von dieser besten aller Welten, in die er hinübergeschlafen war, von dieser Welt ohne Richter und ohne Rechtsanwälte, ohne bewaffnete Knechte der Justiz, ohne Kerker und Galgen. Er sah im Traumbild, wie der letzte Richter mit seinem Freund, dem Scharfrichter, Arm in Arm aus der Stadt zog, Ketten und Galgen mitschleppend, um einen Platz für ihr gemeinsames Werk zu suchen.

WIE MAN MENSCHEN ZÜCHTET

Am nächsten Tag erreichte die beiden Freunde ein Radiogramm, das sie nach Wien zurückrief. Recht geheimnisvoll lautete es: »Die Anwesenheit Richard Fröhlichs ist am Tage der V. S. E.-Feier unbedingt nötig.« Das war der große europäische Tag, der in allen Ländern zugleich gefeiert wurde, der Mittsommertag, der als Festtag der Republik festgesetzt wurde. Eigentlich wäre der Tag auf den 15. Juli gefallen, an dem seinerzeit im Jahre 1950 von den Abgesandten aller Staaten im Haag die Erklärung unterzeichnet worden war, wonach sich die Staaten Europas verpflichteten, treu zu den V.S. E. stehen zu wollen. Der eigentliche Geburtstag Europas war also dieser 15. Juli, aber da man dem Mittsommertag besonderes Gepräge geben wollte, wurde der Tag der Republik auf den Tag zwischen dem letzten Juni und ersten Juli, den Mittsommertag, vorverlegt. Ensler hatte sich im Stillen das weitere Reiseprogramm so zurechtgelegt, daß er einige Tage an der englischen Küste einschieben wollte, um dann am Abend des 13. Juli in Paris einzutreffen, wo am 14. Juli immer noch mit großem Gepränge der französische Nationalfeiertag gefeiert wurde, der »Tag der Marseillaise« wie er nun hieß, wodurch er auch mehr einen internationalen Charakter bekommen hatte.

Der Wunsch Dr. Meisters, der das Radiogramm gesendet hatte, konnte natürlich nicht übersehen werden, und so rüsteten die beiden Freunde, daß sie schon am nächsten Morgen den Rückflug antreten konnten. Der Weg war weit, sie mußten mit der Sonne über die Berge, wenn sie mittags bei ihren Freunden sein wollten.

Am Frühabend saß Richard schon wieder erholt von dem langen Flug, in Gesellschaft seiner beiden Freun- dinnen im Rebenschlößchen. Er war ungemein aufgeräumt. Erst jetzt empfand er so recht das Glück des großen Erlebnisses dieser Reise, die ihm den ungeheuerlichen Schritt nach vorwärts, den die Menschheit gemacht hatte, erst so recht zum Bewußtsein kommen ließ.

»Ja, liebe Freundinnen, in so einigen kurzen Wochen wird man heute weiser, als früher ein Mensch in einem Lebensalter werden konnte. Was ist das doch für eine Welt! Als mir Ensler sagte, daß wir heute in einer Welt leben, in der es keinen Richter und keinen Galgen gibt, in der in Fällen abweichender Gesittung nur Ärzte, Erzieher und Bürger über das Schicksal von Kranken entscheiden, daß unserer Zeit der Begriff Verbrecher fremd ist, da glaubte ich, daß ich nicht nur hundert, daß ich wenigstens fünfhundert Jahre geschlafen hätte. Wie konnte nur die Menschheit so rasch zu so hoher Gesittung kommen?«

»Das können wir Ihnen schon erklären«, ergriff Marianne das Wort.

»Wie war es nur möglich, daß sich in dem kurzen Zeitraum von drei Generationen der Charakter der Menschheit so wandeln konnte?«

»Nicht zuviel auf einmal fragen, lieber Richard! Sie meinen, daß der Egoismus, die Ichsucht, so rasch überwunden werden konnte, das sei so seltsam?«

»Ja, in drei Generationen!«

»Eigentlich in zweien, denn erst von Europas Geburtstag an war eine Gesetzgebung möglich, die das Übel mit der Wurzel ausrottete. Solange es Privateigentum an Produktionsmitteln und an Grund und Boden gab, solange mußte die Menschen auch der Eigentumswahn, die Ichsucht beherrschen. Erst als der alte Satz des sozialdemokratischen Programmes erfüllt war, daß alles Privateigentum an Grund und Boden aufgehoben wird, und daß die Produktionsmittel allen gehören, erst von diesem Tag an war der Antrieb beseitigt, nur an sich zu denken, war der Kampf gegen die Ichsuchtzüchtung möglich. Aber das Gesetz begnügte sich nicht mit der Abwehr der alten Entartung allein, es griff auch positiv ein. Hatte man früher Ichsüchtler gezüchtet, so züchtete man jetzt Altruisten, Menschen, die an die andern dachten, und man erzog sie dazu.«

»Wie das?«

»Durch die Fortpflanzungsgesetze.«

»Wie meinen Sie, Schwester Marianne, 'Fortpflanzungsgesetze'? Sie meinen durch die Ehegesetze?«

»Nein, das wäre ein einschränkender Begriff. Das Gesetz spricht bewußt von der Fortpflanzung. Sie ist der Zweck der Verbindung zwischen Mann und Weib. Die Ehe oder eine andere Art von Versprechen sind nur die äußeren Formen, die jeder wählen kann, wie er will. Auch hier ist uns unser Gewissen der beste Führer. So weit sind wir schon mit der Höherzüchtung der Menschen gekommen.«

Einen Augenblick lang war Richard seelisch in das zwanzigste Jahrhundert zurückgerutscht, und er war peinlich berührt, mit einer Frau über diese Dinge sprechen zu sollen und noch dazu in Gegenwart einer Frau, der gegenüber er seine Gefühle stark beherrschen mußte, aber gleich fand er sich wieder in die neue Welt und ließ sich von Marianne weiter in die Gesetze der Höherzüchtung der Menschen einführen.

