Diese Geschichte ist keineswegs ernst gemeint und die handelnden Personen, Orte und Ereignisse sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten zu lebenden, toten oder untoten Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Oman
Wir schreiben das Jahr 1860. Emsige Betriebsamkeit herrscht im Hafen von Sohar. Dem größten Hafen des Landes und Heimat des legendären Sindbad, des Seefahrers. Die vielen weißen Segel schillerten mit der Wasseroberfläche im Sonnenglanz um die Wette. Die Waren wurden aus den Bäuchen der zahlreichen Schiffe entladen, wieder andere wurde beladen und manch Karren flitzte vom Hafen aus in Richtung Markt, wo die Güter gleich feilgeboten wurden. Diesmal versprach man sich höhere Umsätze, denn der berühmte Kamel- und Sklavenmarkt lockte wieder Käufer aus anderen Regionen an. So reiste selbst Scheich al-Ralfi aus dem fernen Raffgieristan an um mit seinem Getreuen Mahmud ein gutes Geschäft zu machen. Den sportlichen Ehrgeiz beim Feilschen sollte man auch nicht außer Acht lassen. Der Scheich brachte einige Kamele mit, die er nur zu gerne gegen den einen oder anderen Sklaven eintauschen würde.
Mit bunten Tüchern waren die Gassen, die zum Marktplatz führten geschmückt und Mahmud hatte alle Hände voll zu tun, mit seiner kleinen Peitsche seinem Scheich genug Platz im Gedrängel zu verschaffen, so dass dieser unberührt von fremden Händen - oder gar Dieben - bis zu der hölzernen Loge am Markt gelangen konnte, die eigens für wichtige Besucher wie ihn errichtet wurde. Dort konnte er sich bequem im Schatten eines Baldachin niederlassen, Tee trinken und dem Schauspiel der Marktschreier und des Versteigerers beiwohnen. Seine Aufmerksamkeit wurde geweckt, als man die Sklaven auf das Podest führte, die es am heutigen Tage zu ersteigern gab. Unter den Unglückseligen erblickte er eine kleine Frau, die ihm recht exotisch wirkte. Keine Araberin, keine Afrikanerin oder was man sonst so anbot. Sie hatte etwas gänzlich anderes an sich, was er bis dato noch nicht kannte und ihn faszinierte. Scheich al-Ralfi schickte Mahmud los zu Farid, dem Auktionator, den er schon lange bestens kannte. Mahmud solle ihm sagen, dass er, der große al-Ralfi, an dieser Frau interessiert war und sie gerne genauer begutachten würde. Damit al-Ralfi diesen Vorzug auch bekam, durfte Mahmud Farid 3 Goldstücke in die Hand drücken.
Farid sagte sofort zu und winkte lächelnd in Richtung al-Ralfi, als Zeichen seines Einverständnisses. Dieser verstand, erhob sich und ging zu dem Platz hinter dem Podest, auf dem die anderen Sklaven bereits standen. Farid hielt die junge Frau am Arm fest und lüftete den Schleier just in dem Moment, als al-Ralfi und Mahmud vor ihr standen.
„Effendi, schauen Sie. Ganz neue Ware. Eine Blüte, so schön. Schauen Sie nur das Haar. So lang und so gepflegt.“, säuselte Farid und drehte die kleine Frau dabei im Kreise, dass der Kunde auch die langen brünetten Haare sehen konnte, die bis weit unter die Pobacken reichten.
„Nun ja, der erste Blick mag täuschen“, sagte al-Ralfi mit Kennermiene, „und deswegen erlaube mir sie näher zu betrachten.“
„Aber natürlich, Effendi, bittesehr. Ganz wie sie belieben.“, sagte Farid und machte einen sehr untertänigen Diener.
In den Augen der kleinen Frau sah man pure Angst, da sie mit dem Schlimmsten rechnete und diese Angst lähmte ihre Glieder. Wie in Trance ließ sie die Begutachtung durch al-Ralfi über sich ergehen. Ließ sich von ihm in den Hintern kneifen, den Bauch streicheln und sich sogar in den Mund schauen.
„Sieht doch ganz gut aus, oder?“, murmelte Mahmud.
„Etwas ganz besonders, Effendi. Frisch aus dem fernen Nimsã (arabisch für Deutschland). Fast ungebraucht. Ja, ja...“, flötete Farid weiter.
„Hmmm... also, etwas klein und dünn ist sie schon geraten. Einzig ihr Hinterteil ist reich an Speck.“, begann al-Ralfi seine Expertise, „Jedoch ist sie oben rum ein bisschen zu mager. Ich frage mich, ob da jemals Milch kommen soll. Also, ich weiß nicht, das ist doch eine 6 ... oder eine 5...“
„Effendi! Das ist eine ganz Besondere. Sowas bekommen sie nicht nochmal so schnell!“, wollte Farid einwenden, doch Mahmud schnitt ihm mit einer knappen Geste das Wort ab, nahm die Hand der Sklavin und hob sie al-Ralfi vor die Nase.
„Ja, was soll das Mahmud? Soll ich an ihr schnüffeln?!“, fuhr al-Ralfi gereizt auf.
„Nein, sieh ihre Finger!“, sagte Mahmud.
„Die sind steif? Gelähmt! Oh ... beim Barte des Propheten! Nein, dann isses doch nur eine 4!“, rief al-Ralfi aus und wollte sich zum Gehen wenden.
Da rief ihm Farid nach: „Effendi! Edler Scheich al-Ralfi! Diese Gelegenheit bietet sich Dir nie wieder. Kaufe jetzt oder nie, sonst wird sie ein Anderer nehmen.“
Farid wusste um den Stolz des Scheichs und in der Tat war die Eigenschaft eine deutsche Sklavin zu haben nicht ohne Reiz. Andere Scheichs konnten das nicht von sich behaupten und eventuell ließe sich daraus auch eine gute Partie machen, wenn man sie teuer weiterverkaufen könnte.
„Also gut, mein lieber Farid.“, sagte Scheich al-Ralfi jovial und drehte sich zu dem Sklavenhändler um, „Du hast mich überzeugt. Mahmud?! Schau mal bitte nach, was wir für eine 4 zu zahlen bereit sind?“
Mahmud blätterte in einem kleinen Heft, welches er aus seinem Kummerbund zog und sagte dann zögernd: „Ähm... ein halbes Kamel.“
„Ein halbes Kamel?“, fragte al-Ralfi verdutzt.
„Ein halbes Kamel.“, erwiderte Mahmud achselzuckend.
„Auha... das wird dem Kamel nicht gefallen.“, sagte al-Ralfi und prustete vor Lachen los. „Na, alter Farid. Hast Du geglaubt, wir zahlen Dir nur ein halbes Kamel? Haha, nein mein Freund. Du bekommst ein ganzes von mir. Dafür möchte ich aber, dass Du mir die Deutsche so schnell wie möglich auf mein Schiff lieferst. Ohne dass sie jemand zu Gesicht bekommt! Hörst Du?“
„Jawohl Effendi. Habt Dank, o gütiger Scheich.“, sagte Farid und verbeugte sich dabei so tief, dass seine Nasenspitze den Boden berührte.
„Sollen wir das kümmerliche Weibchen wirklich kaufen, Scheich? Eine Ungläubige?“, raunte Mahmud.
„Nun, gewiss... sie kann ja den Stall ausmisten oder sowas. Hoffe ich zumindest.“, sagte Scheich al-Ralfi und beendete damit jegliche weitere Diskussion diesbezüglich.
London
An die schwere Holztüre in der Baker Street klopfte ungehalten ein junger Mann. Sein vehementes Geklopfe ließ Jenny Holmes schon nichts Gutes ahnen und so öffnete sie die Tür und schaute einem aufgelösten Mann entgegen, der sie bittend aus verweinten Augen ansah.
„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte Jenny.
„Sind Sie die berühmte Detektivin Holmes? Ich brauche dringend Ihre Hilfe.“, sagte der Mann beinahe flehend und drehte dabei nervös seine Mütze in den Händen.
Jenny Holmes musterte ihn und erkannte seine Verzweiflung. Es konnte ja nichts schaden, sich einmal sein Anliegen anzuhören.
„Kommen Sie herein. Bei einer Tasse Tee lässt es sich besser reden als hier zwischen Tür und Angel.“, sagte sie, trat etwas zur Seite und gab mit einladender Geste dem jungen Mann die Richtung vor.
In Jennys Büro saß der junge Mann versunken in den Polstern eines schweren Ohrensessels aus braunem Leder. Die Meisterdetektivin kam mit einem silbernen Tablet in den Raum, auf dem sie eine Teekanne und zwei Tassen balancierte. Dieses dann auf den kleinen Tisch vor dem Sessel abstellte, die Kanne ergriff, mit dem Zeigefinger den Deckel festhielt und die dampfende orangerote Flüssigkeit in die Tassen goß. Der Duft des Tees erfüllte den Raum und ließ augenblicklich eine Behaglichkeit verströmen, die den jungen Mann sichtlich entspannter werden ließ. Jenny Holmes setzte sich ihm gegenüber in den zweiten Ohrensessel, nippte an ihrer Tasse, über deren Rand hinweg sie ihn mit ihren blauen Augen ansah und fragte dann: „Nun, warum haben Sie mich aufgesucht?“
„Oh entschuldigen Sie...“, begann der junge Mann stammelnd, „mein Name ist Julian Fuhseson. Und ich bin auf der Suche nach meiner Verlobten. Sie ist seit unserer Verlobungsreise nach Ägypten spurlos verschwunden... bitte Ms Holmes... helfen Sie mir!“
Jenny dachte einen kurzen Augenblick darüber nach, ob sie dem jungen Mann überhaupt helfen konnte, denn Ägypten ist nun einmal nicht London. Eine Dienstreise ins Land der Pharaonen könnte sich Julian Fuhseson bestimmt nicht leisten. Darüber hinaus würde Jenny niemanden in Ägypten kennen, der ihr bei der Suche behilflich sein könnte und ohne Dolmetscher und gewisse Beziehungen war in dem Land auch kaum was auszurichten. Als Frau schon gar nicht.
„Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen behilflich sein kann, Mr Fuhseson. Wäre Ihre Verlobte hier in London verschwunden könnte ich gewiss etwas tun, aber nicht in Ägypten.“, sagte sie dann zu Julian Fuhseson.
„Aber...“, stammelte dieser, während sich in seinen Augen Tränen der Verzweiflung sammelten, „....vielleicht kennen Sie jemanden, der mir helfen kann oder ...“
Jenny grübelte weiter. Bei Scotland Yard könnte er sich zwar melden, aber die könnten auch nicht viel ausrichten, außer in Ägypten um Hilfe zu bitten. Bis diese gewährt wurde, konnten Monate vergehen und in der Zwischenzeit wäre mit der Entführten alles Mögliche geschehen.
„Ich verstehe die Dringlichkeit und würde Ihnen gerne helfen, nur fällt mir beim besten Willen nicht ein, wie!“, sagte Jenny und zuckte mit den Schultern. „Erzählen Sie mir erst einmal in Ruhe, was denn auf Ihrer Verlobungsreise geschah. Vielleicht ergibt sich alleine daraus ein Hinweis?“
Die mütterliche Art der Detektivin ließ Julian Vertrauen fassen und er atmete erst einmal tief durch, bevor er mit seiner Erzählung begann.
„Also, wir kamen in Alexandria vom Schiff. Die Fahrt durch die Tore des Herkules und das Mittelmeer verlief ruhig. Wir hatten durchaus unser Vergnügen. In Alexandria verbrachten wir ganze zwei Tage bevor wir dann auf einen kleinen Dampfer, der den Nil befuhr, umstiegen.“ Die Worte sprudelten plötzlich nur so aus dem jungen Mann heraus. „Die Passagiere waren allesamt unbescholtene Bürger. Meist solvente Briten oder gar Adlige. Übrigens auch ein hervorragendes Essen. Sollte man auf so einem Schiff nicht für möglich halten. Unbeschwerte Tage verbrachten wir auf dem Fluß, hielten hier und da und bestaunten alte Tempel und vieles mehr. Ja, sogar auf Kamelen ritten wir bis zu den Pyramiden. Miss Holmes, sie sollten diese Bauwerke einmal mit eigenen Augen sehen! Kolossal!“
„Das glaube ich Ihnen gerne, Mr Fuhseson. Aber bitte, erzählen Sie weiter.“, forderte Jenny ihn auf.
