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Biberella

Für diese von mir frei erfundene Geschichte kamen keine Tiere zu Schaden.
Etwaige Ähnlichkeiten zu lebenden und/oder toten Bibern und/oder Personen sind rein zufällig und in keinster Weise beabsichtigt.

Vorwort

     Tarsis. Ein erst kürzlich von Menschen besiedelter Planet, der erst am Anfang seiner Terraformingprozedur steht. Noch kennzeichnen diesen einsamen Flecken im Universum nur Steinwüsten und spärliche Steppen, doch sind die ersten Siedler bemüht darum, diesen Zustand zu ändern.

    Die ersten Siedlungen bestehen aus einfachen Wohn- und Arbeitsmodulen, die zwar ein Leben ermöglichen, doch ist dies karg und immer noch von Entbehrungen gezeichnet. Die einzige Möglichkeit zur Zerstreuung und zum Amüsement ist das Saloon-Modul, hinter dem in großen Silos das aufwendig importierte Bier von der Erde gelagert und auch ausgeschenkt wird. Bis man auf Tarsis genügend Getreide und Hopfen anbauen kann um daraus eigenes Bier zu brauen, werden wohl noch hunderte Jahre vergehen. Bis dahin ist man auf die Versorgung von außen angewiesen.

    Wasser natürlichen Ursprungs gibt es zum Glück auf Tarsis, sonst hätte man nie an eine Besiedelung gedacht. Zumindest diese Grundvoraussetzung ist gegeben. Jedoch muss das Wasser erst aus großen Tiefen herauf befördert und geklärt werden, was einen immensen Aufwand mit sich bringt, denn das Gestein von Tarsis ist hart, sehr hart. Es vergehen zuweilen Wochen bis ein Brunnen gebohrt wurde und oft ist das Arbeitsmaterial danach hinüber, so dass man erst wieder auf Nachschub von der Erde warten muss. Aber in Tarsis-City, wie die ersten Siedler ihre Modulstadt liebevoll bezeichnen, glückten die ersten beiden Bohrungen und diese Brunnen liefern genug Wasser um alle Bewohner damit ausreichend zu versorgen.

    Das Leben in Tarsis-City gestaltet sich oft friedlich. Jeder geht mehr oder weniger gewissenhaft seiner Arbeit nach und es gibt kaum einen Anlass zu Streit oder etwas Ähnlichem. Nein, jeder weiß um die besondere Situation, die so eine Aufgabe mit sich bringt. Man ist weit weg von der Erde und auf sich alleine gestellt. Nur in einer starken Gemeinschaft kann man hier überleben und genau das ist in den Köpfen der Siedler verankert.

    Das Besiedelungsprogramm wurde ja nicht nur durch wissenschaftliche Aspekte zusammengestellt, sondern es mussten ja auch Arbeiter mit. Nur wenige Menschen waren bereit für fast nichts auf einen Steinklumpen irgendwo im All zu gehen und sich wund zu schuften. Ein paar Wenige suchten das Abenteuer, auch weil sie auf der Erde nichts mehr hielt. Aber das waren bei weitem nicht genug Menschen um den bevorstehenden Arbeitsaufwand zu bewältigen und so wurden Strafgefangene herangezogen, die mit Aussicht auf eine Amnestie ihre Chance in dieser neuen Welt suchen durften. Nur so konnte man das Programm besetzen. Dadurch entstand allerdings eine etwas merkwürdig anmutende Gesellschaft, die sich in Tarsis-City nun tummelte. Neben Wissenschaftlern, die die Arbeiten beaufsichtigten und die Labors bedienten, standen regelrechte Haudraufs, die oft auf Recht und Gesetz pfiffen, sich nie etwas von anderen vorschreiben lassen wollten und sich selbst am nächsten waren. Es gab schnell Bedenken, ob man diesen Personen den Zugang zum Saloon-Modul verwehren sollte, doch befürchtete man, dass man gerade durch so ein Verbot erst recht für Unmut sorgt und erlaubte auch ihnen den Zugang. Nach der langen Zeit, die viele dieser Menschen in Haft verbrachten, kam ihnen ein Saloon wie ein Paradies vor. Sie zechten ohne Mass, was schnell zu Entgleisungen führte und nach den ersten Schlägereien, denen man beinahe keinen Einhalt mehr gebieten konnte und der daraus resultierenden Schäden am Saloon-Modul, beschloss man einen Sicherheitsposten einzurichten. Die Ehre, diesen Platz besetzen zu dürfen, traf Biberella... was sie ungemein freute...

1 - Der Bierpirat

*

***

*

1.1

     Nach der langen Nacht tat die Dusche gut und Biberella schlug, nachdem sie sich abtrocknete, ihre langen, lockigen Haare in einen Handtuchturban. Sie verließ die Nasszelle und schritt zur Küchenzeile, wo sie schon der Duft frischen Kaffees erwartete, den der Computer zeitgenau aufbrühen ließ. Sie genoß die ersten Schlucke der belebenden dunkelbraunen Flüssigkeit und ließ ihren Blick durch das Fenster hinaus auf Tarsis-City schweifen. Immer noch verfluchte sie innerlich den Beamten, der sie hierher versetzte. Auf diesen Haufen öder Steine mitten im Nichts.

    Sie stellte die Tasse in die Spülmaschine und ging zurück in die Nasszelle, nahm das Handtuch ab und fönte noch schnell die letzte Feuchtigkeit aus den Haaren. Sie betrachtete sich im Spiegel und dachte bei sich selbst: „Hm, eigentlich nicht schlecht.“ Wenn nur die Biberzähne nicht wären, die immer vorwitzig hervorstanden und Biberella fürchtete immer noch, dass diese irgendwie ihre Autorität untergraben würden.

    Biberella verließ die Nasszelle und griff sich aus dem Schrank ihren hautengen blau-weißen Catsuit in den sie auch gleich schlüpfte. Danach zog sie noch die weißen Stiefel und die Handschuhe an und war bereit, den Tag zu beginnen.

    Es staubte gewaltig unter ihren Füßen als Biberella ihre Runde durch Tarsis-City machte. An manchen Tagen war die Luft so staubig, dass man sich mit einem Tuch vor Mund und Nase schützen musste, sonst blieb einem schnell die Luft weg. Heute ging es noch. Die Staubbelastung hielt sich in Grenzen und der Alltag nahm seinen gewohnten Gang. Dort hinten in den Glasmodulen waren die Botaniker mit der Aufzucht neuer Pflanzen beschäftigt, während die Feldarbeiter emsig damit beschäftigt waren den harten Felsboden aufzubrechen und abzutragen um dort fruchtbaren Boden zu gewinnen. Einer der Arbeiter lächelte und winkte freundlich Biberella zu, die den Gruß auch erwiderte und dann weiterging. Alles schien friedlich zu sein unter dem blauvioletten Himmel von Tarsis und Biberella lenkte ihre Schritte dem Saloon-Modul zu.

    Alle Blicke, vor allem die der anwesenden Männer, richteten sich auf Biberella, als sie den Saloon betrat und anmutig Richtung Theke schritt. Dort wurde sie schon von der Wirtin Luni erwartet, die bereits zu dem mit „Biberella"-gravierten Bierglas griff um es gleich zu füllen. Biberella liebte es so prompt und unaufgefordert ganz nach ihren Wünschen bedient zu werden und weil die schwarzhaarige Wirtin das auch immer zu ihrer Zufriedenheit tat, war sie hier gerne zu Gast. Obwohl, es war ja der einzigste Saloon weit und breit, also wo hätte Biberella denn sonst Gast sein sollen?! Luni stellte das volle Bierglas mit einem charmanten Lächeln und einem gesäuselten „Bitte.“ vor Biberella ab, die ebenso freundlich erwiderte: „Danke, Liebes.“ Schon griff Biberella das Glas und trank mit großen Schlucken das herrlich kühle Bier, damit der Staub aus der Kehle verschwindet.

    „Na, nichts los in der Stadt, oder?“ fragte Luni.
    „Nö, alles friedlich. So soll‘s ja auch sein.“ antwortete Biberella und nahm erneut einen großen Schluck.
    In der Tat war alles friedlich. Die Männer im Saloon saßen an ihren Tischen, tranken, spielten und unterhielten sich. Nur hinter Biberella am Tisch von Günni wurde getuschelt. Sie drehte sich um und sagte gespielt tadelnd: „Na, Günni, starrst mir wieder auf den Hintern?“ Da fiel Günni die Kinnlade herunter und er schaute peinlich berührt vor sich auf die Tischplatte. Mit einem schelmischen Lächeln im Gesicht drehte sich Biberella wieder zur Theke, griff nach ihrem Glas und trank auch noch den Rest Bier. Weil heute wohl ein lauer Arbeitstag sein würde, wollte sich Biberella noch ein weiteres Glas gönnen und bestellte das sofort bei der Wirtin. Luni nahm auch prompt das Bierglas, ging damit zum Zapfhahn und drückte den roten Knopf. Doch statts Bier kam nur ein Gurgeln gefolgt von einem Pffffft... das durchaus an andere Geräusche erinnerte. Lunis Augenbraue zuckte hoch, dann flatterte ein Lid und sie presste die Lippen fest aufeinander. „Was für eine... ?!“

    Biberella staunte auch nicht schlecht. Das erste Mal, seit sie in dieser Einöde leben musste, kam kein Bier aus dem Hahn? Wie kann das denn sein? Zumal erst vor ein paar Tagen eine neue Lieferung von der Erde kam? Die Silos müssten doch randvoll sein?

    Die Wirtin versuchte es erneut, drückte auf den roten Knopf, doch auch dieser Versuch misslang und es ertönten abermals nur röchelnde Geräusche. „Ja, leck mich doch am....“ wütete Luni los, stellte das Bierglas unsanft auf der Theke ab, wischte sich die Hände an der Schürze ab und verschwand durch die hintere Schwingtür nach draussen. Biberella folgte ihr unauffällig.

    Draussen an der Siloanlage begutachteten beide sowohl die Füllstandsanzeige wie auch die Ventile. Alles schien soweit in Ordnung zu sein, wenn man von der Tatsache absieht, dass eben kein Bier mehr in den Silos war.
    „Ich versteh‘ es nicht. Erst vorgestern kam doch eine neue Lieferung von der Erde. Die kann doch noch nicht getrunken sein? Und die nächste Lieferung kommt erst in 2 Monaten!“, sagte Luni achselzuckend.
    Biberella legte einen Finger an ihr Kinn und dachte nach. Wohin könnte all das Bier nur verschwunden sein? Kein Defekt an der Anlage. Also wurde es gestohlen! Und die Übeltäter würden sich wünschen nie geboren worden zu sein, wenn Biberella herausfand, wer dafür verantworlich ist. Das stand fest!!

1.2

     Mittlerweile tummelten sich auch die restlichen Gäste des Saloons draussen vor der Siloanlage und tuschelten untereinander. Auch Günni kam mit und schaute dem Treiben zu. Oftmals fragte man sich bei ihm, ob er überhaupt seine Umwelt verstand, wenn er mit wild umherwandernden Augen seine Umgebung zu durchsuchen schien. Aber irgendwie kam Günni klar mit sich und der Welt. Nur ab und zu konnte er sich nicht halten und als Biberella sich zu dem Stutzen am Biersilo bückte, entfuhr ihm ein hörbares Kichern beim Anblick ihrer prallen Kehrseite. Biberella fuhr auf, drehte sich zu ihm um und pfiff durch die Zähne: „Günni!!“.
    „Hö?“, war alles, was je über Günnis Lippen kam. Sozusagen seine Standardreaktion auf alles und jeden.

    So tumb Günni aber auch zu wirken schien, so zuverlässig war er in der Ausübung seiner Arbeit oder generell ihm übertragener Aufgaben. Genau diese Art der Hilfe benötigte Biberella nun, weil sie fest entschlossen war, dem Rätsel des verschwunden Bieres auf die Schliche zu kommen!

    „Günni, komm! Wir haben zu tun.“, befahl sie ihm und Günni nickte mit einem sabbernden Lächeln. „Luni, wir werden das Bier schon wiederfinden. Die Menge kann selbst der größte Schluckspecht nicht auf einmal getrunken haben.“, versprach sie der Wirtin.
    „Aber mach schnell, Biberella. Was soll ich denn sonst tun, wenn kein Bier mehr da ist? Sahne spenden?“, fragte sie und dabei entfuhr Luni ein Kichern.

    Biberella drehte sich um und ging schnurstracks zu ihrem Wohnmodul. Günni tippelte auf seinen kurzen Beinen hinterher und hatte sichtlich Mühe, ihr folgen zu können. Im Wohnmodul angekommen, rief Biberella die Videoaufnahmen der letzten 24 Stunden auf, insbesondere die, die den Saloon zeigten. Aufmerksam studierte sie die Zeitrafferaufnahmen, konnte aber bei aller Mühe nichts darauf erkennen. Also rief sie die Aufzeichnungen der letzten 72 Stunden auf. Nichts Außergewöhnliches war darauf zu entdecken, alles lief in normalen Bahnen. Das Lieferschiff kam, der Schlauch wurde am Silo angebracht, nach einer bestimmten Zeit wieder entfernt, die Lieferung quittiert.... scheinbar alles ganz normal. Aber was wäre, wenn das Bier gar nicht in das Silo gepumpt wurde? Hatte Luni auch wirklich kontrolliert, ob die Füllstandsanzeige voll war? Oder vertraute sie einfach darauf, dass alles wie immer sei und verzichtete auf eine Kontrolle? Biberella schaltete den Monitor aus und ging zurück in den Saloon.

    „Sag mal, Luni, hast Du nach der Bierlieferung auch wirklich kontrolliert, ob das Silo voll war?“, insistierte sie.
    Während Luni nachdachte, tippelte Günni etwas außer Atem in den Saloon und setze sich an „seinen“ Tisch, wobei seine tumben Äuglein Biberellas Hintern anvisierten.
    „Eigentlich nicht, ich vertraute darauf, dass alles wie immer sei und zeichnete einfach ab.“, gestand die Wirtin. „Obwohl ich mich schon wunderte, warum plötzlich ein anderer Lieferant da ist. Aber so ist die Welt, sie dreht sich und bleibt nie stehen. Nur sein Akzent war ungewöhnlich. So österreichisch.“
    „Aha!“, murmelte Biberella mit einem Kopfnicken und ihre blauen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Da setzen wir an. Günni!“
    „Hö?“
    „Komm, wir haben zu tun.“, sagte Biberella und schritt dem Ausgang zu, während Günni sich sputete ihr hinterher zu tippeln.

1.3

     Biberella ging mit weiten Schritten vom Saloon zu ihrem Wohnmodul. Günni tippelte mit seinen kurzen Beinchen hinterher, was nur zu drollig aussah. Doch Günni war einfach nicht schnell genug und kaum, dass Biberella ihr Wohnmodul betreten hatte, schloss sie die Tür. Geradewegs vor Günnis Nase. Dem Kleinen blieb nichts anderes übrig, als im Eingangsbereich auf der vor Sand und Wind geschützten Bank zu warten, bis Biberella wieder erschien.

    Biberella dachte scharf nach und befahl dem Computer eine Verbindung zu der Brauerei auf der Erde aufzubauen. Prompt erschien auch ein Bild auf dem Monitor und Biberella schaute in das Gesicht einer recht hübschen Blondine mit himmelblauen Augen, die allerdings etwas erzürnt schien, weil sie bei der wichtigen Aufgabe, ihre Nägel zu feilen gestört wurde.
    „Was gibt es?“ schnauzte sie etwas unwillig Biberella entgegen.
    „Hier ist Biberella, Sicherheitsbeauftragte von Tarsis-City. Ihre Firma lieferte vor kurzem an den hiesigen Saloon Bier. Kann ich jemanden sprechen, der dafür verantworlich ist?“
    „Wenn‘s sein muss...“ raunzte die Blondine gelangweilt und verdrehte die Augen, was gerade noch zu sehen war, bevor die Anzeige auf eine Warte-Animation umsprang.
Nach kurzer Dauer - Biberella hätte nicht gedacht, dass sie so schnell eine Verbindung bekam - meldete sich ein älterer Mann mit kahlem Schädel und auffallend grauen Augen. „Was kann ich für sie tun?“
    Auch er schien nicht besonders erfreut über die Mühe dieses Gesprächs zu sein. „Vor kurzem schickten sie eine Lieferung Bier nach Tarsis-City?“ erwiderte Biberella.
    „Ja.... ähm... das heißt... eigentlich nein. Die Ladung wurde zwar verschickt, aber von unserem Transporteur hörten wir nichts mehr. Das Schiff scheint verschwunden zu sein. Vielleicht auch gekapert? Jedenfalls meldeten wir das unserer Versicherung und warten seitdem auf Neuigkeiten.“ erklärte er dann doch recht jovial.
    „Aber die Lieferung kam doch hier im Saloon an? Sie wurde abgezeichnet und alles schien soweit in Ordnung zu sein. Bis auf den Umstand, dass nun das Bier alle ist. Deswegen melde ich mich ja bei Ihnen.“
    „Dass die Lieferung bei Ihnen ankam ist mir neu. Davon weiß ich nichts. Uns ist das abhanden gekommen und was Sie bekommen haben wollen, ist somit nicht von uns!“ Augenblicklich hatte sein Gesicht die Freundlichkeit verloren. Seine grauen Augen blickten plötzlich eiskalt aus seinem faltigen Gesicht, das durch den weißen Bart noch kälter wirkte. „Wenn Sie mir vielleicht Ihre Daten geben könnten? Dann würden wir weitersehen...“
    Biberella bekam eine leichte Gänsehaut. Irgendwie machte ihr der Kerl Angst, obwohl er sich nun doch hilfsbereit zu geben schien. „Gerne.“ sagte sie ohne Begeisterung in der Stimme und übermittelte die Kopie des Lieferscheins und die Überwachungsvideos an ihren Gesprächspartner.
    „Vielen Dank. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich das Material gesichtet habe. Schönen Tag noch.“
    Der Schirm wurde im Nu dunkel. Die Verbindung war beendet.
    „Sowas aber auch....?!“, dachte Biberella bei sich.

    Zwei Stunden später meldete der Computer eine Gesprächsanfrage von der Brauerei. Biberella nahm diese entgegen und blickte erneut in diese kalten, grauen Augen.
    „Hallo nochmal.“ Zumindest klang die Stimme nun freundlicher als zuvor. „Wir haben uns das Videomaterial angesehen. Das ist zwar unser Schiff, aber den Führer kennen wir nicht! Haben diesen Kerl noch nie gesehen. Wir haben das Material an unsere Versicherung weitergeleitet. Sollen die sich darum kümmern.“
    „Aber was wird nun aus uns? Wir haben kein Bier mehr!“ sagte Biberella mit allem nötigen Nachdruck in der Stimme.
    „Nun, Sie werden eben warten müssen, bis die nächste Lieferung bei Ihnen eintrifft. Ach ja, die Rechnung der letzten Lieferung werden wir Ihnen natürlich erstatten.“
    „Zwei Monate ohne Bier? Auweh, das gibt Randale...“ murmelte Biberella. „Danke dennoch für die Auskunft.“
    „Danke auch. Schönen Tag noch.“ sagte der weißbärtige Mann wieder in geschäftsmäßig nüchternem Ton, bevor der Monitor schwarz wurde und die Verbindung beendet war.

    In Biberella staute sich Wut auf. Wut auf den Bierdieb, Wut auf den glatzköpfigen Mann, der ihr Anliegen so lapidar abtat und vor allem Wut auf den Beamten, der sie in diese Einöde schickte, wo sie nun wahrscheinlich tagelang oder sogar wochenlang ohne Bier auskommen musste. Biberella riss die Eingangstür ihres Wohnmoduls auf und schritt forciert an Günni vorbei, dem sie noch ein wütendes „Komm endlich!“ zurief. Beide zogen wieder Richtung Saloon. Biberella erneut in ihrem unnachahmlichen Schritt, der ihre Hüfte wiegen ließ, dass den Männern von Tarsis-City der Atem stockte und Günni, der mit seinen kurzen Beinchen ihr hinterher tippelte.
    Am Thresen angekommen berichtete Biberella Luni sämtliche Neuigkeiten. Die Wirtin fasste sich an den Kopf und wusste gar nicht, was sie nun machen sollte. Ohne Bierausschank befürchtete auch sie, dass es schnell zu Unruhen kommen wird und sich die Haudegen in ihrer Wut gegenseitig die Köpfe einschlugen... was ihr weniger leid tat, als der befürchtete Schaden an ihrer Salooneinrichtung.
    „Warum habe ich auch nicht kontrolliert, ob die Anzeige auf >VOLL< stand?“ jammerte Luni noch.
    Biberella tröstete sie mit den Worten: „Ist schon gut. Wer rechnet auch mit sowas? Lass mal... das kriegen wir schon wieder hin.“ Das sagte sie zwar, auch wenn sie sich selbst nicht sicher war, ob und wie sie das hinbekommen sollte.

1.4

     Biberella ging zum Nachdenken gerne hinaus. Sie spazierte oft an dem Canyon entlang, der sich im Hinterland von Tarsis-City erstreckte. Sie genoß dabei die Ruhe der Einsamkeit, der man dort begegnet, denn kaum einer aus der Stadt kam hierher. Zu öde schien dieser Ort zu sein, aber eben diese Ödnis war es, die Biberella ungemein beim Nachdenken half. Sie schlenderte tief in Gedanken versunken entlang des Canyons und blickte dabei in den blauvioletten Himmel.

    Wie ging der Kerl vor? Täuschte er alle Saloons, die er belieferte so? Kannte er die Lieferpläne? Das Transportschiff hat nur eine bestimmte Reichweite, kann sich also nur in einem gewissen Bereich bewegen. Somit wäre der Kerl noch immer in der Nähe von Tarsis. Angenommen er verrechnet immer eine volle Lieferung und hat dabei aber nur wenig Bier in die Silos gepumpt... und vorausgesetzt niemand hätte diesen Schwindel bemerkt... dann würden in den Saloons auf allen Planeten und Planetoiden in der Nachbarschaft von Tarsis schnell die Biervorräte zu Neige gehen. Und dann müsste man auf eine neue Lieferung warten... eine Lieferung, die die Brauerei nicht so schnell liefern kann. Das gibt Ärger mit der Bevölkerung. Diesen zu vermeiden, hieße, Bier zu besorgen... egal woher... oder von wem...

    Biberellas Gedanken rasten. Wie immer hatte der Spaziergang durch das Ödland ihren Geist befeuert und langsam formte sich in ihrem hübschen Köpfchen ein Plan, wie man diesem Treiben ein Ende bereiten könnte. Flugs eilte Biberella zurück zu ihrem Wohnmodul.
Sie kontaktierte sämtliche Saloons in der Reichweite des Transportschiffs und ihre Vermutung bestätigte sich. In allen Saloons ging nach kurzer Zeit das Bier aus!

