Die Geschichten um die Meisterdetektivin Jenny Holmes entstammen eigentlich der Feder einer anderen Autorin, die die Mitglieder der Community der Lunaria-Galaxie mit ihren witzigen Geschichten, in denen sie oft die Mitglieder liebevoll persifliert, immer wieder prächtig unterhält. Aber nicht nur in der Rolle der Jenny Holmes, sondern in vielen unterschiedlichen Umgebungen und Zeiten werden kleine Geschichten verfasst, die sich im Laufe der Zeit als unverzichtbar für diese kleine, werbefreie Community herausstellten. Als einmal eine Geschichte begonnen wurde, in der eine indische Lampe eine zentrale Rolle spielte, diese dann aber nie zu Ende geführt wurde, entstand aus einer Alberei heraus der Gedanke, daran anzuknüpfen und als Art Hommage an die Autorin eine FanFiction zu schreiben.
Natürlich steht bei diesen Geschichten der Spass im Vordergrund und weniger die akkurate Recherche über die Zeit und deren Eigenheiten. Auch mag der Plot nicht bis ins letzte Detail ausgereift sein, aber die Mitglieder haben ihre Freude daran, sich selbst in den Geschichten wiederzuerkennen oder einfach selbstironisch über sich lachen zu können. Wenngleich der hier erwähnte Kola-Kult von den indischen Herrschern von Chola, deren Reich sich bis weit nach Osten erstreckte, inspiriert wurde. Laut Dr. B. Werner in seinem 1928 erschienenen Buch "Indisches Liebesleben" sollen die Herrscher von Chola sehr dem Sadismus zugeneigt gewesen sein und diesem auch fast wahnsinnig gefrönt haben. So soll einer Hetäre aus purer Lust ein Auge ausgestochen worden sein und dergleichen mehr.
Als Verneigung vor dem Ideenreichtum und dem unbändigen Willen uns die Zeit hindurch so köstlich unterhalten zu haben, wurde also „Jenny Holmes und das Vermächtnis der indischen Lampe“ verfasst. Eine Geschichte, deren Witz den Leser sicherlich auch außerhalb der Lunaria-Galaxie amüsieren wird.
Und wer nun Lust hat, sich diese kleine von Privatleuten gemachte Community, deren gemeinsamer Nenner wohl die Kreativität sein dürfte, anzuschauen, ist jederzeit herzlich willkommen.
Für Jenny
Es war ein warmer und sehr sonniger Frühsommertag am Rande des viktorianischen Londons, wo Lord Lemon sich nach vielen Schicksalsschlägen in ein feudales Anwesen zurückzog. Es zermürbte ihn arg, dass er erst den Verlust seiner geliebten und hochschwangeren Frau beklagen musste und danach das mysteriöse Ableben von Miss Beaver verkraften musste. Doch die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden und so trat in das Leben von Lord Lemon die bezaubernde Lady Biberly, in die er sich augenblicklich verliebte und seine Seelenpein über Bord werfen konnte. Dass dabei Lady Biberly Miss Beaver wie ein Zwilling glich, dürfte mit Sicherheit seinen Teil dazu beigetragen haben, dass Lord Lemon von dieser Frau nicht mehr lassen konnte. Er ließ seinen ganzen Charme spielen und buhlte um die Gunst der schönen Aristokratin, bis er endlich ihr Herz gewann und es zu einem Ehegelöbnis kam und sich das glückliche Paar auf das Anwesen von Lemonshire zurückzog. Dabei nahm er natürlich seine Bediensteten, die nicht von angsteinflößenden Erscheinungen dahin gemeuchelt wurden, mit und so kümmerte sich die Oberhaushälterin Sabine, eine distinguierte aus Deutschland stammende Mittvierzigerin, um das Haus und koordinierte die restlichen Angestellten.
Natürlich blieb auch die Freundschaft zu Jenny Holmes, der Meisterdetektivin, erhalten. Ja, sie festigte sich sogar dadurch, dass man sich gegenseitig im Leid der vergangenen Ereignisse stützte. Somit war Jenny Holmes ein gern und oft gesehener Gast auf Lemons Anwesen. Da sie eine der wenigen Frauen war, die über ein neuartiges Automobil verfügte, mit dem sie halsbrecherisch über das Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen bretterte, war es ihr auch oft möglich das entlegene Anwesen zu besuchen. Ihre Wohnung in der Baker Street gab sie nämlich um nichts in der Welt auf. Auch wenn sie nun alleine darin wohnte, denn ihre damalige Assistentin Mrs. Watson verliebte sich Hals über Kopf in einen Rummelplatzboxer und zog es nun vor, über die Jahrmärkte Englands zu tingeln, anstatt Jenny Holmes dabei zu helfen, die dunklen Ecken von London von Verbrechern und anderem Gesindel zu befreien. Somit musste die Meisterdetektivin die letzten Fälle mehr oder weniger alleine lösen, weil auch auf die Hilfe von Inspektor McLoad nicht mehr zu bauen war. Seine intensive Inspektion der Nippel von Mrs. Watson ging ihm nicht mehr aus dem Kopf und verschleierte seinen Blick auf das Wesentliche der Kriminalfälle, die er eigentlich zu lösen hatte, so dermaßen, dass er beschloss in den schon lange wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Da sich auch bei Jenny Holmes langsam das Alter bemerkbar machte, schaltete auch sie einen Gang herunter und nahm nicht mehr jeden Fall an. Zumal sie alleine das auch gar nicht mehr konnte.
Jenny Holmes knatterte mit ihrem Automobil die lange Zufahrt auf das große Hauptgebäude von Lord Lemons Anwesen entlang. Vorbei an Bäumen, Büschen und Blumenbeeten hinüber zu dem mit Efeu berankten schlossähnlichen Gebäude, das aus gelbgrauem Sandstein errichtet war. Überall war geschäftigtes Treiben der Gärtner und Hilfskräfte, die sich um alles kümmerten und hier harkten, dort schnitten. Jenny parkte ihr Auto gekonnt vor der großen Treppe, die hinauf zu der eisenbeschlagenen Eingangstür führte, wo sie bereits von Sabine erwartet und natürlich freudig begrüßt wurden. Sodann führte die Oberhaushälterin die Meisterdetektivin durch die Eingangshalle und den großen Salon mit dem riesigen Kamin, der von einem kunstvollen Rahmen aus Marmor umgeben war, hinaus auf die weit ausladende Terrasse hinter dem Haus, wo Lord Lemon gemütlich an einem Tisch saß und in einer Zeitung blätterte. Als er Jenny erblickte, legte er das Blatt beiseite, stand auf, griff Jennys Hand und machte einen galanten Diener, wobei er ihr einen Kuss auf den Handrücken gab. Danach bot er ihr an Platz zu nehmen und goß ihr etwas von dem gekühlten Wassermelonensaft in ein grazil verziertes Kristallglas ein. Nach dieser Begrüßung plauderten die Beiden ein bisschen über die letzten Neuigkeiten in und um London herum, wobei Lord Lemon nicht vergaß zu erwähnen, dass Lady Biberly jeden Moment kommen müsste und es sich nur noch um Minuten handeln könne. Der Smalltalk wurde allerdings immer wieder durch das Geknatter dieser neuartigen Erfindung der neuen Chefgärtnerin gestört. Lord Lemon war seiner Zeit schon immer voraus und gab entgegen dem Zeitgeist auch Frauen Führungspositionen und so übertrug er die Leitung der Gärten an eine aus den Alpen stammende, etwas maskulin wirkende Frau namens Bibi, die sich nie zu fein dazu war, sich die Hände schmutzig zu machen. Ihr Fleiß und ihre Intelligenz beeindruckten Lord Lemon damals genauso, wie ihre Ideen, die sie unbändig in die Tat umsetzten wollte, wenn sie denn dürfe. So erfand sie ein Bewässerungssystem für das Anwesen, so dass man nicht mehr wie früher kannenweise Wasser aus der Zitadelle befördern musste, sondern nur noch im Gärtnerhaus einen Hebel umlegen musste. Schon spritze aus Düsen im Boden Wasser heraus und sorgte dafür, dass das Grün in Lemonshire grüner war als anderswo. Aber das alleine reichte Bibi noch nicht und so baute sie sich ein dampfbetriebenes Gefährt mit einer Sensenwalze vorne dran, womit sie viel schneller das Grün in seiner gewünschten Höhe halten konnte. Tatsächlich funktionierte das auch wunderbar, doch war das Gerät, mit dem die dunkelhaarige Gärtnerin herumdüste ohrenbetäubend laut und immer, wenn sie an der Terrasse vorbei kam, verstand man sein eigenes Wort nicht mehr.