»Es ist eigentlich die einfachste Geschichte der Welt«, fuhr Marianne fort, »zuerst haben die Menschen begonnen, die biologische Wissenschaft an den Tieren zu erproben. Sie verhinderten, daß sich kranke Tiere fortpflanzen konnten, dann gingen sie dazu über, die Lehre vom Leben so zu verwerten, daß sie überhaupt nur die besten Tiere als Zuchttiere verwendeten. Sie züchteten Pferde- und Rinderrassen höher und höher, sie züchteten die guten Eigenschaften der Tiere höher, den Milchreichtum der Kühe, die Legefreudigkeit der Hühner, die Schnelligkeit der Pferde, den Glanz der Schaffelle. Zuerst haben sie das allerdings mit allerlei Sport verbunden. Mit der Pferdezucht kamen die Pferderennen. Diese waren nichts, als Feste der Züchter, bei denen sie zeigen konnten, was sie durch die Züchtung erzielt haben. Als aber das Eigentum aufgehoben war, und bei den sogenannten ehelichen oder freien Bindungen der Menschen nicht mehr auf Vermögen, auf Geld und Gut gesehen werden mußte, wie in der kapitalistischen Zeit, da ergab sich zunächst eine natürliche Auslese echter Liebeswahl. Vor allem warfen sich die Mädchen nicht mehr jedem Mann an den Hals. Die Ehe war für sie nicht mehr das Versorgungshaus wie ehedem. Sie werteten die Männer besser nach ihren körperlichen und auch geistigen Eigenschaften. Der Schönheitskult setzte ein, und unmerklich wurde der Boden reif für das Fortpflanzungsgesetz. Das, was es wollte, war eigentlich schon längst dadurch vorbereitet, daß sich einzelne Menschen bereit erklärt hatten, gewisse Bedingungen zu erfüllen, ehe sie eine Ehe eingehen wollten, zum Beispiel, sie ließen sich von einer dafür eingesetzten amtlichen Stelle untersuchen, ob sie geschlechtlich gesund seien, ob für sie und ihre Nachkommenschaft nicht Gefahren zu gewärtigen seien. Diese Eheberatungstelle...«

»Gab es schon zu meiner Zeit«, fiel Richard lebhaft ein, glücklich, ein Beispiel des Neuen noch in der Zeit, die er denkend erlebt hatte, zu entdecken. »Das war zu meiner Zeit ein Akt der Notwehr für viele junge Leute. Die Geschlechtskrankheiten richteten in manchen Familien wahre Verheerungen an. Davor konnte man sich nur schützen, wenn man rein in die Ehe trat. So holten sich denn beide Teile bei der Eheberatungsstelle ein Gesundheitszeugnis, das langsam zum Ehefähigkeitszeugnis ausgeweitet wurde. Schon zu meiner Zeit berieten die Ärzte auch tuberkulös befundene Personen dahin, daß sie nicht heiraten mögen, oder wenn das nicht zu verhindern war, unterrichteten sie sie darüber, wie sie wenigstens Nachwuchs sicher vermeiden könnten.«

»Schon zu Ihrer Zeit«, warf Alexandra ein, »so weit gehen diese Bestrebungen zurück?«

»Freilich«, ergänzte Marianne, »1960 war es ja schon Gesetz, daß tuberkulös befundene Menschen nur dann die Eheerlaubnis erhielten, wenn sie vorher ihre Fruchtbarkeit abtöten ließen.«

»Wenn sie sich aber über die Eheerlaubnis hinwegsetzten und einen freien Bund eingingen?«

»So blieb doch die Schwangerschaft in den ersten Stadien nicht unentdeckt, und es wurde dann der Frau die Frucht genommen, oder sie mußte sich sofort nach der Geburt von ihrem Kinde auf Nimmerwiedersehen trennen.«

»Die Arme!«

»Ja, es war für die einzelnen nicht leicht, dieses Schicksal zu tragen, aber der Gedanke, daß sie damit den andern dienten, vor allem ihren eigenen Kindern, dann aber der ganzen Gesellschaft, daß diese Maßnahmen geeignet waren, die schlimmsten Feinde der Menschheit zu besiegen, die Syphilis, die Tuberkulose, die Trunksucht, dieser Gedanke hatte auch für solche Mütter viel Tröstliches, und manche Frau wurde dann zur überzeugten Anhängerin des Satzes, daß kein Bürger das Recht hat, ererbte oder erworbene Übel fortzuvererben.«

»Und das soziale Dienstjahr hat auch das seinige getan«, ergänzte Alexandra, »bei solcher Tätigkeit sah jede Frau, sah jeder Mann, welches Elend, welche Qual ihrer wartete, wenn sie aufkeimende Liebesleidenschaft nicht zügeln lernten.«