    Nun war Biberella in ihrem Element. Sie lief schnell in den Saloon, durchschritt ihn erneut mit wiegenden Hüften, jedoch nahm sie diesmal die gierigen Blicke der Saloongäste gar nicht wahr. Bei Luni angekommen sagte sie etwas außer Atem: „Luni, bestell Bier. Schnellstmöglich!“
    Die Wirtin stutze einen Moment und blickte etwas ratlos umher bevor sie mit einem gedehnten: „Ooookaaaay....“ dann doch tat, was Biberella von ihr forderte. Die Bestellung war aufgegeben und natürlich wurde Luni auf die nächste Lieferung in fast zwei Monaten vertröstet. „Erklärst Du mir nun, was Du vorhast?“ fragte die schwarzhaarige Wirtin Biberella.
    Diese begann zu lächeln, warf keck mit einer Hand eine Lockensträhne, die sich vor ihr Gesicht geschmuggelt hatte, zurück und säuselte beinahe: „Warte es ab. Wirst schon sehen.“ Dabei zwinkerte sie ihr fast konspirativ zu. Danach drehte sie sich um und ging an Günnis Tisch, an dem der Kleine recht vergnügt saß. Eigentlich wirkte er immer recht vergnügt, wenn er da saß. Biberella trat an Günni heran und streichelte ihm sanft über seine gedrungene Stirn und die schwarzen, kurzen Haare hinweg. Da leuchteten seine Äuglein und er ließ ein freudiges „Hö?“ von sich vernehmen.
    „Günni. Ich möchte, dass Du mir einen Gefallen tust.“ In Biberellas Stimme schwankte sogar ein Hauch von Erotik mit, als sie diese Bitte an Günni richtete. „Verstecke Dich bitte in der Gerätetruhe hinter dem Saloon. Sei mucksmäuschenstill und beobachte alles, wirklich alles ganz genau.“
    Der kleine Günni sprang auf, zwitscherte ein „Hö,hö!“ und tippelte zu der Hintertür des Saloons hinaus. Auch wenn Günni eine etwas merkwürdige Erscheinung war und man sich oft fragen musste, was in seinem kleinen Köpfchen vor sich ging, war er eine liebe Seele, immer hilfsbereit und entgegen allem Anschein äußerst zuverlässig.

    Nun hieß es warten. Harren der Dinge, die nun geschehen sollten, wenn denn Biberellas Plan aufginge. Sie ging von Günnis Tisch wieder zur Theke und setzte sich auf einen der Barhocker, der in diesem Moment von mehr als einem der männlichen Saloongäste um diese Ehre beneidet wurde.
    „Luni, mach mir bitte was zu trinken.“
    „Ja, aber was denn? Ich habe doch nichts mehr...“ sagte die Wirtin eine Spur zu larmoyant.
    „Dann ... gib mir ... halt... WASSER!“ stotterte Biberella, die selbst nicht so recht glauben konnte, dass sie diese Worte überhaupt über die Lippen brachte.
    Alle Augen waren nun auf sie gerichtet. Nach kurzer Totenstille war der Saloon mit einem Getuschel gefüllt und Biberella drehte sich auf dem Hocker um, schaute jeden Einzelnen im Saloon an, der sofort verstummte, als ihn der Blick aus ihren blauen Augen traf.

    So verging die Zeit. Die Gäste im Saloon unterhielten sich oder spielten und tranken dabei, was die Wirtin ihnen eben servieren konnte. Plötzlich unterbrach der Computer mit der Meldung einer Gesprächsanfrage dieses Treiben.
    Luni schaute verdutzt auf den Absender. Der Lieferant der Brauerei!
    Biberella lächelte, ihr Plan scheint aufzugehen.
    „Geh ran, Luni.“, sagte sie beinahe amüsiert und die Wirtin nahm das Gespräch entgegen.
    „Tarsis-City-Saloon. Luni hier. Was kann ich für Sie tun?“ Korrekt wie immer. Der Monitor zeigte aber nur ein diffuses, stark verrauschtes Bild auf dem man kaum etwas erkennen konnte.
    „Sie haben eine neue Lieferung Bier bestellt?“ erklang es mit einem deutlichen österreichischem Akzent.
    „Ja, wir brauchen dringend neues Bier. Die Vorräte sind alle. Wann können Sie denn liefern?“ fragte Luni, der langsam einleuchtete, was Biberella vorhatte.
    „Na, i bin ja in der Näh, des kann i am Obend no.“ erklang die Stimme etwas verzerrt.
    „Ja bitte, so schnell wie möglich.“ sagte Luni.
    „Jo eeeeeh, Express is deier.... dös wissens scho?“
    „Egal, wir brauchen Bier! Können Sie es heute noch liefern oder nicht?“
    „Scho.“ Kurz und knapp. Die Verbindung war beendet.
    „Äh...?“ Luni war etwas verdutzt, ob des plötzlichen Gesprächsabbruchs und warf Biberella einen fragenden Blick zu.
    Die Sicherheitsbeauftragte von Tarsis-City strahlte über das ganze Gesicht und ein Leuchten schlich sich in ihre blauen Augen. „Jetzt haben wir ihn!!“ jubilierte sie.

1.5

     Massige Staubwolken stiegen unter dem Transportschiff vom Boden auf, als dieses am frühen Abend hinter dem Saloon von Tarsis-City zur Landung ansetzte. Luni, Biberella und ein paar Gäste des Saloons warteten unter dem Vordach an der Hintertür darauf, dass die Landung vollzogen war. Aus dem Schiff trat ein mittelgroßer Mann mit kurzgeschorenen blonden Haaren. Sein fleckiger graublauer Overall machte einen schäbigen Eindruck und passte so gar nicht zu dem üblichen und wohlbekannten gelbbraunen Design der Brauerei. Als er zu Luni trat, konnte sie auf seiner Brust in einem weißen bestickten Oval den Namen Bernd lesen.
    „Guten Abend... Bernd.“ begrüßte die Wirtin den Lieferanten, der anstatt zurück zu grüßen nur mit der Hand abwinkt.
    „Wieviel Bier wollens denn?“ patzte er heraus.
    Luni zeigte auf das Silo und meinte mit einem charmanten Lächeln: „Volltanken, bitte.“
    „ Jo eh.“ war alles, was Bernd von sich hören ließ, als er umkehrte, zum Schiff lief und aus einer Luke an der Seite einen Schlauch zog. Damit ging Bernd zum Stutzen am Silo, schloß den Schlauch an und notierte den Stand des Zählers, der sich am Anschlußteil des Schlauchs befand.
    Biberella beobachtete alles ganz genau.
    Bernd schien alles korrekt zu machen. Er notierte und kontrollierte und öffnete dann das Ventil. Das Bier schien mit hörbarem Rauschen ins Silo zu fließen.
Biberella hatte allerdings ihre Hausaufgaben gemacht und sich in der Zwischenzeit mit der Materie vertraut gemacht. Sie wusste mittlerweile, wie diese Anlage aufgebaut war und wie die Komponenten aussahen. Auch auf den früheren Überwachungsvideos studierte sie jede Einzelheit ganz genau. Und deswegen fiel ihr auch die deutliche Verdickung unterhalb des Anschlußstückes des Schlauchs auf, die ihren Argwohn auf sich zog. Als Biberella zum Silo ging, um sich das genauer anzusehen, rief Bernd plötzlich in ungehaltenem Tonfall: „He, geh weg... du Pute. Schleich Di!“

    Die Reaktion war mehr als deutlich und zeigte Biberella sofort, dass sie voll und ganz auf der richtigen Spur war. Von Bernds Rufen unbeindruckt näherte sie sich dem Stutzen und sah dem Zeiger des Zählers zu, wie er sich stetig im Kreis drehte. Plötzlich wurde sie unsanft an der Schulter nach hinten gezogen. Überraschend heftig, sodass sie unversehens auf ihrem Hintern landete.
    „Na, bist deppert?! Da hast nix verlur‘n.“ raunzte Bernd und kümmerte sich kein Stück mehr um Biberella.
    Alle Anwesenden staunten über dieses Schauspiel. Doch Biberella warf sowas nicht aus der Bahn. Sie knirschte zwar mit ihren Biberzähnchen, aber die Wut, die in ihr aufstieg schluckte sie nicht runter. Biberella erhob sich in dem Moment, als Bernd nahe der Gerätetruhe stand, in der sie Günni wusste. Laut rief sie: „Günni! Fass!!“
    Der Deckel der Truhe flog nach oben und Günni schnellte heraus, packte Bernd von hinten, der völlig perplex reglos wurde. Biberella eilte auf die Beiden zu, wobei sie ein Paar Handschellen aus ihren Stiefelschäften holte, die sie Bernd anlegte, damit Günni ihn wieder loslassen konnte. Dieser gluckste vergnügt, als Biberella ihm zum Dank ein Küsschen auf die Wangen gab.

    Luni und die anderen Gäste betrachteten die Szene und Biberella ging lächelnd auf die Wirtin zu, nahm sie an der Hand und sagte: „Komm. Ich zeige Dir, was hier los ist.“
    Am Stutzen deutete Biberella auf die Verdickung und erklärte: „Hier läuft der Betrug ab. Der Zähler dreht, weil Bier aus dem Tank des Schiffes zwar durch den Zähler läuft, dann aber nicht ins Silo kommt. Zumindest nicht ganz. Ein kleiner Teil nur landet im Silo, der größere Teil läuft durch diesen unteren Schlauch wieder zurück ins Schiff. Wer nicht aufpasst oder sich von Bernd zuquatschen lässt, wenn er den Erhalt der Lieferung quittiert haben möchte, der merkt gar nicht, dass kaum etwas im Silo ist, obwohl ja eine gehörige Zeit getankt wurde und das Sirren der Zähleruhr zu hören war. Also zeichnet man einfach ab, bezahlt und wundert sich dann, dass kein Bier mehr kommt.“

    Luni staunte nicht schlecht und nun fiel ihr auch wieder ein, dass der Lieferant sie ständig bequatschte und ihr währenddessen die Quittung vorhielt, damit sie die endlich abzeichnet.
    Voller Dankbarkeit umarmte Luni Biberella, die sich dann ganz pflichtbewusst um die Inhaftierung Bernds kümmerte. Günni selbst trippelte wieder zurück in den Saloon und Luni füllte das Silo randvoll mit Bier.

    Nachdem Bernd in sicherer Verwahrung war, kontaktierte Biberella die Brauerei und erstattete Bericht. Dabei erfuhr sie auch, dass der eigentliche Transporteur mittlerweile gefunden wurde und wohlauf sei. Die Polizei schicke in den nächsten Tagen von der Erde ein paar Beamte, die den Bierpiraten Bernd dann in die Heimat bringen werden, damit man ihn dem Richter vorführen könne. Selbstverständlich bedankte sich die Brauerei bei Biberella mit einem Gutschein zur kostenlosen Besichtigung des Brauereigeländes... was Biberella dankend ablehnte. Ihre Gedanken diesbezüglich darf der Autor aus Jugendschutzgründen hier nicht wiedergeben.

    Biberella konnte nun den Fall abschließen und begab sich in den Saloon, wo sie Günni vergnügt vor einem Gläschchen Bier an seinem Tisch sitzen sah, die lüsternen Blicke der Herren spürte und Luni lächelnd zum „Biberella"-Glas griff und dieses mit köstlichem Bier füllte, während Biberella dem Barhocker das Glück bescherte, das den Herren im Saloon verwehrt blieb. Prost!

 

E N D E

2 - Die Entführung der spektakulären JenJen

*

***

*

2.1

Eine lange und sehr produktive Periode verging auf Tarsis. Was aber noch viel wichtiger war, eine sehr friedliche. Tarsis-City wuchs durch eine Vielzahl an Modulen für Forschung und natürlich auch für die Einwohner dieses entlegenen Fleckchens. Die Forscher schufen viele Möglichkeiten den Planeten zu formen und längst konnte man mit Erfolgen aufwarten, die Tarsis langsam aber sicher ein grünes Gesicht verlieh. Das ausgebrachte Steppengras, das eigens für diesen Planeten gezüchtet wurde, überzog die weiten sonst staubigen Flächen und diverse Moose sorgten dafür, dass sich mit der Zeit sogar fruchtbare Erde bildete, die man sonst nur mühsam unter dem harten Gestein finden und fördern konnte. Aber auch in dieser Hinsicht zeitigten die wissenschaftlichen Anstrengungen bald Erfolge und es war möglich durch neu konzeptionierte Gerätschaften sogar eine Art Bergbau zu ermöglichen. Diese neuen Maschinen brachen die harte Oberfläche des Planeten auf und man konnte tiefe Stollen ins Innere treiben, wo man dann untertage wertvolle Rohstoffe abbauen konnte, die wiederum für das weitere Leben auf Tarsis unabdingbar waren.

 

Immer mehr Module reihten sich aneinander und mit der Vielzahl neuer Arbeitsstätten vergrößerte sich auch die Anzahl der Einwohner. Nicht nur in Tarsis-City selbst, sondern auch in den anderen Ansiedlungen, die man aufgrund der Erfolge der Wissenschaftler in der Vergangenheit von Tarsis-City errichtete. Zwischen den einzelnen Ansiedlungen blühte schon bald ein reger Handel, eigentlich mehr eine Art Warenaustausch. Was in Tarsis-City nicht hergestellt oder entwickelt wurde, besorgte man sich in einer der anderen Modulstädte und selbstverständlich lieferte man, was man selbst produzierte. Beispielweise das Biberbräu-Bier, extra so wegen Biberella genannt, wegen ihres heldenhaften Einsatzes gegen Bernd, den Bierpiraten. Durch das Aufbrechen des harten Felsbodens, der für den Planeten Tarsis so typisch ist, gewann man genug Anbaufläche für Gerste und Hopfen um eine ausreichende Menge Bier zu brauen, die für mehr Einwohner als Tarsis-City hatte, ausreichte. Und Biberbräu war anderswo sehr begehrt. So änderte sich im Lauf der Zeit das Antlitz von Tarsis von einem grauen Steinklumpen hin zu einer langsam grüner werdenden, von Ackerbau und Bergwerksstollen gekennzeichneten Landschaft, die sich weithin unter dem blau-violetten Himmel erstreckte.

 

Tarsis-City selbst wurde für mehr und mehr Menschen interessant, die auf der Erde vergeblich ihr Glück versuchten und auf diesem nun immer dichter besiedelten Planeten gute Geschäfte witterten oder sich sonstige Erfolge versprachen. So entstand neben Lunis Saloonmodul ein Casino, in dem man bei Würfel- und Kartenspielen, sowie an vielen Glücksspielautomaten auch seinen Lohn auf den Kopf hauen konnte. Selten gewann man mal was, aber immerhin, man gewann etwas! Und diesen kleinen Gewinn konnte man dann auch schnell wieder loswerden. Entweder im Saloon oder im neuen Freudenhausmodul von Madame Hasal.

 

Die Einwohner von Tarsis-City sahen dieses Modul zunächst gar nicht gerne in ihrer Stadt, da bekanntlich ein großer Teil der Bewohner zwar amnestierte, dennoch ehemalige Strafgefangene waren, denen es immer noch an gewissen Umgangsformen mangelte. Zwar gab es nie nennenswerte Vorfälle, von wenigen Anzüglichkeiten abgesehen, die aus einer Alkohollaune heraus im Saloon vorkamen, aber die wurden meist von Biberella geschlichtet und waren in der Regel nur von verbaler Natur. Was aber nie von der Hand zu weisen war, war die Frage, ob die sexuelle Enthaltsamkeit, die das Leben auf Tarsis situationsbedingt mit sich brachte, nicht ein so großes Konfliktpotential beinhaltete, dass dies früher oder später zu einem Problem würde. Ein Umstand, der die eigenständige Verwaltung von Tarsis, die vor ein paar Jahren gegründet wurde, zu einer Ansiedlung eines Freudenhausmoduls zustimmen ließ. Natürlich wählte man aus, wen man diesen Versuch machen lassen wollte und schlußendlich fiel die Wahl auf Madame Hasal, eine schon betagtere, aber souverän und doch stringent wirkende Dame, deren Konzept den Verwaltungsrat überzeugte.

Allen Zweiflern und Spöttern zum Trotz schien dieses Modul der Stadt sogar gut zu tun, denn gerade die ruppigsten Gesellen dieser Modulstadt wurden umgänglicher und gelassener und durch diese Entwicklung bekam insbesondere Madame Hasal immer mehr Akzeptanz und Rückhalt in der Gesellschaft. Auch die Sicherheitsbeauftragte Biberella kam gut mit dieser älteren Dame und ihren Mädels aus, die mit ihren aufreizenden Tänzen und den sonstigen Diensten hinter verschlossenen Türen für Amusement bei vielen Herren sorgten. Das Freudenhaus von Madame Hasal war schnell etabliert und kaum einer der Herren wollte es je wieder missen. Selbst die, die sich keinen „Zimmerservice“ leisten konnten, verkehrten dort. Alleine schon wegen der Bühne die inmitten des großen Salons, wie man den Hauptraum nannte, steht und auf der Lulu, die afrikanische Schönheit oder die rassige rotblonde Bubu mit ihren Tänzen den Männern ordentlich einheizten. Diese Bühne mutete schon etwas fremdartig inmitten der rustikalen Stilmöbel an, die im Raum standen, dessen Wände mit schwülstigen Stuckornamenten (natürlich aus Kunststoff) mitsamt roten Samtintarsien überfüllt waren und der vom schwachen Schein der kleinen Lämpchen auf den Tischen der Gäste erleuchtet wurde. Dabei hatten es diese Funzeln freilich schwer gegen die Bühnenbeleuchtung, aber da sollte man auch hinschauen und nicht zu den Gästen, die sich gerner im Dunkeln versteckten. Biberella war da auch öfters zu Gast und schaute sich die Darbietungen an. Natürlich aus rein beruflichen Gründen.

 

Unter den Gästen dieses Etablissements fand man auch die Walden-Brüder. Vier grobschlächtige Kerle, die im Bergbau gutes Geld verdienten und dieses auch gerne bei Madame Hasal liegen ließen, obwohl deren Anwesenheit im Freudenhaus nicht sehr gerne gesehen wurde, da die Walden-Brüder gerne kräftig aus der Spur sprangen, wenn sie getrunken hatten. Jedoch blieben sie nie etwas schuldig. Sie zahlten immer ihre Zeche und verschwanden danach wieder für zwei oder drei Wochen von der Bildfläche. Anders sah das mit so manch bekannten Feldarbeitern aus, die sich gerne vergnügten und dann gar nicht oder nicht alles bezahlen konnten. Streitigkeiten mit diesen wurden aber schnell von Biberella beiseite gelegt und die Androhung einer längeren Haft oder dem Entzug der Amnestie ließ so manchen Zechpreller reuig werden und seine Schulden alsbald bei Madame Hasal begleichen.

 

Biberella hielt natürlich Luni, der schwarzhaarigen Wirtin des Saloonmoduls, die Treue und trank ihr Bier grundsätzlich nur hier; aus ihrem eigenen gravierten Bierglas. Doch Luni schien betrübt zu sein. Der Umsatz ging massiv zurück seit das Casino und das Freudenhaus in der Stadt waren. Die konkurrenzlosen Zeiten waren eindeutig vorbei und in der Tat schien es im Saloon immer ruhiger zu werden. Hinter Biberella saß noch immer glucksend Günni an seinem Tisch, der immer noch verstohlen manch intensiven Blick auf Biberellas Hintern warf, wie er es schon seit jeher tat und was Biberella auch nicht störte, wusste sie doch, von wem diese Blicke kamen. Doch davon abgesehen war es ruhig geworden im Saloon.

 

Eines Tages gab es einen Menschenauflauf vor Madame Hasals Freudenhaus. Auf dem großen Display über dem Eingang, auf dem man sonst nur lesen konnte um welches Modul es sich hier handelte, sah man ein Werbebanner, das eine umwerfende blonde, blauäugige Schönheit zeigte, nebst der Ankündigung, dass ab morgen die legendäre JenJen hier auf der Bühne von Madame Hasal ihre Kunst zum Besten geben wird. Den meisten Männern stand der Mund vor Staunen offen und manch einem wären schier die Augen aus dem Kopf gefallen. Viele der Stammgäste des Freudenhauses hatten schon oft das Vergnügen mit Lulu und Bubu und die Abwechslung würde gut tun, vor allem, wenn es sich um so eine Abwechslung handelte.

Biberella sah die Werbung natürlich auch und befürchtete insgeheim, dass dies zu Unannehmlichkeiten führen könnte. Dabei dachte sie sich, dass es diese Vermutungen auch schon gab, bevor das Freudenhausmodul nach Tarsis-City kam und die Sorgen sich danach als unbegründet erwiesen. Also wäre es besser, erst einmal abzuwarten, wie sich das entwickeln wird.

2.2

Der Abend war angebrochen und Biberella hatte ihre Runde durch die Stadt beendet. Wie immer zu Feierabend begab sie sich zu Lunis Saloon, den sie immer anmutig durchschritt und dann auf ihrem Barhocker Platz nahm. Die Wirtin Luni griff schon automatisch zum „Biberella"-Glas und füllte es sorgfältig mit Biberbräu, um es danach charmant lächelnd vor der Sicherheitsbeauftragten auf dem Tresen abzustellen.

„Sag mal, Biberella, gehst Du heute rüber zu Madame Hasal um Dir die Neue anzuschauen?“, fragte Luni.

„Ja. Alleine schon, weil ich sehen möchte, wie die Herren reagieren. Nicht, dass es nachher noch Ärger gibt“, erwiderte Biberella zwischen zwei Schlucken.

„Mir gefällt das alles irgendwie nicht. Wenn das so weiter geht, habe ich bald gar keine Kundschaft mehr und kann dichtmachen“, seufzte Luni.

„Ach was“, winkte Biberella ab, „Bei Dir wird man immer einkehren. Das ist jetzt nur der Reiz des Neuen und wenn der verflogen ist, kehrt man zu Bewährtem zurück.“

„Na toll, jetzt fühle ich mich alt!“, stöhnte die Wirtin theatralisch und musste dann lachen.

Biberella fiel in das Lachen ein und ließ sich noch ein Glas nachschenken. Scheinbar war die ganze Stadt begierig auf diese neue JenJen, nur Günni saß im Saloon an seinem Tisch und schien nicht im mindesten daran interessiert zu sein. Es gab Zeiten, da machte sich Biberella Sorgen um den Gemütszustand des kleinen Kerls. Zugegeben, er war schon eine seltsame Type, aber er war immer hilfsbereit und wenn man ihm was auftrug, erledigte er es mit großem Ernst und Pflichtgefühl. Dabei forderte er nie wirklich was als Lohn, sondern freute sich immer über das, was er bekam. Selbst wenn es nur ein Küsschen von Biberella war.