Endlich erschien auch Lady Biberly auf der Terrasse und die Freude über das Wiedersehen war bei Lady Biberly genauso groß, wie bei Jenny. Es gab die herzlichste Begrüßung, die man sich nur denken konnte und schnell waren die beiden Damen in ein Gespräch vertieft. Dabei aß Lady Biberly genüsslich eines der Croissants, die noch am Tisch lagen, hatte sie doch das Frühstück ausgelassen, weil sie nach langer Zeit einmal wieder ohne Störung mehrere Stunden am Stück durchschlafen konnte. Nur in einen Morgenmantel gekleidet saß sie nun mit Jenny Holmes tratschend am Tisch und Lord Lemon erfreute sich daran, diese Unbeschwertheit und Fröhlichkeit der Beiden sehen zu dürfen. Als Lady Biberlys kurzes Frühstück beendet war, stand sie auf, entschuldigte sich bei Jenny und Lord Lemon, da sie nun vorhatte, ihre alltäglichen Runden im großen Swimmingpool, der sich gleich hinter der Terrasse befand, zu schwimmen. Natürlich gab man sie dafür frei und Lord Lemon betrachtete seine Frau, wie sie förmlich die Stufen der gewundenen Treppe hinab in Richtung Pool schwebte. Lady Biberly stellte sich an den Rand des Pools, schlüpfte aus ihren Schuhen, und fühlte kurz mit dem großen Zeh die Wassertemperatur. Jenny und Lord Lemon schauten ihr dabei von der Terrasse aus zu und das Geknatter des Dampfmähers von Bibi kam wieder ohrenbetäubend laut daher. Schnaufend und zischend bog das Gefährt um die Ecke herum, gerade in dem Moment, als Lady Biberly den Morgenmantel ablegte und splitterfasernackt einen Kopfsprung in das Wasser machte. Gärtnerin Bibi verrenkte sich bei dem Anblick schier den Hals und war für einen kurzem Moment unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn ihr grasfressendes Monstrum zu beherrschen. Wo bekam man denn im viktorianischen London schonmal so einen Anblick zu sehen? Weiter den Blick auf den Pool gerichtet mähte sie glatt in die Büsche an der Wand des Hauses und der Mäher bockte sich auf und kippte zur Seite. Bibi ließ einen Schrei los, der aber nicht vom Umkippen herrührte! Alarmiert sprangen Jenny und Lord Lemon auf und rannten die Treppen hinunter.
„Ist Ihnen was passiert?“, fragte Lord Lemon, als er Bibi vom Boden aufhalf und dabei bemerkte, wie sie kreidebleich wurde.
Inzwischen waren auch Sabine und Lady Biberly, die sofort aus dem Pool kam und sich den Morgenmantel umwarf, an der Unfallstelle eingetroffen. Bibi zeigte auf das umgemähte Gebüsch und alle Augen richteten sich darauf. Zwischen den Stoppeln des Gebüsches entdeckten sie eine Frauenleiche!
„Oh mein Gott! Anna?“, kreischte Jenny Holmes heiser und alle Umstehenden schauten sie fragend an.
„Anna? Welche Anna? Was meinst Du?“, fragte Lady Biberly Jenny.
„Anna war unsere Assistentin. Eigentlich behandelten wir sie eher wie eine Praktikantin. Also wir schickten sie Essen holen oder ließen sie putzen, anstatt sie auf eine unserer gefährlichen Ermittlungstouren mitzunehmen.“, erzählte Jenny Holmes. „Das war auch nicht ganz fair, aber wir hatten wirklich Angst um sie und wollten auch nicht, dass ihr was geschieht. Eines Tages dann sollte sie uns aus der Clarke‘s Bakery Frühstück besorgen, doch sie kam nie wieder. Irgendwo in Soho verlor sich ihre Spur. Wir kamen in unseren Ermittlungen nicht weiter. Eine mysteriöse Wahrsagerin mit einem Killerkätzle hatte etwas von einer Lampe aus Indien gefaselt, aber wie auch immer das zusammenpassen sollte und was das mit Annas Verschwinden zu tun hatte, konnten wir nie klären. Das wurde zu einem der wenigen ungelösten Fälle in meiner Laufbahn als Detektivin.“
„Und wie kommt nun ihr Leichnam in dieses Gebüsch?“, wollte Sabine wissen und schaute komischerweise Lord Lemon direkt an, als ob er eine Antwort darauf wüsste.
„Was schauen sie mich dabei so an?“, fragte Lord Lemon leicht entrüstet, worauf Sabine nur mit den Schultern zuckte.
Bibi hingegen sagte gar nichts mehr, weil sie aus dem Glotzen nicht mehr heraus kam. Da sich Lady Biberly nicht abtrocknete, durchnässte der Morgenmantel und ließ den Stoff so eng an ihrem Körper kleben, dass man keine Fantasie brauchte um zu sehen, was sich unter diesem Kleidungsstück verbarg. Immerhin war der Anblick angenehmer als der der Leiche. Sie musste schon einige Zeit dort liegen und war entsprechend geschunden. Man konnte sie zwar noch gut erkennen, was auch seltsam war, denn berücksichtigte man die Zeit von Annas Verschwinden und ihrem unerwarteten Auffinden, müsste ihr Leichnam viel stärker verwest sein. Jenny Holmes beugte sich hinunter und schaute sich Anna ganz genau an. Sie war plötzlich wieder ganz die Meisterdetektivin. Lady Biberly hingegen stand nur da und ließ ihre blauen Augen von einem zum Anderen gleiten.
„Das hat nun alles keinen Wert. Lasst uns ins Haus gehen und die Sache an Scotland Yard melden.“, schlug Lord Lemon vor und alle, einschließlich der blonden Jenny, stimmten zu.