„Nun, als wir schlußendlich in Kairo das Ägyptische Museum besichtigt hatten, wollten wir nicht mehr weiter Mumien und dergleichen sehen. Vielmehr stand mir - und natürlich auch meiner Verlobten - der Sinn nach dem fabelhaften Roten Meer. Wir hörten so viel darüber und erkundigten uns, ob man sich gefahrlos dort aufhalten könne. Man versicherte uns, dass wir am nördlichen Meereszipfel, dort wo der Sinai beginnt, sicher nächtigen könnten. Wir sagten zu und organisierten eine Reise dorthin. In der Tat erlebten wir ein paar wunderbare Tage dort in einem kleinen Dorf, das uns prächtig beherbergte. Wir fühlten uns sicher und schlugen die Bedenken der Beduinen wegen meiner Verlobten, die sich weigerte einen Schleier zu tragen, aus. Als uns der große Basar in Sharm-el-Sheik als sehenswert empfohlen wurde, wollten wir diesen unbedingt besuchen.“
Julian Fuhseson nahm einen Schluck Tee, ließ sich danach seufzend in den Sessel fallen und fuhr mit verminderter Lautstärke fort: „Doch dann passierte es! In dem dichten Gedränge der Menschen, die diesen Basar wie einen Ameisenhaufen wirken ließen, verlor ich die Hand meiner Maja. Ich versuchte sie zu erkennen, doch man schob und drängte mich. Ich fühlte mich wie ein Stück Treibholz in tosender See. Meine Rufe nach ihr gingen im Stimmengewirr des Marktes unter und in mir breitete sich panische Angst aus. Mein Herz schlug wie wild. Ich schwitzte, nicht der Hitze wegen. Angestrengt suchten meine Augen die Masse an Leibern ab, doch von meiner Maja war keine Spur zu sehen. Völlig außer mir vor Angst begab ich mich zurück ins unser Quartier, sprach mit unserem Führer, der für mich bei den Beduinen übersetzte. Aber alle zuckten nur hilflos mit den Schultern und verwiesen uns an Behören in Kairo.“
Die letzten Worte flüsterte der junge Fuhseson nur noch. Jenny Holmes standen beinahe Tränen in den Augen. Die gefühlvolle Schilderung rührte sie tief im Herzen und am gernsten wäre sie sofort nach Ägypten gereist, doch wusste sie, dass das nicht möglich sein würde. Plötzlich kam ihr ein Gedanke.
„Mr Fuhseson, haben Sie eine Unterkunft für ein paar Tage, wo man sich um sie kümmert? Eltern? Geschwister?“, fragte Jenny.
„Mamsi... äh... meine Frau Mutter weilt derzeit bei ihrer Freundin Adriana von Romanescu auf deren Landsitz in Devonshire. Da könnte ich kurzzeitig Quartier beziehen.“, meinte Julian.
„Oh, Devonshire. Sehr schön, vor allem die Küste.“, sagte Jenny Holmes.
„Ja, der Landsitz ist mit Meerblick. Sehr idyllisch.“, sagte Julian.
„Fahren Sie dorthin, entspannen Sie ein paar Tage und lassen Sie mich mal meine Fühler ausfahren. Vielleicht kann ich Ihnen doch in der einen oder anderen Weise helfen. Wenn Sie mir bitte hier“, Jenny reichte Julian einen Notizblock mit einem Bleistift, „notieren könnten, wo der Landsitz sich befindet, werde ich mich bei Ihnen melden, sobald ich was weiß.“
Julian schrieb die Adresse auf, erhob sich aus dem Sessel, nahm Jennys Hand und hauchte einen galanten Handkuss darauf.
„Haben Sie vielen Dank, Ms Holmes. Ich weiß das zu schätzen und wenn Ihnen Unkosten entstehen, werde ich dafür aufkommen. Ich erwarte Sie dann in Devonshire. Wünsche einen schönen Tag, Ms Holmes.“
„Den wünsche ich Ihnen auch, Mr Fuhseson.“
Jenny Holmes begleitete den jungen Mann hinaus und sah der Kutsche, mit der er davon fuhr, nach.
Oman
Zwei kräftige dunkelhäutige Burschen, vermutlich afrikanische Sklaven, brachten auf das Schiff von al-Ralfi ein gut verschnürtes Paket, das nicht von ungefähr die Form eines weiblichen Körpers hatte. Das Gemurmel daraus ließ auch keinen Zweifel daran, dass hier eine Frau vom Sklavenmarkt fachmännisch und blicksicher verpackt geliefert wurde. Alleine deshalb nahm niemand Anstoss an diesem Schauspiel. Der Kapitän des Schiffes winkte den beiden zu, dass sie an Bord kommen sollten. Sobald sie die Planke emporgestiegen waren, wies der Kapitän sie zu einer Tür, die in den dunklen Bauch des Schiffes führte, wo normalerweise der Stauraum war. Dort befand sich eine kleine fensterlose Kammer, die man abschließen konnte und eben dort sollten die Lieferanten ihr Paket abladen. Nach getaner Arbeit erhielten sie ein kleines Handgeld aus ein paar Rial und zogen davon. Der Kapitän öffnete den Stoff, in den die Unfreiwillige verpackt war, damit ihr Kopf frei war und sie ungehindert atmen konnte. Die Augenbinde ließ man ihr aber, auch wenn das nun wirklich überflüssig war, denn bei geschlossener Tür war es in der Kammer dunkler als in einem Bärenarsch. Immer noch am Leib gefesselt saß Maja da wie eine Made und schnaufte angsterfüllt vor sich hin. Da fiel die Tür der Kammer ins Schloss, der Schlüssel drehte sich und jedes Klacken des Riegels hämmerte in Majas Ohren wie Donnerschläge. Absolute Finsternis umhüllte Maja. Die leiser werdenden Schritte gaben ihr Gewissheit nun alleine zu sein. Was sollte sie tun? Um Hilfe schreien würde ihr nichts nützen und die Sprache konnte sie nicht. Ihr blieb vorerst nichts weiter übrig als sich in ihr Schicksal zu fügen.
London
Jenny Holmes sputete sich, nachdem sie mit einer eiligen Depesche Lord Lemon ihren Besuch ankündigte, hinaus zu Lemonshire zu fahren. Seit einer ihrer Ermittlungen hatte sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden entwickelt und auch Lord Lemons zweite Frau Lady Biberly war Jenny wie eine Schwester. Schon deswegen war sie gerne und oft bei den beiden, doch seit Lord Lemon ein altes verwahrlostes Anwesen außerhalb Londons kaufte, wurden Besuche eher selten. Wann immer es die Zeit zuließ, machte sich Jenny aber auf den Weg und er lohnte sich immer, denn egal, was Jenny für Sorgen hatte, sie konnte sich auf die Hilfe der beiden immer verlassen.
Freudig wurde sie vom Personal, die Jenny natürlich auch lange kannten, begrüßt und ohne lange warten zu müssen, kamen Lord Lemon und Lady Biberly in den Salon. Überschwänglich begrüßte man sich, gab sich Küsschen und strahlte vor Freude. Selbstverständlich tauschte man zunächst die üblichen Floskeln über das Wohlergehen aus, bevor man sich mit einem Getränk hinsetzte und auf den eigentlichen Grund des Besuchs zu sprechen kam.
„Warum ich heute hier bin“, fing Jenny an, „ist der Besuch eines jungen Mannes, der mich heute vormittag aufsuchte.“
Jenny erzählte von dieser Begegnung und gab alle Einzelheiten an. Lord Lemon und Lady Biberly hörten aufmerksam zu, nickten mit den Köpfen und ließen die Detektivin zu Ende erzählen.
„Ja, sehr interessant, meine Liebe“, sagte dann Lord Lemon, „Aber wie sollen wir denn nun helfen?“
„Das frage ich mich eben auch.“, warf Lady Biberly ein.
„Hmm.... ich denke, ich ....“, grübelte Lemon laut, „... mir fällt ein, dass ich einen entfernten Verwandten habe, der in Ägypten sein Glück sucht. Ein etwas seltsamer Kauz, der zwar hochintelligent und nicht minder gebildet ist, aber diese Fähigkeiten lieber für kindische Abenteuer und angebliche Schatzsuchen vertut. Dennoch ist er in gewissen Kreisen von Kairo zugange und damit meine ich nicht nur die bekannten Kreise an der Oberfläche der Gesellschaft. Wir pflegen sporadischen Kontakt. Nun ja, so einmal im Jahr. Höchstens.“
„Ach, den willst Du wirklich...? Also ich weiß ja nicht.“, sagte Lady Biberly augenverdrehend.
„Es wäre doch immerhin einen Versuch wert, oder?“, meinte Jenny.
Lord Lemon stellte sein Glas ab, nahm Lady Biberly an der Hand und stand von der Chaiselongue, auf der sie saßen, auf. Jenny erhob sich ebenso aus ihrem Sessel und wusste, dass Lord Lemon es nun eilig hatte, seinen Beitrag zur Hilfe leisten zu können.
„Meine liebe Jenny“, begann der Lord, während er Lady Biberly liebevoll um die Hüfte fasste, „ich werde ihm gleich drahten. Sobald ich eine Antwort erhalten habe, werde ich es Dich wissen lassen und dann sehen wir weiter, wie wir diesem jungen Mann und seiner Verlobten helfen können.“
„Autsch!“, gab Lady Biberly plötzlich mit zusammengezogenen Augenbrauen von sich, „Seit wann drahtest Du mit meinem Hintern?!“
„Immer, meine Teuerste, immer!“, sagte Lord Lemon dann schelmisch lächelnd und zwickte seine geliebte Frau erneut in den Po.
Jenny lachte, als sie die beiden so sah. Der frivole Witz, der auch Kleister ihrer Beziehung war, hatte ihr schon immer gefallen und insgeheim wünschte sie sich, auch einmal das Detektivspiel sein zu lassen und sich irgendwohin mit einem netten Mann zurückzuziehen. Doch bis es soweit war, sollten noch Jahre voller Abenteuer vergehen.
„Danke ihr Zwei. Ich weiß eure Hilfe zu schätzen. Dann werde ich mal abwarten, welch Wunder ihr vollbringen mögt. Bis dahin...“, sagte Jenny lächelnd und gab Lady Biberly zum Abschied Küsschen auf die Wange und Lord Lemon die Hand.
Oman
Plötzlich ruckte das Schiff und Maja verstand, dass das das Werk der Hafenarbeiter war, die den Rumpf vom Anleger weg drückten, damit man Segel hissen und aus dem Hafen hinaus manövrieren konnte. Das Ziel ihrer Reise ist unbekannt, was Majas Ängste nicht weniger werden ließen. Polternde Schritte kamen die Treppe herunter, über die sie vor kurzem erst transportiert wurde und sie hörte die Stimmen von drei Männern. Jedoch in einer Sprache, die ihr gänzlich unbekannt war. So war es ihr unmöglich, sich auch aus Fragmenten der Sprache etwas zusammen zu reimen und Maja gab den Versuch, die Männer zu verstehen, auf.
„Sag mal, Mahmud?“, fragte al-Ralfi, „muss es hier so dunkel sein? Ich sehe meine eigene Hand nicht vor Augen. Kannst Du nicht mal Licht machen?“
„Jawohl.“, sagte Mahmud und schob ein paar Kisten zur Seite, die ein Bullauge verdeckten, durch dessen dreckiges und von Algen verkrustetes Glas ein bisschen Licht in den dunklen Schiffsrumpf fiel.
„Ah, schon etwas besser! So, wo ist denn nun die Deutsche?“, begehrte al-Ralfi zu wissen.
„Hier, Effendi.“, sagte der Kapitän und schloss die Türe zu der Kammer auf.
Als die Tür aufschwang, starrte Maja mit angstgeweiteten Augen hinter der Augenbinde in die Gesichter der drei Männer. Sie befürchtete schon, dass sie sich nun an ihr vergehen werden oder ihr sonstwie Gewalt antun würden, doch al-Ralfi, Mahmud und der Kapitän standen nur da und schauten auf das menschliche Bündel herab.
„Ohne jeden Schaden ist die Ware hier deponiert. Schauen Sie nur, Effendi.“, sagte der Kapitän und zeigte stolz auf Maja.
„Ja, ja, ich sehe es. Gut, gut... also von mir aus kann sie da drin bleiben, bis wir zu Hause sind. Kapitän?“, sagte al-Ralfi und drehte sich zu dem Angesprochenen hin, „Achte mir darauf, dass niemand in ihre Nähe kommt. Am besten schließt Du die Tür wieder ab.“
„Jawohl, Effendi!“, beeilte sich der Kapitän zu sagen, bevor er die Tür zuwarf und den Schlüssel schwungvoll dreimal drehte.