»Für Ehekandidaten wurden später auch ganze Kurse veranstaltet. Es wurde ihnen in den Trinkerheilasylen, in den Tuberkulosenheimen und in den Paralytikerabteilungen der Irrenanstalten, in den Idioten- und Blindenanstalten gezeigt, wie groß die Sünde am Gesamtwohl wäre, wenn sich Trinker, Geschlechtskranke oder Tuberkulöse fortpflanzen könnten. Aufklärung, Bildung war auch hier die beste Waffe zur Befreiung, nicht Zwang, und die Aufklärung setzte schon in der Schule und in der Familie ein. Wie ängstlich wachen die Mütter darüber, daß ihre Tochter, ihr Sohn vor solchem Schicksal bewahrt bleiben sollten. Und wie auf allen andern Gebieten, so waren auch hier alle öffentlichen Bildungsanstalten bemüht, Aufklärung zu geben. Von den Plakatwänden auf der Straße herab und in den ärztlichen Ordinationsräumen wurden die Mütter belehrt, die Kinoabende dienten nicht mehr ödem Kitsch, sie boten immer neben der notwendigen Unterhaltung und Erhöhung der Lebensfreude auch einige Minuten der Belehrung. In den Kulturheimen, bei den Mütterabenden, durch die ständige Aufklärungsarbeit der Ärzte der Wohnblocks und Siedlungen, in den Klubheimen, durch entsprechende Bücherzuweisung, in den Büchereien durch alle diese Mittel wurde die Aufklärung verbreitet. Aus hundert Quellen floß die Erkenntnis zu den Müttern und fließt sie auch heute noch, und ihr allein ist der Wille zur Höherzüchtung zu danken.«

»Wie arm war an diesen Dingen meine Zeit!«

»Ihre Zeit, das war der Anfang, lieber Richard, das mußte sich naturgemäß steigern, sollte hinter dem Willen zur Höherzüchtung einmal ein allgemein anerkanntes Gesetz stehen. Die Zahl der Freiwilligen wuchs so, daß immer neue Volksaufklärungsstellen eingerichtet werden mußten. Es wurde Mode, wenn Sie wollen, es wurde zur neuen Sittlichkeit, daß kein Mädchen einem Mann seine Gunst gewähren wollte, wenn es nicht sicher war, daß er aus einer gesunden Familie stammte. Die Sünden der Väter, die sich vererben bis ins dritte und vierte Glied, auch sie spielten da schon eine Rolle. Und ebenso hielten es die Männer. Die jungen Frauen wurden durch Gesundheitskonkurrenzen für ihre Kinder angespornt.«

»Zu meiner Zeit gab es Schönheitskonkurrenzen, den Eitelkeitsmarkt der Mütter.«

»Unsere Gesundheitskonkurrenzen sind die höchsten Schönheitskonkurrenzen, die Sie sich denken können. Schön kann nur sein, was gesund ist. Da sollten Sie unsere Mütter sehen, mit welchem Stolz sie ihre Kinder zu solchen Konkurrenzen bringen. Sie erhalten darüber Atteste, die schon mit zu den Lebensdaten der Kinder und späteren Heiratskandidaten gehören. Sie allein geben heute dem jungen Mann, der jungen Frau schon Einblick in die Ehetauglichkeit des andern Teils.«

»Nun begreife ich. So hat sich also auch diese Revolution eigentlich nicht mit Zwang, sondern nur mit Aufklärung durchgesetzt.«

»Nur mit Aufklärung! Die Aufklärung ist die größte Revolutionärin!«

»Haben Sie auch solche Gesundheitsatteste aus Ihrer Kindheit, Alexandra?«

Die Russin errötete bis an die Haarwurzeln über diese persönliche Frage, die Richard so plötzlich gestellt hatte, dann aber sprang sie lebhaft, wie ihr ganzes Wesen war, auf: »Wollen Sie sie sehen? Ich bringe sie, Richard!«

»In der Tat, ich möchte gerne sehen, wie so ein Zeugnis ausschaut, aber wenn ich Sie damit behellige, dann bitte ...«

Schon war Alexandra fort.

»Behelligen! Das ist der größte Stolz jedes Mädchens, daß es diese Zeugnisse zeigen darf«, antwortete Marianne an Stelle Alexandras, aber schon war auch diese wieder auf dem Plan. In der Hand hielt sie eine Mappe.

»Hier, mein Herr!«, sagte sie mit gespielter Überheblichkeit und reichte ihm die Mappe hin. Er löste die Bänder und fand nun auf dem ersten Blatte in schöner künstlerischer Umrahmung irgend etwas in einer slawischen Sprache geschrieben. In der Mitte sah er nur in einer Zierschrift den Namen Alexandra prangen.

»Was soll ich damit«, sagte er hilflos, »da muß das liebe Kind Alexandra schon auch zum Übersetzer werden. Das ist wohl russisch?«

»Erraten! Bitte, was wünschen Sie übersetzt?«

Alexandra war fast übermütig lustig geworden.

»Alles, liebe Alexandra, vom ersten bis zum letzten Blatt!«

Das hatte er so stürmisch gesagt, als wäre er mit Alexandra allein gewesen. Es klang fast wie eine Liebeserklärung im Unterbewußtsein. Jedenfalls hatte er sich damit mehr als verraten, und es konnte zu peinlicher Verlegenheit für alle kommen. Marianne, die schon längst bemerkt hatte, daß sich zwischen den beiden zarte Fäden spannen, pries sich glücklich, daß in diesem Augenblick Dr. Corbett-Fisher im Türrahmen erschien.

»Nun, Ruben?«, empfing sie ihn.

»Ich komme nachschauen, wie unserem Patienten der lange Flug bekommen ist?«

»Ausgezeichnet, lieber Doktor, wie Sie sehen, ausgezeichnet! Ich möchte nur um eine Gunst bitten.«

»Welch hohes Wort«, sagte der blonde Hüne verbindlich, »und die wäre?«

»Daß Sie mich nicht mehr als Patienten ansehen, daß ich endlich auch beginnen kann, mir eine Gesundheitsmappe anzulegen.«

»Sollen Sie haben«, sagte Dr. Corbett-Fisher, »sollen Sie haben, heute noch. Nicht wahr, Marianne? Wir wollen heute noch dafür sorgen, daß unser Patient sein Gesundheitszeugnis bekommt?«

Das alles klang so beziehungsvoll, daß Richard bald auf Marianne, bald auf 'seine' Alexandra, bald auf den Doktor einen hilflos freudigen Blick richtete. Aber bei allen konnte er nur eines beobachten: Ein ge- heimnisvolles Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

»Wenn Sie gestatten, so werde ich jetzt noch zu Dr. Meister gehen und das Zeugnis besorgen... aber nicht ohne meine Assistentin.«

Damit machte er zu Marianne eine galante Verbeugung: »Komm, Marianne! Kommen Sie, Frau Assistentin!«

In edler Anmut erhob sich Marianne.