 

Das „Biberella"-Glas war ausgetrunken und die Sicherheitsbeauftragte verabschiedete sich von Luni. Im Hinausgehen strich sie noch ein paar kleine Falten, die sich am Oberschenkel ihres blau-weißen Catsuits gebildet hatten, glatt und ging dann schnurstracks hinüber zu Madame Hasals Freudenhaus, wo sie sich die Premiere der großartigen JenJen anschauen wollte.

 

Im Salon des Freudenhauses standen die Gäste Schulter an Schulter dicht gedrängt. Die Bedienungen hatten es schwer mit den bestellten Getränken durch die Menge zu kommen und es wurden teilweise schon unmutige Rufe laut, weil der Alkoholnachschub ausblieb. Wie zu Beginn jeden Abends tauchte Madame Hasal am hinteren Teil der Bühne mit einer Glocke in der Hand auf und ein Spot wurde auf sie gerichtet. Die Anwesenden applaudierten ihr zu.

„Meine Damen und Herren!“, erhob Hasal nun die Stimme, „Ich heiße Sie herzlich Willkommen in meinem Etablissement und hoffe, dass Sie sich hier prächtig amüsieren werden. Der Abend kann beginnen!“

 

Mit diesen Worten eröffnete Madame Hasal immer die Show am Abend. Sie ließ die Glocke in ihrer Hand dreimal schlagen und verließ dann die Bühne, während Lulu, die Afrikanerin aus der Garderobe kam und mit einer exotisch wirkenden Tanzeinlage begann. Natürlich war es wichtig auch auf Tarsis Klischees zu bedienen und so wurde Lulu in ein Bananenröckchen mit Kokosnussschalen-BH gekleidet. Ihr Tanz wurde immer wilder und ihre schwarzen geknüpften Haare flogen wild von der einen zur anderen Seite, während sie ihren Körper regelrecht vibrieren ließ. Der Clou an Lulus Nummer war, dass sie während des Tanzes regelmäßig eine Banane verlor bis das Röckchen den Blick auf ihren schwarzen String gänzlich freigab. Zum Schluß fielen noch unter großem Jubel der Zuschauer die Kokosnussschalen. Alle applaudierten und Lulu verbeugte sich, sammelte dann ihr Kostüm ein und verschwand hinter die Bühne in die Garderobe.

 

Nun war die rotblonde Bubu dran. Anmutig, in einem roten Chiffonkleid, schritt sie auf die Bühne. Bubus Tanzeinlage war nicht so wild, wie die von Lulu. Diese Tanzeinlage war mehr die ruhige, eher sinnlich anmutende. Ihr Körper bewegte sich in sanften Wellen einer Schlange ähnlich, die Hüfte kreiste hypnotisierend und die Augen der anwesenden Männer wurden größer, je weniger Bubu anhatte. Auch sie ließ erst das Kleid fallen um sich kurze Zeit danach ihres roten Balconette-BHs zu entledigen. Kaum hatten die Herren einen Blick auf diese zartrosa Knospen ihrer üppigen Brüste, johlten sie auch schon los und applaudierten Bubu, die nun auch wieder hinter der Bühne verschwand.

 

Nun war der Moment gekommen, in dem Madame Hasal vom Balkon über der Bühne herab die neue Sensation ankündigte. Die Lichter verloschen und nur langsam wurde die Musik lauter. Da ging ein Lichtkegel an, der direkt auf JenJen strahlte, die nun auf der Bühne war. Gekleidet in einen Traum aus blauem Stoff, geschmückt mit türkisen Federn blickte sie aus himmelblauen Augen in den Raum. Die Musik nahm langsam Fahrt auf und JenJen bewegte sich anmutig über die Bühne zu der Stange, die am vorderen Teil in den Bühnenboden eingelassen war. Alleine dieser Gang ließ die bis jetzt noch grölenden Männer verstummen. Alle starrten nur auf diese Erscheinung, die sich nun mit der schwungvolleren Musik an der Stange drehte und eine Tanzeinlage darbot, die ihresgleichen suchte. Die Bewegungen ihres Körpers, das Kreisen ihrer Hüfte ließ eine erotische Aura erzeugen, die alle Gäste des Hauses erfasste. Selbst Biberella konnte sich einer gewissen Anziehung nicht entziehen. Die Herren hatten Mühe die Beule in ihrer Hose zu verdecken, die mit jedem Kleidungsstück, das JenJen gekonnt auszog und in die Zuschauermenge warf oder lasziv fallen ließ, größer wurde. Manch männlichen Zuschauer lief schon ein Speichelfaden aus dem Mundwinkel wenn er nur die knackigen Pobacken dieser Tänzerin sah, deren Zauber von dem blauen String nur noch unterstrichen wurde. JenJen drehte sich wild im Kreis und ließ die blonden Haare mit Wucht herumfliegen und in dieser Drehung öffnete sie den BH und präsentierte ihre formvollendeten Brüste. Zwei Marzipanhügel, die von einem rosa Cremehütchen gekrönt waren - wie ein Konditor sie beschreiben würde - ließen die Zuschauer aufjohlen. Sie riefen, pfiffen, applaudierten und warfen ihr sauer verdientes Geld freimütig auf die Bühne. JenJen verneigte sich, sammelte dabei die Geldscheine vom Bühnenboden und warf den Herren noch ein Lächeln zu, bevor sie hinter der Bühne verschwand. Sie war zufrieden mit dem unübersehbaren Erfolg ihrer Darbietung und wusste, dass so mancher Herr alles dafür gegeben hätte, mit ihr auf das Zimmer zu dürfen. Doch JenJen war für den Zimmerservice nicht zu haben. Diese Lust mussten die Männer bei Lulu und Bubu befriedigen, was die Kasse von Madame Hasal ordentlich klingeln ließ.

 

Auch Biberella war durchaus angeregt und musste zugeben, dass die Aussage „Sensation“ wahrlich treffend war. Während Biberella noch in teilweise erotischen Gedanken schwelgte, rempelte sie Waldi Walden, der älteste der Walden-Brüder, an, der es plötzlich sehr eilig zu haben schien, das Etablissement zu verlassen. Auf dem Weg zum Ausgang schubste er noch ein paar Männer an, aber bei einem ruppigen Kerl wie Waldi Walden war das nichts ungewöhnliches und Biberella machte sich da auch weiter keinen Kopf. In dem war sowieso eben nur wenig Platz für andere Gedanken und mit diesem Kopfkino beschloss sie den Tag und ging nach Hause.

2.3

Am nächsten Morgen schrillte plötzlich das Kommunikationssystem in Biberellas Wohnmodul los. „Wenn mal jemand anruft, dann muss das immer dann sein, wenn ich gerade unter der Dusche bin!“, maulte Biberella los, stellte das Wasser ab und verließ die Dusche, während sie noch schnell ein Handtuch schnappte und sich damit auf dem Weg zum Kommunikationssystem das Gesicht trocknete. Sie tippte mit ihrem Finger auf den Annehmen-Button und hielt sich das Handtuch vor die Brüste, bevor die Kamera anging und auf dem Display ihr Gesprächspartner zu sehen war.

„Biberella? Madame Hasal hier. Es ist was passiert! Kommst Du rüber?“, sagte Hasal ziemlich schnell.

Biberella war etwas verwundert und musste sich erst fassen, bevor sie erwiderte: „Ja... äh.. doch, ja... was ist denn passiert? Und guten Morgen erstmal.“

„Oh ja, entschuldige, guten Morgen“, sagte Madame Hasal kopfschüttelnd, so als ob sie sich selbst erst sammeln müsste. „JenJen ist verschwunden! Komm bitte rüber... ich möchte das lieber persönlich besprechen... und Biberella?“

„Ja?“, fragte die Sicherheitsbeauftragte, die mit triefenden Haaren vor der Kamera stand und nicht bemerkte, dass sie das Handtuch absinken ließ.

„Zieh Dir vorher was an“, schmunzelte Hasal augenzwinkernd.

„Okay. Bis gleich“, würgte Biberella das Gespräch eher ab.

Irgendwie kam es ihr merkwürdig vor, dass Hasal erst voller Besorgnis schien und dann zum Schluß noch jovial scherzen konnte. Aber vielleicht ist das auch nur Konfusion resultierend aus dem besonderen Moment der Situation?

 

Auf dem Weg zurück in die Nasszelle rubbelte Biberella noch den Körper trocken und fönte dann ihre langen brünetten Locken trocken, bevor sie sich in ihren hautengen blau-weißen Catsuit zwängte, die weißen Stiefel überstreifte und zum Schluß ihre Hände in die weißen Handschuhe schlüpfen ließ. Ein kurzer kontrollierender Blick in den Spiegel und schon begab sie sich hinüber zu Madame Hasals Freudenhaus.

 

Dort wurde die Sicherheitsbeauftrage auch schon von der älteren Dame erwartet, die unfrisiert und in ihrem Morgenmantel gekleidet ein Tablett mit Kaffeekanne und Tassen auf einen der Tische abstellte. Anstatt Biberella einen Platz an diesem Tisch anzubieten, winkte Madame Hasal ihr nur zu, dass sie ihr folgen sollte und ging bereits die Treppe empor, die hinauf zu den Zimmern führte. Biberella folgte ihr natürlich und betrat das Zimmer, in dem JenJen wohnte.

 

Der ganze Raum war ziemlich verwüstet. Das Bett war so zerwühlt, dass man meinen könnte, darin wäre eine Bombe explodiert und der Spiegel an der Wand hinter dem Bett lag in Scherben überall herum. Eine Vase, die wohl auf einem kleinen Tischchen stand, das umgeworfen in der Ecke des Raumes lag, war ebenfalls in Scherben auf dem Boden in einer kleinen Blutlache. Wahrscheinlich schnitt sich jemand an diesen Scherben? Biberella schaute sich um. Sie scannte beinahe den Raum und ließ ihre blauen Augen herum wandern. Jedes Detail prägte sie sich ganz genau ein. Anstelle des Fensters war nur ein Loch in der Wand und als Biberella durch dieses sah, entdeckte sie auch die Überreste dessen, was einst dieses Fenster war, auf dem Boden hinter dem Freudenhaus. Nun, die Bauweise dieser Module, die in Teilen einfach nur zusammengesteckt waren, ließ es zu, dass man beispielsweise ein Fenster einfach austauschen konnte. Dazu musste man aber meist erst Klammern oder sogar Nieten lösen. Somit stellte sich hier schon die Frage, wie dieses Fenster einfach so aus der Wand geraten konnte?

 

Madame Hasal und Biberella gingen wieder nach unten in den Salon und setzten sich an den Tisch, auf dem das Kaffeeservice stand. Hasal schenkte Biberella eine Tasse von diesem herrlich duftenden Gebräu ein und goß sich anschließend selbst eine Tasse voll.

„Was denkst Du, Biberella?“, fragte sie dann die Sicherheitsbeauftragte, während sie sich etwas Milch und Zucker in den Kaffee tat.

„Da war wohl jemand scharf auf JenJen. Sieht alles so aus, als ob es einen Kampf gab und sie entführt wurde“, sagte Biberella etwas gelangweilt, weil sie diese Aussage für überflüssig hielt, da dies ja mehr als offensichtlich war.

„Biberella, ich zähle auf Dich. Besorge mir mein Mädchen wieder. Wenn Du es nicht schaffst, dann werde ich meine Kontakte spielen lassen und dann gnade diesem Drecksack Gott!“, sagte Hasal in einem Ton, der Biberella etwas schauern ließ. Das war nicht der gewohnte joviale Tonfall, den man von dieser Dame kannte.

„Mal langsam, Hasal, ich habe sogar schon einen Verdacht. Aber das muss erst festgestellt werden und dann sehen wir weiter. Wir wollen ja Niemandem zu Unrecht was anlasten. Auf jeden Fall aber kannst Du sicher sein, dass, wenn ich denjenigen erwische…“, Biberella machte eine rhetorische Pause, „... ihm mehr als nur ein Gott gnaden muss!“

„Wir verstehen uns…“, sagte Hasal, lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Kaffee.

„Natürlich“, nickte Biberella, trank ihre Tasse aus und stand auf. „Ich melde mich bei Dir und halte Dich auf dem neuesten Stand.“

„Gut“, war alles, was Madame Hasal noch sagte, während sie mit den Augen Biberella folgte, die das Freudenhaus dann auch verließ.

 

***

 

Im matten Schein schwacher Lampen kam JenJen langsam wieder zu sich. Ihr Kopf schmerzte und sie schmeckte etwas metallisches im Mund. Sie kannte den Geschmack von Blut und sie hatte Mühe, ihr linkes Auge zu öffnen. Sie wollte die lädierte Stelle befühlen, doch konnte sie ihre Hände nicht bewegen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie gefesselt in ihrem zerrissenen Negligee irgendwo in einem dunklen Gefängnis war. Angst stieg in ihr auf. Plötzlich schälte sich aus der Dunkelheit eine Gestalt heraus, die auf JenJen zukam. Angstvoll blickte sie zu dieser und es machte sich Panik in ihr breit. Dieser Kerl musste ihr das angetan haben und sein fieses Grinsen ließ sie schauern. Ihr Herz raste vor Angst und ihr wurde übel als der Kerl näher kam und dabei seinen Gürtel und dann die Hose öffnete. Mit kräftigen Händen packte er ihre Beine und hielt sie eisern fest. Mit einem kräftigen Ruck riss er ihr den String vom Leib. Ihr linker Fuß schmerzte höllisch wegen einer tiefen Schnittwunde, die sich die Blonde bei dem Gerangel zuzog und JenJen schrie als der Kerl in sie eindrang.

Doch ihre Schreie verhallten ungehört in der Dunkelheit.

2.4

Biberella wollte hinter das Freudenhaus um sich die Stelle rund um das herausgerissene Fenster noch einmal genauer und in Ruhe anzusehen, als sie plötzlich von der anderen Straßenseite her hörte: „Pssst, he... Sie da! Kommet Se mal her zu mir.“

Biberella ging über die Straße und stand vor einem Fenster aus dem sie eine üppige blonde Lockenpracht anblickte, aus der diese Worte wohl kamen.

„Hearat Se, i han da fei was g‘säa.“

„Guten Tag erstmal“, begrüßte Biberella die Frau, die erstmal ihre Locken zur Seite schieben musste, damit man auch ihr Gesicht sehen konnte.

„Wisset Se, da dromma“, fing die Frau wieder in einem Stakkato an, das einen an ein Maschinengewehr erinnern ließ, „ging‘s auf‘d Nacht ziemlich wiarsch zu. Do hot oiner am Fenschter g‘rissa, dass des bloss so nausg‘floga isch ond no gab‘s a Remmidemmi. I han da bloss no g‘heart, wie oine g‘schriea hat, dass es oim Angscht und Bang g‘worra isch. Ja ond hernach... hat der des arme Mädle uff sei Buckel packt ond isch davo g‘loffa. Wisset Se, des han i mir denkt, dass des nix wird mit denen Weiber do. Scho die Alt‘... Sie, i sag‘s ihna... sottet lieb‘r amal a Kutterschaufel in‘d Hand nähma, ab‘r wenn dui amol uff‘d Gnui goht, dann macht die älles, bloss koi Kehrwoch, woisch?! Aber i hans ja gsait.. bloss uff mi heart ja koiner. Und Biberella.... ‘s wär mir scho arg kommod, wenn Sie des für sich behalta kennat, gell?!“

Sprachs und schlug das Fenster zu. Biberella blickte etwas verdutzt drein und war sich gar nicht sicher, ob sie eigentlich alles verstanden hatte, was die Frau ihr erzählte. Nicht alleine der unverkennbare Dialekt war schwer zu verstehen, sondern auch das Affentempo, in dem sie diese Worte herunter rasselte. Doch aus dem Wenigen, das Biberella meinte verstanden zu haben, gewann sie eigentlich nur die Erkenntnis, dass es sich wohl um einen einzigen Täter handelte und das war schon mal ein Anfang.

 

Hinter dem Freudenhaus inspizierte Biberella den Boden rings um die Trümmer des Fensters, doch waren dort keine brauchbaren Spuren zu erkennen. Der Boden von Tarsis war einfach zu hart, als dass man dort Spuren hinterlassen konnte, selbst wenn man doppeltes Gewicht hatte und der Wind verwehte den Staub schneller, als einem lieb war. An der Fensteröffnung lehnte noch immer die Leiter, über die der Ganove in das Zimmer im ersten Stock gelangte. Aber das brachte Biberella auch nicht weiter. Hier konnte man keine Erkenntnisse gewinnen und so ging Biberella zu ihrem Wohnmodul. Auf dem Weg dorthin klopfte sie noch einmal an das Fenster, aus dem vorhin der blonde Lockenschopf quoll, jedoch vergeblich, denn das Klopfen blieb ungehört.

„Seltsame Person…“, murmelte Biberella und setzte ihren Weg nach Hause fort.

 

Biberella lief auf und ab und dachte angestrengt darüber nach, wie sie nun Anhaltspunkte gewinnen könnte. Beim besten Willen aber wollte ihr nichts einfallen. Sie rief sich sämtliche Aufzeichnungen der Überwachungskameras im Bereich des Freudenhauses auf den Computermonitor und schaute sie nahezu Bild für Bild durch, in der stillen Hoffnung darauf etwas erkennen zu können, was ihr irgendwie nützlich sein könnte. Doch auch diese Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Der Bereich hinter Madame Hasal‘s Freudenhaus wurde von keiner Kamera erfasst und selbst wenn, dann hätte man zu dieser Uhrzeit nichts in der Dunkelheit erkannt. Biberella seufzte und machte den Monitor aus. So kam sie nicht weiter und immer, wenn sie nicht weiter wusste, ging sie entweder am Canyon spazieren oder besuchte Luni im Saloon auf einen Schluck Bier. Zum Spazieren fühlte sich Biberella aber zu müde, doch einen kleinen Absacker konnte sie noch vertragen und so schwang sie sich aus ihrem Sessel und ging noch schnell in den Saloon.

 

So leer wie an diesem Abend hatte Biberella den Saloon bisher noch nie gesehen. Luni stand gelangweilt hinter dem Tresen, Günni saß an seinem Tisch und ließ ein „Hö!“ von sich hören, als er Biberella eintreten sah und der alte Fred saß in der Ecke bei den Heizungsrohren und tat, was er immer tat... nämlich nichts. Es gab Momente, in denen sich die Sicherheitsbeauftragte fragte, ob Fred überhaupt noch am Leben sei, aber scheinbar orderte er immer noch bei Luni ein neues Bier und zumindest in diesen paar Sekunden musste noch Leben in dem alten Mann sein. Biberella winkte Günni zu, als sie an ihm vorbeischritt und setzte sich im selben Moment auf ihren Barhocker, in dem vor sie ein frisch gezapftes Glas Biberbräu hingestellt wurde.

„Hallo Biberella!“, begrüßte sie Luni freundlich wie immer, „Gibt‘s was Neues? Habt ihr das Mädel?“

„Nein, Luni. Wenn ich wenigstens wüsste, wo ich anfangen sollte zu suchen... aber…“, sagte Biberella achselzuckend und nahm einen großen Schluck.

„Naja, also man erzählt sich so Gerüchte, die einem zu Ohren kommen. Im Casino soll einer geprahlt haben, es endlich mal einer ‚so richtig besorgt zu haben‘... weißt ja, wie die Kerle sind“, sagte Luni.

„Wer prahlte damit?“, Biberella war sofort putzmunter. Die Müdigkeit war wie weggeblasen. Diese Aussage von Luni weckte den Ermittlerinstinkt der Sicherheitsbeauftragten.

„Weiß ich jetzt auch nicht so genau. Namen nennt ja nie jemand“, sagte Luni seufzend.

„Aha…“, bemerkte Biberella nickend, trank ihr Glas aus und verabschiedete sich bei der schwarzhaarigen Wirtin, bevor sie schnurstracks den Saloon verließ und hinüber zum Casino ging.

 

Das Casino war gut besucht. Dicht an dicht drängten sich die Zocker an den Tischen und hofften auf den großen Gewinn, der zumeist aber ausblieb und das Einzigste, was die meisten mit nach Hause nahmen, war ein riesiger Schuldenberg. An den Kartentischen saßen die etwas betuchteren und oft besser situierten Herren, die mehr aus purer Langeweile denn aus Hoffnung auf große Geldgewinne spielten. Anders sah es bei den Würfeltischen aus. Da zockte der Plebs und das recht laut. Wieso man die Würfel anschreien musste, würde Biberella nie verstehen aber sie machte sich darüber auch keine Gedanken. Würde sie sich über jede Kleinigkeit einen Kopf machen, dann würde sie bald in der Irrenanstalt landen. Sie nahm es einfach hin wie es ist. Im hinteren Teil des Casinos war eine kleine Bar an der man sich was zu trinken bestellen konnte und dann mit an den Tisch nehmen. Dort begrüßte sie Sam, der Barmann und holte bereits eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank unter der Theke.

„Was führt Dich zu uns, Biberella?“, fragte der Barmann, der sie aus charmanten braunen Augen ansah, die von kleinen Lachfältchen umspielt wurden. Sein sonorer Bass und seine graumelierten kurzen Haare ließen ihn sehr sympathisch und anziehend auf Biberella wirken.

„Ich suche jemand“, gab Biberella kund.

„Ach ja? Darf man fragen, wen?“, wollte Sam neugierig wissen.

„Hat hier vor kurzem mal einer angegeben, dass er ‚es einer so richtig besorgte‘?“, fragte Biberella.

Sam musste lachen. Jeder, der in einer Bar arbeitete, hörte allabendlich die Herren mit ihrer Lendenkraft angeben. Wenn er darauf antworten müsste, dann könnte sie jeden der anwesenden Herren in Augenschein nehmen.

„Ist nicht Dein Ernst, oder?“, fragte er sicherheitshalber nochmal nach.

„Doch. Aber ich meine nicht das normale Prahlgehabe, sondern so richtig richtig, verstehst Du?“, sagte sie.

Biberella überlegte, wie sie die Frage richtig stellen könnte. Merkwürdigerweise will ihr keine Forumlierung einfallen, was sonst eher untypisch für sie ist. Vielleicht liegt es auch an der Müdigkeit, die sie langsam befällt?