„Ich bin immer noch der Meinung, dass das kein guter Kauf war, al-Ralfi.“, wandte Mahmud mit hochgezogenen Schultern ein, „Aber Du bist der Chef.“
„Richtig, mein getreuer Mahmud, ich bin der Chef und ich habe dieses Weibchen gekauft und werde mit ihr tun, was mir beliebt.“, sagte al-Ralfi streng.
„Und was?“, hakte Mahmud nach.
„Äh, ja... nun... da ... joa.... machen wir uns Gedanken drüber, wenn wir zu Hause sind, Mahmud.“
Damit war die Unterhaltung beendet und die drei Männer gingen wieder aus dem Stauraum heraus, sodass Maja nichts weiter blieb, als die typischen Geräusche der Seefahrt.
Das Schiff segelte in Richtung des Sonnenuntergangs über das Rote Meer hinweg.
London
Ein Junge klopfte an die Tür in der Baker Street und rief laut: „Ms Holmes? Ms Holmes? Sind Sie da? Ich habe ein Telegramm für Sie! Bitte öffnen Sie die Tür!“
Die Meisterdetektivin legte das Buch, in dem sie eben schmökerte, zur Seite und erhob sich aus dem Sessel. Ein leichter Schwindel befiel sie dabei und sie musste erst ein paar Sekunden stillstehen, bis dieser verging. Die letzten Wochen waren sehr ruhig bei Jenny verlaufen und sie nutzte die freie Zeit für diverse Studien, die sie bis in die tiefe Nacht hinein an ihrem Schreibtisch tat. Das rächte sich nun, indem ihr Kreislauf ihr ab und zu einen solchen Streich spielte und der blonden Detektivin vor Augen führte, dass es unbedingt Zeit wäre, wieder körperlich aktiver zu werden. Als endlich auch das Kribbeln in den Beinen nachließ, öffnete Jenny die Tür und gab dem Jungen sofort einen Penny in die Hand. Der bedankte sich, überreichte Jenny das Telegramm und verabschiedete sich überaus höflich.
„Oh, da wächst uns ja ein richtiger Gentleman heran.“, sagte Jenny lächelnd und verabschiedete sich sogleich auch von dem Jungen, der mit sichtbar röter gewordenen Wangen sich ins Londoner Getümmel aufmachte.
Im Büro setzte sich Jenny Holmes hinter ihren Schreibtisch, öffnete das Kuvert, in dem das Telegramm steckte und las:
„Sehr geehrte Ms Holmes,
mein entfernt Verwandter Lord Lemon of Lemonshire berichtete mir, dass Sie Hilfe nötig hätten. Weiter schilderte er mir die Umstände, um die es ginge und bat mich inständig darum, Ihnen dienlich zu sein. Nun, wirklich abschlagen wollte ich ihm seine Bitte nicht, doch war es mir zunächst schleierhaft, wie ich Ihnen im fernen Königreich helfen soll. Da ich aber selten etwas unversucht lasse, begab ich mich in Kairo in gewisse Kreise und horchte, welche Hinweise man zwischen den Zeilen zu erfahren weiß. In der Tat hatte jemand etwas bemerkt oder gab es vor. Wenn seine Erzählung der Wahrheit entspricht, so ist die Gesuchte von Sklavenhändlern entführt und aller Wahrscheinlichkeit nach in den Oman verbracht worden. Die Zeit schreitet jedoch schnell voran und weiter war keine Auskunft mehr zu bekommen. So beschloss ich, Ihnen, werte Ms Holmes, dieses Telegramm zu schicken und Ihnen darin mitzuteilen, dass ich mich sogleich aufmache in den Oman. Sollte ich dort Weiteres erfahren, werde ich mich bei Ihnen melden.
Bis zu diesem Zeitpunkt verbleibe ich mit höchster Achtung,
Ihr Lemonada Jones.
Abenteurer und Schatzsucher.“
„Donnerwetter!“, dachte sich Jenny, „auf den alten Lord ist wirklich Verlass. Immerhin wissen wir jetzt schon mehr und wenn sein Verwandter noch andere Hinweise findet... immerhin läuft es.“
Angestachelt von diesen Neuigkeiten wollte Jenny diese unbedingt Julian Fuhseson mitteilen, der gewiss schon seit Tagen auf glühenden Kohlen sitzt und es kaum erwarten kann, etwas zu erfahren. Sie kramte aus der Schreibtischschublade den Zettel, auf den Julian die Adresse des Landsitzes in Devonshire schrieb, heraus und machte sich auf den Weg dorthin.
Der weiße Kalkstein glänzte im Sonnenschein und ließ den Nachmittag heller erscheinen, als er wirklich war. Ein mäßiger und dazu sehr milder Wind wehte über die saftigen Wiesen auf denen vereinzelt Schafe standen. Der Landsitz war ein größerer Hof aus typisch schwarz-weißem Fachwerk. Nur die parkartige Gartenanlage drumherum ließ erahnen, dass hier schon länger keine Landwirtschaft mehr betrieben wurde. Jenny Holmes klopfte an die Türe, jedoch öffnete niemand. Also griff sie zu der Kette, mit der sie eine Glocke betätigen konnte, und läutete so laut, dass man sie selbst in Frankreich hätte hören müssen. Zu Jennys Verwunderung aber, machte immer noch niemand auf. Plötzlich zuckte sie zusammen, als ein kleiner Mann mit pechschwarzem Haar um die Ecke des Hauses kam und fragte: „Ja, bitte? Wir kaufen nichts.“
„Ich will auch nichts verkaufen, Mister....“, begann Jenny und wartete gar nicht erst ab, dass dieser kleine Mann in seiner Livree seinen Namen nannte, „Ich möchte zu Mister Fuhseson. Er ist ein Klient von mir und wartet bestimmt schon auf mein Erscheinen.“
„So? Wen darf ich bitte melden?“, sagte der kleine Diener und rümpfte etwas die Nase.
„Jenny Holmes. Detektivin.“, sagte Jenny mit leicht gereiztem Unterton.
„Sehr wohl. Wenn Sie hier bitte warten würden...“, sagte er, drehte auf dem Absatz um und verschwand um die Hausecke.
Kurz darauf erschien er wieder und bat Jenny ihm zu folgen. Die Meisterdetektivin trottete ihm hinterher in den Garten, aus dem ihr ausgelassenes Gelächter entgegen schall.
„Ah, Sie müssen die berühmte Detektivin sein!“, sagte eine durchaus hübsche Frau mittleren Alters und kam auf Jenny zu. „Mein Name ist Adriana of Romanescu. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Kommen Sie!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, griff Adriana die Hand von Jenny und zog sie förmlich zu einer Sitzgruppe, die unter einem Baldachin aufgestellt war. Neben einer silbernen Etagere mit Gebäck standen Teegeschirr und Sandwiches parat. Auf einer Bank saß eine kleinere brünette Frau, die Jenny aus ihren grünen Augen musterte und dann ihre Bambusstricknadeln beiseite legte, um die Meisterdetektivin zu begrüßen.
„Herzlich Willkommen. Ich bin Angela Fuhseson, die Mutter von Julian. Er hat ja ganz schön von Ihnen geschwärmt, Ms Holmes.“, sagte sie und schüttelte die Hand der Detektivin.
„So? Hat er das? Nun, ich fühle mich geschmeichelt. Wo ist der junge Mann denn?“, sagte Jenny.
„Juuuuuuuliiiiiiiiiiii?!“, rief Angela so laut sie nur konnte.
„Ja, Mamsi?“, fragte Julian, der plötzlich hinter einer Hecke auftauchte und sich nicht klar darüber war, warum seine Frau Mutter so laut schrie, wenn er doch nur ein paar Schritte von ihr weg ist. Als er aber Jenny erblickte, kam er sofort auf sie zu und küsste ihr die Hand. „Oh, Ms Holmes. Wie gut Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen und wissen Sie etwas Neues? Ach, entschuldigen Sie bitte. Wo sind meine Manieren? Setzten Sie sich bitte. Tee? Gebäck?“
Ganz in seine Rolle als Gastgeber vertieft kümmerte sich Julian fürsorglich um Jenny, was schon den Argwohn seiner Mutter weckte, denn ganz so aufopfernd hatte sie ihn noch nie für eine Frau gesehen. Jenny setzte sich erst einmal auf eine freie Bank, nahm die angebotene Tasse Tee entgegen, nippte kurz daran und schaute dann die beiden Damen, die sie neugierig musterten, an.
Als sich endlich auch Julian Fuhseson setzte, begann Jenny: „Also, der Grund für meinen Besuch bei Ihnen... ich möchte ja nicht stören...“
„Aber nein, das tun Sie nicht.“, wiegelte Adriana of Romanescu gleich ab.
„Bitte erzählen Sie.“, forderte Angela die Detektivin auf.
„Na schön. Ich bekam heute dieses Telegramm aus Ägypten...“
Jenny erzählte, was sie wusste und dass sie auf eine weitere Nachricht warten würde. Immerhin würden sich die Zahnräder nun bewegen und man könne guter Hoffnung sein, bald etwas über Majas Verschwinden zu erfahren.
„Sobald ich dann Neues weiß, melde ich mich natürlich bei Ihnen.“, schloss Jenny ihren Bericht.
„Oh, meine geliebte Maja...“, schluchzte Julian auf, dem gar nichts Gutes schwante, angesichts dessen, dass die Liebe seines Lebens auf einem Sklavenmarkt verschachert würde.
Angela tröstete ihren Sohn, so gut es eben nur Mütter können und Adriana löcherte Jenny mit allerlei Fragen zu ihrem Detektivleben und den aufregenden Fällen, die sie immer zu bestehen hatte. Überdies vergaß man ein wenig die Zeit und als die Sonne sich anschickte im Meer zu versinken, machte sich der Hunger bemerkbar. Der kleine Diener durfte im Garten einen Grill anwerfen und selbstverständlich war Jenny eingeladen, den Abend und auch die Nacht auf dem Landsitz zu verbringen. Die Rückfahrt wäre nun auch zu beschwerlich gewesen und so nahm Jenny dieses Angebot dankend an.
Der Duft des Grillguts erfüllte die Luft und heizte den Hunger der Anwesenden an. Man verteilte das Essen auf die Teller, reichte diese herum und aß bei amüsanten Gesprächen, die mal mehr, mal weniger Tiefsinn besaßen, bis das Tageslicht so weit geschwunden war, dass der Diener Fackeln entzünden musste um den Garten zu erleuchten.
Angela wollte sich nützlich machen und trug den stählernen Grillspieß zum Grill zurück. Dabei fiel ihr eine Stoffserviette herunter und Julian, der stets bemüht darum war, seine gute Erziehung zu zeigen, beugte sich flugs hernieder, diese galant aufzuheben. Allerdings bedingten die gefüllten Zwiebeln, von denen er am Abend reichlich hatte, dass sich bei dieser Bewegung eine unüberhörbare Flatulenz auf in die Freiheit machte. Angela drehte sich um, sah mit strenger Zornesfalte ihren Sprößling an, der sich aufrichtete und gespielt empört „Mutter!!“ rief. Angela Fuhseson klappte die Kinnlade runter, ob dieser Frechheit ihres Sohnes, aber sie ließ es mal dabei bewenden, denn sowohl Adriana wie Jenny lachten laut los und egal, wie sehr der Zorn auch in Angela kochte, die Stimmung dieses Abends wollte sie nicht verderben.
Raffgieristan
Zwischen Sanddünen in einer üppig bewachsenen Oase lag der strahlend weiße Palast von al-Ralfi. Hier schlug das Herz seines kleinen Reiches und er herrschte mit eiserner Hand darüber. Die Palmen, deren Wedel sich sanft im Wind wogten, spendeten den Menschen, die darunter ihre Dienste für Palast und al-Ralfi verrichteten, wohltuenden Schatten. Doch die idyllische Ruhe der Oase wurde jäh durch lautes Gebrüll aus al-Ralfis Thronsaal gestört.
„Hähnchen! Hähnchen! Nichts als furztrockenes Hähnchen! Und das jeden verdammten Tag! Mahmud?!“, schrie al-Ralfi mit sich schier überschlagender Stimme.
„Ja?“, sagte Mahmud gelassen, weil er die Wutausbrüche von al-Ralfi nur zu gut kannte und wusste, dass ihm nichts geschehen würde.
Mit zornesrotem Kopf zeigte al-Ralfi auf Maja, die in den Thronsaal zitiert wurde und wie das Elend vom Lande da stand, kein Wort dieses Gebrülls verstand und vor Angst beinahe in die Hose gemacht hätte, die sie nicht an hatte.
„Welcher Idiot kam auf die Idee dieses ungläubige deutsche Weib zum Küchendienst zu schicken?“, schrie al-Ralfi außer sich.