»Aber ehe wir gehen, Ruben, geziemt es sich, diesem guten Freunde von unserem Glück zu sagen.«

Ruben umschlang Marianne: »Wir haben uns versprochen, lieber Herr Richard.«

»Welche Freude! Meinen herzlichsten Glückwunsch!«

Und bei sich dachte er, als er die beiden hochgewachsenen Menschen eng aneinandergeschmiegt vor sich stehen sah: »Was wird das für ein prächtiges Geschlecht werden!« Er war lebhaft aufgestanden und schüttelte nun beiden warm die Hände, die diese ineinandergelegt hatten: »Meinen Glückwunsch! Meinen Glückwunsch! Das heiße ich eine richtige Zuchtwahl!«

Alle lachten, auch Ruben, dem Marianne nun erklärend sagte: »Wir haben gerade vom Fortpflanzungsgesetz gesprochen.«

»Schönen Dank! Vivant sequentes!«, sagte der Arzt beziehungsvoll lächelnd.

Nun war die Reihe an Richard, zu erröten. Er hatte, sehr wohl verstanden: »Ein Hoch denen, die uns nachfolgen, die es uns gleichmachen!« und schon sah er sich Alexandra allein gegenüber. Die beiden Glücklichen waren schon über die Schwelle. Fast verlegen griff Richard wieder nach der Mappe.

»Wollen Sie mir nun, liebe Alexandra, übersetzen, was auf diesen Blättern steht?«

»Mit Freuden.«

»Dann bitte!«

Sie setzte sich dicht neben Richard und griff nach der Mappe.

»Dieses erste Blatt ist mein Geburtsschein. Es wird bescheinigt«, übersetzte sie, »daß das Mädchen Alexandra am 1. Mai des Jahres 2002 in Leningrad als Tochter der Frau Pawlowna und des Herrn Maxim Söermus zur Welt gekommen ist, 4048 Gramm schwer war, und daß sich sowohl der Geburtsakt wie auch die Wochenzeit und der Stillbeginn für Mutter und Kind in bester Ordnung abgewickelt haben. Beide wurden võllig gesund aus der Behandlung entlassen. Leningrad, 17. Mai 2002, Dr. Ivan Gorski.«

»Mein Liebchen, was willst du noch mehr«, trällerte Richard vor sich hin, und die Russin, der das alte Volkslied unbekannt war, sah ihn mit ihren großen schönen Augen wie beseeligt an. Jetzt erst ertappte sich Richard dabei, daß sein Mund dessen übergegangen war, wessen sein Herz voll war. Er suchte einzulenken... »Ein altes Lied aus meinen Kindertagen.« Alexandra blätterte in der Mappe weiter. Das zweite Blatt zeigte schon ein Bild, das Urbild eines gesunden Säuglings. Er war bei der Gesundheitskonkurrenz preisgekrönt worden, und die Photographie, ärztlich beglaubigt, war auf das Attest aufgeklebt worden. Und so ging es nun Blatt für Blatt. Immer wieder reizende Kinderbilder und dazu die Legende: »Gesund, prächtig entwickelt, bei völliger Proportion,«, »Fünf Centimeter über das Maß, 850 Gramm über das Gewicht,« und so fort.

Da lag plötzlich vor Richard ein ganz allerliebstes Kinderbild, das Bild der fünfjährigen Alexandra. Ein schwarzer Lockenwald umrahmte ein rundes Antlitz, aus dem den Beschauer zwei große Augen schelmisch anguckten. Richard war es warm geworden. Das gemeinsame Betrachten der Blätter hatte es nötig gemacht, daß die beiden dicht beisammen saßen. Jetzt, da er den reizenden Kinderkopf vor sich sah, brach plötzlich der vor einem Jahrhundert erloschene Krater wieder aus.

»Welch ein süßes, welch ein liebes Kind!« und ohne daß er sich dessen recht bewußt wurde, ging sein Liebesverzücken von dem Bilde auf die Russin über, auf Alexandra, die sich solchen plötzlich ausbrechenden Gefühlssturms kaum erwehren konnte. Da erschrak Richard über sich selbst. Er ließ den schwarzen Lockenkopf los, den er mit beiden Händen umfaßt hatte und dessen samtene Wangen er mit glühenden Küssen bedeckt hatte, und beugte sich zurück, um der Angebeteten in die Augen sehen zu können.

»Alexandra!... darf ich hoffen?«

»Du darfst«, lächelte sie unter glücklichen Tränen, die ihr aus den schwarzen Augen gleich Perlen rannen, »Du darfst!« und schon hatte sie ihn umschlungen, »Richard, mein Richard!«

Da senkte sich ein Schleier höchster Seligkeit über den Raum. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Aber das Leben geht seinen Gang weiter. Noch hielt sich das junge Paar, der Hundertfünfunddreißigjährige und die Dreiundzwanzigjährige in seliger Liebe umfangen, als sie plötzlich aufschreckten. Dr. Corbett und Marianne waren wieder da und so rasch traten sie in den Raum, mit ihrem »Hurra! Da haben wir's«, daß die beiden jung Versprochenen noch in Verwirrung vor ihnen standen.