Im Salon saß man, trank etwas Whisky oder Sherry und wartete auf die Ankunft des neuen Inspektors, der den Posten von McLoad übernommen hatte. Als nach einer gefühlten Ewigkeit die Glocke des herrschaftlichen Anwesens ertönte und Sabine den erwartenen Polizisten in den Salon führte, staunte man nicht schlecht. Erwartet hatte man etwas ganz anderes. Da stand ein kleiner und irgendwie verzagter, schüchterner Mann in einem unscheinbaren Mantel und schaute eher bedröppelt zu Boden, als die Leute im Salon zu begrüßen. Die Vorstellung übernahm stattdessen Sabine.
„Ladies und Gentlemen, darf ich vorstellen: Inspektor Guby von Scotland Yard.“, sagte Sabine in etwas zu aristokratischer Weise.
Erst jetzt setzte sich Inspektor Guby eine Nickelbrille auf und begrüßte die Anwesenden mit einem knappen: „Guten Tag. Wo ist die Leiche?“
Sabine übernahm auch diese Aufgabe und führte Guby über die Terrasse hinaus zu dem Fundort. Mit einer Lupe in der Hand untersuchte er gewissenhaft Leiche und Gebüsch und notierte sich alles Wichtige oder vielleicht auch Unwichtige in einem kleinen ledergebundenen Notizbüchlein. Dann sagte er ebenso wortkarg: „Nachher holen welche die Leiche ab. Fassen Sie nichts an, lassen Sie alles so wie es ist. Wir melden uns bei Ihnen. Haben Sie noch einen schönen Tag.“
Prompt verschwand er um die Hausecke. Sabine stand etwas ratlos da. Sie hatte sich wohl mehr erhofft und fragte sich ernsthaft, ob dieser komische Kauz wirklich zum Inspektor taugte. Und diese Ungewissheit verstärkte sich, als Guby plötzlich von der anderen Seite des Gebäudes um die Ecke kam und Sabine leicht errötend fragte: „Entschuldigung, aber wo ist der Ausgang bitte?“
Währenddessen war man im Salon in eine angeregte Unterhaltung verfallen. Es wollte niemand in den Kopf, wie Anna in das Gebüsch gelangen konnte. Lord Lemon kaufte das Anwesen erst vor kurzem. Da war die Assistentin schon lange verschwunden. Also kann es nur ein Zufall sein. Das Anwesen von Lemonshire war lange Zeit verwaist. Einst war es im Besitz eines Asiaten namens Freund-Chen, der dann auf wundersame Weise verschwand. Der Besitzer danach war ein seniler Mann, der das Anwesen kaufte, es dann aber wohl vergaß und so verwilderte es und wurde am Ende für einen recht erschwinglichen Preis von Lord Lemon erstanden und wieder zu alter Blüte gebracht. Dass dieses Anwesen ausgerechnet dem diabolischen Freund-Chen gehörte, auf dessen Konto der Tod von Lemons erster Frau ging, war schon gruselig genug. Fraglich, ob er trotz des günstigen Preises zugeschlagen hätte, wäre ihm diese Information früher zuteil geworden. Aber sein voriges Anwesen wollte er auch nicht mehr zurück. Dort spukte es auf andere Weise und die blondgelockten Hausgeister, die durch die Wände huschten und das omninöse Mädchen mit dem Teddybären, das wohl für den Tod von Dan Friendly und Lemons zweiter Frau, der amerikanischen Sonderermittlerin Catalea Beaver, die einst dazu beitrug Freund-Chen das Handwerk zu legen, verantwortlich war, ließen ihn keine Nacht mehr schlafen. Nein, das Anwesen alleine konnte dafür ja nichts und Lord Lemon fühlte sich auch recht wohl. Trotz aller Umstände. Nur war diese Ruhe nun verloren, nachdem man Annas Leiche fand. Wieder einmal wurde Lord Lemon in seltsame Vorgänge verwickelt und durch die himmelblauen Augen der blonden Meisterdetektivin Jenny Holmes ging ein Blitzen, das ihre Lust auf Ermittlungen zeigte. Zumal sie nun endlich Klärung im Fall von Annas Verschwinden betreiben könnte.
„Egal, was Scotland Yard auch sagt...“, gab Jenny Holmes fast feierlich bekannt, „...ich werde den Fall annehmen. Das bin ich Anna schuldig. Und ich finde heraus, was und wer es war. Das ist mal so sicher wie das Amen in der Kirche!“
In diesem Moment ertönte die Haustürglocke erneut und der Postbote stand davor. Ein noch junger Bursche, dessen pausbäckiges Gesicht vor lauter Fröhlichkeit nur so strahlte. Er war mit einem Fahrrad den ganzen Weg von London nach Lemonshire gefahren und holte aus seiner ledernen Tasche einen ganzen Stapel Briefe hervor, die er sortierte, als er eiligen Schrittes in den Salon kam.
„Ah, Miss Holmes. Ich dachte mir, dass ich sie hier antreffe. Hier ist ein Brief für sie aus Amerika.“, frohlockte er und drückte Jenny den Brief in die Hand.
Fragend blickten ihre blauen Augen aus dem immer noch hübschen Gesicht, doch als sie den Absender auf dem Kuvert las, ließ sie ein freudiges Kichern hören. Flugs öffnete sie den Briefumschlag und entnahm ihm einen drei Seiten langen Brief, den sie schleunigst las. Dann entfuhr ihr ein: „Oh mein Gott!“
Alle drehten sich zu Jenny Holmes mit großen Augen um.
„Was ist geschehen?“, wollte Lord Lemon wissen.
„Entschuldigt mich bitte.“, sagte Jenny eilig, „Ich muss dringend nach Plymouth. Der Brief ist von meiner Nichte Avery. Meine Schwester ging doch damals nach Amerika, weil ihr Mann unbedingt auf Goldsuche gehen wollte. Er fand neben ein paar Nuggets leider auch den Tod, doch das Gold reichte aus, damit sich meine Schwester ein sorgenfreies Leben in Amerika machen konnte. Sie heiratete erneut und bekam eine Tochter. Und die schrieb mir, dass sie nach London kommt. Dank der Schneckenpost erfahre ich jetzt erst, dass das Schiff in ein paar Stunden im Hafen von Plymouth einläuft. Ich muss mich sputen um noch rechtzeitig da zu sein. Machts gut, ich stelle sie euch dann vor, wenn wir wieder in London sind.“
Mit diesen Worten hastete Jenny Holmes in Richtung Ausgang und alsbald hörte man das Röhren ihres Automobils, mit dem sie Richtung Südwesten verschwand.