„Du, Effendi.“, sagte Mahmud ruhig.
„Ich ?!“, rief al-Ralfi mit verwundert aufgerissenen Augen.
„Ja, Du.“, sagte Mahmud und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ähm.... nun gut, dann war es halt kein Idiot, aber idiotisch war es dennoch. Gebt dem Weib die Bastonade! 10 Hiebe!“, befahl er zwei Dienern, die sofort Maja ergriffen und sie auf die Knie zwangen.
Man zog ihr die Sandalen aus, hielt sie fest, während man ihr einen kleinen Hocker unter die Füße schob, sodass die Sohlen nach oben frei lagen und gab ihr mit einem langen Rohrstock die geforderten Hiebe auf die Fußsohlen. Jeder Schlag explodierte auf Majas Haut und jeder Einzelne fühlte sich an, als ob glühende Eisen sich in ihr Fleisch brennen würden. Markerschütternde Schreie der Unglücklichen begleiteten das Peitschen des Rohrstocks. Als nach den 10 Hieben zumindest dieses Martyrium beendet war, lag Maja schluchzend auf dem Boden. Unfähig aufzustehen, da jeder Schritt für sie wie eine Mischung aus glühenden Kohlen, scharfen Glasscherben und spitzen Nägeln erschien. Al-Ralfi gab den beiden Dienern einen Wink, damit diese Maja, die vor Schmerz einer Ohnmacht nahe war, zurück in ihr Sklavenloch außerhalb des Palast bringen sollten. Die Diener packten die Bestrafte unsanft an den Armen und zogen sie hinter sich her aus dem Thronsaal hinaus.
„Ach, Mahmud... mein getreuer Freund... ich glaube, Du hattest Recht, als Du sagtest, es sei ein Fehler gewesen, dieses Weibchen zu kaufen. Wenn ich da nur an Fatma, die Blume in des Propheten Garten, denke. Wie die kochen konnte... dieses Schafsgedärm... lecker... oder die knackigen Hammelaugen... ein Gedicht. Sie kochte so gut und aß so viel, dass sie einen Arsch wie ein Nilpferd hatte.“, sagte al-Ralfi und lachte laut, bevor er weitersprach, „Und Brüste, die bis zum Boden hingen. Da konnte man sein Gesicht drin verstecken. Ja, da hatte man was zum Anpacken! Auf einer Skala von 1 bis 10 ist Fatma eine glatte 12, mein lieber Mahmud. Nicht wie bei diesem deutschen Heimchen, wo nichts dran ist und die nur trocknenes Hühnchen auf den Teller kriegt.“
Mahmud nickte nur und sagte: „Und was gedenkst Du nun zu tun, al-Ralfi? Sollen wir sie in der Oase ertränken?“
„Nein, das muss nun auch nicht sein. Aber Du hast schon recht. Hier kann sie nicht bleiben. Sollen wir sie verkaufen?“
„Weiß ich nicht. Mal ehrlich, wer will die denn? Nicht einmal Du möchtest sie noch haben.“, grinste Mahmud.
„Ja, ja, da magst Du nicht Unrecht haben, aber auf eine Idee hast Du mich gebracht.“, sagte al-Ralfi mit sichtbar besserer Laune.
„Ah ja, habe ich das?“, forschte Mahmud und war neugierig auf al-Ralfis Einfall.
„Oh ja. Du weißt doch dieser Earl in England, dem ich neulich so viel Geld abknöpfte. Oh, ich meine, mit dem ich prächtig Geschäfte machte?“
„Ja, dieser kleine Mann... ich erinnere mich...", sagte Mahmud.
„Genau der! Ich wette, der würde jede Frau nehmen und wenn ich ihm etwas Honig ums Maul schmiere, denkt er bestimmt, er würde was ganz Besonderes bekommen.“, lachte al-Ralfi. „Mahmud, bereite alles vor für eine Reise nach England. Melde uns bei dem Earl of Sabberlot an und lasse dieses Weib herrichten und hernach auf das Schiff bringen.“
„Dein Wunsch ist mir Befehl, al-Ralfi.“, sagte Mahmud, verbeugte sich und verließ den Thronsaal.
Devonshire
Julians Frechheit sollte er zu büßen bekommen. Das ließ sich eine Angela in ihrem Zorn nicht gefallen. Fuchsteufelswild sattelte sie ihren Rehpinscher, klemmte sich den Grillspieß unter den Arm und führte die berittene Erdnuckelarmee mit einem lauthals gebrüllten „Attaaaaaaackeeeeeeeeeeeeee“ in den Kampf gegen Julian.
„Aaaaaaaaaaaaah!“
Mit einem panischen Schrei schreckte Julian aus seinem Traum auf. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und sein Herz schlug wie wild in seiner Brust. Heftig atmend saß er aufrecht im Bett, als sich die Tür öffnete und Adriana, Angela und Jenny zu ihm sahen.
„Was ist denn los?“,fragte Angela Fuhseson und lief auf das Bett zu um ihren Sohn tröstend in den Arm zu nehmen.
„Ich habe schlecht geträumt, Mamsi.“, nuschelte Julian in Angelas Brust.
Dabei verriet er ihr nicht, was er wirklich träumte.
„Das sind die Sorgen um Maja.“, sagte Angela und streichelte ihrem Sohn über den Kopf.
„Julian, noch ist nicht alles verloren. Gib die Hoffnung nicht auf.“, sagte Adriana mit warmer Stimme und drehte dabei in den Fingern den sonnenförmigen Anhänger ihrer Halskette herum, den ihr einst eine Wahrsagerin verkaufte und behauptete, dass immer, wenn diese Sonne heiß werden würde, etwas Schlimmes geschähe. Adriana, gutgläubig in solchen Dingen, fühlte seither immer, ob die Sonne sich kühl anfühlte. Das beruhigte sie selber und sie glaubte fest daran.
„Ich hoffe, dieser Lemonada Jones meldet sich bald.“, sagte Jenny, der die Müdigkeit noch immer im Gesicht stand.
Während Angela sich zu ihrem Sohn ins Bett legte und ihn mit all ihrer mütterlichen Liebe in den Schlaf tröstete, gingen Adriana und Jenny zurück in ihre Zimmer um dort die unterbrochene Nacht schlafend fortzusetzen.
Am nächsten Morgen fanden sich Adriana, Angela, Jenny und Julian beim Frühstück auf der Terrasse ein.
„Na, konntest Du noch weiterschlafen?“, fragte Adriana Julian.
„Irgendwie schon...“, murmelte der junge Fuhseson.
Adriana fielen die dunklen Ringe unter seinen Augen genauso auf wie Angela und beide sorgten sich ernsthaft um Julian. Diese Situation war er nicht gewöhnt, etwas völlig Neues in seinem jungen Leben und offenbar überforderte es ihn. Es tat den beiden Damen unendlich leid ihn so gequält zu sehen, aber sie konnten nichts dagegen tun und diese Hilflosigkeit ihrerseits machte ihnen zu schaffen.
„So will man oft und kann doch nicht und leistet dann recht gern Verzicht.“, sagte Jenny lächelnd und griff sich ein Würstchen zu den noch heißen gebackenen Bohnen.
„Das ist gut, Ms Holmes. Das sollten sie aufschreiben.“, meinte Julian zu der blonden Detektivin.
„Finden Sie?“, sagte Jenny.
„Oh ja, Sie sind bestimmt eine.....“, fing Julian einen Satz an, der aber von dem kleinen Diener abgeschnitten wurde, der auf die Terrasse kam und einen Umschlag auf einem silbernen Tablett vor Jenny Holmes abstellte.
„Ein Telegramm für mich?“, fragte sie mehr so dahin, ergriff das Kuvert und öffnete es.
Ihre blauen Augen überflogen geschwind die Zeilen:
„Sehr geehrte Ms. Holmes,
im Oman musste ich erst neue Kontakte knüpfen und ordentlich Bakshish unter die Leute bringen um endlich an brauchbare Erkenntnisse zu gelangen. So war es mir vergönnt, den Händler zu finden, der die Gesuchte veräußerte und mir nach einer horrenden Geldsumme und dem Versprechen eines Ehrenmannes zu verschweigen wer ihm den Namen des Käufers verriet. Unglücklicherweise hat dieser das Land bereits verlassen und mit ihm wohl auch die verschwunde Frau. Da al-Ralfi, der berühmte Scheich von Raffgieristan, kein Unbekannter ist und ich unlängst auch mit ihm zu tun hatte, kann ich Ihnen von Glück sagen, dass ich in Raffgieristan einen Vertrauten habe. Diesen werde ich noch diese Woche aufsuchen und, wenn Gott will, auch Maja finden.
So verbleibe ich mit den freundlichsten Grüßen,
Ihr Lemonada Jones
Abenteurer und Schatzsucher“
Jenny las das Telegramm laut vor und Julian verschluckte sich beinahe an seinem Toast mit bitterer Orangenmarmelade, als er erfuhr, dass Maja wohl noch am Leben sei.
„Aber, aber... das will noch nichts heißen.“, beruhigte Jenny ihn, „Noch weiß man nur, wer sie kaufte und wo sie vermutlich ist. Nicht mehr. So leid es mir tut, aber ich muss sie auf eine weitere Nachricht vertrösten.“
„Ja, das verstehe ich.“, seufzte Julian.
„Sie dürfen gerne hier bleiben, wenn Sie möchten, Ms Holmes.“, sagte Adriana.
„Das ist sehr freundlich, aber ich sollte zurück nach London. Dort werde ich bestimmt mehr bewirken können als hier. Deshalb reise ich nach dem Frühstück ab.“, sagte Jenny.
„Das ist aber schade.“, meinte Angela, „Aber Sie werden sich gleich melden, sobald es etwas Neues gibt, ja?“
„Natürlich werde ich das.“, versicherte Jenny und goß sich eine zweite Tasse Tee ein.
Irgendwo zwischen Raffgieristan und England
Seicht schaukelte das Schiff in den Wellen und al-Ralfi ließ es sich zusammen mit Mahmud an Deck gut gehen. Kandierte Feigen wanderten in die Münder und Tee wurde von hübschen Frauen, deren Gesichter nur mit farbigen Tüllschleiern verdeckt waren, in die kunstvoll gearbeiteten Teegläser gegossen. Vergnügt blickten al-Ralfi und die Anderen über das Meer, an dessen Horizont sich schwach die Küste abzeichnete.
In der dunklen Kabine unten im Schiffsbauch lag Maja verschnürt wie ein Paket auf dem Boden. Todesängste plagten sie und die Erinnerung an die letzten Schläge, die man ihr zufügte, war noch immer schmerzhaft wie eine frische Wunde. In ihrem Kopf geisterten Bilder ihres geliebten Julian herum, wie er sich zu Hause um sie kümmert und schier wahnsinnig wird über ihren Verlust. Das gab Maja den Rückhalt, den sie brauchte, stoisch all diese Repressalien zu ertragen, denn die Hoffnung auf eine Rettung gab sie noch nicht auf. Dennoch kamen ihr langsam Zweifel daran, ob sie jemals gerettet werden würde, denn je öfters man sie weiß der Himmel wohin brachte, würde es immer schwieriger werden, sie zu finden. Wie sollte Julian das auch bewerkstelligen? Wenn sie nur an die Sklaven dachte, die al-Ralfi in seinem Palast hatte! Schwarzafrikaner, Araber, sogar ein paar Asiaten waren darunter. Sein Einflussbereich erschien Maja riesig und demnach wäre das Gebiet, in dem sie al-Ralfi verteilen könnte unglaublich groß. Maja zwang sich die Angst zu besiegen und rief sich schöne Erinnerungen an die Zeit der Zweisamkeit mit ihrem geliebten Julian in den Kopf. Kaum sah sie sein Antlitz vor ihrem inneren Auge, wie er sie anlächelte und ihr zart die Wange streichelte, überkam Maja eine bleierne Müdigkeit und sie schlief ein.