Marianne begriff sofort.

»Kann man gratulieren?«, sagte sie lustig.

»Ja, Marianne, du kannst«, und glückselig fiel ihr Alexandra um den Hals.

Nun wußte auch Dr. Corbett, woran er war. Er schritt auf Richard zu.

»So wollen Sie also ein Vollbürger der V. S. E. werden?«

»Ja, wenn mir das Glück wird, daß ich in den Kreis aufgenommen werde.«

»Sie sind es schon. Wenigstens im Geiste. Hier die erste Bescheinigung der V. S. E. über Sie.«

Damit gab Dr. Corbett-Fisher Richard einen Schein, auf dem Dr. Meister bestätigte, daß der am 12. August 2005 in das Gesundungsheim im Föhrenwald aufgenommene Kranke Richard Fröhlich mit dem heutigen Tage gesund und bei vollen geistigen und körperlichen Kräften aus der Behandlung des Gesundungsheimes entlassen wurde.

Fröhlich las das Dokument und richtete dann einen komisch verzweifelten Blick auf die Drei.

»Dann muß ich also heute noch ziehen?« ... und »Hilf, Alexandra, hilf«, das schwang in dem Blick mit.

»Nur keine Sorge, lieber Richard!«, sagte sie einfach. »Du bleibst natürlich im Rebenschlößchen, solange es dir beliebt und solange es dir deine Studien erlauben.«

Die andern beiden nickten zustimmend.

»Ihr Guten!«

»Nicht wir -- das ist so die Ordnung der Dinge«, wehrte Ruben ab, »sollten wir unsern neugewonnenen Freund und Mitbürger vielleicht in ein kaltes Gästehaus ziehen lassen?«

»Ja, es wird nichts anderes übrigbleibenx, mengte sich da Dr. Meister ins Gespräch, der Allgütige, der unversehens mit Ensler in Richards Arbeitsstube eingetreten war.

»Ihre Zeit, lieber Richard, ist abgelaufen. Sie haben so stürmisch verlangt, wieder gesund erklärt zu werden, daß wir es nicht wagten, Methusalem zu widersprechen. Und zudem, Sie sind so gesund, so kerngesund, daß es uns auch unsere ärztliche Pflicht nicht erlaubte, sie auch nur einen Tag länger in diesem Heim zu fesseln.«

Bei dieser Rede entfärbte sich Richard. Aber Dr. Meister fuhr unbeirrt fort: »Sie werden ein Gästehaus in Wien beziehen müssen, heute noch. Das Gästehaus Wien-Zentrum erwartet seinen Gast.«

Auch die andern machten erstaunte Gesichter, nur Ensler schmunzelte.

»Sie können gleich mit mir fliegen«, sagte er zu Richard, »mein Vogel steht bereit.«

»Aber eben hat mir doch Dr. Corbett gesagt, daß ich weiter Ihr Gast bleiben könnte im Rebenschlößchen.«

»Ausgeschlossen, mein Lieber«, rief Dr. Meister mit abwehrender Handbewegung.

Da packte Richards Seele Angst.

»Ausgeschlossen! Denn vernehmen Sie die Kunde«, sagte Dr. Meister mit absichtlich gewähltem Bühnenpathos: »Wir können Fremdlinge hier nicht beherbergen, nur Bürger der V. S. E. Ehe Sie nicht den Bürgereid geleistet haben, eher können Sie auch nicht hier im Föhrenwalde Bürgerrecht haben.«

An dem Theaterton erkannte Richard, daß Dr. Meister ihn scherzhaft auf irgendeine neue Sache vorbereiten wolle, und er ging auf den Ton ein.

»Wenn ich aber nicht weiche, verehrter Dr. Meister, wenn ich Sie bitte, daß Sie mich, den nun Gesundeten, gleich hier das Sozialdienstjahr leisten lassen...«

»So werde ich Sie doch in das Gästehaus Wien- Zentrum schicken, denn nicht eher werden Sie irgendein Recht der Bürger genießen können, ehe Sie nicht Bürger sind, zudem Sie«, und nun schlug bei Dr. Meister der Spaß in Ernst um, »morgen, vernehmen Sie nun allen Ernstes die Kunde, lieber junger Freund, zu dem Sie morgen noch der Präsident der V. S. E. in Wien machen will. Er bittet Sie heute noch um die Ehre ihres Besuches, lieber Richard, und auch Sie, meine verehrten Damen sind eingeladen, natürlich auch unser Dr. Ruben.«

BÜRGER RICHARD FRÖHLICH

Ehe sich noch die Schatten des Abends herabgesenkt hatten, war die ganze Gesellschaft in dem Gästehaus Wien-Zentrum glücklich gelandet und in ihren Zimmern untergebracht. Kaum waren sie wieder ein wenig erfrischt, als auch schon ein Gehilfe des Hauses erschien und Richard zum Präsidenten bat. Dieser war auf die Kunde von Richards Genesung aus dem Haag nach dessen Geburtsstadt geflogen, um ihn in der Stadt seiner Väter als Bürger der V. S. E. aufzunehmen. Bürgeraufnahmen waren keine seltene Sache. Es war zwischen allen großen Staatengebilden der Erde ein lebhafter Wechselverkehr, aber daß der Präsident der V. S. E. selbst einen Bürger aufgenommen hätte, das war in der Geschichte der V. S. E. neu. Der Präsident war von Beruf Arzt. Er war früher in zwei aufeinanderfolgenden Perioden Präsident Rußlands gewesen. Sein umfassendes Wissen, die Herzenswärme, die seinem Wesen entströmten, seine überragenden Sprachkenntnisse er beherrschte alle vier europäischen Wahlsprachen und das Malaiische und endlich der Umstand, daß er als junger Arzt und Krankheitsforscher fast die ganze Welt durchstreift hatte, ließen ihn für diesen Posten wie geschaffen erscheinen. Man hätte kaum eine günstigere Wahl treffen können. Dr. Turgeniew, übrigens ein Nachkomme des großen russischen Dichters, war ein Mann von etwa sechzig Jahren, eine stattliche aufrechte Erscheinung.