Plymouth
Nach Stunden über einer schlecht ausgebauten Landstraße, die Jenny Holmes langsam schmerzhaft an ihrem Hintern spürte, erreichte sie Plymouth. Diese im Südwesten von England gelegene große Hafenstadt. Schon von Weitem sah man das Meer und die weißen Segel der Schiffe, die nahezu im Licht leuchteten auf der vom Sonnenglast glitzernden Meeresoberfläche. Ebenso auch die dunklen Rauchschwaden der wenigen Motorschiffe, die ebenfalls vor Reede lagen. Jenny Holmes warf einen Blick auf die Kirchturmuhr, als sie die Innenstadt von Plymouth passierte und sah mit einer gewissen Genugtuung, dass sie es wohl rechtzeitig schaffen würde, ihre Nichte Avery vom Schiff abzuholen. Es lief ihr ein leichter Schauer über den Rücken bei dem Gedanken, was ihrer Nichte alles zustoßen könnte, würde sie über lange Zeit alleine an der Mole stehen. Doch zum Glück erreichte sie der Brief ihrer Schwester gerade noch rechtzeitig und die Meisterdetektivin konnte ihre schützende Hand über ihre Nichte legen, die sie bis dahin noch nie gesehen hatte. Wie lange musste das nun her sein, dass ihre Schwester ein Kind gebar? Fünfzehn oder Sechzehn Jahre? Wie die Zeit vergeht..., dachte Jenny Holmes bei sich während sie das Automobil auf die Hafenzufahrt steuerte und langsam in Richtung des Landeplatzes der Seagull, an deren Bord Avery sein sollte, an den vielen Hafenarbeitern vorbei manövrierte.
Überall war geschäftiges Treiben. Ballenweise Waren wurden von großen Kränen und Seilwinden aus den Bäuchen der Schiffe entladen und von Arbeitern aller Coleur flugs in die Kontore des Hafens verbracht und dort weiterverarbeitet. Matrosen kamen die Gangways hinunter und wurden von ihren Frauen oder Verlobten begrüßt oder man wurde sich mit einer der Dirnen einig, die dort ihre Dienste feilboten für all diejenigen, die auf die Liebe einer Frau verzichten mussten. Jenny Holmes wusste aus London gut genug, wie es in den Spelunken um den Hafen herum zuging und hatte dem einen oder anderen Gauner in ihrer Karriere das Handwerk gelegt, die mit Betrug und Glücksspiel sich die Taschen füllten oder arme Frauen für sich anschaffen ließen. Die Saat des Bösen gedieh gut auf diesem Grund und diese Gedanken mahnten sie erneut dazu, schnell ihre Nichte unter ihre Fittiche zu nehmen.
Die blonde Meisterdetektivin parkte ihr Automobil unweit der Gangway des Liegeplatzes der Seagull und stieg aus. Sie fragte den Mann an der Gangway ob ihre Nichte noch an Bord sei oder schon ausgecheckt habe und dieser schaute auf eine Liste, die er auf einem hölzernen Klemmbrett in Händen hielt, bevor er kurz und knapp „Nein, noch da.“ sagte. Danach wandte er sich ab, als ob Jenny Holmes gar nicht mehr vorhanden wäre. Plötzlich ertönte von oben her ein schrilles „Tante Jeeeeeeennyyyyyyyyyyy!“ und Jenny Holmes blickte fast erschrocken nach oben. Ihre blauen Augen gingen erfreut auf, als sie auf der Gangway ein hübsches brünettes Mädchen erblickte, das freudestrahlend auf sie zukam. Etwas zu schnell, denn sie verhedderte sich in dem mit Rüschen bestickten weißen Rock und kam ins Straucheln. Alle Versuche sich zu fangen schlugen fehl und Avery kullerte purzelbaumschlagend die lange Gangway hinunter, bis sie an den Füßen von Jenny zu liegen kam. Kurz bevor Jenny Holmes in einen Lachanfall verfiel, verdrehte sie spielerisch genervt die Augen und half dann ihrer Nichte auf. Die klopfte sich den Schmutz der Mole aus dem weißen Kleid und umarmte ihre Tante erst einmal innig.
„Schön, Dich endlich kennenzulernen, Tante Jenny. Meine Mum hat mir schon so viel von Dir und Deinen Abenteuern erzählt. Ich kanns kaum erwarten mit Dir die fiesen Jungs dingfest zu machen. Die können was erleben, wenn die es mit mir...“, plapperte Avery los, doch Jenny unterbrach ihren Wortschwall streng.
„Stopp. Wer hat da was von Verbrecherjagd gesagt? Ich werde einen Teufel tun und Dich solchen Gefahren aussetzen. Nun lass Dich erstmal anschauen. Ist das erste Mal, dass ich Dich sehe, aber Du bist Deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.“, sagte Jenny Holmes.
Avery hingegen blickte missmutig zu Boden und nörgelte ein leises „Menno... ich hatte mich schon so gefreut, dass...“
„Nichts dass! Du bist auf Besuch und in meine Obhut gegeben. Da spielen wir nicht Räuber und Gendarm, junge Dame! Nun komm, wir wollen noch vor Sonnenuntergang in London sein. Wo ist Dein Gepäck?“, herrschte Jenny ihre Nichte etwas schärfer an, als sie eigentlich wollte.
Avery zeigte nach hinten wo zwei große Koffer von ihr waren, die ein muskulöser Matrose packte und in ihre Richtung brachte.
„Wo soll‘n die hin?“, knurrte der Seemann und Jenny zeigte auf ihr Automobil das nicht weit von ihnen weg stand. Der Matrose nickte und brachte die schweren Koffer zum Automobil und war trotz seiner rauen Schale so weit Gentleman, dass er das Gepäck gleich hinten im Automobil verstaute und mit den ledernen Gurten sicher fixierte. Daraufhin gab Jenny dem Matrosen 10 Pfund als Trinkgeld, das dem harten Kerl dann doch ein Lächeln aus seinem sonnengegerbten Gesicht zauberte. Man verabschiedete sich und ging. Avery war ganz aufgeregt. Mit großen Augen bestaunte sie das motorisierte Gefährt und konnte kaum glauben, dass das Jennys Auto war. Natürlich kannte sie aus Amerika Automobile, doch sie konnte sich nicht daran entsinnen, jemals eine Frau am Steuer gesehen zu haben. Schon war ihr das alte Europa sympathischer, weil hier die Frauen wohl mehr durften und konnten, als es in ihrer prüden, patriarchalischen Heimat möglich zu sein schien. Ganz in mädchenhafter Spielerei verloren hüpfte sie um das Automobil herum, schwang sich auf den Fahrersitz hinter das Steuer und brummte ein Motorengeräusch. Jenny Holmes lachte laut los, als sie diese junge Dame in kindischer Spielerei sah und gönnte ihrer Nichte den Spaß. Dann aber sagte sie: „Nun komm, rutsch rüber. Wir sollten los, sonst schaffen wir es nicht mehr. Und ich möchte nicht unterwegs irgendwo übernachten müssen. Sowieso warten zu Hause ein paar Dinge auf mich, die mir keine Ruhe lassen. Das aber erzähle ich Dir während der Fahrt.“
Avery rutschte auf den Beifahrersitz und Jenny Holmes ließ den Motor an, der krachend zum Laufen kam. Sie verließen den Hafen, bald darauf Plymouth und Jenny steuerte das Automobil wieder auf diese holprige Landstraße, die abermals eine Tortur für ihren Hintern sein würde.