London
Als Jenny Holmes zurück in ihrem Büro in der Baker Street war, quoll der Briefkasten schier über. So viele Briefe hatte sie die letzte Zeit nicht bekommen und sie machte sich sofort daran, alle zu öffnen und zumindest schnell zu überfliegen. Das meiste waren Bittbriefe, irgendjemanden oder irgendwas zu suchen, was Jenny aber gerne ablehnte, weil es oft nur Marginalien waren, die sich meist von selbst wiederfanden. Untreue Ehemänner reizten Jenny auch schon lange nicht mehr. Die meisten stellten sich eh zu plump an und Beweise für deren Fremdgehen brachten viele der Ehemänner schon selbst. Das sollte der Detektivnachwuchs machen, aber keine Meisterdetektivin. Sie ist für größeres bestimmt. Unter den ganzen Briefen befand sich allerdings ein Schreiben, das Jenny sofort ins Auge fiel, denn den Absender hatte sie ohnehin vor zu besuchen, als sie aus Devonshire zurückkam. Schnell las sie die wenigen Zeilen, die die Mutter von Maja ihr schrieb und sie inständig anflehte, die verlorene Tochter zu finden. Nun, jeder Hinweis kann wichtig sein - oder auch nicht - und deshalb wollte Jenny unbedingt mit Michaela Bellbottom sprechen. Die Adresse ausfindig zu machen, konnte sie sich nun sparen, denn die stand auf dem Brief drauf. Jenny warf sich ihr geklöppeltes taubenblaues Schultertuch um und machte sich auf den Weg.
Das Gebäude in einem nicht sehr noblen Teil Londons sah von außen ziemlich verwahrlost aus. Einer der hölzernen Läden vor den Fenstern hing schief aus den Angeln, so als ob er jeden Augenblick herabfallen könnte und die restliche Fassade hatte auch schon bessere Zeiten erlebt. „Hier also kommt Maja her.“, dachte Jenny, „Da hat sie sich aber verbessert.“
Jenny klopfte mit dem Schlagring gegen die Tür und ein dunpfes Wummern hallte im Inneren des Gebäudes nach. Kurze Zeit darauf öffnete eine etwas beleibte Dame in einer für diese Zeit und dieses Geschlecht völlig untypischen Latzhose die Türe und fragte: „Ja, bitte?“
„Sind Sie Mrs Bellbottom, Majas Mutter?“, erkundigte sich Jenny.
„Ja, das bin ich in der Tat. Also zumindest aus diesem Körper“, sagte Michaela Bellbottom grinsend, während sie mit der Hand an sich rauf und runter fuhr, „kam sie raus.“
„Holmes, mein Name. Jenny Holmes. Darf ich hereinkommen und Ihnen ein paar Fragen stellen?“
„Wenn es sich nicht vermeiden lässt, bitte sehr.“, sagte die Frau mit einer Mischung aus Lustigkeit und Genervtheit, welche Jenny nicht ganz einordnen konnte.
Sie betrat den dunklen Flur und folgte dann Michaela in ein Zimmer aus dem süßlich riechende Rauchschwaden kamen. Der Geruch kam Jenny bekannt vor. Diese Räucherstäbchen waren seit kurzem der letzte Schrei in London und fast jeder musste welche haben. Der Anblick des Raums allerdings war für Jenny ungewöhnlich. Eine bunte Mischung aus indischer und fernöstlicher Esoterik war hier aufgereiht, als ob sie sich in einem Laden in Soho befände. Michaela Bellbottom setzte sich im Schneidersitz auf ein paar Kissen, nahm einen hölzernen Schlegel in die Hand und stieß damit eine kupferfarbene, reich ornamentierte Klangschale an. Der sanft vibrierende Ton erfüllte den Raum und Michaela saß mit geschlossenen Augen da und summte im Einklang mit ihrer Klangschale.
„Also, warum ich hier bin...“, begann Jenny, „...haben Sie etwas gemerkt, dass es zwischen Julian und Maja Spannungen oder etwas in der Art gab?“
Bevor Michaela antwortete, schlug sie mit dem Schlegel gehen die Schale, wartete ein paar Sekunden und sagte dann mit geschlossenen Augen einem Singsang gleich: „Nein.“
„Aha, also war da alles in bester Ordnung?“, fragte Jenny weiter.
Erneut schlug Mrs Bellbottom ihre Schale an und wieder ein paar Sekunden später ein gedehntes: „Ja.“
„Hatte Maja irgendwann mal was mit Ägypten oder dem Bereich um das Rote Meer zu tun?“, wollte Jenny wissen.
Wieder erklang das Dong der Klangschale und abermals dauerte es Minuten, bis eine Antwort kam.
„Nein.“
Jenny reichte es. So konnte man doch keine Unterhaltung führen! Zornig griff sie den Schlegel von Michaela Bellbotton und nahm ihn ihr weg. Dann stellte sie eine weitere Frage.
„So.... gesetzt den Fall, es würde ein Erpresserbrief eingehen und man wolle Lösegeld haben. Würden Sie sich daran beteiligen?“. fragte Jenny, obwohl sie angesichts dieser Wohnverhältnisse nicht wirklich annahm, dass diese Frau sich auch nur einen Penny Lösegeld aus den Rippen schneiden könnte.
„Was erlauben Sie sich?!“, fuhr Michaela Bellbottom plötzlich auf, „Sie geben mir augenblicklich meinen Schlegel zurück!“
„Erst beantworten Sie meine Frage!“, gab Jenny trutzig zurück.
Die prekären finanziellen Zustände, die sie hier zu erkennen glaubte, weckten den Argwohn in Jenny und vielleicht war es ja doch keine so wahllose Entführung, wie das zuerst alle dachten.
„Meinen Schlegel, Miss Holmes!“, giftete Michaela und stellte sich drohend vor der Meisterdetektivin auf.
„Meine Antwort, Mrs Bellbottom!, fauchte Jenny gereizt.
„Ich sage nichts mehr ohne meinen Schlegel!“, raunte Michaela und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Na gut, die Klügere gibt nach.“, seufzte Jenny, weil sie keine andere Möglichkeit mehr sah und auch nicht gewillt war, weiter dieses Theater mitzuspielen. „Hier haben Sie ihren verdammten Schlegel.“
Michaela Bellbottom griff ihn, setzte sich wieder im Schneidersitz auf ihren Haufen bunter Kissen, schlug die Klangschale an und sagte wieder in der selben meditativen Weise: „Wenn ich zahlen könnte, würde ich es.“
„Schon gut.“, sagte Jenny, stieß durch die Nase Luft aus und drehte sich um in Richtung Flur. „Ich finde alleine hinaus. Auf Wiedersehen!“
„Ommmmmmmmmm“, summte Michaela Bellbottom nach einem weiteren Schlag an die Klangschale und Jenny begriff, dass sie hier keine brauchbaren Antworten oder gar Hinweise finden würde.
Schleunigst entschwand Jenny durch die Tür und machte sich auf den Weg zurück zur Baker Street.
Dort wartete schon der kleine Gentleman auf sie um ihr ein neues Telegramm zu überreichen. Jenny lächelte bei dem Jungen. Eine Kindheit in diesen Zeiten war kein Zuckerschlecken, wenn man nicht aus betuchtem Hause stammte und ein paar unglückliche Seelen hatten auch das Schicksal erlitten verkauft zu werden. Entweder als Kaminkehrer oder zu Bergwerksarbeiten irgendwo in Norditalien. Es gab auch viele Kinder, die in Waisenhäuser lebten, wo sie mit Suppen aus altem Brot gespeist wurden oder in einer der vielen Bettlerbanden unterkamen, die es in London zuhauf gab. Zumindest waren Kinder damals schon als straffrei anzusehen und wenn ein Junge oder Mädchen beim Klauen erwischt wurde, gab es meist nur eine Tracht Prügel. Vom Ordnungshüter und später vom Bandenchef. Viele der Kinder waren seelisch gestört, verkrachte Existenzen, die am Ende als Erwachsene am Galgen enden. Dieser Junge hingegen arbeitete mit einem gelassenen Frohsinn und gab sich alle Mühe ein junger Galan zu sein und das ließ Jenny sich gerne einen Penny extra kosten. Mit dem Telegramm in der Hand ging sie in ihr Büro, setzte sich hinter den Schreibtisch und las:
„Sehr geehrte Ms Holmes,
mein Vertrauter Jobasa in Raffgieristan berichtete mir kurz nach meiner Ankunft dort, dass die Gesuchte reichlich gestraft wurde und sie nun als Geschenk einem Gentleman im Königreich gemacht werden soll. Leider lief das Schiff Stunden vor meiner Ankunft aus dem Hafen aus und hat nun wohl reichlich Vorsprung. Unglücklicherweise vermochte Jobasa nicht zu sagen, von welchem englischen Gentleman die Rede gewesen sei oder er hat es schlicht vergessen, weil er auch nicht mehr der Jüngste ist und gerne mal am Tisch einschläft. Doch sollte es kein Problem sein, im Lande ihrer Majestät in Erfahrung zu bringen, wen al-Ralfi zu besuchen beabsichtigt.
Meine Wenigkeit wird sich nun mittels eines Heißluftballons in die Lüfte erheben und nach England fahren, wo ich mich schon sehr darauf freue, ihre Bekanntschaft machen zu dürfen. Ich werde mich dann bei Ihnen melden, sobald ich in London bin.
Mit den hochachtungsvollsten und vorfreudigsten Grüßen,
ihr Lemonada Jones
Abenteurer und Schatzsucher“
Jenny Holmes schmunzelte. Irgendwie schien der Kerl ganz angenehm zu sein und ihr war nicht ganz klar, wieso Lord Lemon so despektierlich von seinem Verwandten sprach. Ja, wenn Jenny ehrlich zu sich selbst ist, dann freute sie sich durchaus darauf, diesen Abenteurer einmal kennenzulernen. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, schloss die Augen und träumte davon im Dschungel an der Seite von Lemonada Jones Schätze vor wilden Stämmen zu retten und am Ende in seinen starken Armen zu liegen.
***
„Ach, das typische Londoner Wetter!“, seufzte al-Ralfi, als er an Deck des Schiffes kam, kurz nachdem dieses am Kai vertäut wurde. „Es nieselt zum Steine erweichen. Was vermisse ich meine sandige Hitze zu Hause. Aber gut, mein lieber Mahmud, hier liegt das Geld und Du weißt, wenn es um Geld und Reichtum geht, würde ich selbst Deine Mutter verkaufen. Ich bezweifle zwar, dass den Drachen jemand will, aber verkaufen würde ich sie.“
„Na hör mal....!?“, sagte Mahmud ganz baff und war sich nicht sicher, ob al-Ralfi nun scherzte oder es ernst meinte.
„Lass uns keine Zeit verlieren und ins Hotel gehen. Nachher krieg ich noch Rheuma oder so in diesem Hundewetter!“, sagte al-Ralfi und torkelte die Gangway hinunter, wo bereits eine Kutsche auf ihn wartete. Behände schlüpfte er in diese und winkte Mahmud zu, dass er sich beeilen solle. Alles Weitere würden seine Bediensteten machen und sobald man im Hotel wäre, würde man einen Boten zu Guby, Earl of Sabberlot schicken, damit der rechtzeitig von seiner Überraschung erfährt. Als Mahmud endlich seinen massigen Leib die wackelige Gangway hinunter gewuchtet hatte und zu al-Ralfi in die Kutsche stieg, gab der Herrscher aus dem fernen Raffgieristan dem Kutscher Befehl loszufahren. Die Peitsche knallte und die Gespann zuckelte davon.
Dahinter kamen die Bediensteten und Sklaven dran. Eine Entourage aus 12 Frauen, nebst 20 männlichen Sklaven strömten vom Schiff. Letztere trugen Koffer und Taschen und zwei Sklaven eine in weiße Tücher eingeschlagene Person, die murmelnd und vor allem erfolglos protestierte. Als auch dieser Tross den Hafen in Richtung Hotel verlassen hatte, ging es an den vernieselten Piers wieder in alter Gewohnheit zu.
Später am Tage diktierte al-Ralfi die Depesche an den Earl of Sabberlot, die Mahmud sorgfältig und in schönster Kalligraphie auf ein großes Blatt Papier schrieb. Kaum, dass die Tinte trocken war, rollte er das Blatt ein und band es mit einem roten Tuch zusammen. Dabei gab er sich besondere Mühe damit eine symmetrische Schleife zu binden. Als Ausdruck höchster Konzentration hing die Zunge Mahmuds aus dem Mundwinkel und die stieren Augen ließen sein Gesicht etwas von einem Mops haben. Mahmud war zufrieden mit seinem Werk, blickte zu al-Ralfi und sagte: „Effendi, es ist vollbracht. Ich werde mich sputen und die Depesche einem Boten geben. Bis gleich.“
„So sei es, mein lieber Mahmud. Nur keine Zeit verlieren. Je eher wir zurück im lieblichen Raffgieristan sind umso besser ist es. Mir graust dieses England mit seinem Wetter. Brrrrr!“
„Jawohl, al-Ralfi.“, sagte Mahmud, machte einen Diener und verließ die Hotelsuite.
Gleich vor dem Eingangsportal des Hotels erblickte er einen Jungen, den er sofort als Kurier erkannte.