„Naja, also... heute mittag prahlte Ferdy Walden ziemlich damit. Falls Du das meinst? Er ist jedenfalls der letzte, von dem ich sowas hörte. Da hinten“, Sam zeigte mit dem Finger auf einen eher schmächtigen unrasierten Kerl mit fettigem halblangem Haar, „steht er ja, siehst Du ihn? Kannst ihn fragen.“

„Danke.“

Biberella nickte Sam zu und ging hinüber zu dem Würfeltisch an dem Ferdy Walden ganz in sein Spiel vertieft war.

„Ferdy?", fragte Biberella geschäftsmässig nüchtern.

„Hä? Du störst“, raunzte Ferdy Walden missmutig zurück.

„Das ist mir egal. Ich habe da ein paar Fragen an Dich“, sagte Biberella.

Ferdy Walden schaute von seinen Würfeln auf und musterte Biberella herablassend.

„Du willst mir sagen, wann ich zu spielen habe und wann nicht?“, sagte er und hob drohend einen Finger. Kurz darauf warf er die Würfel lässig aus dem Handgelenk auf den Tisch.

„Du störst. Siehst Du? Schon wieder verloren. Du bringst Unglück“, grinste Ferdy.

Biberella wurde die Sache langsam zu dumm und sie fragte gradraus: „Hast Du es einer vor kurzem besorgt?“

Erst gingen Ferdy Waldens Augen verwundert staunend auf, bevor sie sich in einer schmierigen Weise zu Schlitzen verengten und er in einer ebenso schmierigen Weise sagte: „Ja, klar.... und wie. Die hat geschrien, als ob sie es dringend nötig gehabt hätte. Und ich nahm sie immer und immer wieder.“

Ferdy brach in ein höhnisches Lachen aus und Biberella lief es kalt den Rücken runter, wenn sie sich vorstellte, dass dieser Kerl Hand an sie legen würde.

„Damit ist noch jede zufrieden gestellt worden!“, lachte er, wobei er sich mit seiner rechten Hand in den Schritt fasste und scheinbar sein Gemächt wiegte.

Biberella verdrehte die Augen, schritt auf Ferdy zu und packte ihn ganz fest im Schritt. Der junge Walden atmete scharf die Luft ein, während sich ihm ein erstickter Schrei entfloh. Er knickte mit dem Oberkörper nach vorne und er winselte, als die Sicherheitsbeauftragte noch fester zudrückte.

„Ich kriege Dich zum Reden!“, flüsterte Biberella ihm ins Ohr und drückte erneut fest zu. Ferdy Walden ließ nun einen etwas lauteren Schrei los, den er aber dennoch zu unterdrücken versuchte, wollte er sich doch nicht vor versammelter Mannschaft die Blöße geben, von Biberella so erniedrigt zu werden. Obwohl es dazu schon zu spät war. Seine Versuche dieser Pein zu entkommen, waren mehr als armselig. Ferdy wusste nicht wohin mit den Händen und so fuchtelte er in der Gegend herum. Ein weiterer fester Druck von Biberellas Hand ließ ihn erneut nach vorne sacken und als seine Hand, wohl eher unbeabsichtigt, auf Biberellas Brust landete, gingen die blauen Augen der Sicherheitsbeauftragten im Zorn auf. Sie schlug ihm die Hand weg und drückte erst recht kräftig zu! Ferdy ließ in einem hohen Falsett ein Stöhnen hören und im selben Augenblick bemerkte Biberella, dass es in ihrer Hand feucht wurde. Was war das denn?, fragte sich Biberella. Kam der Kerl etwa in ihrer Hand? Steht der da drauf? Angewidert packte Biberella Ferdy Waldens Arm, verdrehte ihn unter einem Klagelaut von Ferdy auf dessen Rücken, holte aus ihrem Stiefelschaft die Handschellen und fesselte ihn damit.

„Jetzt reichts!“, sagte Biberella, „Du kommst jetzt mit. Ab in die Zelle mit Dir. Wir werden schon sehen, wer am längeren Hebel sitzt.“

Sie führte Ferdy Walden unter den staunenden Augen der Casinogäste ab und brachte ihn in eine der Zellen, die sie für vorübergehende Inhaftierungen hinter ihrem Wohnmodul hat.

 

***

 

JenJen fror. Es war dunkel, kalt und feucht und sie hatte nichts weiter an als ein hauchdünnes Negligee, das in Fetzen von ihrem geschunden Körper hing. Sie konnte in der Finsternis nichts sehen und sich kaum orientieren. Ihre Hände waren mit einem groben Strick gefesselt und der Strick wiederum war an einen eisernen Ring gebunden, der in der Wand verankert war. JenJen versuchte an dem Knoten irgendwie zu nesteln, in der stillen Hoffnung, diesen gelöst zu bekommen, aber sämtliche Versuche scheiterten. Stattdessen scheuerte sie sich nur die Handgelenke auf, was ihr nur noch zusätzliche Schmerzen verursachte.

Sie zuckte zusammen, als sie Schritte näher kommen hörte. Sie zog ihre Beine schützend an den Körper und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als die massige Gestalt ihres Peinigers den Raum betrat, blinzelte JenJen in die Helligkeit der Lampe, die nun den Raum schwach erleuchtete. Der Mann stellte die Lampe auf dem Boden ab, warf einen lüsternen Blick auf seine Beute und holte anschließend aus seinem Rucksack eine metallische Schüssel, in die er aus einer Tupperdose etwas Haferbrei füllte und den zum Schluß mit zwei Mini-Salamis belegte. Aus einer Thermoskanne gab er JenJen zu trinken. Erst als er die Kanne an ihrem Mund ansetzte, merkte sie, wie viel Durst sie eigentlich hatte und sie trank begierig. Wortlos fütterte er ihr den Haferbrei mit einem Löffel. Ohne Hast. Er schien sich sehr sicher zu fühlen. Was die Angst in JenJen nur noch mehr verstärkte.

 

2.5

Ferdy Walden kauerte in der Ecke seiner Zelle und schaute grimmig zu Biberella, die durch die Gitter der Zellentür hindurch sagte: „Erzähl mir, was ich wissen will und dann schauen wir mal, ob Du auf freien Fuss kommst, Ferdy.“

„Was soll ich denn sagen? Ich habe doch nichts getan!“, jammerte der jüngste der Walden-Brüder.

„Du hast geprahlt, es einer besorgt zu haben. Hast Du ja auch zugegeben, als ich Dich im Casino befragte“, sagte Biberella.

„Ja, na und? Darf man das nicht?“, fragte Ferdy, tatsächlich glaubwürdig unwissend.

„Wer war das? Erzähl!“, forderte die Sicherheitsbeauftragte ihn auf.

„Was geht Dich das an? Warum sollte ich denn?“, raunzte Ferdy.

Biberella schüttelte den Kopf und sagte mit einem missmutigen Blick auf ihren Gefangenen: „Ich habe Zeit, Ferdy. Solange Du nicht den Mund aufmachst, bleibst Du hier. Überlege es Dir gut, ob Du mir nicht doch Antworten geben magst. Zeit dazu hast Du, weil ich jetzt erst einmal unter die Dusche gehe und mir vor allem die Hand wasche“, sagte Biberella und hob zur Verdeutlichung ihre rechte Hand.

Als Ferdy diese Geste sah, blickte er nach unten und sah den noch immer deutlich dunklen Fleck im Schritt seiner ockerfarbenen Hose. Etwas verschämt blickte er dann zur Wand und ignorierte Biberella ostentativ.

„Na gut... wie Du meinst.... bis nachher Ferdy“, seufzte Biberella und verließ das kleine Gefängnismodul.

 

In ihrem Wohnmodul angekommen, ging sie schnurstracks in die Nasszelle, schlüpfte aus ihren Stiefeln, Handschuhen und dem Catsuit, drehte die Dusche auf und wartete bis das Wasser die richtige Temperatur erreicht hatte. In der Zwischenzeit knüllte sie den Catsuit zusammen und warf ihn in die Wäschetruhe, steckte die Handschuhe in die Stiefel und stellte diese dann vor der Nasszelle ab. Sie konnte es kaum erwarten unter die Dusche zu kommen und sich den Schmutz - nicht den tatsächlichen, sondern den erlebten - abzuwaschen und sie genoß das Prickeln des warmen reinigenden Wassers auf ihrem Körper.

 

Frisch geduscht und in einen neuen Catsuit gekleidet, stattete Biberella Ferdy einen erneuten Besuch im Gefängnis ab.

„Na, Ferdy, was nun? Erzählst Du mir, was ich wissen will oder gefällt es Dir hier so gut, dass Du die Nacht hier verbringen magst?“, fragte Biberella mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ferdy Walden schaute zu der Sicherheitsbeauftragten, die mit verschränkten Armen vor der vergitterten Tür stand und ungeduldig mit dem Fuß wippte. Zumindest schien er nachzudenken, ob es nicht doch besser wäre ihre Fragen endlich zu beantworten, aber ein Walden lässt sich doch nicht von einer Frau kleinkriegen!

„Das wirst Du bereuen. Das schwöre ich Dir!“, zischte er durch die Zähne.

„Ja, ja... also gut... einmal Übernachtung mit Frühstück. Schon klar“, sagte die Sicherheitsbeauftragte mit einem Lächeln, drehte sich um und wollte gehen.

Doch kurz bevor sie den Ausgang erreichte, rief Ferdy ihr hinterher: „Biberella? Ich...“

Er verstummte, doch Biberella machte kehrt und ging zurück zur Zelle.

„Ja?“, sagte sie gedehnt und verschränkte wieder die Arme vor der Brust.

„Ich... also... ich…“, stammelte Ferdy Walden los, „...ich wollte es nicht vor all den Leuten sagen... weil... es mir doch etwas peinlich ist. Es war Emma Turnrum.“

„Emma? Die Tochter vom alten Turnrum?“, Biberella schaute verwundert Ferdy an.

Emma Turnrum war die geistig etwas zurückgebliebene Tochter eines Agronomen, der seine Tochter lieber um sich wusste. Sie hätte nie ein selbstständiges Leben führen können. Was man ihr sagte, machte sie bereitwillig. Hätte man ihr gesagt, dass sie in den Canyon hinter Tarsis-City springen soll, wäre sie sofort gesprungen.

„Der hast Du...?“, Biberella sprach den Satz gar nicht erst zu Ende.

„Ja…“, stammelte Ferdy weiter und wurde rot vor Scham „... der muss man ja nur was befehlen und dann macht die es. Ich nutzte es einfach aus. War auch zu einfach...“

„Ach so... weil es einfach ist, nutzt der Herr es einfach aus?! Weißt Du was? Du widerst mich an, Ferdy Walden!“, schrie Biberella wutentbrannt, bevor sie aus dem Gefängnis stürmte.

Diese Nacht würde Ferdy in der Zelle bleiben. Dafür sorgte sie. Und sie sorgte für mehr.

 

Sie ging sofort zu Turnrum und erzählte ihm, was Ferdy seiner Tochter angetan hatte und der Agronom schlug vor Entsetzen die Hände vor das Gesicht. Tränen der Wut standen ihm in den Augen und Biberella versicherte ihm, dass Ferdy seiner gerechten Strafe nicht entkommen wird, aber sie brauchte Ferdy noch. Ihr Instinkt war geweckt und sie hatte ein vages Gefühl, dass die Waldens etwas mit der Entführung von JenJen zu tun hatten. Um diesen Verdacht zu erhärten, bedurfte es Ferdy. Turnrum, der den jüngsten der Walden-Brüder am gernsten auf der Stelle erwürgt hätte, stimmte den Plänen Biberellas zu, die sie ihm vertraulich zuflüsterte. Damit verabschiedeten sich die beiden und Biberella ging schnurstracks in den Saloon. Schon bei ihrem Eintreten ging der Griff der Wirtin zu dem namensgravierten Bierkrug und nur Augenblicke später floss aus dem Zapfhahn herrlich kühles ‚Biberbräu‘ ins Glas, doch Biberella winkte Luni nur zur Begrüßung zu, ging aber sofort zu Günni an den Tisch.

„Günni?“, säuselte sie ihn an.

„Hö?“, erwiderte er in seiner typisch-drolligen Art ihren Gruß.

„Ich brauche wieder einmal Deine Hilfe.“

„Hö!“

„Morgen wird Ferdy Walden aus dem Gefängnis entlassen. Da niemand wissen will oder auch nur ahnen mag, wo die Waldens eigentlich immer hin verschwinden, möchte ich, dass Du Ferdy unauffälig folgst und mir dann berichtest, was Du gesehen hast. Machst Du das für mich, Günni?“, dabei klimperte sie sogar mit den Augen, wobei sie sich gar nicht sicher war, ob Günni diesen Spaß überhaupt als solchen verstand.

„Hö! Hö!“, quietschte Günni schon vor Freude und seine kleinen Äuglein blitzten auf, als Biberella ihm ihr Bierglas auf den Tisch stellte und ihn schon als kleine Vorausbelohnung daraus trinken ließ. Günni musste nicht einmal nicken. Biberella verstand auch so, dass ihre Abmachung galt und sie wusste auch, dass sie sich auf ihren Günni verlassen konnte. Sie winkte der Wirtin noch zum Abschied zu und verließ den Saloon wieder und ging zurück ins Gefängnismodul.

 

Vor dem Eingang zum Gefängnis erwartete sie ein grobschlächtiger Kerl mit wulstigen Augenpartien, die von strähnigen schulterlangen Haaren umrahmt waren. Aus einem wilden langen Bart kamen ihr die Worte entgegen: „Endlich... was denkst Du eigentlich, wer Du bist?“

„Hallo Barry“, sagte Biberella gänzlich unbeeindruckt, obwohl sie dennoch einen vorsichtig-musternden Blick auf die großen und starken Hände von Barry Walden warf.

„Wie kommst Du dazu meinen Bruder, einen Walden, zu verhaften?“, brummte er sie beinahe drohend an.

„Weil ich das Recht dazu habe und es ohnehin nötig war. Und nun tritt mal einen Schritt zurück. Du stinkst nach Schnaps“, wies sie ihn zurecht.

„Hör mal zu…“, Barry Walden drückte Biberella unsanft gegen die Eingangstür, „... lass meinen Bruder frei oder Du wirst es bereuen. Wir Waldens lassen uns nichts von Euch sagen. Wirst schon sehen, was passiert, wenn Du nichts machst.... aber... sei lieber vorsichtig! Hörst Du?“

Als er diese Worte drohend sprach, kam er ganz nah an Biberellas Gesicht heran und sie musste sich schon sehr beherrschen, die aufsteigende Übelkeit, die sich in ihr wegen seines Atems breitmachte, zu bekämpfen. Plötzlich sackte Barry Walden mit einem Schmerzenslaut zusammen. Biberella sah keine andere Möglichkeit, als diesem Kerl ihren Oberschenkel kräftig zwischen die Beine zu hauen.

„Droh mir nie, nie wieder, hörst Du?!“, fauchte sie Barry an, der tief atmend auf dem Boden kauerte.

Als er sich wieder gefangen hatte, stand er auf und hob drohend einen Finger. „Wenn mein Bruder nicht frei kommt, dann...“

Die Drohung ließ er unausgesprochen.

„Wird er. Ihr könnt ihn morgen abholen. Wenn ich den Papierkram erledigt habe“, sagte Biberella mit einem bewusst höhnischen Lächeln.

Barry Walden spuckte ihr vor die Füße und ging dann. Irgendwo hinten in den Anfängen eines abendlichen Sandsturms, die es noch immer zahlreich auf Tarsis gab, verschwand er aus ihrem Blickfeld und Biberella zog sich in ihr Wohnmodul zurück.

2.6

Eine stürmische Nacht ging zu Ende und Biberella nippte nachdenklich an ihrem Kaffee, den sie sich vom Computer aufbrühen ließ, solange sie unter der Dusche stand. Sie blickte aus dem Fenster und überlegte ob es eine gute Idee war, Günni mit der Beschattung der Waldens zu beauftragen. Doch sie vertraute ihrem kleinen Helferlein und gab diesbezügliche Bedenken auf. Sie stellte die Kaffeetasse in den Geschirrspüler und ging in die Nasszelle, wo sie noch die letzte Feuchtigkeit aus ihren Locken föhnen wollte. Kaum, dass sie diese aus dem Handtuchturban befreite, klopfte es laut an die Tür ihres Wohnmoduls. Biberella schreckte tatsächlich kurz zusammen. Wer war das? Wieder pochte es und die Sicherheitsbeauftragte ging zur Tür und wollte sie öffnen, da fiel ihr plötzlich auf, dass sie noch immer splitterfasernackt war.

„Moment!“, rief sie dann durch die geschlossene Tür, huschte in die Nasszelle und band sich schnell ein Badetuch um, bevor sie wieder zur Tür ging.

Plötzlich und unvermittelt als sie die Tür einen Spalt breit offen hatte, stieß Barry Walden wild die Tür auf und Biberella plumpste hintüber auf ihren Hintern.

„Sag mal, was soll denn das?!“, schrie sie den Eindringling wütend an und raffte das Badetuch wieder etwas nach oben, weil es durch den Sturz verrutschte und eine ihrer Brüste freilegte.

„Lass meinen Bruder frei! Sofort! Hörst Du?“, brummte sie Barry Walden an und in seinem Blick spiegelte sich die Wildheit eines Tieres wieder.

„Man wird sich wohl noch anziehen dürfen, oder?“, sagte Biberella unwirsch im Aufstehen und fauchte hinterher: „Du kannst froh sein, dass ich Dich nicht wegen Hausfriedensbruch festnehme.“
„Würde Dir auch nicht gut bekommen! So... und nun zieh Dich an und lass meinen Bruder frei. Na los!“, befahl er ihr in rabiatem Ton.

„Raus! Ich komme dann, wenn ICH fertig bin. Ist das klar?!“, herrschte Biberella ihn an und zeigte dabei unmissverständlich auf die Tür.

Barry Walden sagte nichts mehr. Er verließ tatsächlich wortlos das Wohnmodul und schloss sogar artig hinter sich die Tür. Biberella schalt sich selbst dafür, dass sie so ohne Argwohn die Tür öffnen wollte. Die lange und meist ereignislose Zeit auf Tarsis schien sie unempfindlich gegen solche Gefahren gemacht zu haben und vielleicht auch zu gutgläubig. Also sollte ihr das wirklich eine Lehre sein.

 

Sie zog sich schnell an und ging nach draussen, wo Barry auf der kleinen Bank vor der Tür saß und schon auf Biberella wartete. Zusammen gingen sie zum Gefängnis. Biberella schloß die Zellentür von Ferdy auf und sagte kurz und knapp: „Dein Bruder ist hier. Du kannst gehen!“

Ferdy Walden stand von der Pritsche auf, auf der er die Nacht verbringen musste, kratzte sich am Hals und gähnte erstmal, ohne sich die Mühe zu machen, dabei eine Hand vor den Mund zu nehmen.

„War auch Zeit“, sagte er dann und verließ die Zelle.

Sein Bruder Barry umarmte ihn und klopfte ihm dann auf die Schulter. Im Hinausgehen sagte er zu Ferdy: „Komm, Kleiner, wir gehen nach Hause.“

Hoffentlich!, dachte Biberella und schaute den Beiden nach, als sie vom Gefängnis aus in Richtung Saloon gingen. Schließlich erlaubte sie diese Posse nur, weil sie andere Absichten mit der Freilassung Ferdy Waldens hegte. Als sie hinter dem Saloon in eine Hoverkutsche stiegen und kurz darauf das Gebiet von Tarsis-City verließen, hüpfte ihnen Günni wieselflink doch vorsichtig und in gebührendem Abstand nach.

 

***

 

Die Waldens legten ein ordentliches Tempo vor und Günni hatte seine liebe Mühe und Not ihnen auf den Fersen zu bleiben. Er vermied es tunlichst auf sich aufmerksam zu machen, doch fiel das schwer bei dem Tempo und der Staubwolke, die die Hoverkutsche aufwirbelte und Günni die Sicht nahm. Wäre das ein Raupenfahrzeug gewesen, wie sie oft auf Tarsis Verwendung finden, dann hätte Günni wenigstens kurzzeitig Spuren im Boden gehabt, denen er folgen hätte können, doch Hoverkutschen schwebten über dem Boden und hinterließen nichts außer aufgewirbeltem Staub. Es gab nicht wirklich eine Chance jemandem zu folgen, der ein solches Vehikel benutzte und das war auf Tarsis allgemein bekannt. Das wussten auch die Walden-Brüder und so verwunderte es Günni auch nicht, dass sie eine solche Kutsche bevorzugt nutzten.

 

Die Kutsche wurde schneller und Günni verlor sie in der aufgewirbelten Staubwolke aus den Augen, doch konnte er ihrem sirrenden Geräusch noch gut folgen, obwohl auch das langsam leiser wurde. Günni wurde mehr und mehr von Staub eingehüllt und das Atmen fiel ihm sichtlich schwer. Er zog sein Halstuch nach oben vor Mund und Nase und schirmte damit den größten Teil des Staubes ab, der sich in seine Atemwege schlich und festsetzen wollte. Günni hustete und seine Augen brannten. Keine Chance in diesem Staubwirbel den beiden zu folgen. So entschied Günni, dass es das Beste sei, die Verfolgung aufzugeben und sich hinter einem der Felsen, die hier die Gegend bestanden, zu parken und abzuwarten, bis der Staub sich legte.

 

 

2.7

Als sich der Staub langsam wieder legte und Günni freie Sicht und Luft zum Atmen ließ, blickte er sich um. Von den Waldens war natürlich keine Spur mehr zu sehen, doch Günni ahnte in welche Richtung die Brüder geflohen sind. Da der Kleine Biberella nicht enttäuschen wollte, machte er sich auf den Weg in die angenommene Richtung und hoffte dabei selbst inständig, dass er mit seiner Vermutung richtig läge.

 

Nach gut einer Stunde kam Günni an ein Bergbaufeld, dass sich ihm durchlöchert wie ein Schweizer Käse präsentierte. Überall waren Eingänge zu alten Stollen zu erkennen, die aber schon seit geraumer Zeit stillgelegt waren. Hier irgendwo müssen sich die Waldens verstecken, das war Günni klar, aber wo? Dieses Bergbaufeld bestand aus zig Stollen und wie weit die sich in den Boden erstreckten, vermochte er nicht zu schätzen. Günni horchte, ob er verdächtige Geräusche ausmachen konnte, aber außer dem leichten Pfeifen des Windes hörte er nichts. Er sah auch keine Lichter in den Gruben, die einen Hinweis auf Bewohner sein konnten. Günni schlenderte an ein paar der Eingänge vorbei, warf einen kurzen Blick in die tiefe Dunkelheit dahinter, horchte aufmerksam hinein... aber es kam ihm sinnlos vor, hier alleine und damit ohne jede Erfolgsaussicht zu suchen. Also beschloß er zurück nach Tarsis-City zu gehen und Biberella Bericht zu erstatten.