Während der langen Fahrt löcherte Avery ihre Tante mit Fragen rund um ihre spektakulären Fälle und ließ sich haargenau erzählen, wie Jenny die Gauner überführte und dingfest machte. Gewisse Details sparte sich Jenny aber aus, denn sie wollte ihrer Nichte nicht die schauerlichen Elemente ihrer Fälle auf die Nase binden. Was sollte dieses Mädchen denn von London denken, wenn sie ihr von Untoten und vermeintlichen Gespenstern erzählte? Trotzdem fühlte sich Jenny Holmes von dem Interesse an ihr geschmeichelt und tratschte unbedacht wohl mehr aus, als sie eigentlich beabsichtigte. So erzählte sie auch von dem neuerlichen Fund und schalt sich innerlich selbst dafür. Bei Avery ging ein Leuchten durch die braunen Augen, als sie davon erfuhr, dass ihre Tante, die Meisterdetektivin, einen neuen Fall hatte. „Nun ja, eigentlich mehr ein alter Fall. Einer der wenigen ungelösten in meiner Zeit als Detektivin.“, erklärte Jenny noch.
Avery hingegen ließ nur ein „Ui....“ hören und plapperte dann mit einem Lächeln weiter „...das werden wir auch noch lösen.“
„Ach, werden wir?“, fragte Jenny und verfluchte sich selbst, hatte sie doch ihre Nichte jetzt erst recht scharf aufs Detektivspiel gemacht. Um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, schwenkte Jenny schnell um und sagte: „Wir sind bald in London. Du hast doch bestimmt Hunger? Was magst denn dann essen?“
Leider hatte man Avery über die englische Küche nicht allzuviel Gutes in der Heimat berichtet und die Aussicht etwas Ungenießbares hinunter würgen zu müssen, ließ sie kreidebleich werden. Was sollte sie denn auf diese Frage nun antworten? Also griff sie zur Notlüge und meinte: „Ach, ich hab auf dem Schiff so viel gegessen, dass ich gar keinen Hunger habe.“
„Das trifft sich gut.“, lachte Jenny dann los, „Ich habe nämlich nicht viel zu Hause. Ein bisschen kaltes Roastbeef und etwas Teewurst. Das war es dann schon. Morgen werden wir uns was Leckeres besorgen. Aber Du wirst eh müde von der langen Fahrt sein, hm?“
Das stimmte sogar. Kaum hatte Jenny die Müdigkeit erwähnt spürte Avery tatsächlich die bleierne Schwere in ihren Knochen und sie sehnte sich schon danach, sich in Morpheus‘ Arme sinken lassen zu können. Da tauchte am Horizont London auf.
„Wir sind gleich da.“ sagte Jenny mit einem unwiderstehlichen Lächeln und zwinkerte ihrer Nichte zu, die nur noch mit dem Kopf nickte, weil die Müdigkeit sie langsam übermannte.
London
Durch die hereinbrechende Dämmerung knatterte das Auto von Jenny Holmes über das Kopfsteinpflaster der Straßen zur Baker Street. Im Schein der Gaslaternen, die die Straßen in schwaches Licht hüllten, stieg sie aus und holte schon Averys Koffer von der Gepäckablage. Dann weckte sie ihre Nichte, die mittlerweile auf dem Beifahrersitz eingeschlafen war, sanft mit säuselnder Stimme.
„Wir sind da, Avery. Wach auf!“
Avery schlug die Augen auf und wusste zuerst nicht, wo sie sich eigentlich befand. Sie schaute sich fragend um, doch als ihr wieder klar wurde, wo sie war, stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und sie sprang in alter Frische aus dem Auto.
Jenny Holmes schloß die Türe auf und zeigte Avery gleich das Gästezimmer, das sie extra für sie herrichtete und dessen Eingang gleich die erste Tür links im Flur war. Avery schaute es mit großen Augen an. Etwas kitschig fand sie es ja schon mit dem ganzen Krimskrams, den die schrulligen Engländer wohl um sich brauchten. Überall sah man den Union Jack oder Porzellantinnef mit dem Konterfei eines Mitglieds der Königsfamilie. Oh, ja... das alte England. Lauter treue Royalisten. Avery schmunzelte bei dem Gedanken und stellte sich ihre Tante vor, wie sie vor dem Buckingham Palast stünde und Königin und König zujubelt, die in einer pompösen Kutsche an ihr vorbeirauschen. Indessen wuchtete Jenny den schweren Koffer ihres jungen Besuchs ächzend durch die Tür und ließ ihn polternd im Gästezimmer zu Boden fallen. Sie holte erstmal tief Luft und fragte sich, ob sie am nächsten Tag noch gerade stehen könnte, wegen der Schlepperei. Nun, auch die Meisterdetektivin wird nicht jünger und spürt das Alter.
„Ich bin todmüde, Tante Jenny. Würde es Dir was ausmachen, wenn ich mich gleich schlafen lege? Die Reise war lang und aufregend. Ich kann nicht mehr.“, fragte Avery etwas verdruckst.
„Nein, gar nicht.“, beteuerte Jenny Holmes. „Schlaf Dich aus. Morgen ist auch noch ein Tag und an dem gibt es viel zu tun. Für mich jedenfalls. Aber das soll Dich jetzt nicht stören. Schlaf gut!“
Jenny drückte Avery ein Küsschen auf die Wange, verließ das Gästezimmer und schloß die Tür hinter sich. Insgeheim war sie froh, dass sie nun selbst ins Bett kam. Der Koffer war doch schwerer als sie dachte und der Schmerz größer, als sie gegenüber ihrer Nichte zugeben wollte. Außerdem brannte Jenny der neue Fall unter den Nägeln und sie wollte so schnell wie möglich mehr erfahren. Deshalb stand für sie fest, dass sie gleich am nächsten Tag zu Scotland Yard eilen würde.
Rasch ging die blonde Detektivin in ihr Schlafzimmer, zog sich aus und schlüpfte in ein bequemes rüschenbesetztes Nachthemd mit einer dazu passenden Haube, die allerdings aussah, als ob sie einen Nachttopf umgedreht auf dem Kopf hätte und schlief schon beim Zudecken ein.
***
„Guuuuteeeeeen Mooooorgeeeeeeen, Taaaaaaanteeeeeee Jeeeeeeeeennyyyyy!“, schallte es durch das ganze Haus und Jenny fiel vor Schreck aus dem Bett. „Früüüüüühstüüüüüüück ist feeeeeertiiiiiiig!“
Jenny sah mit weit aufgerissenen Augen in Richtung ihrer Spiegelkommode. Der Morgen geht ja gut los, grummelte sie bei sich selbst und nahm bei einem kurzem Blick in den Spiegel die roten Äderchen im Weiß ihrer Augen wahr, die deutlicher als sonst zu sehen waren. Auch die blauen Ränder um die Augen ließen Jenny wieder das Alter erkennen, dass sie nun hatte und zum ersten Mal nahm sie auch die ersten grauen Haare wahr, die sich in ihrem immer noch blonden Schopf fanden. Sie fragte sich nach dem Schreck eben, ob die nicht doch ganz plötzlich entstanden sein könnten, doch da klopfte es schon an die Tür.
„Kommst Du, Tante Jenny?“, fragte Avery durch die geschlossene Tür hindurch.
Jenny versuchte nicht ganz so genervt zu klingen, wie sie sonst nach der Störung ihrer Ruhe klang und bemühte sich freundlich zu sagen: „Ja, ich komme gleich.“
„Okaaaaay!“, giggelte ihre Nichte und verschwand wohl wieder in die Küche.