„He, Junge! Bring diese Nachricht hier zum Earl of Sabberlot. Es soll Dein Schaden nicht sein.“
„Natürlich Mister. Kostet Sie aber ein paar Penny.“, sagte der kleine gewitzte Junge und grinste.
„Selbstverständlich, ich habe..... äh....“, stammelte Mahmud, während er in den Taschen seiner Pluderhose suchte, „...verdammt! Wo sind denn nun die verdammten Penn.... hmm... na gut, nimm das hier in Allahs Namen!“
Der Junge bekam leuchtende Augen, als Mahmud, der offenbar vergessen hatte, das hiesige Kleingeld einzustecken, ihm einen Golddukaten in die Hand drückte.
„Sie werden es nicht bereuen, Mister. Für so viel Geld bringe ich es schneller als der Wind dahin!“, sagte der Junge, schnappte die Depesche und den Golddukaten und rannte davon, als ob der Teufel persönlich hinter ihm her wäre.
Mahmud schaute dem Burschen nach, bis der hinter einer Häuserecke aus seinem Sichtfeld verschwand und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Hatte er sich in dem Jungen vielleicht getäuscht? War der nun mit dem Golddukaten auf und davon? Mahmud zerstreute die Zweifel dann aber, denn in den Augen des Jungen sah man Aufrichtigkeit und an die wollte Mahmud gerne glauben. Irgendwie dadurch beruhigt, drehte er sich um und ging zurück ins Hotel.
***
Tags darauf klopfte es am frühen Nachmittag an Jennys Tür. Nicht wirklich verwundert über einen Besucher begab sich die Meisterdetektivin an die Tür, öffnete diese und schaute einem Mann mittleren Alters in die graugrünen Augen. Ein ungewöhnlicher Anblick für das viktorianische London war diese Gestalt. Ein zotteliger Dreitagebart umkränzte ein Gesicht, das ihr seltsam vertraut vorkam, wenngleich die langen Haare zu einem Zopf gebunden unter dem braunen Hut mit breiter Krempe hervorkamen. Ein weißes - eigentlich ja mehr grau-gelb-weißes - Hemd, das schon lange kein Bügeleisen mehr sah und nicht ordentlich geknöpft war umgab schmächtige Schultern und die ockerfarbene Hose aus grobem Stoff hatte auch schon bessere Zeiten erlebt. Von den dunkelbraunen Stiefeln ganz zu schweigen.
„Ja, bitte?“, fragte sie zwar freundlich und doch irritiert den Besucher.
„Jones. Lemonada Jones. Sind Sie Jenny Holmes, die Meisterdetektvin?“, fragte Lemonada, der leger mit dem Ellbogen an den Türpfosten gelehnt dastand.
„Sie sind Lemonada Jones?!“, stutzte Jenny und ließ ihre himmelblauen Augen an dieser für sie völlig unerwarteten Gestalt auf und ab wandern. „Jup. Abenteurer und Schatzsucher in Person. Und Sie sind die berühmte Detektivin. Eine ausgesprochen hübsche dazu, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf?“, sagte Lemonada.
„Äh... ich habe ... verzeihen Sie... mir einen Abenteurer irgendwie anders vorgestellt. Nicht wie einen.....“, stammelte Jenny, ratlos wie sie den Satz nun beenden sollte.
„...Spargel?!“, sagte Lemonada Jones und lachte. „Ich weiß, ich bin nicht gerade ein Adonis. Aber als man die Muskeln verteilte, war ich in der Hirnabteilung und ließ mir eine Extraportion geben.“
Jenny Holmes lachte befreit auf. Es war ihr etwas peinlich, dass dieser Abenteurer ihre Enttäuschung bemerkt hatte, aber sie war froh darum, dass er es gelassen und mit Humor nahm. Alleine dadurch hatte er bei ihr schon Punkte sammeln können.
„Kommen Sie herein. Sie müssen ja ziemlich erschöpft von der langen Reise sein. Mögen sie Tee?“, sagte Jenny, als sie Lemonada Jones den Weg zu ihrem Büro wies.
„Danke, den Tee nehme ich gerne an. Aber da ich das Reisen - auch unter schwierigsten Bedingungen - gewohnt bin, hält sich die Erschöpfung in Grenzen.“
Jenny fing an diesen Kerl spontan zu mögen und schloss die Tür, als er mit weiten Schritten an ihr vorbei in das Büro ging. Dort goss sie ihm und sich eine Tasse Tee ein, setzte sich ihm gegenüber und wollte eben eine charmante Unterhaltung beginnen, als Lemonada Jones gleich in geschäftsmäßigem Tonfall begann: „Und? Wissen Sie etwas über das Ziel von al-Ralfi?“
„Äh... nein, noch nicht. Ich weiß nicht einmal, ob die in England sind. Tut mir leid.“, sagte Jenny.
„Verstehe. Müssen wir die Spione ihrer Majestät bemühen?“, sagte Jones mit schelmischem Lächeln.
„Ich befürchte, die werden uns nichts sagen.“, gab Jenny ebenfalls süffisant schmunzelnd zurück und nippte an ihrem Tee. „Erzählen Sie mir etwas von sich. Von Ihren Abenteuern in Afrika. Lord Lemon hatte schon viel von Ihnen berichtet.“
Jenny wusste um die Notlüge, die sie nur dazu benutzte, Lemonada Jones in ein Gespräch zu verwickeln. In Wahrheit hatte sie ja erst vor kurzem von der entfernten Verwandtschaft des Lords erfahren und selbst dann, wollte der Zausel nicht viel über diesen Mann verraten. Genau diese Geheimniskrämerei machte Jenny unglaublich neugierig auf den Mann, der nun in dem wenigen Fleisch und Blut ihr gegenübersaß.
„Ach, hat er das?“, fragte Lemonada Jones mit verwundert hochgezogenen Augenbrauen. „Nun, eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen....“
Die Zeit verging wie im Fluge, als sich Jenny Holmes und Lemonada Jones bei Tee und Gebäck unterhielten. Sie merkten gar nicht, wie es langsam immer später und der Nachmittag zu Abend wurde. Plötzlich unterbrach ein Klopfen das heitere Gespräch und Jenny ging zur Türe.
Draußen stand der kleine Kurier, der Jenny Holmes immer so galant Nachrichten brachte und den sie schon längst in ihr Herz geschlossen hatte.
„Das ist eine Überraschung! Wie kann ich dem jungen Gentleman behilflich sein?“, neckte die blonde Detektivin den Jungen.
„Miss Holmes! Schauen Sie mal!“, aufgeregt nestelte er aus seiner Weste einen Golddukaten und zeigte ihn stolz Jenny. „Den bekam ich von einem dicken Mann in lustigen Hosen. Dafür musste ich eine Depesche überbringen.“
„Ja, und nun? Freu Dich doch über den kleinen Reichtum.“, sagte Jenny.
„Tu ich auch, Miss Holmes. Aber ich will Ihnen was ganz anderes sagen. Sie suchen doch nach einer verschwundenen Frau, richtig?“
„Richtig und ich möchte jetzt nicht wissen, woher Du das weißt!“, sagte Jenny und drohte gespielt streng mit dem Zeigefinger.
„Werde ich Ihnen auch nicht verraten. Jedenfalls will ein al-Ralfi dem Earl of Sabberlot morgen eine Frau schenken. Da dachte ich, dass Sie das interessiert?!“
Der Kleine strahlte über das ganze Gesicht und Jenny staunte nicht schlecht. Der Bursche las wohl heimlich die Nachrichten, die er eigentlich vertraulich überbringen sollte. Einerseits schockiert über den Vertrauensverlust ihres jungen Galans war sie andererseits nun froh darüber, denn jetzt wussten sie, wo al-Ralfi zu finden sein wird und die Frau, die verschenkt werden soll, musste Maja sein!
„Also gut, weil diese Information sehr wichtig für mich ist, will ich mal über Deinen Vertrauensbruch hinwegsehen. Hier hast Du zehn Penny und nun geh.“, sagte sie, drückte dem Jungen die Münzen in die Hand, drehte ihn an den Schultern um und schob ihn auf die Straße.
Sie warf die Tür hinter sich zu, ging zurück ins Büro, setzte sich wieder Lemonada Jones gegenüber und sagte, nachdem sie ihre Tasse griff und daran nippte: „Ich weiß jetzt, wo wir al-Ralfi und Maja finden.“
***
Der Tross um al-Ralfi hielt pünktlich zur ausgemachten Zeit vor dem Sabberlot-Tower, dem damals höchsten Gebäude der Stadt. Eine imposante Erscheinung war dieser Turm schon, dem etwas von einer Festung anhaftete. Der grobe graue Stein gab dem hohen turmähnlichen Haus etwas brachiales und die fantastisch gestalteten Wasserspeier gaben ihr übriges dazu, dass man hier an Mystik und Fantasie erinnert wurde. In den Londoner Kreisen kursierten allerlei Gerüchte sowohl um das Gebäude selbst, als auch über seinen schrulligen Bewohner. Der Earl war ein menschenscheuer Geselle, der selten außerhalb seiner heiligen Mauern gesehen wurde und das nährte selbstverständlich die Gerüchteküche und führte auch dazu, dass man hinter vorgehaltener Hand tuschelte, sollte man den Earl of Sabberlot einmal zu Gesicht bekommen. Besuch empfing man zwar im Hause Sabberlot, aber auch das ausgesprochen selten. Bittsteller und Hausierer hatten keine Chance und so redete man trivial davon, dass der Sabberlot-Tower sicherer als der Tresor der Bank von England sei.
Umso imposanter war der Aufmarsch, der sich vor dem Turm, dessen Spitze schier die Wolken kratzte, einfand. al-Ralfi in seinem weißen, wehenden Thwab (=typisches Gewand der arabischen Scheichs) schritt auf das Portal des Sabberlot-Towers zu, Mahmud bemühte sich seinen massigen Leib nachzuschieben. Dahinter trugen zwei schwarzhäutige Sklaven das arme Würmchen Maja und diesen wiederum folgten zwölf Sklavinnen in bunten Schleiern, nebst männlichen Sklaven. Mahmud, schnaufend ob der Anstrengung, klopfte an das schwere, eisenbeschlagene Tor, bis ein Diener dieses öffnete und die Besucher herein bat.
Jenny Holmes und Lemonada Jones kamen genau zu diesem Zeitpunkt am Sabberlot-Tower an und sahen, wie sich diese Menschentraube aus den Kutschen ergoss.
„Verdammt!“, fluchte Lemonada Jones, „Die sind ja schon da. Nun wird die Zeit knapp. Mit dem Earl können wir wohl nicht mehr rechtzeitig reden.“
„Stimmt.“, pflichtete Jenny ihm bei, „Wir müssen uns was anderes überlegen. Ich hab aber eine Idee. Kommen Sie!“
Lemonada Jones widersprach nicht, sondern folgte Jenny, die sich leise hinter eine große Reiterstatue schlich, die den Weg zum Eingang des Sabberlot-Towers flankierten. Dort angelangt, spickte sie um die Ecke des pompösen Sockels und flüsterte Jones zu: „Passen Sie auf. Sie schnappen sich eine der Sklavinnen und wenn möglich auch einen der männlichen Begleiter. Mit deren Aufzug mischen wir uns unter die Gefolgschaft und kommen rein.“
„Klingt gut, aber ...“, murmelte Jones.
„Nichts aber. Schauen Sie... dort liegt ein Ast.“
Jenny deutete auf einen Ast, der von einem großen Baum hinter ihnen abgebrochen war und der ein guter Knüppel sein dürfte. Lemonada Jones griff ihn, befühlte ihn, als ob er wirklich wisse, was er da tue - was er natürlich nicht wusste - und befand den Ast als stabil genug um ihn als Hiebwaffe zu gebrauchen. Der Tross zog an den beiden vorbei und Jones hieb einem der männlichen Begleiter und einer Sklavin den Ast auf den Kopf, sodass diese wie vom Blitz getroffen zu Boden sackten. Flugs zogen Jenny und Lemonada ihre Opfer hinter den Sockel der großen Statue und beeilten sich, diese von ihren Kleider zu befreien. Jones hatte es einfach. Er musste nur den Thwab schnappen und ihn sich überwerfen. Schon war er fertig. Jenny hingegen hatte es etwas schwieriger. Die Sklavinnen waren ungewöhnlich aufreizend und völlig entgegen viktorianischer Gewohnheiten gekleidet. Ein goldbesticktes rotes Samtbustier mit einem ungeheuerlich tiefen Ausschnitt, dazu bauchfrei konnte sie nicht mal so eben anziehen. Das Beinkleid der Sklavin bestand hauptsächlich aus durchsichtigen pinkfarbenem Tüll. Nur um den Unterleib herum war es eben blickdicht aus rotem Samt gefertigt. Es half nichts. Wollte man Maja zu Hilfe eilen, musste sich Jenny mit diesem Aufzug anfreuden.