 

***

 

JenJen fror und der Hunger plagte sie. Obendrein die Angst. Nicht nur, dass das Quietschen und Trippeln von Ratten in der Dunkelheit zu hören war. Sie hasste Ratten schon auf der Erde, wo sie verhätnismäßig klein sind. Auf Tarsis, so hörte sie, sollen Ratten groß wie kleine Hunde sein und man erzählte sich wahre Schauermärchen davon, dass mehr als nur ein Bergarbeiter das Frühstück einer solchen Tarsisratte geworden sein soll. JenJen zwang sich zum Nachdenken, nur um die Angst zu überspielen. Sie fragte sich, was sie eigentlich dazu bewog, entgegen der Warnungen aller anderen, sich auf das Abenteuer Tarsis einzulassen. Sicher, das Geld, das sie einnehmen würde, war das Hauptargument. Hier war sie die Sensation. Auf der Erde war sie Niemand. Eine, die vielleicht nicht einmal ihren Lebensunterhalt bestreiten hätte können. Die Zustände auf der Erde zwangen immer mehr Menschen in die Kolonien, die dank der Raumfahrt immer weiter in das All hinausreichten. Die klimatischen Verhältnisse auf der Erde waren ebenso ein Problem. Die Winter waren zu streng und die Sommer zu heiß. Andere Jahreszeiten gab es gar nicht mehr. Man kam von der Eiszeit in die Gluthitze. Die Menschen versuchten mit Klimaanlagen sich das Leben angenehm zu machen und übersahen dabei, dass gerade diese Geräte den Klimawandel vorantrieben und die Situation auf lange Sicht verschlechterten. Ohne die Kolonien und deren Fruchtbarkeit wäre die Erde nicht mehr überlebensfähig. Zu viele Menschen, bei zu wenig Ackerfläche. Dazu der immense Wasserverbrauch, der das gesamte Ökosystem zum kippen brachte. In den Megastädten, die sich die letzten Jahrhunderte bildeten, machte sich Armut und Hungersnot breit, dadurch dann Kriminalität. Die Not zwang viele dazu, entweder kriminell zu werden oder sich zu prostituieren. Dazu kam die Droge „Calm“, die den Menschen den Hunger nahm, ihren Serotoninausstoß erhöhte und den Puls herunterfuhr. So lagen überall diese lebenden Leichname herum und verhungerten mit einem infantilen Grinsen im Gesicht. Nicht selten von Ratten angenagt, die in den Megastädten ebenso um ihr Überleben kämpften. Ja, das waren alles gute Gründe dafür, die Erde zu verlassen und sein Glück woanders zu versuchen und Tarsis war für JenJen eine gute Chance. Besser als in Agonie auf der Erde zu vegetieren. Doch nun? Nun lag sie halbnackt in einem versifften Erdloch, gefesselt, hungrig und Ratten ausgeliefert. JenJen konnte die Tränen nicht zurückhalten und ließ ihnen freie Bahn, weinte ihren Schmerz aus, bis sie vor Erschöpfung in einen traumlosen Dämmerschlaf verfiel.

 

***

 

„Hö hö!“, rief Günni und hüpfte vor Biberellas Schreibtisch auf und ab.

Wie auch immer, verstand Biberella, was der Kleine ihr zu sagen hatte und sie hörte sich alles haargenau an.

„Die Waldens arbeiteten doch in den alten Minen, wenn mich nicht alles täuscht“, murmelte Biberella nachdenklich und schaute auf ihren Monitor. „Dachte ich es mir, ja… Minenbereich A6203… da waren zumindest der alte Barry Walden und Ben Walden auch. Die Minen sind aber stillgelegt und laut diesem Plan hier wurden alle Stollen zugeschüttet. Bist Du sicher, dass die Waldens dorthin gingen, Günni?“

„Hö!“, beharrte der Kleine und nickte heftig mit dem Kopf.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die die Tunnel freigeräumt haben. Die Stollen gingen so weit in den Boden, dass sich ein Labyrinth wie ein Termitenbau dort erstreckte. Vermutlich wurden die Stollen gar nie verschüttet. Kontrolliert auch keiner, ob da wirklich getan wird, was getan werden sollte. Aber das macht die Sache nicht leichter.“

Seufzend lehnte sich Biberella zurück und schloss nachdenklich die Augen.

„Wie sollten wir da etwas finden?“, murmelte sie mehr zu sich selbst, „Falls wir da aufkreuzen, sieht man uns schon von Weitem. Anschleichen ist da nicht. Und wenn die Waldens dort einen Unterschlupf haben, werden sie sich auch irgendwie abgesichert haben. Dazu kommt, dass es zig Eingänge gibt, die zu Stollen führen, die sich kreuzen. Es ist unmöglich in dem Irrgarten was zu finden.“

Biberella strengte ihren Kopf an, suchte fieberhaft nach einer Lösung für dieses Problem, doch wollte ihr beim besten Willen nichts einfallen. In solchen Momenten spazierte sie entweder gerne alleine am Canyon entlang oder trank ein Bier im Saloon. Als sie Günni ansah, der immer noch vor ihrem Schreibtisch stand und sie nur wortlos mit einem Lächeln im Gesicht ansah, musste sie schmunzeln. Sie erhob sich und sagte zu ihrem kleinen Freund: „Na komm, lass uns zu Luni gehen und ein kühles Bier trinken. Hast es Dir redlich verdient, mein Freund.“

„Höö, hö!!“, gluckste Günni voller Freude und sockte Biberella hinterher, die ihm die Tür aufhielt, damit er schon mal voraus eilen konnte.

Biberella blieb noch einen Moment stehen und überlegte, ob sie nicht doch noch einmal einen Blick auf den Plan des Minenfeldes werfen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass es sie doch nicht weiterbringen würde und ein Absacker im Saloon bestimmt mehr Erfolg hätte, als das sinnlose Grübeln. Wer weiß? Vielleicht ergibt sich im Saloon etwas Neues? Oft schon waren es die kleinen Hinweise in belanglos dahergeplapperten Anekdoten, die Biberella hilfreich waren. Einen kurzen Moment dachte sie an die arme JenJen und schickte ihr in Gedanken Kraft und Hoffnung, wenngleich Biberella nicht so sehr an solch esoterische Dinge glaubte. Dennoch konnte es nicht schaden, ein paar Gedanken an JenJen zu senden.

 

Günni saß schon an seinem Platz, als Biberella den Saloon betrat und wie gewöhnlich den Raum zu ihrem Hocker durchschritt. Und wie immer griff die Wirtin zu dem gravierten Glas und ließ ein frisches Biberbräu ein, das sie der Sicherheitsbeauftragten in dem Moment hinstellte, als sie ihren Hintern auf den Hocker sinken ließ. Während Biberella den ersten Schluck genoß, schenkte Luni auch Günni ein Bier aus, der es freudeglucksend annahm und ebenso einen kräftig Schluck nahm.

„Na, was Neues?“, wollte Luni wissen, als sie wieder hinter dem Tresen war und begann ein paar gespülte Gläser abzutrocken.

„Kann man sagen, aber wenig Erfreuliches“, begann Biberella, „Die Waldens halt mal wieder. Hast ja die Sache mit der blonden Stripperin mitbekommen, oder? Tja, nun suchen wir sie und vermuten sie in dem alten Minenfeld.“

„Die Minen?“, sagte plötzlich Fred, der sonst so leblos an seinem Tisch in der Ecke lauerte.

Biberella konnte sich nicht entsinnen jemals die Stimme von Fred gehört zu haben. Ebenfalls erinnerte sie sich nicht daran, ihn jemals mit geöffneten Augen gesehen zu haben. Es gibt für alles ein erstes Mal, doch dieser Anblick schauderte Biberella etwas. Freds linkes Auge war weiß und gab diesem Mann etwas gespenstisches. Dazu die gebrochene, krächzende Stimme. Fred wirkte nicht nur wie ein Zombie, er klang auch so und doch kam plötzlich Leben in den Kerl, als er von den Minen hörte. Biberella gab Luni ein Zeichen, dass sie Fred ein Bier ausschenken sollte, hüpfte von ihrem Hocker und ging zu Fred an seinen Tisch. Sie setzte sich ihm gegenüber, als die Wirtin kam und Fred das Bier servierte. Biberella schaute Luni nach, die wieder hinter der Bar verschwand und heftete dann ihre blauen Augen auf Fred, der mit einer zitternden Hand nach dem neuen Bier griff.

„Was ist mit den Minen?“, fragte Biberella.

„Die Minen…“, krächzte Fred, nahm einen großen Schluck Bier und schaute dann Biberella aus seinem gesunden Auge an, „...sind kein guter Ort. Wir waren damals dort unten, arbeiteten oft mehr als wir hätten müssen….man versprach uns so manches… wenig wurde gehalten…“

Fred wurde leiser, als ob er in der Erinnerung abdriften und Biberella vergessen würde. Biberella klopfte auf den Tisch und rüttelte Fred am Arm, der dann wieder zu sich kam und ihr in die Augen blickte.

„Ja, die endlosen Gänge… die Eingeweide von Tarsis, wie wir sie nannten… wir gruben immer tiefer… und je länger wir dort waren, umso mehr passierte. Es gab Streit… nunja, nichts Neues… doch mit so einer Wut und Aggression… wir sind alle keine Engel, das weißt du… aber dort unten… dort herrscht der Wahnsinn. Im Streit um eigentlich nichts, schlug einer dem anderen den Schädel ein. Ich erinnere mich an Tsukitane, einen Japaner. Keine Ahnung worum der Streit ging, aber er schlug dem Kerl ohne mit der Wimper zu zucken die Schaufel auf den Kopf… spaltete ihm regelrecht den Schädel. Danach griff er sich ein Messer… schnitt sich den Bauch auf… und lachte wie von Sinnen, als ihm die Eingeweide rausqollen und er verreckte.“

Biberella musste schlucken und es dauerte eine Weile, bis sie wieder Worte fassen konnte. Plötzlich sah sie Fred mit anderen Augen. Sie hatte ja keine Ahnung, was er in seinem Leben alles mitansehen musste. Verschloss er sich, um sich vor diesen Gedanken und Erinnerungen zu schützen?

„Warum erzählst Du mir das, Fred?“, wollte sie wissen.

„Ben Walden… der Hund… stahl damals, was er kriegen konnte. Ohne zu fackeln ging er zu den beiden Leichen, die noch nicht mal kalt waren und nestelte aus ihrem Taschen, was er bekommen konnte. Als ich damals seine Augen sah… als ich sah, wie sich sein Blick änderte… liefen mir eiskalte Schauer über den Rücken.“

Fred nahm einen weiteren Schluck mit dem er das Glas leerte. Biberella gab sofort Zeichen an Luni, dass sie Fred noch eins ausschenken sollte. Der alte Mann schwieg solange, bis die Wirtin ihm ein neues Bier hinstellte.

„Wir erfuhren später, dass in den Gruben ein Gas ausströmte, das die Menschen irre macht. Der Grund, warum es dort so übel zuging. Man konnte das Gas nicht riechen und nicht sehen. Viel später gab es Detektoren, die Alarm schlugen, aber da war das meiste aus den Schächten geholt und man gab diese Stollen auf. Die restlichen Stollen hingegen bekamen Kamine zur besseren Belüftung und damit dieses Gas entweichen konnte.“ Fred kicherte. „Brachte nur nicht viel. Das Gas war dennoch da und wer sich lange in den Schächten aufhielt wurde wahnsinnig. So einfach.“

„Mir ist immer noch nicht klar, worauf Du hinauswillst“, sagte Biberella.

„Die Minen sind ein Labyrinth… von innen nicht zu durchschauen… aber wer es kennt, kennt auch seine Gefahr und meidet sie so gut es geht. Man kann in den Schächten eine Weile unterkommen… dort, wo Kamine sind. Verstehst Du?“, krächzte Fred und blinzelte Biberella mit seinem weißen Auge zu.

„Du meinst… wir müssen nur schauen, wo Kamine sind?“, fragte Biberella.

Fred nickte.

„Aber … ich kann mich nicht entsinnen, dort sowas gesehen zu haben… wie sehen diese Kamine aus?“

„Nicht alle sind in der letzten Zeit erhalten geblieben. Es gab Stürme und so manch ein Kamin wird dem zum Opfer gefallen sein. Nicht aber die Löcher der Kamine.“

Jetzt verstand Biberella, sprang auf, dankte Fred, gab Luni ein Zeichen, dass sie auf Kosten Biberellas Fred den Abend über mit Bier versorgen solle und ging schnurstracks in ihr Büro, wo sie sogleich den Computer aus dem Standby holte.

2.8

Biberella rief die Satellitenkarten von Tarsis auf ihren Schirm. Dann zoomte sie auf einen Ausschnitt zu, der den Bereich mit den Minen zeigte. Ein trostloser Anblick. Staubiges Ödland. Ein paar alte Gleise, die für Loren benutzt wurden und von denen aber nur noch Fragmente übrig waren. Der Rest wurde wohl demontiert und für andere Zwecke benutzt, wie vieles in den Anfangstagen der Besiedelung. Die blauen Augen der Sicherheitsbeauftragten flogen über die Bilder und studierten sie genau. Sie hob die Eingänge zu den Minen farblich hervor, um sie vom Rest des Bildes gut sichtbar zu trennen. Danach vergrößerte sie den Kontrast und machte sich dadurch einige Details der Bilder besser sichtbar. Tatsächlich! Fred hatte recht. Es gab wirklich einige Löcher im Boden, die einst Kamine waren. Wem sollten diese Löcher schon auffallen, dort draußen, mitten im Nichts, wo sich keiner hinverirrt? Aber wie sollte ihr das nun helfen JenJen zu finden? Es waren zu viele Löcher, die zudem zu weit verstreut waren. Biberella versuchte die Löcher wie bei einem Punktbild mit einer farbigen Linie zu verbinden um eventuell aus diesem Muster eine neue Erkenntnis zu gewinnen, doch der Versuch war umsonst. Was sollte ihr das auch sagen? Nein, sie musste eine andere Lösung finden. Nur welche? Barry Gibson. Er war doch damals für die Vermessung von Tarsis zuständig und machte diverse Aufnahmen mit allerlei Gerätschaften. Wenn sich einer mit dem Boden von Tarsis auskannte, dann Barry Gibson. Sie suchte seine Nummer heraus und wies den Computer an, eine Verbindung zu ihm herzustellen. Schon nach kurzer Wartezeit nahm Barry Gibson das Gespräch an.

„Hallo?“, brummte er mit seiner sonoren Stimme und sein Gesicht wurde auf dem Monitor dargestellt.

„Hallo Barry. Biberella hier. Ich hätte ein paar Fragen an Dich. Hast Du Zeit?“, fragte Biberella.

„Jetzt? Hier am Com?“, fragte Barry in einer Art und Weise, die Biberella unmissverständlich machte, dass es Barry gar nicht so recht ist.

„Naja.. ähm… ja, warum denn nicht?“, stutze Biberella.

„Also, meine liebe Biberella“, lachte Barry Gibson los, „Ich lasse es mir ungern nehmen, Dich als mein Gast begrüßen zu dürfen. Komm rüber, dann reden wir von Angesicht von Angesicht, was mir viel lieber ist.“

Biberella lächelte. Barrys Stimme und seine sympathische Art gefiel ihr und warum sollte sie ihm nicht einen Besuch abstatten?

„Okay, Barry. Ich komme. Bis gleich“, sagte sie dann, sah noch Barrys Nicken und beendete die Verbindung.

 

Barry Gibsons Wohnmodul lag nicht weit weg vom Saloon und Biberella wurde schon von dem alten Vermesser an der Eingangstür erwartet. Mit einer einladenden Geste wies er Biberella den Weg ins Modul, wodurch ihr seine dick bandagierte Hand auffiel.

„Danke, Barry. Was ist denn mit Deiner Hand?“, fragte sie im Vorbeigehen.

„Ach, nichts. Setz Dich erstmal, Biberella. Magst Du was trinken?“, sagte Barry.

„Gerne, Wasser bitte“, sagte Biberella und setzte sich auf die Couch, die inmitten des Raums stand. Dabei quietschte das Kunstleder bedenklich, so als ob es jeden Augenblick aufreißen könnte. Ja, die Möbel waren nicht mehr die neuesten und das verdeutlichte Biberella sofort, wie lange Barry eigentlich schon auf Tarsis war. Er war einer der ersten Siedler hier. Barry stellte das Glas Wasser vor Biberella auf dem kleinen Couchtisch ab, ließ sich dann in einen Sessel plumsen und lächelte seinen Gast an.

„Was ist nun mit Deiner Hand? Nichts würde ich das nicht nennen“, sagte Biberella.

„Ach… wir tauschten hier am Modul ein Fenster aus. Die Dinger sitzen so schon fest, aber die Klammern des alten hatten sich über die Zeit so festgefressen, dass ich sie kaum gelöst bekam. Ich setzte ein Brecheisen an und hebelte die Klammern auf. Das ging dann gut, bis auf eine. Die letzte natürlich. Da rutschte ich ab und riss mir ünglücklich die Hand dabei auf. Naja… das musste halt genäht werden und nun darf ich mit dem Verband die nächste Zeit klarkommen“, erzählte Barry.

„Autsch“, sagte Biberella und grinste leicht dabei, „Aber sonst alles gut?“

„Ja, schon. Als wir die Klammern lose hatten, konnten wir das Fenster tauschen. Das war dann kein Problem mehr. Ha, gar nicht auszudenken, was gewesen wäre, hätten wir die Klammer nicht losbekommen! Das wäre dann ein Aufwand geworden. Aber egal, der kleine Kratzer bringt mich nicht um. Da hab ich schon anderes erlebt. So, aber nun zu Deinem Anliegen… warum wolltest Du mich sprechen?“, sagte Barry Gibson.

„Es geht um das alte Minenfeld A6203. Sagt Dir das was?“, fragte Biberella.

„So auf Anhieb nicht. Aber wenn es ein A ist, dann ist es ein altes, schon lange stillgelegtes. Warum interessierst Du Dich dafür?“

„Du hast die Entführung bei Madame Hasal mitbekommen? Ich vermute, einer der Waldens hat JenJen dorthin verschleppt. Die Zeit drängt. Wir müssen sie finden. Aber bei dem Irrgarten? Der alte Fred erzählte mir von den Kaminen, wegen dem Gas…“

Biberella erzählte Barry die Geschichte. Dieser hörte sie sich aufmerksam an, nickte ab und zu mit dem Kopf, aber ließ sonst keine Regung blicken. Als Biberella ihre Ausführungen beendet hatte, stand Barry auf und machte den großen Wandmonitor an. Schon nach kurzer Zeit prangte darauf ein Bild, auf dem Biberella nicht das geringste erkennen konnte.

„Was ist das?“, wollte die Sicherheitsbeauftragte wissen.

„Das ist A6203. Aber als sonographische Aufnahme.“, sagte Barry und lächtelte dabei.

„Aha… mir sagt das nichts. Wie kann man darauf was erkennen?“, sagte Biberella.

„Nun“, lachte Barry laut los, „ein ungeübtes Auge sieht da auch nichts. Mach Dir also keine Sorgen. Schau hier…“

Barry erklärte Biberella, wie man diese Aufnahme zu lesen hatte und zeigte ihr dabei, wie die sonographische Vermessung durch das Erdreich hindurch die Stollen der Minen zeigte.

„Leider mussten wir damals mit hoffnungslos veralteter Technik arbeiten. Eine dreidimensionale Darstellung, wie sie andere zur Verfügung hatten, gab es bei uns nicht. Wir mussten also mit diesen Bildern klarkommen“, endete Barry seinen Vortrag.

„Von wann sind diese Aufnahmen?“, wollte Biberella wissen.

„Sehr alt. Damals waren die Minen noch in Betrieb. Später, als sie stillgelegt wurden und man die Gänge zuschüttete, machten wir keine Sonographie mehr. Wozu auch?“, sagte Barry.

„Na gut, dann sehe ich nun dank Deiner Hilfe zwar, wo Gänge sind – oder waren und wie die miteinander verbunden sind. Doch dann ist das noch immer zu riesig um JenJen zu finden.“, seufzte Biberella.

„Vielleicht…“, murmelte Barry, „Vielleicht aber auch nicht.“

Biberella zog die Augenbrauen hoch und Barry lächelte verschmitzt.

„Die Sonographien wurden damals von Drohnen gemacht, die wir über das Feld fliegen ließen. Und nun rate mal, wer noch eine Drohne hat?“

Biberella lachte und dankte Barry, der mit der Sicherheitsbauftragten das Modul verließ und zu einem Lagermodul ging, wo Barry Gibson ein paar seiner Habseligkeiten unterstellte. Nach einer kurzen Suche fand er die Drohne. Biberella half dem durch seinen Handverband eingeschränkten alten Mann dabei, die rund 1,5 Meter lange Drohne aus dem Gerümpel zu befreien und nach außen zu tragen. Barry brachte noch das Steuergerät für die Drohne mit und erklärte Biberella genau, was sie wie zu tun hätte. Der Akku der Drohne war allerdings tiefentleert und sollte daher über Nacht geladen werden. So lange müsse sie sich eben noch gedulden.

Biberella bedankte sich bei Barry Gibson, schnappte Drohne und Steuerung und schleppte die Ausrüstung zu ihrem Wohnmodul, wo sie erst einmal den leeren Akku ans Stromnetz hing. Morgen würde sie dann eine neue Sonographie des Minenbereichs A6203 anfertigen und Barry würde ihr auf den Aufnahmen zeigen, wie sie diese zu verstehen hätte. Biberella betrat ihr Wohnmodul, legte das Steuergerät der Drohne auf ihren Schreibtisch, ging zur Küchenzeile und ließ den Computer eine Tasse Kaffee aufbrühen. Nachdenklich nahm sie dann einen Schluck des braunen Gebräus und schaute aus dem Fenster auf die Module von Tarsis-City.

 

Tief in Gedanken versunken, fiel ihr Blick auf die Klammern, die die Fensterfront mit der Modulwand verbanden und fest hielt. Was sagte Barry nur? Die Klammern zu lösen ist nicht einfach, schon gar nicht, wenn sie älter sind. Biberella nestelte an einer der Klammern ihres Fensters herum und schaffte es nicht, diese mit der Hand zu lösen. Sie nahm aus der Schublade die große Küchenkelle, die einen stabilen Stiel hatte, setzte diesen an die Klammer an und versuchte durch hebeln die Klammer zu lösen. Doch diese bewegte sich kein Stück. Stattdessen verbog sich der Stiel. Was sagte diese seltsame blonde Frau? Das Fenster sei einfach so rausgerissen worden? Unmöglich. Die Klammern halten zu fest und wenn, dann müsste die Modulwand einen ziemlichen Schaden davontragen. Biberella übersah wohl etwas, als sie JenJens Raum durchsuchte. Sie trank den letzten Schluck Kaffee und ging schnurstracks zum Freudenhaus von Madame Hasal.