Jenny zog sich schnell einen Morgenmantel an, wie es sich für die viktorianische Zeit so gehörte und stopfte die Haare unter das Häubchen, das ihre zerzauste Frisur verstecken sollte. Dann ging sie in die Küche und erschrak!
„Avery! Sag mal, so kannst Du doch nicht hier herumhüpfen! Also wirklich!“, empörte sich Jenny.
„Wie? Was? Warum nicht?“ wunderte sich Avery ganz offensichtlich.
Die junge Dame stand nur in Unterwäsche in der Küche. Lediglich die Beine waren von einem langen Unterkleid bedeckt und der Oberkörper zeigte zuviel Hals und erst recht Bauch. Dass man im viktorianischen England keinen Bauchnabel sehen durfte, hatte man der fortschrittlichen und weniger an festgefahrene Etikette gewöhnte Amerikanerin nicht gesagt. Jenseits des großen Teichs war das auch kein Problem. Doch in England war das schier ein Affront, wie sie auch an der Reaktion ihrer Tante merkte.
„Zieh Dir sofort was an!“, befahl Jenny und Avery verdrehte die Augen, weil ihre Tante sie in diesem Moment haargenau an ihre Mutter erinnerte.
„Okay.“, murmelte sie und ging schnell in das Gästezimmer, wo sie sich ebenfalls einen Morgenmantel überzog, bevor sie dann wieder in die Küche kam.
Jenny schnüffelte an der Kanne, die Avery aufgesetzt hatte und verzog dabei das Gesicht. Sie traute sich nicht, was zu sagen, aber das fast schwarze Gebräu darin, sagte ihr einfach nicht zu.
„Was ist das?“ fragte sie ihre Nichte, als diese wieder zurück war.
„Kaffee.“, strahlte Avery.
„Äh... und wo ist mein Tee?“, fragte Jenny ehrlich verwundert. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wie ein Tag ohne Tee beginnen konnte. Jedenfalls nicht mit diesem braunen Zeugs, dass man Kaffee nannte. Ein weiterer argwöhnischer Blick der Meisterdetektivin ging zu der Pfanne, die auf dem Herd stand und in der ein zwar köstlich aussehendes Rührei war, das obendrein auch verführerisch duftete, aber zu einem Frühstück gehörte nun mal ein Brötchen mit bitterer Orangenmarmelade. Punkt!
Gerade als sie den Gedanken fasste, Avery zum Bäcker zu schicken um Brötchen zu holen, fiel ihr wieder Anna ein, die damals bei genau diesem Auftrag spurlos verschwand. Das gleiche Schicksal sollte ihrer Nichte nicht passieren und da Jenny ohnehin spät dran war, beschloss sie auf dem Weg zu Scotland Yard zu frühstücken.
„Avery, genieße Du Dein Frühstück. Ich muss zu Scotland Yard. Das duldet keinen Aufschub. Bleib aber hier im Haus, hörst Du?! Die Straßen Londons sind gefährlich für junge Damen wie Dich.“, sagte Jenny in ganz mütterlichem Ton.
Avery saß bereits am Tisch und löffelte das Rührei direkt aus der Pfanne und gab schmatzend ein „Okay“ von sich, bevor sie zwischen zwei Bissen einen Schluck Kaffee nahm.
Ein Kulturschock für Jenny. So ist wohl der Wandel der Zeit, dachte sie und beeilte sich mit der Morgentoilette und dem Anziehen.
„Ich bin dann weg und schließe extra ab. Zu Deiner Sicherheit!“, rief Jenny beim Verlassen der Wohnung und schloß die Tür gleich doppelt ab. Sicher ist sicher!
Bei Scotland Yard angekommen ließ sich Jenny Holmes bei Inspektor Guby anmelden, der die blonde Meisterdetektivin freundlich willkommen hieß.
„Ah, guten Morgen Mrs. Holmes. Wie erfreulich Sie bei bester Gesundheit zu sehen.“, sagte Guby zur Begrüßung in seiner gestelzten Art.
Jenny bemerkte abermals die Gegensätzlichkeit zu Gubys Vorgänger McLoad, der für seine ruppige, aber doch herzliche Art bekannt war. Sie vermisste ihn irgendwie schon und schwelgte für einen kurzen Augenblick in Erinnerungen an die zahlreichen Abenteuer, die man gemeinsam durchstand und ein Lächeln zauberte sich auf ihre Lippen, wenn sie an die eine oder andere Episode dachte.
„Nun Mrs. Holmes, ihr zweifelsfrei famoser Ruf lässt die Polizeibehörde eine Zusammenarbeit von uns beiden zu. Auch wenn ich Sie daran erinnern muss, dass Sie wegen der persönlichen Nähe zum Opfer eigentlich befangen sind und schon alleine deshalb gar nicht in die Ermittlungen involviert sein dürften. Aber ihr Leumund spricht für Sie und so darf ich Sie an unseren Erkenntnissen teilhaben lassen. Überflüssig zu erwähnen ist unstrittig, dass Sie wiederum uns über jedes noch so kleine Detail unverzüglich in Kenntnis zu setzen haben. Das war verständlich, oder?“, rasselte Inspektor Guby nahezu gelangweilt herunter.
„Ja, ja...“, winkte Jenny eher genervt ab. Sie befürchtete, dass dieser junge Inspektor ein Paragraphenreiter sein würde, was den Spaß an einer Zusammenarbeit, wie sie es einst mit McLoad hatte, trüben würde. Aber sie musste wohl oder übel mit Guby auskommen.
„Nun, dann darf ich Sie bitten mich zu begleiten. Dr. Baker Sander erwartet uns in der Pathologie. Wenn Sie mir bitte folgen wollen...“, sagte Guby und eilte bereits an Jenny vorbei, die sich nur noch umdrehen und ihm nacheilen konnte.
Am Ende des langen Korridors knatterte ein hölzener Paternoster in den Jenny und Guby stiegen. Ganz unten im Keller befand sich die Pathologie und Guby war doch tatsächlich so unhöflich, ohne Jenny die Hand als Hilfe beim Ausstieg anzubieten, voranzupreschen. So ein unhöflicher Hobel, fluchte Jenny innerlich. Doch Guby störte das wohl kein Stück. Er eilte mit großen Schritten durch den dunklen Kellerflur und die Papiertüte, die er fest in einer Hand hielt, knisterte laut in diesem unheimlichen Gang. Das schwache, flackernde Gaslicht erhellte den Flur auch nicht so wirklich und das gespenstische Flair wurde durch die Aussicht, dass hier die Ermordeten aufgebahrt liegen und hoffentlich letzte Geheimnisse preisgeben würden, noch deutlicher. Obwohl die Meisterdetektivin viel gewöhnt und eigentlich abgehärtet war, fröstelte es sie leicht. Ob das wohl auch das Alter mit sich bringt?, fragte sie sich dabei selbst. Wenn man gefesselt an einem Andreaskreuz in einem feuchten Keller im Londoner Untergrund von einem vermeintlich untoten Asiaten Knopf für Knopf entkleidet wurde, sollte einem so ein Ort keine Bange machen. Oder doch?