Richard verbeugte sich mit edlem Anstand vor Dr. Turgeniew. Dieser streckte ihm herzlich die Hand entgegen.

»Schön Willkommen, Herr Fröhlich! Es freut mich, Sie wiederzusehen.«

»Wiederzusehen?«

»Ja, das glaub' ich schon«, lachte der Präsident, »daß Sie sich nicht erinnern, aber wir waren ein Jahr lang gute Freunde, wenigstens ich der Ihre, damals als Sie als Skelett in dem Paradies von Rapallo lagen, behütet von der idealsten Krankenpflegerin, die sich denken ließ, von Ada Boschetti. Damals war ich ein Jahr lang darüber, das Geheimnis ihres Schlafes zu erkunden, Sie zu wecken und der Welt wiederzugeben, aber alle meine Kunst war vergeblich. Um so glücklicher bin ich jetzt, in der Mumie von damals einen lebenden Menschen vor mir zu sehen, und um so mehr, als ich von diesem Menschen allgemein höre, daß er berufen sein wird, eine Zierde der V. S. E. zu werden.«

»Sie, Herr Präsident, und alle die vielen Freunde, die ich schon in meinem neuen Leben gefunden habe, sind viel zu gütig und nachsichtig zu mir.«

Die beiden Männer hatten sich indes gesetzt, und es verrann eine gute Stunde, ehe Richard, der hochklopfenden Herzens über die Erfahrungen seiner letzten Reise berichtet hatte und von den Erinnerungen, die sich für ihn aus alter Zeit an die bereisten Gebiete knüpften, wieder sein Zimmer aufsuchen konnte.

Dr. Turgeniew hatte tiefen Eindruck auf ihn gemacht.

Der nächste Morgen brachte Richard einen reizenden Gruß. Alexandra hatte ihm durch einen Gehilfen des Gästehauses einen Strauß roter Rosen mit einem Widmungsbande zugesendet, darauf stand: »Dem Bürger zweier Welten am Morgen seiner feierlichen Einsetzung in treuer Liebe - Alexandra.«

Was war er doch für ein Mensch! Röte schoß ihm in die Wangen. Sie hatte seiner gedacht, und er hatte für sein süßes Bräutchen keinen Morgengruß.

Wo nehme ich nur rasch Blumen her? Er klingelte. Der Gehilfe kam.

»Bitte, kann ich nicht einen Strauß weißer Rosen für eine Frau haben?« »Ohne weiteres, bitte um den Scheck.«

Da hatte er's! Sie, die Bürgerin Alexandra, hatte Kredit beim Staat. Sie konnte auch Blumen schicken, er, der Fremdling, mußte warten, bis auch ihm das Bürgerrecht geworden war. Er eilte hinüber zu Alexandra, die ihn schon im schönsten Staat erwartete. Sie war ganz in Weiß. Die weißen Seidenstrümpfe, Seidenhosen und die kurze weiße Seiden joppe über dem Faltenhemd und ausgeschlagenem Kragen ließen ihre edlen Formen zu voller Geltung kommen. In diesem ganzen Wesen war alles Natur, nichts Gekünsteltes. Ungekünstelt war auch ihr Lachen, als sie nun von Richards Schmerz und Verlegenheit hörte, daß er erstens erdrückt von den Ereignissen des vorangegangenen Tages und Abends nicht daran gedacht hatte, sein Bräutchen mit Blumen zu begrüßen, und daß er zweitens, als er sich für die herrlichen Rosen wenigstens wieder mit Blumen bedanken wollte, erkennen mußte, daß er ein ohnmächtiger Fremdling sei.

»Eine Stunde noch, mein Lieber, dann bist du unser, ganz unser.«

»Unser? Laß mich, meine Liebe, noch einen Augenblick in der alten Gedankenwelt. Dein möchte ich sein, dein allein, du süße, du gute, du liebe, du holde, du angebetete, du einzige Alexandra, du mein alles! Dein nicht unser!«

Stürmisch hielt er sie umfangen und verschloß ihr den Mund mit seinen heißen Küssen.

Endlich machte sich Alexandra los.

»Man erwartet uns, das heißt mich. Du wirst erst später feierlich eingeholt. Du mußt auf deinem Zimmer warten.«

Richard geleitete Alexandra in die Halle des Gästehauses, in der schon fast alle seine Freunde unter Führung Enslers versammelt waren.

»Kommen Sie, wir wollen die paar Schritte zur Viktor-Adler-Halle zu Fuß zurücklegen.«

Richards Seele durchflog ein Wonneschauer. Dort also, in der Stephanskirche -- in der Viktor-Adler-Halle, verbesserte er sich selbst in Gedanken, dort sollte seine feierliche Einsetzung als Bürger erfolgen. Und es konnte kein Zweifel sein. Schon zitterten dumpf sonore Glockenklänge durch die Luft. So hat nur die alte 'Bummerin' geläutet, die größte Glocke Wiens, die von altersher nur bei ganz feierlichen Anlässen in Bewegung gesetzt wurde.

Er ging in sein Zimmer, schob das Fenster in die Höhe und die feierlichen Klänge erfüllten den Raum.

Da trat an der Seite Dr. Meisters ein fremder Mann in feierlicher Festtracht bei Richard ein.