 

„Hallo Biberella“, begrüßte sie die ältere Dame zunächst recht herzlich, bevor der Tonfall kälter wurde, „Wie läuft die Suche nach meinem Mädchen?“

„Deswegen bin ich hier, Madame Hasal. Ich möchte mich nochmal in JenJens Zimmer umsehen. Kann ich bitte den Schlüssel haben?“, sagte Biberella.

„Hmm…“, brummte Hasal, schaute Biberella etwas abschätzig und mit Enttäuschung im Blick an, griff dann aber in ihre Tasche, holte einen Schlüsselbund heraus, nestelte einen Schlüssel aus dem Ring und reichte ihn Biberella. „Beeil Dich, mir mein Mädchen wiederzubringen!“

„Ich bin dabei“, sagte Biberella, griff den Schlüssel und sagte im Gehen noch, „Danke. Ich bringe ihn gleich wieder.“

Dann huschte sie die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo die Zimmer der Mädchen waren, öffnete die Tür zu JenJens Raum und stand inmitten dieses Wirrwarrs, das bislang noch keiner aufräumen durfte. Biberellas Augen durchstreiften den Raum, sogen den Anblick erneut in sich auf, doch etwas Neues erkannten sie nicht. Vorsichtig durchschritt sie den Raum, ging zu dem Loch in der Wand, wo einst ein Fenster war und betrachtete sich dieses genauer. Vor allem dort, wo die Klammern das Fenster, welches in Trümmern da unten am Boden hinter dem Freudenhausmodul lag, fest in ihrer Verankerung hielten. Biberella konnte an diesen Stellen nichts erkennen, was auf eine große Kraftanstrengung hindeutete. Die Wände waren nicht verbogen, es gab nur lediglich ein paar kleine Kratzer, aber nichts, was darauf hindeutete, dass man dieses Fenster nur mit größter Mühe aus der Wand gerissen bekommen hätte. Plötzlich fielen Biberella unweit der Stellen, wo die Klammern griffen, kleine Dellen in der Wand auf. Wie von einem Brecheisen oder etwas in der Art, das als Hebel benutzt wurde, um die Klammern zu lösen! War das alles vorbereitet? Hatten die Waldens einen Komplizen? Biberella verließ den Raum, gab Hasal im Vorbeigehen den Schlüssel, bedankte sich und schritt eilig aus dem Freudenhaus. Hinter dem Modul betrachtete sie sich noch das Fenster und besonders die Klammern des Fensters. Dass eine dieser Klammern abgerissen war, hatte nichts zu sagen. Das kann auch passiert sein, als das Fenster auf den Boden fiel. Aber auch an diesen Klammern konnte sie nichts erkennen, was in irgendeiner Weise auf eine große Krafteinwirkung hindeutete. Somit war Biberella klar, dass irgendwer diese Klammern löste, damit einer der Waldens das Fenster aus der Wand ziehen und zu JenJen einsteigen und sie rauben konnte.

2.9

Eine unruhige Nacht lag hinter Biberella, die eben frisch geduscht ihre Lebensgeister mit Kaffee weckte und sich auf ihre obligatorische Runde machte. Tief in Gedanken versunken schlenderte Biberella durch Tarsis-City. Der Staub der Wege wirbelte um ihre Füße und der sanfte Wind, der an diesem Tag wehte, kühlte ihr Gesicht. Angestrengt dachte sie über die neuen Erkenntnisse nach und betrachtete dadurch die ganze Angelegenheit in völlig neuem Licht. Waren die Waldens etwa gar nicht die Hauptschuldigen, sondern nur williges Werkzeug? Wurden sie zu der Tat angestiftet oder heckten die das tatsächlich selber aus? Zuzutrauen wäre es den Brüdern schon, aber was hätten sie davon? Eigentlich brachte ihnen die Aktion doch nur Ärger ein und etwas wie eine Lösegeldforderung trudelte bislang auch noch nicht im Freudenhaus ein. Es stand zwar außer Frage, dass JenJen für sich alleine ein Juwel sei und ganz abwegig ist der Gedanke, dass einer der Waldens sie gerne als sein Spielzeug haben wollte, nicht. Aber auch den Waldens müsste klar sein, dass sie sich so nur Ärger einhandeln. Nirgends auf Tarsis konnten sie sich noch sicher sein, also…?

Biberella kreisten die Gedanken wie ein Wirbelsturm durch den Kopf und je mehr sie ihren Kopf anstrengte, umso mehr Sorgen machte sie sich um JenJen. Plötzlich blieb die Sicherheitsbeauftragte stehen und bemerkte erst jetzt, dass sie vor ihrem Wohnmodul stand. Wie automatisch gesteuert lief sie in diese Richtung und die Akkuanzeige der Drohne blinkte ihr fröhlich in einem satten Grün entgegen. Mit einem Lächeln im Gesicht betrat sie ihr Modul, schnappte die Steuerung, trat wieder vor die Tür und stöpselte das Ladekabel der Drohne aus. Die Drohne, die einem Flugzeug ähnelte, war nicht schwer, aber dennoch unhandlich und Biberella brauchte ein paar Versuche, bis sie einen Griff fand, mit dem sie die Drohne transportieren konnte. Etwas gebeugt unter diesem Gerät watschelte sie regelrecht in Richtung Saloon, wo sie Günni holen wollte.

„Hö?!“, rief der Kleine freudig aus, als er aus dem Saloon heraus Biberella entgegenkam.

Fast, als ob er sie erwartet hätte, kam er grinsend auf sie zu und nahm ihr die Drohne ab. So klein Günni auch war, man sollte seine Stärke nicht unterschätzen. Locker packte er das Gerät auf seine Schulter, als ob es nichts wäre und schaute Biberella strahlend an.

„Schon gut, Günni. Klar, kommst Du mit. Ich wollte Dich ja holen. Darfst die Drohne dann auch mal fliegen lassen“, sagte Biberella zu ihrem Begleiter, der ihr schon längst so sehr ans Herz gewachsen ist, dass er eine schmerzende Lücke darin hinterlassen würde, wäre er eines Tages nicht mehr hier auf Tarsis.

Ohnehin würde es sie einmal interessieren, wie dieser kleine Kerl überhaupt auf diesen Schrotthaufen Tarsis gelangt ist. Sie suchte zwar mal in den Datenbanken, aber sie fand keinen Eintrag, der etwas besagt hätte. Lediglich Personenangaben, aber keine weiteren Details zu Günni. Die Informationen über den kleinen Kerl waren so dürftig, dass sie nicht einmal sein Alter oder sein Geburtsdatum in Erfahrung bringen konnte. Fragen konnte man Günni auch nicht, denn sein ständiges „Hö“, welches er immer den Situationen angepasst abgewandelt von fröhlich bis wütend erklingen ließ, war zwar in den jeweiligen Momenten zu verstehen oder besser zu deuten, aber Antworten auf Fragen waren sie keine. Ein Umstand, der Günni etwas Mysteriöses gab. Dieser kleine aufrichtige Kerl, inmitten von Verbrechern und Gesindel. Sollte er einer von denen sein? Nein, da wehrte sich Biberellas Seele entschieden dagegen, das zu glauben. Nicht Günni. Aber ein freiwilliger Siedler, wie es eben eine Handvoll gab? Sie konnte sich auch das nicht wirklich vorstellen, denn Günni alleine machte immer einen etwas hilflosen Eindruck und von einer Besiedelung ist bei ihm auch nichts zu merken. Genaugenommen besiedelte er den Saloon und wenn nichts weiter passierte, trippelte er auf seinen kurzen Beinen nach Hause und schlief. Dass Günni einer der Wissenschaftler sein könnte… dieser Gedanke ließ Biberella leise lachen.

 

***

 

JenJen schluchzte. Sie fror erbärmlich und ihre Handgelenke schmerzten. Jegliches Zeitgefühl hatte sie verloren und in ihr regierte nur noch die Angst. Angst vor ihrem Peiniger, Angst vor den tarsischen Ratten, Angst davor beiden zum Opfer zu fallen. Längst gab sie ihren Lebenswillen auf. Sollte der Tod nun nach ihr greifen, würde sie sich nicht wehren, denn selbst der Tod wäre besser, als das hier! Ein modrig stinkendes, feuchtes Loch irgendwo im Nichts. JenJen hätte nie gedacht, dass das mal der letzte Ort ihres Lebens sein würde. Stattdessen drifteten ihre Gedanken ab. Malten sich Traumbilder aus, wie sie vor einer pinken Villa mit einem großen grünen Garten mit allerei Blumen und Obstbäumen steht. Einen liebevollen Mann und mindestens eine Tochter umsorgt. Ja, das hätte mal alles sein sollen und nur deswegen machte sie diesen Job auch. Von den Gefahren dieser Beschäftigung hatte man sie oft genug gewarnt, aber sie schlug diese Warnungen in den Wind. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und sie wollte gewinnen. Das hatte sie nun davon. Diese Erkenntnis manifestierte sich auch in ihrem Traumbild. Die Bäume und Blumen verdorrten, die Villa bekam Risse und das pink verfärbte sich zu einem schlammigen Braun. Ihre Tochter weinte erbärmlich und JenJen drehte sich panisch um, sah ihre Tochter, wie sie immer weiter von ihr weglief. Sie versuchte sie zu fassen zu bekommen, doch alle Mühen waren vergebens. Die Kleine war immer eine Armlänge zu weit weg von ihr, egal wie sie sich auch anstrengte. Dann hörte sie ein gutturales Lachen und drehte sich in die Richtung um, aus der dieser diabolische Klang kam. Sie sah ihren Mann, wie er mit wahnsinnig aufgerissenen Augen lachte und sich in dieses Lachen immer weiter steigerte, sich den Bauch hielt und plötzlich liefen schwarze Schatten über sein Gesicht. Als ob die Schwärze ihn verschlingen wollte. Da kam JenJen wieder zu Bewusstsein und hörte durch die dunklen Gänge das Lachen. Dann die schweren Stiefelschritte, die das Nahen ihres Peinigers ankündigten…

 

***

 

Auf einer Anhöhe bei dem alten Minenfeld angekommen, ließ Biberella Günni die Drohne auf den Boden stellen. An eine Stelle, die eben genug war um als Startrampe fungieren zu können. Beide setzten sich auf einen Felsblock, der nicht bequem war, aber auf dem man es dennoch gut aushalten konnte. Biberella schaltete die Steuerung ein und kontrollierte die Anzeigen auf dem Display. Dank der kurzen Einweisung durch Barry konnte sie mit den Zahlen halbwegs was anfangen, in jedem Fall aber so viel, dass sie es als positiv werten konnte. Wenn sie nun den Start nicht verbockte, dürfte der Erkundung des Bereichs nichts mehr im Wege stehen. Vorsichtig drückte sie den Joystick nach vorne und die Drohne flitzte davon. Am Ende der „Startbahn“ rauschte die Drohne über den Abhang und Biberella sah auf dem Display das Symbol für den Flugmodus. Nun brauchte sie beide Joysticks und manövrierte die Drohne ohne Probleme durch den violetten Himmel von Tarsis. Sie ließ die Drohne in Form einer Acht immer wieder über die Bereiche fliegen, die als Planquadrate auf der Karte, die in ihrem Display zu sehen war, grün schraffiert wurden. Das zeigte der Sicherheitsbeauftragten an, dass dieses Areal vollständig gescannt wurde und alle Daten im Speicher der Drohne sind. Darauf flog sie zum nächsten Quadrat und flog auch hier wieder gekonnt durch die Lüfte, bis ein weiteres Planquadrat grün erschien. So machte sie unter den freudigen „Hö!“-Rufen von Günni weiter, bis alle Quadrate, die das Minenfeld A6203 umfasste, grün schraffiert waren. Nun musste sie nur noch die Drohne sicher landen. Das mit Abstand schwierigste an dieser Mission. Die Drohne mochte zwar alt sein, dennoch besaß sie einen zuverlässigen Autopilotmodus, der sie bei einem schwierigen Landemanöver unterstützte und so gelang eine sichere Landung. Biberella griff sodann die Speicherkarte aus der Drohne, denn diese Daten waren ihr zu wichtig, als dass sie sie riskieren wollte, denn sie hielt ihr Versprechen und ließ Günni auch ein paar Runden mit der Drohne fliegen. Die Augen des kleinen Kerls leuchteten wie bei einem kleinen Kind, das zu Weihnachten ein neues Spielzeug bekam und fröhlich lachend und immer wieder „Hö!“ rufend, steuerte er die Drohne sicher durch die Luft.

Genüsslich schaute sie dem Kleinen zu, wie er seine Freude an diesem Spiel hatte. Mit vor der Brust verschränkten Armen saß Biberella auf einem Felsblock, ließ sich den lauen Wind durch die Lockenmähne wehen und dachte einen kurzen Moment darüber nach, wie es wäre, wenn sie ein Kind hätte, mit dem sie solche Augenblicke erleben dürfte. Natürlich nicht mit einer Drohne. Selbst in der hochtechnologischen Welt, in der alles von Computern und künstlichen Intelligenzen gesteuert und überwacht wird, gibt es nichts besseres für eine zwischenmenschliche Bindung, wie etwas gemeinsam zu unternehmen. Biberella dachte gerne an ihre Kindheit zurück, wie sie mit ihrer Mutter aus Herbstlaub und Ästen oder Moosen etwas bastelte und sie vergaß auch nie, welche Freude sie als kleines Mädchen dabei hatte, mit ihrer Mutter zusammen einen selbstgebastelten Drachen steigen zu lassen. Bei diesen Erinnerungen stahl sich eine Träne in Biberellas Augen. Zwar durfte sie nie die Erfahrung machen, an einem Waldrand ihren Drachen steigen zu lassen, sondern nur vom Dach des Hochhauses, in dem sie wohnten, aber sie durfte im Gegensatz zu vielen anderen immerhin solche Erfahrungen machen. Laub hatten sie nur von ein paar wenigen Pflanzen, die in Kübeln auf dem Dach angepflanzt waren. Die Städte auf der Erde waren Betonwüsten geworden und die Zeit der Menschen zu knapp, als dass man eine lange Fahrt zum nächsten Wald hätte machen können. Die wenigen Wälder, die es damals überhaupt noch gab und die wie grüne Oasen inmitten der versiegelten Betonwüste standen, waren zu einer Art Freizeitpark geworden. Alles kommerzialisert und mit Ständen und Fahrgeschäften umstellt, sodass die Natur nur noch Zierde war und die wenigen elitären Kinder, die sich einen Eintritt leisten konnten, waren lieber in der Achterbahn als auf einem Baum. So war man also Gefangener in einer künstlichen Wüste und froh selbst über ein kleines bisschen Grün, selbst wenn dieses nur aus einem kleinen Topf auf dem Dach eines der unzähligen Hochhäuser spross. Aber diese Momente brannten sich tief in ihre Seele ein und sind etwas, das kein Computer und keine KI ihr je hätten vermitteln können und es ist etwas, das sie nie vergessen wird.

Ein Alarmsignal aus der Steuerung der Drohne holte Biberella wieder ins Hier und Jetzt zurück. Das kreischende Piepsen war das Zeichen dafür, dass der Akku der Drohne langsam leer wurde und Günni nun zur Landung ansetzen musste. Etwas geknickt schaute der Kleine drein, aber hinter seinen Knopfäuglein glimmte etwas wie Verständnis auf und er machte sich an die Landung des Fluggeräts. Die Zungenspitze zum Mundwinkel heraus, die Augen vor Anstrengung verengt, brachte er die Drohne sicher zur Landung und hüpfte dann „Hö hö!“ rufend auf und ab, weil er sich selbst über die Maßen über die geglückte Landung freute. Ein Bild, bei dem Biberella einfach lachen musste. Als die Sicherheitsbeauftragte die Steuerung an sich nahm und Günni die Drohne auf seine Schulter packte, schreckten beide zusammen.

„Hast Du das auch gehört, Günni?“, fragte Biberella ihren Begleiter und horchte angestrengt.

„Hö?“, sagte Günni nur und zuckte mit den Achseln.

„Das war doch ein Schrei, oder? Hast Du das denn nicht gehört?“

„Hööö“, ließ ihr kleiner Helfer nur gedehnt vernehmen und es klang zumindest so, als ob Günni wohl nichts hörte.

„Komm Günni, packen wir zusammen und gehen zu Barry. Er soll so schnell wie möglich die Daten der Speicherkarte auswerten“, mahnte Biberella dann zur Eile, weil ihr der vermeintliche Schrei die Dringlichkeit JenJen zu finden, zurück ins Bewusstsein brachte.

2.10

Die sparsame Lampe, die JenJens Peiniger entzündete, erhellte das Verlies nur spärlich. Mühsam öffnete sie die Augen und versuchte etwas zu erkennen, doch ihr Zustand ließ sie nur diffuse Schatten erkennen. Eine hohe, muskulöse Gestalt, die aus einem Blechtopf etwas wie einen Eintopf mit einem Löffel in Richtung ihres Mundes hielt.

„Iss!“, forderte die rauhe Stimme des Mannes JenJen auf.

Mit dem ersten zögerlichen Bissen erkannte JenJen, wie ausgehungert sie war und zugleich, wie gut ihr diese warme Pampe, die er wohl Nahrung nannte, tat. Begierig wollte sie mehr davon, öffnete den Mund wie ein Kleinkind, das gefüttert werden will. Löffel um Löffel aß sie diesen Eintopf und bat anschließend um Wasser.

„Ich hätte Deine Hände nicht gebunden, wenn ich sicher sein könnte, dass Du nicht davon läufst“, raunte der Mann und sah auf JenJen hinunter. Betrachtete ihren nackten Leib, der von den scharfkantigen Steinen um sie herum zerkratzt war. Vorsichtig fühlte er an eine Wunde, die sich deutlich rötete und JenJen zuckte mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen.

„Bitte…“, wimmerte sie kleinlaut, „...bitte…“

„Ei, ei, ei. Das sieht böse aus“, sagte der Mann väterlich und verließ die Kammer.

JenJen hörte, wie er im Vorraum etwas durchsuchte, hörte einen Metalldeckel, der auf- und zugeschlagen wurde. Dann kam der Mann wieder und hatte eine Flasche aus braunen Glas, ein paar Wattebäusche sowie ein paar große Pflaster dabei. Er stellte die Sachen neben sie und öffnete die Flasche. Der Geruch, der ihr entströmte, war JenJen bekannt. Sie musste schon öfters mit diesem Wunddesinfektionsmittel in Berührung kommen.

„Das wird nun ein bisschen weh tun“, sagte der Mann, nachdem er einen Wattebausch mit der Flüssigkeit getränkt hatte

Wem sagst Du das?, dachte sich JenJen, doch sie nickte nur und biss sich auf die ausgetrockneten, spröden Lippen. Ungewöhnlich vorsichtig tupfte der Mann auf die Schrammen, die JenJens makellosen Körper überzogen und wenn sie die Kraft zu Schreien gehabt hätte, hätte sie es getan. Der Schmerz, der sie durchzog, war höllisch und trotzdem war sie froh darum. Einerseits weil sie wusste, dass ihr die Desinfektion gut tat, andererseits spürte sie durch den Schmerz neue Lebensgeister in sich. Nach dieser Tortur bedeckte der Mann JenJens Wunden mit den Pflastern und stand wieder auf. Er betrachtete sein Opfer in einer seltsamen Mischung aus lüsternem Begehren und väterlicher Fürsorge. JenJen hätte gar nicht die Kraft gehabt, sich zu wehren, würde er sich wieder an ihr vergehen. Sie würde es einfach über sich ergehen lassen. Aber er machte gar keine Anstalten dazu. Stattdessen ging er wieder in den Vorraum, wo er die Flasche und Wattebäusche verstaute und dann mit einer grauen Decke aus grobem Stoff zurück kam.

„Ähm… tschuldige, dass ich Dich beim letzten Mal so liegen ließ und … naja…“, stammelte er rum, als er die Decke auffaltete und über JenJen legte.

„Lass mich gehen, bitte!“, flehte sie ihn an, doch der Mann schüttelte nur mit dem Kopf.

„Geht nicht“, war seine kurze Antwort darauf, bevor er die Lampe löschte und wortlos ging.

JenJen war zu keiner Regung mehr fähig, aber dankbar um die Wärme, die sich unter der Decke ausbreitete. Sie hörte nur noch, wie sich die Stiefelschritte entfernten und sie ergab sich in Morpheus’ Arme.

 

***

 

Zurück in Tarsis-City ging Biberella gar nicht erst zu ihrem Wohnmodul, sondern zusammen mit Günni, der die Drohne huckepack schleppte, direkt zu Barry Gibson. Lange mussten sie nicht warten, bis der alte Techniker ihnen die Tür öffnete und sie hereinbat. Günni überlegte bereits fieberhaft, wie er die Drohne durch die enge Tür bekommen sollte, als Barry ihn freundlich anwies, das Fluggerät hinten beim Schuppen abzustellen. Der Kleine blinzelte nur, lief zum Schuppen, stellte nicht gerade sanft die Drohne ab und anstatt sich zu Biberella und Barry zurück zu begeben, rannte er plötzlich zum Saloon, in dem er auch verschwand. Biberella lachte als sie Barrys verwunderten Gesichtsausdruck sah.

„Lass ihn. Er wird sich sein Bier gönnen, das er sich wohlverdient hat“, sagte Biberella.

„Auf Deinen Deckel, hm?“, fragte Barry Gibson und Biberella nickte.

„Apropos Günni“, fing Biberella an, als Barry die Tür schloss und beide in den Wohnbereich gingen und sich hinsetzten, „Du bist doch einer der ältesten Siedler hier. Weißt Du was Genaues von Günni? Ich meine, wie er herkam oder warum? Ich schaute zwar mal in den Akten, aber da findet man nichts.“

„Hmm…“, brummte Barry und rieb sich das Kinn, „so genau nicht. Um ehrlich zu sein, kümmerten wir uns damals gar nicht so sehr um Neuankömmlinge. Es war eine härtere Zeit damals. Wir hatten echt andere Sorgen. Das kannst Du Dir ja denken. Viel wichtiger war uns unser Überleben zu sichern. Und natürlich auch die Interessen der Konzerne zu wahren. Also Vorkommen erschließen und Bergbau betreiben. Uns war allen nicht wohl in unserer Haut, als man Sträflinge in die Minen schickte. Mir schon gar nicht, denn eigentlich wurden die Leute dort nur verheizt. Selbst wenn es Verbrecher waren, durfte man im Namen der Menschlichkeit sie nicht wie wertlose Arbeitssklaven behandeln. Ja, aber das ist wohl ein anderes Thema.“

Barry Gibson machte eine Pause und goß Biberella eine Tasse Tee ein. Der Duft dieses Getränk stieg schon länger aus der Kanne, die auf dem Tisch stand, empor. Barry erinnerte sich wohl an seine Gastgebereigenschaft und stellte Biberella ungefragt diese Tasse vor, stand dann auf und holte sich selbst eine Tasse, die er sich eingoß.