Knarzend öffnete Guby eine Doppeltür und wurde sich in dem Moment doch seiner Gentlemanpflicht bewusst, denn nun hielt er Jenny galant die Tür auf und bat sie einzutreten. Da es jenseits der Türe heller war als in dem Korridor, hüpfte Jenny förmlich in den Raum und bedankte sich artig bei Inspektor Guby.
„Na, hereinspaziert! Ist das eine Freude!“, wurden die Beiden sehr jovial und strahlend von Dr. John Baker Sander begrüßt. „Mrs. Holmes. Welch wunderbarer Anblick, welch Freude Sie wieder begrüßen zu dürfen!“
„Oh, Sie übertreiben.“, kicherte Jenny, weil sie um die übertrieben höfliche Art des Doktors wusste. Sie war schließlich öfters an der Seite von McLoad zwar nicht hier unten, aber oben in einem der Besprechungsräume, wo Dr. Baker Sander den Ermittlern seine Erkenntnisse kundtat.
„Nein, nein, ganz und gar. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, Sie wiederzusehen. Und das hier in meinem bescheidenen Reich!“, grinste Dr. Baker Sander, während er eine ausladende Geste machte, die durch das dunkelbraune Gewölbe zeigte, das von zahlreichen Gaslichtern erhellt war.
„Hi Doc.“, sagte Guby kurz und knapp und nickte dem Doktor nur zu.
„Oh, Inspektor Guby? Sie sind das erste Mal da oder täusche ich mich? Auch Sie sind mir herzlichst willkommen! Möchten Sie einen Kaffee? Oder was anderes?“, sagte Dr. Baker Sander.
„Nein, danke. Für mich nichts.“, wehrte Jenny das großzügige Angebot ab.
„Jo, Kaffee wär net schlecht.“, sagte Guby in einem Tonfall und einer Art, die Jenny nachdenken ließ, ob das derselbe Guby ist, der sie oben im Büro empfing.
Dr. John Baker Sander ging sofort in einen Raum, der wohl die Küche der Pathologie sein dürfte und das so rasch, dass sein weißer Kittel sich im Gehen bauschte. Nur Augenblicke später kam er wieder und hielt einen Totenschädel in Händen aus dessen Kalotte es dampfte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Jenny kapierte, dass dieser Schädel aus Keramik war und nur eine Tasse in Form eines geöffneten Schädels darstellte. Pathologen und ihr seltsamer Sinn für Humor. Ein Humor, an den sich Inspektor Guby zuerst noch gewöhnen musste, denn kaum überreichte Dr. Baker Sander die Tasse an ihn, wich ihm die Farbe aus dem Gesicht. Tapfer nahm er sie dann doch an und traute sich sogar einen Schluck zu nehmen.
„Bittesehr.“, lachte Dr. Baker Sander und rieb sich die Hände.
„Danke.“, murmelte Guby.
Dr. Baker Sander klatschte in die Hände und das Geräusch hallte vom Gewölbe dieser Kammer mehrfach zurück. Guby erschrak so sehr, dass er beinahe den Kaffee verschüttete.
„Kommen wir nun zum Anlass ihres Besuchs. Wir haben die Leiche untersucht und dabei interessante Erkenntnisse gewonnen. Wenn Sie mir bitte folgen würden?“
Dr. John Baker Sander wandte sich ab und rauschte an die hintere Wand des Gewölbes, wo mehrere dunkelgrün lackierte Türen waren. Unten mannshohe Türen, darüber kleinere Türen. Er öffnete eine dieser Türen und zog einen Rollwagen heraus über den ein weißes Tuch gebreitet war. Darunter war unschwer der Körper einer Frau zu erkennen. Über dieser Kammer waren kleine Schlitze und man sah etwas Wasser herunter tropfen von den großen Eisklötzen, die darüber waren und für die nötige Kühlung der Leichname sorgte. Das Wasser allerdings ließ sich das Tuch so an die Form des darunterliegenden Körpers anpassen, dass man kaum noch Fantasie brauchte um zu erkennen, was sich unter dem Stoff befand. Unterdessen raschelte die Papiertüte, die Guby in der Hand hielt und Jenny schaute zu dem Inspektor, der aus dieser Tüte einen Schokoladenmuffin herausholte.
„Kennen Sie das neue Geschäft unweit unseres Haupquartiers? Blossem‘s Bakery. Herrliche Backwerke! Sollten Sie unbedingt versuchen.“, schwärmte Guby Jenny Holmes vor ohne auch nur im Entferntesten daran zu denken, ihr etwas anzubieten.
Jenny verdrehte nur die Augen bei dem Anblick, wie Guby dastand, mit der Totenkopftasse voller Kaffee und dem Schokomuffin in der Hand. Inmitten dieser Galerie des Todes ein bizarres Bild.
„Soooooooo.... hier ist sie!“, sagte Dr. Baker Sander in seiner gewohnt fröhlich-jovialen Art und hob das Tuch von der Leiche.
Prompt gab es ein Rummsen und Scheppern und Jenny fuhr erschrocken herum. Da lag Inspektor Guby ohnmächtig am Boden und Dr. John Baker Sander fing zu Lachen an.
„Mei, der Arme... kann wohl nichts ab, oder? Naja, soweit wollte ich das Tuch auch gar nicht abziehen. Zumal ich die Leiche noch nicht zugenäht habe. Aber egal nun. Wenn er das nicht aushalten kann, der Gute, dann soll er Kaninchenzüchter werden oder sowas. Moment, ich habe da was...“, sagte Dr. Baker Sander während er den Leichnam Annas, der mit geöffnetem Thorax aufgebahrt war, wieder mit dem Tuch bedeckte, so dass nur noch der Kopf zu sehen war.
Dann holte er ein kleines Fläschen und hielt es dem ohnmächtig am Boden liegenden Inspektor unter die Nase. Sofort ging ein Ruck durch Guby und er schrie: „Ja, Pfui Deibel, was is denn des??!“
Wieder lachte Dr. Baker Sander und sagte: „Das nennt man ‚Atemlos‘. Das Riechfläschchen einer gewissen H. Fischer aus Deutschland. Damit weckt man Tote auf. Naja, ein paar davon jedenfalls.“
„Geh weg damit. Bähhhh....“, sagte Guby und schob das Fläschchen, das Dr. Baker Sander ihm erneut unter die Nase halten wollte, weg.
„Naaaaaa, wieder unter den Lebenden, der Inspektor.“, lachte Dr. Baker Sander und half Guby auf.
„Können wir nun?“, fragte Jenny Holmes etwas genervt.