„Achten Sie auf al-Ralfi, während ich mich umziehe.“, sagte sie zu Lemonada Jones, der um die Sockelecke spickte und den Tross beobachtete.
Jenny blickte sich um, ob nicht doch jemand schauen würde, zog dann der Sklavin die bunten Schnabelschühchen und das Oberteil aus, wobei sie darauf achtete, nicht den feinen Tüll an den Ärmeln zu zerreißen. Kaum hatte sie das geschafft, zog sie erst ihre Bluse und in einer unglaublichen Geschwindigkeit das Korsett, welches Pflicht in der viktorianischen Garderobe war, aus. Sie schlüpfte in das Oberteil und hakte es vorne zusammen, schob dann die Brüste etwas nach oben, denn das Dekolleté sollte auch nach was aussehen, wenn man schon solch einen Ausschnitt hat. Danach zog sie der ohnmächtigen Sklavin die Tüllhose aus.
„Können Sie das bitte kurz halten?“, fragte Jenny den Abenteurer und gab ihm das Beinkleid in die Hand.
„Natürlich.“, sagte Lemonada Jones, weiter den Eingang des Sabberlot-Towers betrachtend und hielt mit seiner Linken das Kleidungsstück.
Nun kletterte sie förmlich aus dem Rock und dem Unterrock. Nur in einer großen, mit Spitzen besetzten Unterhose, die bis weit über die Knie hinausging, griff sie noch nach dem Schleier, der an einem kleinen Hütchen, das mit Haarnadeln am Schopf der Sklavin befestigt war.
Lemonada Jones, immer noch al-Ralfi beobachtend, griff hinter sich und wollte Jenny am Ärmel ziehen. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie noch nicht so weit war und sich just in dem Moment bückte, als er hinter sich griff und an dem bisschen Stoff zog, den er zu fassen bekam. Nun gut, er zog ein bisschen zu fest und mit einem Rrrratsch hatte er plötzlich den Stoff in der Hand.
„Aaaaaargh...!“, hörte er Jennys Stimme und drehte sich um.
Da stand die Meisterdetektivin unten ohne da, das Gesicht in einer Mischung aus Scham und Zorn puterrot. Lemonada war sichtlich durcheinander. Seine Augen wanderten wild umher, natürlich auch gefangen von dem aufreizenden Anblick. Konfus hielt er Jennys Unterhose in der rechten Hand und stammelte: „Oh... also... ähm.... wissen Sie... also, wenn ich gewusst hätte, dass Sie unter ihrer Unterwäsche nichts anhaben, hätte ich das NIIIIIEEEEEEMALS gemacht....“
„Aaaaaah, da hört sich ja wohl alles auf!“, fauchte Jenny und griff nach der Tüllhose, die Jones in seiner Linken hielt, „Nun geben Sie schon her und drehen sich gefälligst um, Sie Flegel!“
Mit sichtlich geröteten Wangen, drehte sich Jones wieder um und sah, wie das Tor sich öffnete und al-Ralfi den Tower betrat. Wie gut, dass ich mich heute morgen frisch rasiert hab, dachte Jenny bei sich selbst und bedeckte dann die entblößte Sklavin mit ihren Kleidern.
„Fertig! Wir können.“, sagte Jenny und Lemonada Jones schaute zu ihr.
Für einen Augenblick schien die Welt für ihn still zu stehen. Vor ihm stand diese blonde Meisterdetektivin in einem aufreizenden Kostüm aus rotem Samt und pinkfarbenem Tüll. Ihre himmelblauen Augen leuchteten förmlich aus dem hübschen Gesicht, dessen untere Hälfte von einem pinkem Tüllschleier verdeckt wurde. Jones vergaß bei diesem Anblick für Sekunden die Welt um sich herum. Wie eine Corona umgab Jenny ein Leuchten und Jones musste musste angesichts der beiden Marzipanhügel, die sich im Ausschnitt abzeichneten und die ein Konditormeister nicht besser hätte schaffen können, schlucken, um nicht zu sabbern. Apropos sabbern.... der Sabberlot-Tower.
„Los!“, sagte Jenny und holte Lemonada Jones wieder ins Hier und Jetzt zurück.
Sie schlüpften hinter dem Sockel hervor und stellten sich ans Ende des Trosses. Unbemerkt von allen anderen, liefen sie unbehelligt durch das Tor des Sabberlot-Towers.
Die Empfangshalle war ein fast kathedralenartiges Gewölbe, das einen an mittelalterliche Thronsäle erinnerte. Unter den großen Steinbögen hingen üppige Kristallkronleuchter und an den Seiten der Halle waren Brunnen mit großen von Statuen gesäumten Becken angebracht, die die Halle mit einem angenehmen Plätschern erfüllten. Oberhalb eines Treppenabsatzes stand Guby, der Earl of Sabberlot. Aristokratisch das Kinn erhoben, stand er mit etwas wirrem Haar da und betrachtete die Gäste. al-Ralfi und Mahmud stellten sich vor den Earl, die Gefolgschaft im Halbkreis dahinter.
„Guby, mein lieber Earl, schön Dich zu sehen, alter Freund!“, sagte al-Ralfi zuckersüß zur Begrüßung und wollte den Earl umarmen.
Doch der zuckte zurück und al-Ralfi verstand, dass er besser Abstand halten sollte.
„Tach.“, sagte Guby nur knapp.
„Ach, wie habe ich die netten Zeiten hier in London vermisst. Wie geht es der Frau Mama?“, gab sich al-Ralfi jovial.
„Gut.“, sagte der Earl.
„Nun, mein lieber Guby“, fing al-Ralfi wieder an, „zu dem Grund meines Besuches. Ich ließ es Dich ja schon wissen, dass ich - weil wir doch immer so gute Geschäfte miteinander machten - meinem alten Freund als Dank ein Geschenk machen möchte.“
Jenny wurde es übel, weil sie die Falschheit in al-Ralfis Worten erkannte. Doch der Earl fing langsam an zu grinsen. Geschenke, egal welche, scheinen immer zu ziehen.
„Ah ja?“, fragte Guby sichtlich interessiert.
„Ja, solche Geschenke erhalten die Freundschaft, mein Lieber.“, säuselte al-Ralfi weiter, klatschte in die Hände, worauf die Sklaven das Paket heranbrachten und Maja wie aus einem Kokon befreiten.
So langsam hatte sie die Schnauze voll davon, wie ein Päckchen verschnürt irgendwohin transportiert zu werden. Irritiert schaute sie sich um, wo sie denn nun gelandet sei, als die Sklaven sie hinstellten, wie ein Püppchen und das weiße Leinen, in dem sie steckte, verschwinden ließen. Mahmud hielt Maja fest, als ob er sie an einer spontanen Flucht hindern müsse und al-Ralfi begann mit seiner Show.
„Hier habe ich Dir eine prächtige Frau mitgebracht. Sie ist in den besten Jahren und kann Dir in vielerei Dingen nützlich sein.“ al-Ralfi glaubte das selber nicht, aber er vertraute auf die Gutgläubigkeit des Earls. „Sie widerspricht nicht und ist ....“
„Heeeeee, Moment mal!“, rief Maja, „Ihr könnt meine Sprache?“
„Joa“, sagte al-Ralfi und zuckte mit den Schultern. „Natürlich.“
„Und ich .... ich.... ich hätte die ganze Zeit mit euch reden können? Warum habt ihr denn kein Sterbenswörtchen gesagt?!“, ereiferte sich Maja.
„Mit Sklavinnen redet man nicht. Man befiehlt und benutzt sie.“, sagte al-Ralfi und machte dabei eine wegwerfende Geste, als ob Sklavinnen keinen Wert als Mensch besäßen.
„Ihr... ihr.... ihr...“, stammelte Maja voller Zorn und ihre Augen wanderten von al-Ralfi zu Guby und zurück.
Der Earl rief plötzlich laut über seine Schulter: „Mamaaaaaaaaa, schau mal! Eine Frau!“
Dann blickte er zu Maja und sagte dann zu al-Ralfi: „Die schaut mich an! Warum schaut die mich an?“
Und wieder über die Schulter gerufen: „Mamaaaaaaa, die schaut mich an! Die steht auch mich!“
„Jaja, mein lieber Earl. Es ist schwer einem Mann wie Dir zu widerstehen! Dieses besondere Exemplar will ich Dir gerne schenken.“, log al-Ralfi ungeniert weiter und hoffte inständig, dass er diese Frau endlich los wird, denn deswegen veranstaltete er den ganzen Popanz ja.
„Genug!“, rief nun Lemonada Jones in einem Anflug plötzlichen Heldentums. „Es reicht al-Ralfi! Gib die Frau her!“
al-Ralfi und Mahmud schauten verdutzt zu dem Abenteurer, der aus dem Halbkreis der Gefolgschaft trat und sich kampfeslustig vor den beiden aufstellte.
„Ich weiß genug über Deine Machenschaften, al-Ralfi. Und ich weiß, wie Du den Earl über‘s Ohr gehauen hast, als Du ihm Sand aus Raffgieristan angedreht hattest!“, sagte Jones.
Gubys Augen gingen auf und er schaute al-Ralfi erzürnt an.
„Was soll das heißen, he?“, spie er al-Ralfi förmlich entgegen.
„Nichts. Das war astreiner Sand, den es in London nirgendwo gibt!“, protestierte al-Ralfi.
„Und den keine Sau haben will!“, rief Jones.
In Gubys Kopf arbeitete es. Er zahlte ein kleines Vermögen für einen Sack voll Sand, den al-Ralfi ihm so schmackhaft machte, dass er wirklich dachte, etwas Besonderes zu besitzen. Doch keiner interessierte sich dafür. Der Sack lag im Keller unbeachtet herum und dem Earl kam der leise Verdacht, dass der Scheich ihn betrogen hätte. Andererseits brachte er ihm eine Frau. Große Ansprüche hatte er ja nicht. Solange es eine Frau ist, war sie ihm recht.
„Nun ist die Stunde der Gerechtigkeit da, al-Ralfi. Du kommst vor den Kadi, das schwöre ich.“, rief Lemonada Jones eine Spur zu theatralisch.
Plötzlich rannte al-Ralfi davon.
„Halt, stehen bleiben!“, rief Jones ihm nach. „Warum machen die das denn nie?“
Lemonada Jones nahm die Verfolgung auf und rannte al-Ralfi nach, der in seinem wehenden Gewand die Treppe hinter der Empfangshalle empor hechtete. Mahmud wollte seinen massigen Leib in Bewegung setzen und Jones an der Verfolgung hindern, doch in dem Moment, sprang Jenny Holmes Mahmud mit einem Angriffsschrei auf den Rücken. Mit den Fäusten hämmerte sie auf seinen Kopf ein, was Mahmud dazu brachte, wie ein Stier loszutraben und in Kreisen durch die Empfangshalle zu stürmen. Jenny klammerte sich mit ihren Beinen um Mahmuds Oberkörper. Wie beim Bullenreiten ging es wild herum. Jenny hämmerte immer noch auf ihn ein, bis er sie mit einer heftigen Bewegung abschütteln konnte. In hohem Bogen flog Jenny Holmes mit einem lauten gedehnten Schrei in einen der Brunnen. Das Platschen ihres Aufpralls ließ Mahmud wieder hellwach werden und er sah eben noch, wie Lemonada Jones al-Ralfi die Treppe nachjagte. Sofort machte sich Mahmud an die Verfolgung und wuchtete seinen Körper die Stufen der engen Wendeltreppe hinauf. In der Zwischenzeit verlief sich die Entourage, die irgendwo nach draußen, raus aus dem Sabberlot-Tower strömte.
Jenny kletterte pitschnass aus dem Brunnen, lief auf Maja zu, packte sie an der Hand und rief: „Los, komm schon. Weg von hier!“
So zog sie die perplexe Maja hinter sich her ebenfalls hinaus aus dem Tower, ungeachtet dessen, dass die nasse Kleidung mehr zeigte, denn verhüllte. Aber das war Jenny in diesem Augenblick egal.
Die Halle war nun leer, nur erfüllt von dem Plätschern der Brunnen und Guby, der Earl of Sabberlot, stand da und dachte nach.
„So, wo ist denn nun diese Frau?“, fragte seine Mutter, die aus einer Tür in die Empfangshalle kam.
„Weg.“, sagte Guby, bevor er in sein Spielzimmer ging und die Tür hinter sich ins Schloss warf.