„Wenn ich mich recht entsinne“, fing der alte Mann dann wieder an, „kamen damals ein paar Siedler her, die nicht auf den Listen standen. Blinde Passagiere quasi. Niemand wusste, wer die waren und eigentlich sollten sie interniert werden. Eigentlich! Doch wo? Es gab damals am Shuttlehangar kaum Platz, höchstens ein eingezäunter Bereich. Nichts, was irgendwie sicher wäre. Und so kam es dann auch. Über Nacht verschwanden diese Gestalten einfach. Ein paar Wenige fand man leblos draußen im Ödland. Die Deppen dachten echt, sie könnten ohne Hilfe da draußen überleben! Ha! Es waren aber nur ein paar Wenige. Die Anderen? Keine Ahnung, was aus ihnen wurde.“

„Du meinst, Günni könnte als blinder Passagier nach Tarsis gekommen sein?“, fragte Biberella.

Barry Gibson zuckte mit den Schultern. „Möglich. Ich weiß es nicht. Dabei fällt mir aber ein, dass es damals ein Gerücht gab. Vielleicht auch nur eine dahergeplapperte Schauergeschichte? Aber sie fällt mir eben ein. Auf der Erde soll es zu einem seltsamen Massenverschwinden von Patienten einer Psychiatrie gekommen sein. Unerklärlich, wie diese Personen überhaupt die Sicherheitsvorkehrungen überwinden konnten. Jedenfalls soll mehr als die Hälfte der Patienten oder Insassen getürmt sein. Nicht alle konnte man wieder einfangen. Diese Story erzählte man sich so ziemlich zur selben Zeit, wie die blinden Passagiere hier ankamen. Nur…“

„Ja?“, drängte Biberella förmlich.

„So wirklich durchgeknallt kamen mir die Typen nicht vor. Mag sein, dass ich mich da irre, aber wenn ich mich zurück erinnere…. Nein… das waren keine Hirnamputierten. Spinner vielleicht! Aber sowas wie Günni? Nein.“

„Du hast mich da trotzdem auf eine Idee gebracht und alleine damit schon weitergeholfen. So, aber nun…“, sagte Biberella und holte die Speicherkarte hervor, „hier sind die Daten des Scans von heute drauf. Kannst Du sie mir so schnell wie möglich auslesen? Es ist wirklich wichtig!“

„Gib her, ich mache mich gleich dran. Aber das wird nicht in fünf Minuten geschehen. Das dauert, selbst wenn ich mich beeile. Tut mir leid, aber vor morgen früh wird das bestimmt nichts. Und das auch nur, wenn ich die Nacht durchmache.“

„Hauptsache so schnell es eben geht. Danke Barry. Melde Dich, sobald Du was hast“, sagte Biberella im Aufstehen und ging Richtung Ausgang.

„Ich melde mich dann“, brummte Barry ihr nach, doch da fiel die Tür bereits ins Schloss.

 

Biberella spurtete förmlich in ihr Wohnmodul. Auf die beginnende Abendrunde durch Tarsis-City verzichtete sie. Einmal wegen des aufkommenden Sturms, der einen Aufenthalt außerhalb der Module sehr unangenehm machte und einmal, weil sie durch Barrys Erzählung eine Idee hatte, wie sie eventuell etwas über Günni erfahren könnte. Da sie ohnehin zum Warten verdammt war, konnte sie die Zeit dafür nutzen. In ihrem Wohnmodul angekommen, warf sie die Tür hinter sich zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete erst einmal richtig tief durch. Sie beschloss zuerst eine warme Dusche zu nehmen, bevor sie sich um eine längere Recherche kümmerte und schlüpfte aus ihrem blauen Catsuit, warf diesen in den Wäschekorb, ging in die Nasszelle und stellte das warme Wasser an. Während die Wasserstrahlen ihren Körper massierten und ihr zur Wohltat waren, gingen ihr Gedanken an JenJen durch den Kopf, die solch Annehmlichkeiten nun garantiert nicht hatte. Sie schämte sich sogar ein bisschen dafür, dass sie die Dusche genoß, während JenJen irgendwo… ach, sie wollte gar nicht mehr weiter daran denken. Biberella konnte nicht für alle Unbill der Welt und des Weltalls verantwortlich sein und sich hintanstellen. Nein, sie durfte auch mal sich selbst etwas gönnen und wenn es nur eine warme Dusche ist.

Ein Alarmton schreckte Biberella auf. Dieser erklang immer dann, wenn das rationierte Wasser zur Neige ging und sie drehte schleunigst den Hahn zu, bevor sie auf dem Trockenen saß. Hatte sie wirklich so lange geduscht, dass sie beinahe ihr Wasserkontigent aufgebraucht hatte? Sie verließ die Nasszelle, schnappte sich ein Handtuch, rubbelte ihre Lockenmähne, bevor sie sie in dem Handtuch zu einem Turban verschlang. Danach schlüpfte sie in einen Bademantel und ging in die Küchenzeile, wo sie den Computer anwies, ihr eine frische Tasse warmen Kaffees aufzubrühen. Mit dieser in der Hand setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann mit der Recherche nach der Flucht aus der Psychiatrie. Biberella überflog die vielen Datenbankeinträge, die es rund um dieses Thema gab, doch neben den Fakten, dass Insassen geflohen waren, konnte sie kaum persönliche Daten in Erfahrung bringen. Kein Wunder, sensible Patientendaten bekommt man nicht so einfach raus, aber Biberella entdeckte einige Kontaktdaten zu damaligen Ärzten oder Pflegern. Als sie diese durchging, stellte sie fest, dass zumindest ein Arzt, der damals Assistenzarzt in dieser Psychiatrie war, noch zu erreichen sein sollte und ungeachtet ihres Handtuchs auf dem Kopf wies sie den Computer an, eine Verbindung mit Dr. Sander aufzubauen.

Nach kurzer Zeit nahm dieser, mittlerweile auch etwas gealterte Mann das Gespräch an und vor Biberella tauchte sein Gesicht auf.

„Dr. Sander hier. Was kann ich für sie tun?“, sagte er mit fester Stimme, ihren Handtuchturban ignorierend.

„Ah, Dr. Sander. Mein Name ist Biberella. Ich bin die Sicherheitsbeauftragte auf Tarsis.“

„Tarsis? Ist das nicht….?“, grübelte der Arzt.

„Ja, ist es und kein schöner Ort. Ich hätte eine Frage zu den entflohenen Patienten damals.“

„Darüber darf ich nicht reden. Ärztliche Schweigepflicht. Tut mir leid.“

„Ich möchte auch keine Behandlungsdaten haben oder so etwas. Mir geht es um etwas anderes.“

„So? Um was denn?“

„Ich möchte Ihnen jemanden zeigen. Vielleicht kennen Sie ihn ja von damals. Könnte das ein Patient von Ihnen gewesen sein?“

„Wenn er ein Patient von mir war, darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Es sei denn, es läge ein Kapitalverbrechen vor.“

„Ähm, ja genau… aber weil das laufende Ermittlungen sind, darf ich Ihnen darüber nichts sagen.“

Biberella lächelte innerlich. Sie war schließlich so etwas wie die Polizei von Tarsis und konnte dem Arzt Befugnisse vorgaukeln, die sie eigentlich gar nicht hatte. Aber das war ihr egal und ein Kapitalverbrechen lag nun nicht wirklich vor. Sie konnte sehen, wie Dr. Sander nachdachte und dabei den Kopf leicht von einer Seite auf die andere legte, als ob er seine Gedanken abwiegen müsste. Dann schloss er die Augen und holte einmal tief Luft.

„Also gut. Was kann ich Ihnen sagen?“, fragte er dann etwas ermattet.

„Kennen Sie diesen Mann?“, fragte Biberella und schickte Dr. Sander ein Foto von Günni.

„Hmm…. Vielleicht… also…. Wissen Sie, es ist lange her…“

Dr. Sander grübelte wirklich angestrengt nach, aber scheinbar kannte er Günni nicht. Oder er konnte sich wirklich nicht mehr daran erinnern. In Biberella machte sich Enttäuschung breit und sie wollte das Gespräch schon beenden, da sagte Dr. Sander: „Warten Sie einen Augenblick.“

Der Arzt begann in seinem Computer einiges nachzuschauen und beachtete dabei Biberella kein Stück. Dann nickte er plötzlich und schaute wieder in die Kamera.

„Da ist er ja. Er war wirklich Patient in der Klinik. Aber nicht in meiner Abteilung. Günther Wiener. Armer Kerl. Bei einem Arbeitsunfall kam er mit dem Kopf in eine Presse. Ein Wunder, dass er überlebte. Nach den Akten war alles bis zu den Augenbrauen reiner Matsch. Man kämpfte damals um sein Leben und zig Operationen später war er zumindest außer Lebensgefahr. Aber sein geistiger Zustand…. Oh je…. Er wurde dann hier in die Klinik eingewiesen, wo er allerdings nie auffiel. Wenn er durch etwas auffiel, dann eher durch Apathie. Nun, er bekam alle Therapien von Logopädie angefangen bis zu Spezialverfahren über die ich besser nichts sage. Nein, das war nichts Illegales, glauben Sie mir, aber ich will dennoch nicht drüber sprechen. In jedem Fall schien keine der Behandlungen Erfolg zu haben.“

„Aha, und war er einer der verschwundenen Patienten?“, wollte Biberella wissen.

„Ja. Er war wirklich einer der Patienten, die man nie wieder fand. Wie kam er nach Tarsis?“, fragte Dr. Sander.

„Als blinder Passagier mit einer der Fähren. Mehr weiß ich auch nicht, aber Sie haben mir sehr geholfen. Vielen Dank, Dr. Sander. Machen Sie es gut“, drängte Biberella den Arzt zu einem jähen Ende des Gesprächs.

„Freut mich, Biberella. Leben Sie wohl“, sagte Dr. Sander und kappte die Verbindung.

Etwas verwirrt darüber hob Biberella die Augenbrauen, stand vom Schreibtisch auf, ging mit ihrer fast leeren Tasse Kaffee in die Küchenzeile und blickte durch das Fenster hinaus in die mittlerweile schwarze, stürmische Nacht von Tarsis-City.

Günther Wiener also, dachte sie, spülte ihre Tasse aus und ging zu Bett.

 

 

 

2.11

Das Schrillen des Kommunikationssystems riss Biberella aus dem Schlaf. Sie bekam kaum die Augen auf und wunderte sich, dass es draußen schon hell war. Hatte sie wirklich so lange geschlafen? Ungewöhnlich für sie. Sie kroch mehr aus dem Bett, als dass sie wirklich aufstand, warf sich schnell ein langes Shirt über und tippte auf das Display um den Videoanruf von Barry Gibson anzunehmen.

„Morgen…“, gähnte sie Barry entgegen.

„Morgen ist gut, Biberella. Es ist fast mittag. Aber schön, dass Du schlafen konntest. Ich hatte es schon mal probiert, aber es ging niemand ran“, sagte Barry Gibson verschmitzt lächelnd.

Biberella schaute zerknirscht drein. Sie wollte lieber erst mal Kaffee, doch dann begann ihr Kopf zu arbeiten und ihr wurde bewusst, warum Barry sie anrief.

„Komm rüber. Ich hab Kaffee und dann erkläre ich Dir, was die Aufnahmen zeigen.“

Schlagartig war die Sicherheitsbeauftragte hellwach und sagte: „Ich bin gleich da.“

Sie beendete das Gespräch ohne ein weiteres Wort, zog sich das Shirt über den Kopf und sprang in Windeseile in ihren Catsuit. Dann machte sie sich eiligen Schrittes auf zum Modul des alten Technikers.

 

Als Barry die Tür öffnete und Biberella begrüßte, hatte er bereits eine Tasse Kaffee in der Hand, die er ihr reichte und dieser Kaffee roch unvergleichlich. Nicht wie das Instantzeugs, das die Computer in den Modulen nutzten. Die blauen Augen von Biberella strahlten und sie fragte Barry lächelnd: „Ist das etwa echter Kaffee?“

„Ja, eine Delikatesse, die man nicht alle Tage hat. Aber heute darf das sein“, grinste Barry.

Die beiden gingen in das Wohnzimmer, setzten sich hin und Barry tippte auf einer Fernbedienung herum. An der Wand erstrahlte ein Diagramm, das das Minenfeld A6203 zeigte.

„Das hier sind die Daten. Siehst Du diese schwarzen Punkte? Das sind die Kamine oder vielmehr die Reste davon. Darunter sieht man in hellgrau, wo einst die Minengänge waren, die nun entweder verfüllt oder eingestürzt sind.“

„Aha, das ist ja toll. Und diese dunkelgrauen Linien?“, fragte Biberella.

„Die“, begann Barry und grinste dabei, „zeigen alle Tunnel, die entweder nicht verfüllt oder eben freigeräumt wurden. Dort müsste man suchen, denn dort könnte man untertauchen.“

„Dann sind das aber trotzdem viele…“, sagte Biberella zerknirscht und nahm einen Schluck des Kaffees, der so unglaublich gut schmeckte.

„Stimmt, aber ich wäre nicht der alte Barry, wenn ich die Aufnahmen nicht genauer studiert hätte. Schau mal hier…“, Barry tippte wieder auf die Fernbedienung und eine andere Darstellung erschien an der Wand, „...das ist eine thermographische Auswertung. Ja, das konnte die alte Drohne auch und hier sieht man – zumindest ansatzweise – wo sich Wärme befindet.“

Biberella verstand, was Barry ihr sagen wollte. Die Darstellung war in ein Regenbogenfarbspektrum gegliedert, welches von blau für kalt bis rot für heiß ging. Da Biberella die Drohne am Vormittag fliegen ließ, war das Gestein kalt und so war auch der Großteil der Grafik in Blau getaucht. Ein paar wenige Spuren von Grün waren zu sehen, dort, wo die tarsische Sonne den Boden bereits erwärmte. Ihr fielen aber auch an den Punkten, wo die Kamine waren ein paar orangene Fetzen auf und das waren gar nicht so viele.

„Du meinst, die orangenen Sprenkel sind…?“, fragte Biberella.

„Genau! Dort müsst ihr suchen, denn dort scheint etwas warm zu sein. Und wenn nur eine tarsische Ratte einen Furz ließ“, scherzte Barry Gibson und lachte los.

„Oh mann, Barry, ich danke Dir! Schick mir die Karte bitte auf mein Com, ja? Jetzt aber schnell…“, sagte Biberella eilig, trank die Tasse Kaffee aus und ging schon zur Tür, als sie noch über die Schulter rief, „...ich werde mich noch bei Dir erkenntlich zeigen. Bis bald, Barry.“

„Keine Eile, finde das Mädchen. Das ist wichtiger!“, rief Barry der Sicherheitsbeauftragten nach, die allerdings schon durch die Tür war und sich beeilte zum Saloon zu kommen.

 

***

 

JenJen schreckte wieder einmal aus ihrem Dämmerschlaf als ihr Peiniger den Raum betrat. Er zog die Decke von ihr und betrachtete sie, schaute nach ihren Wunden und schüttelte dann den Kopf, als er die Pfütze unterhalb ihrer Beine sah. Seufzend stand er auf, verließ den Raum, kam dann mit einem kleinen Eimer, einem Lappen und einer Flasche Wasser zurück. Den Lappen tränkte er mit Wasser und packte dann, nicht gerade sanft, JenJens Beine. Sie befürchtete erneut von ihm missbraucht zu werden, was ihr aber schon lange egal geworden ist. Aber statt ihre Beine, wie sonst, auseinander zu pressen, hob er sie an und begann sie fast liebevoll wie ein Kleinkind zu putzen. Er wischte sogar die Urinpfütze am Boden weg, bevor er sein Opfer, beziehungsweise ihren Unterleib, wieder bettete. Den Rest Wasser aus der Flasche gab er JenJen zu trinken, indem er sie an ihre Lippen hielt. Gierig trank sie und verschluckte sich beinahe. Den Schwall Wasser, den sie hustete, wollte ihr Peiniger mit dem Lappen von ihrem Kinn wischen, hielt aber inne, weil ihm wohl selbst klar wurde, wo dieser Lappen eben noch war. JenJen wunderte sich ein bisschen über seine Fürsorge, die er plötzlich zeigte. Zunächst wurde sie ruppig behandelt und misshandelt und dann in diesem Loch an der Wand gefesselt liegen gelassen. Dann wurde sie immer mehr gefüttert, danach verarztet, zugedeckt und nun gewaschen. Nur ihre Hände blieben stets über ihrem Kopf an der Wand gefesselt. Was sollte das? Sie fasste sich Mut und fragte ihn mit zitternder Stimme: „Was hast Du mit mir vor? Was soll das alles hier?“

Der Mann sah sie an, als ob er über eine Antwort nachdenken müsste. Doch statts etwas zu sagen, deckte er JenJen wieder zu, stand auf und ging.

 

***

 

„Günni?!“, rief Biberella durch die Tür des Saloons und der Kleine hüpfte wie ein Springteufel von seinem Platz und kam der Sicherheitsbeauftragen entgegen. „Komm, ich brauche Deine Hilfe. Wir wissen vielleicht wo JenJen ist.“

„Hö!“, gluckste der Kleine und lief Biberella nach, die in Richtung ihres Wohnmoduls ging.

Hinter ihrem Modul war ein kleines Lagermodul, vergleichbar eines Schuppens, dessen Tür sie öffnete und eine Hoverpritsche herausnahm. Biberella prüfte schnell den Akku der Pritsche, stellte wenig überrascht fest, dass der keinen Mucks mehr von sich gab, entfernte ihn und holte aus ihrem Wohnmodul einen geladenen. Wie gut, dass es eine Normierung gab. Der neue Akku wurde eingesetzt und die Pritsche eingeschaltet. Nun schwebte sie gute 30 Zentimeter über dem Boden in einer stabilen Lage. Biberella schaltete die Pritsche wieder aus.

„Nimm die Pritsche, Günni. Sollten wir JenJen finden, werden wir sie vermutlich brauchen. Aber nun komm. Wir haben einen langen Weg“, sagte Biberella zu ihrem kleinen Helfer, der die Pritsche schnappte und dann auf seinen kurzen Beinen der Sicherheitsbeauftragten hinterher hoppelte.

 

Das Minenfeld war trotz der Eingrenzung immer noch ein riesiges Areal und die paar wenigen Stellen, die man dank der Aufnahmen ausfindig machen konnte, lagen weit auseinander. Bereits in starker tarsischer Mittagshitze liefen Biberella und Günni durch die Ödnis dieser Gegend direkt auf den ersten Stollen zu, den sie auf ihrer Karte hatte. Vorsichtig näherten sie sich dem Eingang, der durch eine metallische Tür verschlossen war, die jedoch irgendwann aufgebrochen wurde. Sei es von irgendwelchen Banditen, die hier Unterschlupf suchten oder von einem der heftigen Stürme, die zuweilen über die karge Oberfläche von Tarsis wüteten. Hinter einem Felsblock gingen Biberella und Günni in Deckung und beobachteten den Stolleneingang. Als sie keinerlei Regung bemerkten, wagte Biberella den Vorstoss und befahl Günni hinter dem Fels zu bleiben, während sie in den Stollen ging. Günni nickte und schaute Biberella nach, wie sie sich vorsichtig an den Eingang schlich und angestrengt horchte, ob sie nicht doch ein Lebenszeichen hören konnte. Da dem nicht so war, nahm sie ihren Mut zusammen und ging in den Stollen hinein. Schon kurz nach dem Eingang war kein Licht mehr und Biberella machte sich eine kleine Stableuchte an, die sie stets in einem ihrer Stiefel hatte. Der kleine Lichtkegel durchschnitt die Finsternis und zeigte nichts weiter als die Stützen, die den Grubengang vor einem Einsturz bewahrten und dem rissigen Gestein, durch das der Stollen getrieben wurde. Nur ein paar Meter weit kam die Sicherheitsbeauftragte und stand vor einem Einbruch der Decke. Kein Weiterkommen. Hier war nichts mehr zu finden. Die Wärme resultierte wohl doch von einströmender warmer Luft, da die Tür, die diesen Minengang verschließen sollte, nur noch halblebig in den Angeln hing. Biberella drehte um, verließ diesen Stollen und ging zurück zu Günni.

„Nichts. Auf gehts, der nächste Stollen ist in dieser Richtung“, sagte sie zu Günni.

Sie wies mit der Hand den Weg an, der Kleine packte die Pritsche und trabte Biberella nach.

 

Der nächste Stolleneingang sah nicht viel anders aus. Auch hier war die Tür, die eigentlich den Zugang verhindern sollte schon lange marode und stellte wahrlich kein Hindernis dar. Wieder hieß Biberella Günni, hier auf sie zu warten und als er bestätigend nickte, ging sie auf den Stollen zu und verschwand in ihm. Der Grubengang erschien nicht anders als der vorherige, jedoch musste sie ein ganzes Stück weiter hinein. Eingestürzt schien dieser Gang nicht zu sein. Nach einer Biegung kam sie sogar an eine t-förmige Kreuzung. Biberella leuchtete in die Gänge und musste sich nun für einen entscheiden. Auf ihrem Com schaute sie die Karte an, die Barry Gibson ihr schickte und dank derer sie sich für den rechten Gang entschied, denn dort war der orangene Farbfleck zu sehen. Diese Stollen hatten etwas gruseliges an sich. Im Schummerlicht ihrer Lampe erschienen die Gänge wie Katakomben und es würde Biberella nicht wundern, würde sie plötzlich vor aufgeschichteten Gebeinen stehen. Irgendwo hörte sie das Kratzen und Fiepen von Ratten, welches durch den Hall in den Gängen etwas beängstigendes hatte. Am Ende des langen Ganges sah sie zwei Türen. Die linke Tür war fest verschlossen, die rechte Tür gab es nicht mehr. Vorsichtig schlich sich Biberella in den Raum hinein und leuchtete herum. Ein Tisch, ein paar kleine Schränke, ein Spint. Sah aus, wie ein Aufenthaltsraum der Bergleute. Und dann sah sie im Schein ihrer Lampe eine weitere Tür. Mutig ging sie dorthin, leuchtete hindurch und sah am Boden liegend, die zugedeckte und mit den Handgelenken an die Wand gefesselte JenJen.