»Roberto Matteotti«, stellte Dr. Meister vor, der Sekretär des Präsidenten. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.

»Darf ich Sie bitten, uns zu folgen? Der Präsident erwartet uns in der Viktor-Adler-Halle.«

In wenigen Minuten waren sie an dem hohen Tor der Halle. Ein heiliger Schauer lief Richard über den Rücken, als er seinen Schritt in den einstigen Dom setzte. Die Halle war von lauter festlich gekleideten Menschen dicht gefüllt. Der Mittelgang war frei. Durch ihn schritt er der am Ende des Mittelschiffs angebrachten Estrade zu. Sechs mit roten Teppichen belegte Stufen führten zu ihr hinauf. In bequemen Stühlen saßen auf ihr schon etwa fünfzig Herren und Frauen verschiedenen Alters, die Präsidentinnen und Präsidenten der verschiedenen Staaten Europas und die männlichen und weiblichen Minister der V. S. E., wie Deutschlands, in ihrer Mitte Dr. Turgeniew.

Feierlich durchbrausten die Klänge der altehrwürdigen Marseillaise die Halle. Ein Meister der Orgel sendete sie, die Seelen befeuernd, vom Chore herab. Seine beiden Begleiter führten ihn die Treppe hinauf. Da er seinen Fuß auf die Estrade setzte, verstummte das Spiel. Der Präsident erhob sich, reichte Richard die Hand und lud ihn mit einer Handbewegung ein, auf dem Stuhle rechts von ihm Platz zu nehmen. Dann grüßte Dr. Turgeniew den neuen Bürger in feierlicher Rede:

»Ein weihevoller Akt, ein bedeutsamer Akt vollzieht sich heute. Europa grüßt durch seinen Präsidenten einen neuen Bürger, der nicht aus fremdem Land kam und doch in dieser Welt ein völlig Fremder ist; Europa grüßt einen Bürger, der in strotzender Jugend zu uns kommt und doch an Jahren älter ist, als wir alle, einen Methusalem mit dem Schwung der Jugend und einen gelehrten Mann zugleich, der einst, ehe ihn der hundertjährige Schlaf ausschaltete, in finsterster Zeit als sozialer Mensch und Kämpfer gewirkt hat.

Wir grüßen in dem jüngsten Bürger der V. S. E., in Richard Fröhlich, den ich hiermit feierlich in unseren Kreis aufnehmen, einen tapferen Pionier unserer Zeit, einen Mann, der nie abseits gestanden war, der in düsterster Zeit mit voller Seele mitgeholfen hat, daß es Licht werde in den Gehirnen und Herzen.

Indem wir ihn grüßen, hoffen wir zuversichtlich, daß er das große Glück, das ihm widerfahren ist, zwei Welten zu schauen, die finstere Vergangenheit und unsere hellere Gegenwart, dadurch mit uns teilen wird, daß er sich als Lehrer der Weltkriegsgeschichte, als Lehrer dieser schlimmsten sittlichen Verfallsperiode der Menschheit, die er als denkender Mensch miterlebt hat, einordnen wird in unsere Gemeinschaft.

Richard Fröhlich, die V. S. E. grüßen Sie als neuen Bürger!«

Damit schritt er auf Richard zu, der sich in dem Augenblick, da der Präsident die Worte an ihn gerichtet hatte, von seinem Sitz erhoben hatte, und drückte ihm die Hand.

Sekretär Matteotti verlas nun die Gelöbnisformel: »Ich, Richard Fröhlich, gelobe, ein guter Bürger der V. S. E. sein zu wollen. Ich werde die Gesetze achten und mit allem meinem Wissen und Können meinen Mitmenschen zu dienen trachten.«

»Ich gelobe!«, rief Richard feierlich in die hohe Halle, und ein tausendstimmiger Chor antwortete ihm:

»Wir grüßen Dich! Wir grüßen Dich!«

Posaunentöne.

Bläser trugen die europäische Bundeshymne vor. Alle Anwesenden standen auf und sangen sie mit... in allen Sprachen Europas.

Damit schließt die Feier. Aber Richard muß noch eine Weile standhalten. Alle Präsidentinnen und Präsidenten wollen ihm auch persönlich die Hand drücken. Allen voran die beiden dicken Freunde auf Frankreichs und Deutschlands Präsidentenstuhl, denen der europäische Witz die Beinamen Orestes und Pylades gegeben hat, der einstige Klempner François Rousseau und der einstige Maschinenbauer Friedrich Bebel, ein Nachkomme des Erweckers des deutschen Proletariats, August Bebels, dann aber auch die finnländische Präsidentin, Marja Pärsinnen, eine Urenkelin der tapferen ersten Frauenabgeordneten Finnlands, die drei Jahre im Kerker zubringen mußte, weil sie den Mut zu offener Sprache gehabt hatte, und viele andere Frauen und Männer, die in dieser stattlichen Versammlung mit die Weisheit Europas verkörperten.

Und alle die andern Gäste, alle die vielen Bürger, die mit zu dieser einzigen Feier gebeten worden waren, alle die Distrikt- und Stadtpräsidenten, die Leiter der Meisterschulen, die Abordnungen der Gesundungsheime, in denen Richard während der hundert Jahre gelegen hatte. Es war ein Riesenkreis von Menschen, der Richard umdrängte.

Auf der Straße war es indes ruchbar geworden, daß Richard heute zum Bürger erklärt werden sollte. Auch dort stauten sich bald die Massen. Jeder wollte den hundertfünfunddreißigjährigen Jüngling sehen, und kaum konnte sich Richard der Ehrungen erwehren und der Glückwünsche, die ihm zuteil wurden, als er, wie er gekommen, an der Seite Dr. Meisters und Matteottis wieder in das Gästehaus zurückfuhr. Der Wagen konnte sich durch die Menge nur schieben. Immer und immer wieder riefen ihm die Wiener, seine Wiener, herzlichste Willkommgrüße zu.