Achselzuckend und kopfschüttelnd ging seine Mutter wieder zurück in die Küche und wunderte sich erneut über die gefühllose Gleichgültigkeit ihres Sohnes.
„Bleib stehen!“, rief Lemonada Jones al-Ralfi nach, der immer noch die Treppe empor raste. Immer höher den Sabberlot-Tower hinauf.
Jones wunderte sich, wie ein einzelner Earl so ein hohes Haus bewohnen kann und dachte bei sich selber, dass es gar keine schlechte Idee bei den vielen Stockwerken wäre, einen Fahrstuhl einzubauen. Aber seine Sorgen waren andere. Jedenfalls wurde der Abstand zwischen ihm und Mahmud, der hinter ihm die Treppe keuchend immer langsamer hochstieg, größer. Leider wurde der Abstand zu al-Ralfi nicht geringer und so musste man eben weiter den kräftezehrenden Aufstieg fortsetzen.
Auf dem Vorplatz des Sabberlot-Towers hielt Jenny inne und schüttelte Maja kräftig durch um sie zur Besinnung zu bringen. „Mensch, Du bist frei! Kapierst Du das? Es ist vorbei!“
Langsam kam auch Maja die Erkenntnis, dass ihr Martyrium nun ein Ende gefunden hat und zaghaft fragte sie: „Juli?“
„Kommt noch.“, lachte Jenny, der vor Rührung ein kleines Tränchen im Auge war.
Da hörte sie hinter sich ein laut gerufenes „Maja?“, drehte sich um und sah Julian Fuhseson aus einer Kutsche steigen.
„Maja!“
„Juli?“
„Maja!“
„Juliiiiiii!“
Julian rannte auf seine Geliebte zu, umarmte sie, drehte sich mit ihr im Kreis und die beiden küssten sich leidenschaftlich. Maja liefen die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen und selbst Jenny ergriff diese Szene, weswegen sie sich auch die eine oder andere Freudenträne aus den Augen wischen musste.
„Woher wissen Sie, wo wir sind, Mr Fuhseson?“, fragte Jenny, als sie der Meinung war, den richtigen Zeitpunkt dafür erwischt zu haben.
„Ein junger Bote gab mir Bescheid.“, sagte Julian, der immer noch Maja hielt und streichelte.
Jenny begriff und lachte, ließ die beiden ihr Glück genießen und betrachtete das Liebespaar mit Freude.
„Nun bleib endlich stehen!“, keuchte Lemonada Jones.
„Niemals. Bleib Du doch stehen!“, keuchte al-Ralfi nach hinten.
Die Treppe schien kein Ende nehmen zu wollen. Vielleicht war die Luft in dieser Höhe auch schon zu dünn, um noch vernünftig atmen zu können oder man war schlicht nicht mehr so fit, wie man es in jungen Jahren war. Beiden stand der Schweiß auf der Stirn, das Herz pochte und vor Anstrengung war es beiden schwindlig. Endlich hörte die Treppe auf und al-Ralfi kam auf die Dachterasse des Sabberlot-Towers. Nirgends konnte man höher in London stehen, als hier. Torkelnd vor Anstrengung suchte al-Ralfi einen Unterschlupf, doch da war nichts. Was nun? Als Lemonada Jones ebenfalls die Terrasse erreichte, drehte sich al-Ralfi im Laufen nach ihm um, trat dabei versehentlich auf einen Zipfel seines Thwab und kam ins Straucheln. Vergebens bemühte er sich darum, das Gleichgewicht wiederzufinden, kam dem Geländer an der Balustrade gefährlich nahe und stürzte mit einem dermaßen großen Schwung darüber hinweg, dass er das Geländer nicht mehr zu fassen bekam. Mit einem lauten Schrei fiel al-Ralfi in die Tiefe.
Lemonda Jones kam an der Stelle an, griff das Geländer und schaute al-Ralfi nach, wie er mit wehendem Gewand nach unten stürzte. Kurz darauf war auch Mahmud völlig außer Atem angekommen. Keuchend stand er neben Jones und schaute mit ihm seinem Effendi nach.
„Ui, da geht es aber runter!“, sagte Lemonada Jones und rief al-Ralfi nach, „Bist Du schon unten?“
„Noch nicht.“, ertönte es leiser werdend.
„Na, gut.... aber beeil Dich. Wir warten.“, rief Jones.
„Okay“, drang es abermals leiser zu ihnen herauf.
Jones und Mahmud standen an der Balustrade, schauten sich an und wussten nichts besseres zu tun, als sich die Zeit mit etwas Smalltalk zu vertreiben.
„Und?“, wollte Jones wissen.
„Joa.“, gab Mahmud schulterzuckend zur Auskunft.
„Frau und Kinder?“, fragte Lemonada weiter.
„Muss ja“, gab Mahmud knapp zur Antwort.
Ein dumpfes Ploff deutete an, dass al-Ralfi nun das Ende seiner letzten Reise erreicht hatte.
„Jetzt isser unten.“, sagte Lemonada Jones.
„Joa.“, meinte Mahmud.
„Und jetzt? Gehen wir an die Bar was trinken?“, fragte Jones.
„Joa.“, sagte Mahmud nickend und beide machten sich an den beschwerlichen Abstieg unzähliger Treppenstufen.
Hysterische Schreie von Passanten und das Geheul der Sklavinnen übertönten die Pfeifen der herbeigeeilten Polizisten, die den Platz um den Sabberlot-Tower absperrten. Der Leichnam al-Ralfis lag zerschmettert direkt vor dem Eingangstor des Towers und Jenny dachte sich, dass es schwer werden würde, seine Überreste vom Boden zu kratzen. Vielleicht mit einer Schaufel? Aber das sollte nicht ihr Problem sein. Julian nahm seine Maja mit in die Kutsche und fuhr mit ihr nach Hause, damit sie sich ausruhen konnte. Bevor sie abfuhren bedankte sich der junge Fuhseson überschwänglich bei der Meisterdetektivin, dass sie ihm geholfen hat, die Liebe seines Lebens zu retten und versprach sich beizeiten erkenntlich dafür zu zeigen. Jenny wiegelte erst einmal ab. Zunächst solle er sich um seine Verlobte kümmern und der Rest würde sich dann schon ergeben. Julian dankte erneut, bestieg die Kutsche und fuhr nach Hause. Jenny Holmes kam jetzt erst in den Sinn, dass sie ja noch immer diesen Sklavinnenfummel anhatte und schaute sich um, ob ihre Kleidung noch da wäre, doch vergebens. Die außer Gefecht gesetzte Sklavin kam wohl wieder zu Bewusstsein und zog mangels Alternative die Klamotten der Meisterdetektivin an. So blieb Jenny nichts weiter übrig, als in diesem Aufzug den Nachhauseweg anzutreten.
„Jenny?“, hörte sie dann Lemonada Jones Stimme und drehte sich zu ihm um.
Der Abenteurer trat aus dem großen Tor des Towers und kam auf sie zu.
„Ich dachte, das könnten Sie wohl brauchen... bei dem Wetter.“, sagte er und legte ihr einen Mantel um, den er wohl aus der Garderobe des Earl of Sabberlot stibitzte und in Jenny stritten widersprechende Gefühle über diesen Mann.
Sie lächelte ihn an, schaute in seine graugrünen Augen, holte sodann aus und gab ihm eine krachende Ohrfeige, dass er hintüber fiel und auf dem Hosenboden landete. Jones hielt sich die Wange, die pochend schmerzte und schaute zu Jenny empor, die sich den Mantel zuknöpfte.
„Ich hoffe, Sie wissen wofür?!“, sagte sie schnaubend, da sie nicht vergessen hatte, wie er sie untenrum bloßstellte. Eine Frechheit! Wobei ihr aber auch nicht seine Reaktion entging, die ihr sehr wohl schmeichelte.
***
Einige Tage nach diesen aufregenden Ereignissen traf man sich zum gesellschaftlichen Empfang auf Lemonshire ein. Neben Jenny Holmes waren natürlich Julian Fuhseson samt Verlobter, seiner Mutter Angela und selbstverständlich auch Adriana of Romanescu samt Gatten geladen. Auf Wunsch von Maja wurde ebenfalls Michaela Bellbottom zu dem Empfang eingeladen, die selbstredend anwesend war und den Salon mit Räucherstäbchen bestückte, die ihren penetranten süßlichen Duft verströmten. Der Earl of Sabberlot schlug die Einladung mit fadenscheinigen Erklärungen aus und blieb dem Ganzen fern, wie er es für gewöhnlich immer machte. Lord Lemon hielt Lady Biberly fest im Arm und verfolgte argwöhnisch Lemonada Jones mit einem Auge und Jenny ahnte nun, woher die Antipathie des Lords gegenüber seinem entfernt Verwandten herrührte. Der Gute hatte wohl Angst um seine hübsche Gattin. Nun, welch Filou dieser Abenteurer sein konnte durfte Jenny ja am eigenen Leib erfahren und deshalb konnte sie Lord Lemons Ängste durchaus verstehen. Angela Fuhseson saß auf einer Chaiselongue und drehte ihr Glas in den Händen. Die Mundwinkel nach unten und mit einer Zornesfalte, die sich anschickte in Größe und Tiefe dem Grand Canyon Konkurrenz zu machen, ärgerte sie sich über die Turtelei der jungen Leute.
„Ich liebe Dich!“, säuselte Julian zu Maja, die ihm beinahe auf dem Schoß saß.
Beide hatten ihre Stirn aneinander gelegt und rieben ihre Nasenspitzen.
„Nein, ich liebe Dich!“, turtelte Maja zurück.
„Ich lieb Dich aber mehr.“, behauptete Julian.
„Gar nicht, weil ich dich mehr als du mich liebst.“, schmollte Maja.
„Du kannst mich nicht mehr lieben, weil ich Dich immer einmal mehr liebe, als Du mich.“, sagte Julian.
„Und ich Dich immer doppelt so sehr!“, sagte Maja.
Angela Fuhseson hätte den beiden am gernsten das Glas an den Kopf geworfen, doch beherrschte sie sich und schluckte den Groll herunter. Sie wollte die Fröhlichkeit dieses Abends nicht stören. Da ließ sich Mrs Bellbottom neben sie auf die Chaiselongue pflatschen und sagte jovial: „Na, Angela, haste Spaß hier? Ist doch toll, nech?“
„Jaja...“, sagte Angela, dachte dabei aber, dass man Maja gerne in Raffgieristan hätte sein lassen können.
„Und, Mr Jones? Wie sieht nun ihre Zukunft aus?“, wollte Jenny von dem Schatzsucher wissen.
„Oh, da stehen schon Pläne an. Bevor Sie mich kontaktierten... das heißt, der olle Lord da... bereiteten wir eine Expedition zur Nilquelle vor. Wir haben Hinweise darauf, dass dort die Bundeslade mit den Steintafeln Moses zu finden sei.“, sagte Lemonada Jones nicht ohne Stolz in der Stimme.
„Ach, das klingt ja interessant. Wo ist denn eigentlich die Nilquelle? In meinem Atlas ist nur das Delta zu sehen, aber nicht, wo der Fluß verläuft. Afrika ist ja zu großen Teilen unbekannt.“, sagte Jenny.
„Das stimmt. Und sobald wir wissen, wo überhaupt die Nilquelle ist, werden wir auch die Zehn Gebote finden. Da bin ich mir sicher! Deswegen seien Sie mir nicht böse, meine liebe Ms Holmes, dass ich schon morgen meine Rückreise nach Ägypten antreten werde.“
„Nein, gar nicht! Mich erwarten auch neue Aufgaben. Es gibt so viele Fälle zu lösen.“, sagte Jenny und überspielte dabei die leichte Enttäuschung, die sie dann doch überkam.
„Gewiss haben Sie das als weltberühmte Meisterdetektivin. Dabei wünsche ich Ihnen auch den allergrößten Erfolg.“, sagte Jones.
„Danke. Und ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihrer Suche, Mr. Jones.“, sagte Jenny nun in Plauderlaune.
„Ach, sagt mal....“, fragte Lady Biberly in die Runde, „..was wurde nun eigentlich mit dem Rest der Raffgieris?“
„Die fuhren gleich wieder zurück und Mahmud übernimmt nun die Führung des kleinen Reiches. Hoffentlich besser und gerechter als es al-Ralfi tat.“, sagte Jenny und hob ihr Glas.
„Prosit!“, sagten alle Umstehenden wie aus einem Munde und nahmen einen großen Schluck zu sich.
E N D E
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Texte: Fizzy Lemon
Bildmaterialien: Ausschnitt aus "Der Sklavenmarkt" von Jean-Léon Gérôme
Cover: Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Angela, Adriana und Jenny
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