Biberella beschlich die Angst, dass sie hier JenJens Leichnam vor sich hatte, denn so bleich und ohne Regung lag die Blonde vor ihr. Doch als sich Biberella zu ihr hinunter beugte, bemerkte sie den leichten Atem und war augenblicklich froh darüber, JenJen am Leben zu wissen. Vorsichtig tätschelte sie JenJen auf die Wangen und sagte leise: „Aufwachen. Komm zu Dir“

Es dauerte ein bisschen, bis JenJen ihren Kopf bewegte und die Augen öffnete. Ein Leuchten ging durch ihre blauen Augen, als sie Biberella sah und zugleich die Augen entsetzt aufriss. Noch bevor die Sicherheitsbeauftragte überhaupt diese Situation deuten konnte, wurde es Biberella schwarz vor Augen.

 

Mit brummenden Schädel erwachte Biberella mit den Handgelenken an die Wand gefesselt neben JenJen. Sie blinzelte in den Raum, der nun durch eine Funzel schwach erhellt war und aus den diffusen Schatten kristallisierte sich langsam ein Bild. Die Silhouette eines Mannes wurde klarer und Biberella erkannte Barry Walden!

„Barry! Oh mann, ich glaube es nicht! DU?!“, spie sie Barry Walden entgegen, der sich zu ihr umdrehte.

„Wieso musst Du Dich nur einmischen, Biberella? Es könnte alles so einfach sein, wenn Du Dich nur raushalten würdest“, raunzte Barry.

„Ha, dass ich nicht lache. Es ist mein Job, hier für Recht und Ordnung zu sorgen und – korrigiere mich, wenn ich da falsch liege – Blondinen entführen ist ja wohl illegal!“

Barry Walden schaute nur auf Biberella hinab, als ob er erst überlegen müsste, was er als nächstes tun sollte.

„Immerhin hattest Du in einem Punkt recht. Ferdy ist wirklich unschuldig, wenn Du es warst“, versuchte Biberella Barry zu reizen.

Doch der stand nur da, verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach.

„Na, warte… wenn ich Dich erwische…“, wütete Biberella los.

„Kannst Du auch mal die Klappe halten?“, maulte Barry Walden sie an.

„Ich denke nicht daran!“, schrie Biberella.

Barry Walden schnappte einen Lappen, knüllte diesen zusammen, kam zu Biberella und versuchte ihr, den Lappen als Knebel in den Mund zu stopfen. Kaum hatte er seine Finger in ihrem Mund, biss Biberella kräftig zu. Ein Schmerzenschrei entfuhr Barrys Kehle und er zog die Hand zurück. Biberella biss ihm so kräftig auf die Finger, dass sie ihre Zähne selbst durch den Handschuh, den er trug, trieb und ihm das Blut lief. Er zog den Handschuh aus, drückte den Lappen auf seine blutende Wunde, holte dann mit der ungebissenen Hand aus und gab Biberella eine schallende Ohrfeige.

„Mach das nochmal…“, schrie er sie an.

Biberella schmeckte den eisernen Geschmack von Blut in ihrem Mund. Diesmal ihr eigenes Blut, das sie, gepaart mit der pochenden Schwellung ihrer Wange, als Ergebnis seines Schlages hatte. Sie überlegte, was sie nun in ihrer Lage machen könnte. Barry war zu weit weg, als dass sie ihn irgendwie erwischen hätte können und die Fessel um ihre Handgelenke saß zu fest.

Dann ging alles sehr schnell. Barry Walden wollte den Raum verlassen, wahrscheinlich um sich seine Finger zu verarzten, da bekam er unvermittelt einen Schlag mit einer Holzlatte an den Kopf. Völlig perplex taumelte er rückwärts in den Raum zurück, versuchte sich zu fangen, drehte sich und stand breitbeinig über Biberella, die geistesgegenwärtig ihr Bein hochschnellen ließ und Barry Walden somit kräftig die Glocken läutete. Wie ein Wolf heulte der Hüne auf und sackte nach vorne zusammen, direkt in einen weiteren Schlag mit der Holzlatte, die der kleine Günni ihm verabreichte. Doch bevor Barry Walden hintüber auf Biberella und JenJen fiel, stemmte die Sicherheitsbeauftragte ihre Füße gegen Barrys Leib und drückte ihn kraftvoll von sich. Ohnmächtig plumpste der große Mann wie ein nasser Sack zu Boden und blieb regungslos liegen.

Schnaufend stand Günni, die Holzlatte noch immer wie ein Schwert haltend, da und schaute auf Biberella und JenJen.

„Na, was ist? Mach mich los!“, sagte Biberella zu dem Kleinen und der legte die Latte weg, sprang zu Biberella und löste die Fesseln.

Biberella stand auf, rieb sich die Handgelenke und holte ihre Handschellen aus dem Stiefelschaft. Lieber den Moment nutzen, in dem Barry wehrlos war und ihn fesseln. Bei den Handschellen alleine wollte sie es nicht belassen und griff zu einem Kabel, das sie im Vorraum fand. Mit diesem umwickelte sie Barry Walden und konnte sich sicher sein, dass er sich aus diesem Kokon nicht so schnell befreien konnte.

Biberella drehte sich um und staunte, als sie Günni sah, wie er bei JenJen stand. Er hatte die Decke von ihr genommen und starrte wie paralysiert ihren nackten Leib an.

„Günni?“, fragte Biberella, doch der Kleine reagierte gar nicht.

Insgeheim musste sie darüber schmunzeln, wie er gefangen von diesem Anblick zu nichts weiter fähig war. Sie trat dann an JenJen heran, löste auch ihre Fesseln und deckte sie wieder zu. Kaum war ihre Blöße bedeckt, schien auch wieder etwas Leben in Günni zu kommen und er blinzelte mit seinen Knopfäuglein in dem Raum herum.

„Kannst Du aufstehen?“, fragte Biberella JenJen und diese nickte schwach.

Gestützt auf Biberella schleppte sich JenJen durch den Gang hinaus, wo sie sich auf die Hoverpritsche setzte.

„Günni, bring JenJen zum Doc. Ich bleibe hier und passe auf Barry auf. Dann kommst mit der Pritsche wieder und wir bringen den Kerl sicher hinter Gittern, ja?“

„Hö hö“, gluckste Günni und schnappte die Hoverpritsche, auf der sich JenJen, eingewickelt in die Decke, legte.

„Ach und Günni?“, sagte Biberella noch und schaute in die fragenden Augen des Kleinen, „Danke!“

Biberella gab Günni einen Kuss auf die Wange, die sich rötete und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Richtig beschwingt setzte Günni die Pritsche in Bewegung und zuckelte davon. Biberella schaute den beiden nach, bis sie außer Sichtweite waren, dann ging sie wieder in den Stollen zurück und wartete dort neben Barry Walden auf Günnis Rückkehr.

2.12

„Na, Barry?“, fragte Biberella den Inhaftierten, den sie in einer Zelle ihres Gefängnismoduls sperrte, „Was hast Du Dir nur bei all dem gedacht? Gibs zu. Das ist doch nicht auf Deinem Mist gewachsen? Wer hat Dich beauftragt?“

Barry Walden saß auf der Pritsche der Zelle und verschränkte die Arme. Demonstrativ blickte er zur Wand und gab keinen Mucks von sich.

„Verstehe. Ganovenehre, was? Keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus“, sagte Biberella und seufzte, „Gut, wie Du willst. Wir werden sehen, wer am längeren Hebel ist.“

Mit diesen Worten verließ Biberella das Gefängnismodul. Draußen setzte sie sich kurz auf eine Bank. Ihr war immer noch schwindlig von dem Schlag, den sie auf den Kopf bekam. Barry Walden staunte wohl, dass sie sich nichts anmerken ließ. Dabei dröhnte ihr Schädel, als ob Lastwagenkolonnen hupend durchfahren würden. Immerhin schaffte sie zusammen mit Günni den Weg zurück und Barry Walden saß hinter Gittern. Zeit also, JenJen im Krankenhaus zu besuchen.

 

Als die Sicherheitsbeauftragte ankam, war bereits Madame Hasal vor Ort und sprach mit dem Arzt über JenJens Zustand. Biberella kam dazu und hörte noch, wie der Doktor Hasal beruhighte.

„...glauben Sie mir, JenJen wird wieder gesund. Sie muss nur ausreichend Flüssigkeit aufnehmen. Ihre Wunden werden versorgt und sie werden auch unauffällig abheilen. Wie es um ihre psychische Verfassung steht, werden wir aber abwarten müssen. Physisch wird sie aber wieder“, sagte der Doktor und legte vertrauenswürdig seine Hand auf Madame Hasals Schulter.

Er zwinkerte Biberella zu, nickte und ging dann weiter zu den nächsten Patienten.

Hasal schaute Biberella an und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand.

„Danke Biberella. Du hast mein Mädchen wiedergefunden. Ich stehe tief in Deiner Schuld“, sagte sie dann mit ungewöhnlich gebrochener Stimme.

„Unserer“, sagte Biberella und fuhr angesichts der fragenden Miene von Madame Hasal fort, „unserer Schuld. Also Günnis und meiner. Ohne den Kleinen wäre ich nicht hier.“

Madame Hasal nickte.

„Konntest Du schon mit JenJen reden?“, fragte Biberella.

„Nein, und das darf ich heute auch nicht. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Wichtiger ist, dass mein Mädchen in Sicherheit ist“, sagte Madame Hasal wieder gefasst.

„Ein Teil des Puzzles fehlt noch“, begann Biberella, „und das werde ich auch noch finden. Barry Walden war das nicht alleine. Nie und nimmer!“

„Viel Glück bei der Suche, Biberella“, sagte Madame Hasal und verabschiedete sich kurz und knapp von Biberella, die sogleich das Krankenhaus verließ.

 

Am Freudenhaus angekommen, hing Biberella ihren Gedanken nach. Sie versuchte sich zu erklären, wie das mit dem Fenster und der Entführung so reibungslos klappen konnte. Ebenso versuchte sie sich zu erklären, wer denn einen Nutzen davon hätte, dass JenJen verschwand. Kurz entschlossen betrat Biberella das Freudenhaus nicht, wie sie es eigentlich wollte, sondern ging noch einmal in dessen Hinterhof, wo immer noch die Reste des Fensters herumlagen. Nur diesmal zu einem Haufen zusammengeräumt. Das Loch in der Modulwand provisorisch verschlossen. Fieberhaft dachte sie darüber nach, was hier nicht stimmte. Wenn Schläge auf den Kopf das Denkvermögen steigern sollen, müsste sie ja überaus klug nun sein, so hart, wie Barry Walden ihr eine überzog. Auch die Ohrfeige war nicht von schlechten Eltern und Biberella befürchtete, dass ihr Gesicht morgen früh in allen Farben schillern wird. Auf die Redensart schien aber kein Verlass zu sein, denn statts kluger Einfälle hatte sie nur Dröhnen im Kopf. Da plötzlich zischte hinter ihr eine Stimme und Biberella drehte sich um. Aus dem Fenster des Wohnmoduls gegenüber quoll der blonde Lockenschopf heraus und zischte der Sicherbeauftragten zu.

„He Sie da, i han da fei was gsäääää“, kam die Stimme aus den Locken heraus.

„Ach, Sie schon wieder“, seufzte Biberella etwas säuerlicher als sie das eigentlich beabsichtigte.

„Also … wisset Se, i ka au mei Gosch halta!“, fauchte die Frau los.

Doch Biberella beschwichtigte sie mit den Worten: „Nein, schon gut. Was haben Sie denn gesehen?“

„So, jetzt bin i doch zu was guat? Also woisch… awa, also des rote Luader, do dui mit dem broita Oarsch wia a Brauereigaul, die hot da dromma kruschtelt wia’d Sau. Glei am andre Tag. Dui hot a oranges Stängle oder so g’hätt ond dann hot se’d Fiaß in‘d Hand g’nomma ond isch davo g’loffa. Haja, gugget Se no da dromma!“, rasselte sie wieder wie ein Maschinengewehr in diesem für Biberella unmöglichen Dialekt herunter und verschwand wieder in ihrem Modul, wobei sie das Fenster krachend zuschlug. So fest, dass Biberella zusammenzuckte.

Seltsame Person, dachte Biberella bei sich und trotzdem war diese Beobachtung wertvoll für sie. Bubu also. Was sollte Bubu hier gewollt haben? Biberella machte sich auf die Suche. Der Haufen, der zusammengetragen wurde, wurde von ihr nochmal kräftig durchsucht. Doch aufschlussreiches konnte sie nicht entdecken. Erst als sie die Reste des Fensters zur Seite schob, fiel ihr die Aufbewahrungskiste auf, die ja eigentlich zu nahezu jedem Modul gehörte. Biberella öffnete den Deckel und neben diversen Kabeln und Schläuchen und was man sonst so dort aufbewahrte, fand sie ein orange lackiertes Brecheisen.

 

Biberella war schlagartig alles klar und sie rannte schnurstracks in das Freudenhaus, wo sie beinahe Madame Hasal, die eben aus dem Krankenhaus kam, über den Haufen rannte.

„Biberella? Was ist denn los?“, fragte die ältere Dame.

„Wo ist Bubu?“, fragte Biberella schroff.

„Ich verstehe nicht…?“, wunderte sich Madame Hasal.

Bubu saß mit Lulu an der Bar und schaute verdattert drein. Madame Hasal und Biberella kamen auf die beiden zu und Biberella legte das Brecheisen auf die Theke vor Bubu ab.

„Mit dem Ding hast Du die Klammern des Fensters gelöst, damit Barry, den Du beauftragt hast, das Fenster rausreißen und JenJen entführen konnte!“, sagte Biberella direkt.

„Bubu!?“, riefen Hasal und Lulu gemeinsam und mit aufgerissenen Augen aus.

Biberella spielte gerne die Karte aus, dass Barry Walden geplaudert hätte und Bubu somit keine Chance mehr blieb. Sie konnte ja nicht wissen, dass er beharrlich schwieg.

„Bubu? Warum?“, fragte Madame Hasal in einer Mischung aus Überraschung und aufkommenden Zorn.

Da änderte sich plötzlich die Miene der Rotblonden. Nichts war mehr von der distinguierten Art, die man sonst von ihr gewohnt war, zu sehen. Als ob ihr Blitze aus den Augen schoßen, schrie sie mit vor Wut gerötetem Gesicht: „Ja, glaubt ihr denn, ich lass mir von dem Flittchen das Geschäft kaputt machen?! Die kommt hier her und nimmt mir meine Kunden und damit MEIN Geld weg! Das lasse ich nicht zu.“

„Was hattest Du Barry Walden versprochen?“, wollte Biberella noch wissen.

„Der Trottel hätte ihr den Hals umdrehen sollen. Dann wäre sie weg. Ich versprach Barry 20% meiner Einnahmen. Wären ja ohne dieses blonde Luder mehr gewesen. Ja, ich bereitete alles vor, löste die Klammern, stellte draussen extra eine Leiter hin. Alles wäre perfekt gewesen, wenn dieser Trottel das Maul hätte halten können“, blaffte Bubu und sank dann auf dem Barhocker zusammen.

„Ich verhafte Dich im Namen des Gesetzes von Tarsis, Bubu“, sagte Biberella und ließ die Handschellen klicken. „Abmarsch!“

Biberella brachte Bubu ins Gefängnismodul und sperrte sie in die Zelle neben Barry Waldens Zelle. Sollten die beiden sich nur fetzen. Und das taten sie auch. Kaum, dass Biberella das Modul verließ, schrien sich die beiden an, dass die Wände nur so wackelten. Nichts für Biberellas Kopf. Sollten sie sich die Nacht durch die Hälse wund schreien.

 

Biberella stand der Sinn nun nach einem kühlen Bier. Sie schlenderte gemütlich zum Saloon, doch dort angekommen, stand sie vor verschlossener Tür. Biberella wunderte sich, dass um die Zeit alles verrammelt war. Das war noch nie der Fall. Erst jetzt bemerkte sie den Zettel, der an der Tür hing und auf dem in Handschrift geschrieben stand:

 

 

„Liebe Gäste,

für mich ergab sich ein Glücksfall und ich ergatterte eines der wenigen Tickets, die mich zurück zur Erde brachten. Ich danke euch für eure Treue, die ihr mir die letzten Jahre entgegen gebracht habt, aber für mich gibt es nun Anderes.

 

Lebt wohl!

Gez. Luni“

 

 

Sprachlos stand Biberella da und musste diese knappen Worte mehrmals lesen um deren Sinn zu erfassen. Lunis Saloon ist zu! Von jetzt auf nachher und die Wirtin nicht mehr auf Tarsis? Ein starkes Stück! Völlig verwirrt ging Biberella nach Hause. Das musste sie den Rest des Tages und bestimmt die Nacht durch sacken lassen.

 

Eine unruhige Nacht ging zu Ende und Biberella schaute im Gefängnismodul nach den Gefangenen. Bubu und Barry müssen sich die ganze Nacht durch gestritten haben, so dass sie nun völlig erschöpft tief schliefen. Biberella verließ das Modul und ging zum Krankenhaus, wo sie JenJen einen Besuch abstatten wollte. Da war sie auch nicht alleine, denn es standen bereits Madame Hasal, Lulu und Günni da. JenJen strahlte Biberella entgegen und bedankte sich bei ihr und natürlich bei Günni für ihre Rettung. Dem kleinen Helden Günni versprach sie so viel Bier, wie er nur trinken konnte, was Biberella in Erinnerung rief, dass der Saloon ja nun dicht ist. Günni bekam Tränen in die Augen, als Biberella von der Notiz an der Tür berichtete.

„Ach, Biberella“, sagte dann Madame Hasal, „dann kommst zu mir. Bei mir wirst Du immer ein Bier bekommen.“

„Und Günni auch“, sagte JenJen.

„Ja, Günni auch“, lachte Madame Hasal, „Sogar einen eigenen Platz.“

Günni fing vergnügt zu glucksen an und freute sich wohl dicke, da hatte Biberella aber noch eine Überraschung für ihn. Denn auch sie war dem Kleinen dankbar für seine Heldentaten und so holte sie aus der Tasche einen alten Sheriffstern heraus. Eigentlich ja nur ein Spielzeug, das wohl dem vorherigen Sicherheitsbeauftragten gehörte und der sich in einer der Schubladen ihres Schreibtisches fand.

„Lieber Günther Wiener“, fing Biberella feierlich an und Günnis Gesicht verzog sich in einer Weise, als ob er angestrengt nachdenken müsste, wen sie meinte, „hiermit ernenne ich Dich zum Hilfssheriff von Tarsis-City!“

Alle applaudierten als Biberella Günni den Stern an sein Hemd machte und die Brust des kleinen Helden schwoll vor lauter Stolz an.

„Das muss gefeiert werden!“, rief Madame Hasal, „Sobald JenJen entlassen wird, gibt es im Freudenhaus eine Riesenparty und ihr seid alle eingeladen.“

Fröhliches Gelächter erfüllte den Raum und Biberella tat es gut, JenJens strahlende Augen zu sehen. Das beste Zeichen dafür, dass sie diese unglückliche Episode in ihrem Leben überstanden hatte. Bubu und Barry Walden würden mit der nächsten Fähre zur Erde gebracht und dort vor Gericht gestellt werden. Das kannte Barry ja und vermutlich würde er auf irgendeinem Sträflingsasteroiden landen, wo er Schwerstarbeit leisten musste. Bubu würde eventuell in einer Anstalt für Geisteskranke landen, wenn sie den Richter überzeugen könnte, dass sie nicht anders hätte handeln können. Ansonsten würde auch sie für lange Zeit in irgendeinem Arbeitslager verschwinden. So hübsch, wie Bubu noch war, würde sie danach jedenfalls nicht mehr sein. Doch die wichtigste Erkenntnis die Biberella hatte, war, dass von nun an wieder Ruhe und Frieden herrschte unter dem blau-violetten Himmel von Tarsis.

Nachwort

Die Idee zu Biberella entstand einmal aus einer puren Alberei in der Community der Lunaria-Galaxie und nahm im Laufe der Zeit immer mehr Gestalt an. Leider wurde aus dem ursprünglichen Gedanken, daraus eine ganze Serie zu machen, nichts, aber nach einer gewissen Zeit entstanden zumindest diese zwei Episoden, die selbstverständlich nicht ernstzunehmen sind und stets mit Humor gelesen und verstanden werden sollen.

 

Danke für das Lesen.

Fizzy Lemon

 

 

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Lesetipp: Jenny Holmes und das Vermächtnis der indischen Lampe

 

 

 

Eigentlich sollte es für Meisterdetektivin Jenny Holmes ein angenehmer Besuch zum Nachmittagstee auf Lemonshire werden. Doch als die Gärtnerin in einem Moment der Unachtsamkeit ein Gebüsch ummähte, kam alles anders. Denn die Leiche, die in diesem Gebüsch versteckt war, war eine alte Freundin von Jenny und deren Verschwinden zugleich der einzige ungelöste Fall in ihrer langen Karriere. Für die Meisterdetektivin stand fest, dass sie den Fall übernehmen und endlich lösen würde.

 

Zusammen mit ihrer Nichte Avery, die sie spontan besucht und Inspektor Guby von Scotland Yard macht sich die Meisterdetektivin auf die Suche nach dem Täter.

 

Vorsicht: Der Gebrauch dieses Buches kann zu bleibenden Lachfalten führen!

 

https://www.bookrix.de/_ebook-fizzy-lemon-jenny-holmes-und-das-vermaechtnis-der-indischen-lampe/

Lesetipp: Blood on the Fields

 

 

Nach den vielen Abenteuern, die die Meisterdetektivin in England erlebte, braucht Jenny Holmes Abwechslung und beschließt, die Einladung ihrer Schwester, sie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu besuchen, anzunehmen. Jenny schließt mit ihrem alten Leben in der Baker Street komplett ab und nimmt sich vor, künftig in der Neuen Welt zu leben.

Nach der strapaziösen Überfahrt und der unendlich lange erscheinenden Zugfahrt in die Südstaaten, schließt die Meisterdetektivin ihre Schwester Jane und ihre Nichte Avery überglücklich in die Arme. Auch die Bekanntschaft mit dem gutaussehenden Frank lässt Jenny längst verloren geglaubte Gefühle spüren.

Doch das Glück scheint nicht von langer Dauer, denn das Leben in den Südstaaten war anders, als Jenny Holmes das erwartete...

 

https://www.bookrix.de/_ebook-vanessa-moonlight-blood-on-the-fields-1/

Lesetipp: Die Schattenglut-Trilogie

 

Eine spannende Kurzgeschichte aus dem großen "Himmelfahrt"-Buch von Lisa Mondschein.

Alle ihre Bücher finden sich hier:

 

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Impressum

Texte: Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 27.12.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Catalea

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