»Freundschaft! Freundschaft!«

Dann gab es noch ein Mittagessen beim Präsidenten, und dann erst war er frei. Ehe er sich von ihm verabschiedet hatte, hatte der Sekretär des Präsidenten Richard noch ein Scheckheft eingehändigt, auf daß er gleich von allen Bürgerrechten Gebrauch machen könnte. Wiens Stadtpräsident hatte diese Aufmerksamkeit für den neuen Bürger verfügt.

Und Bürger Richard Fröhlich machte davon auch gleich Gebrauch. Der Mittsommertag, an dem Richard Bürger der V. S. E. geworden war, war der große Tag Europas, von den Festen wollte er etwas sehen, und das reizte ihn auch, er wollte den Zauber des Scheckheftes erproben, zum erstenmal erproben, der Bürger Richard Fröhlich. Das erste war, als er wieder allein war, daß er den Gehilfen des Gästehauses bat, er möge ihm weiße Rosen besorgen. »Hier das Scheckheft!« Lächelnd nahm es der junge Mann entgegen, und keine zehn Minuten später war er schon mit einem herrlichen Strauß vor

Richard.

»Bitte, können Sie mir ein Flugzeug mit zwei Plätzen besorgen?«

»Wohin?«

»Ein wenig in die Alpen, an einen See oder sonstwohin.«

»Bitte. Wird besorgt.«

Und Minuten später meldete der freundliche Helfer, daß das Flugzeug auf dem Dache bereitstehe. Und wieder Minuten später half Richard seiner angebeteten Alexandra in den Luftwagen.

»Wohin, Bürger Fröhlich?«, fragte die Pilotin.

»Irgendwohin in die Alpen, wo für glückliche Menschen Platz ist, die Einsamkeit brauchen.«

»Wollen Sie nichts von dem Feste sehen?«

»Lieber ein nächstes Jahr.«

Einige Flügelschläge und schon schoß der Luftvogel dahin über die Dächer der Stadt und dann dem Süden zu, irgendwohin, wo für einsame Menschen Platz war. Da sie im Kupee saßen und das Land zu ihren Füßen dahinflog, da lehnte sich der schwarze Lockenkopf Alexandras auf die Schultern ihres Richard, und mit schelmischem Aufblick fragte sie ihn: »Und Ihr Ehefähigkeitszeugnis, Herr Bürger?«

»Ruht in Dr. Meisters Händen, der mich heute eingeladen hat, mein soziales Jahr im Föhrenwald zu dienen«, antwortete Richard schlagfertig und schloß dem Schalk den Mund mit einem langen, langen Kuß.

ÜBER DEN AUTOR

Max Winter (*09.01.1870 - †11.07.1937) war ein österreichischer Journalist und zweiter Bürgermeister Wiens, der mit seinen Berichten zu den Begründern der Sozialreportage zählt. Seine Dokumentationen über den Wiener Untergrund und das Leben der sogenannten »Strotter«, wie man die Obdachlosen nannte, die in der Kanalisation Knochen und ähnliches sammelten, um diese zu verkaufen, waren auch Denkanstöße, die unter anderem ein neues Wiener Sozialsystem hervorbrachten. Auch die berühmte »Kanalbrigade« aus dem Film »Der dritte Mann« ist eine Folge aus den Berichten Winters.

Über 1.500 Reportagen verfasste Winter und zeigte damit Mißstände in der Gesellschaft auf, die oft die Verantwortlichen zum Handeln zwang. Winters soziales Engagement galt den Armen und vor allem den Kindern, denen er im Unterschied zur damaligen Gewohnheit, eine Zukunft ermöglichen wollte. Er gründete 1917 seine »Kinderfreunde«, deren Obmann er bis 1930 war. Durch Bewilligung des Gemeinderats bekam er Räumlichkeiten im Schloss Schönbrunn zugesprochen, wo sich dann die »Schönbrunner Erziehungsschule« etablierte, eine pädagogische Einrichtung, die eine dreijährige Ausbildung der Kinder, die zudem in einem angeschlossenen Heim untergebracht wurden, ermöglichte.

Aber auch die arbeitslose Bevölkerung hatte einen Platz im Herzen von Max Winter und auf seinen Ehrgeiz und durch seine Reportagen über das Leid der Menschen hin, änderten sich durchaus die Sichtweisen auf diese Personen. So berichtete Winter auch aus dem Männerwohnheim in Brigittenau, welches Adolf Hitler von 1910 bis 1913 Obdach gab.

1934 reiste Max Winter in die Vereinigten Staaten von Amerika und hielt in der New Yorker Carnegie Hall vor dreitausend Zuschauern eine flammende Rede, die ihm den Zorn der österreichischen Faschisten einbrachte und sogar im Entzug der österreichischen Staatsbürgerschaft wegen »österreichfeindlichen Verhaltens im Ausland« mündete.

Winter versuchte sich dann als Drehbuchautor in Hollywood, jedoch fanden seine Manuskripte, die er unter anderem an Charlie Chaplin schickte, kein Interesse.

Am 11. Juli 1937 starb Winter in einem Krankenhaus in Hollywood. Sein Begräbnis in seiner österreichischen Heimat sollte geheimgehalten werden und doch kamen tausende Besucher über die ein großes Polizeiaufgebot wachte.

 

Max Winter, verkleidet als »Strotter«

 

Impressum

Texte: Max Winter (heute gemeinfrei)
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2024

Alle Rechte vorbehalten

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