„Aber natürlich, natürlich. Ich bitte um Verzeihung.“, sagte Dr. Baker Sander und begann mit seinen Ausführungen. „Also, bei dieser Leiche gibt es einiges, was uns zu Beginn Rätsel aufgab. Zunächst wunderten wir uns über die geringe Verwesung. Der Todeszeitpunkt muss schon etliche Jahre zurückliegen, aber die äußere Erscheinung lässt eine Verwesung von nur wenigen Monaten zu. Wenn überhaupt. Es gibt auch kaum Anzeichen für Tierbisse oder nennenswerten Insektenbefall. Das lässt nur den Schluss zu, dass die Leiche noch nicht sehr lange im Gebüsch gelegen haben kann. Sie musste demnach erst vor kurzem dort abgelegt worden sein. Über die Todesursache hingegen gibt es keinen Zweifel. Es handelt sich eindeutig um eine stumpfe Gewalteinwirkung gegen die Schläfe und den Hinterkopf. Sie wurde also eindeutig erschlagen. Danach muss die Leiche irgendwo aufbewahrt worden sein, wo es sehr kühl ist. Wo es keine Insekten gibt und wo sie von der Außenwelt abgeschottet ist.“
„Wie in ihren Kühlkammern?“, fragte Jenny, deren blitzgescheiter Verstand wieder wie in jungen Jahren arbeitete.
„Ja, so in etwa. Interessant waren diese Haare, die wir an der Leiche fanden. Es deutet wohl auf Katzenhaare hin. Vermutlich graugetigert... aber... und das ist das Interessante... mit exotischen Gewürzen, die mit höchster Wahrscheinlichkeit aus Indien stammen, verunreinigt sind.“
„Indien?“, murmelte Jenny.
„Und wir fanden noch diese langen blonden Haare. Auch diese waren mit Gewürzen verunreinigt.“, fügte Dr. Baker Sander noch hinzu.
„Hmm.“, brummte Inspektor Guby.
„Hilft uns das weiter, Dr. Baker Sander?“, fragte Jenny.
„Mir nicht. Aber das sind die Fakten. Machen Sie was draus. Sie sind die Meisterdetektivin.“, sagte Dr. Baker Sander achselzuckend.
Jenny nickte nur, bedankte sich bei Dr. Baker Sander für die Ausführungen, verabschiedete sich und ging wortlos an Guby vorbei zum Ausgang.
***
Avery war es langweilig so ganz alleine im leeren Haus. Auf der Straße tat sich nichts und ein Buch lesen wollte sie auch nicht. So hatte sie sich ihr aufregendes Abenteuer im alten Europa nicht vorgestellt. Gelangweilt zog sie durch das Haus und schaute neugierig von Zimmer zu Zimmer. Aber nichts wollte ihr gefallen oder sprach sie an. Bis sie die letzte Türe öffnete, hinter der sich das Zimmer von Jenny Holmes alter Weggefährtin Mrs. Watson befand. Das Zimmer schien völlig unberührt zu sein, so als ob Mrs. Watson jederzeit wiederkommen würde. Nichts wurde hier in all den Jahren verändert. Nicht einmal aufgeräumt. Die Unordentlichkeit, die in diesem Zimmer herrschte, ließ vermuten, dass es eben erst verlassen wurde. Nur die Staubschicht, die sich überall als grauer Belag abzeichnete und Avery ständig niesen ließ, deutete unmissverständlich darauf hin, dass hier schon lange niemand mehr war. Wohl auch Jenny selbst nicht. Vielleicht mied sie dieses Zimmer, weil der plötzliche Verlust sie schmerzte? Sie erzählte auch nicht wirklich viel von ihrer alten Mitstreiterin. Vieles ließ sie unausgesprochen und überging es, wenn es nicht unbedingt zu erwähnen war. Gerade diese Sache machte das Zimmer aber auch so interessant für Avery. Vielleicht fand sie hier mehr heraus, als es ihre Tante ihr erzählen will? Das Schnüfflergen in ihr ließ sie dieses Zimmer genauer unter die Lupe nehmen. Doch Licht konnte sie keins machen und durch das Fenster, das schon lange nicht mehr geputzt wurde, kam nur diffuses Licht, das den Raum in Schatten versinken ließ. Da sah Avery auf der Kommode eine Lampe stehen in der noch Öl übrig war. Sie holte sich aus der Küche Streichhölzer und entzündete diese seltsam aussehende Lampe. Ein eiförmiges Gebilde aus dünn geschliffenem Lapislazuli mit einer Wachsstange in der Mitte, durch die wie bei einer Kerze ein Docht ging. Das alles stand in einer türkis-blauen Schale, in der sich ein dunkles Öl befand und der Docht der Kerze sich in diesem wohlriechenden Öl befand. Kaum hatte sie die Lampe entzündet, loderte etwas mehr Licht durch den Raum und alles füllte sich mit einem würzigem Aroma, das Avery in die Nase stieg. Sie atmete tief ein und aus, nahm diesen fremdartigen Geruch in sich auf und spürte, wie sich Wohlbefinden in ihr breit machte. Sie vergaß ganz, warum sie in diesem Raum ist. Plötzlich meinte sie zu schweben, als ob sie den Boden unter den Füßen verlieren würde. In einem Schwindelanfall drehte sie sich im Kreis und wie von weiter Ferne hörte sie ein Stimmengemurmel. Aus der Kakophonie tausender Stimmen kristallisierte sich langsam eine heraus. Eine Stimme, die gar nichts freundliches an sich hatte. Ein bösartiges Zischen, dass ihr durch die Ohren direkt ins Gehirn stach. Avery versuchte sich die Ohren zuzuhalten, doch das war vergebens. Die dämonische Stimme war in ihrem Kopf, war tief in ihr drin. Und sie machte ihr Angst ohne konkrete Worte zu sagen. Die junge Amerikanerin bekam eine Panik und sie wollte schreien, doch konnte sie nicht. In dem Strudel wirrer Gedanken, der sich in ihrem Kopf breitmachte, sah sie plötzlich eine Tür, durch die Sonnenlicht fiel und dahinter ein sattes Grün. Ist das der Ausgang aus diesem Albtraum?, fragte sich Avery und ging direkt darauf zu. Jedoch konnte sie nicht einfach durch die Tür gehen. Irgendwas war da. Ist das Glas? Avery erschrak! Ist jemand hinter ihr? Spürte sie den Atem des Bösen im Nacken? Die Panik würde größer und hektisch versuchte sie die vermeintliche Tür zu ihrer Rettung zu öffnen. Sie hämmerte dagegen, sie rüttelte und nestelte daran herum, bis sie einen Griff fand und die Tür öffnen konnte. Ein Schwall frischer Luft kam ihr entgegen und sie machte einen Schritt nach vorne.
***
Grübelnd ging Jenny nach Hause. Dabei kam ihr der Duft aus dieser neuen Bäckerei in die Nase und sie entschloss sich kurzerhand zwei dieser famosen Schokolandenmuffins mitzunehmen. Die freundliche Bäckerin Blossem, die ihre üppige Oberweite, die im Gegensatz zum restlichen zierlichen Körper stand, gerade so mit der Schürze bändigen konnte, packte die beiden Köstlichkeiten ein, bedankte sich mit einem sympathischen Augenaufschlag aus den dunklen und irgendwie geheimnisvollen Augen und dem netten rollenden R, das ihr Akzent mit sich brachte bei der Meisterdetektivin und wünschte dabei einen schönen Tag. Jenny wünschte das ebenfalls, legte das Geld auf den Tresen und nahm die Papiertüte mit den beiden Küchlein in Empfang. Dann ging es schnurstracks in die Baker Street.
Jenny war erleichtert, als sie bemerkte, dass die Tür immer noch doppelt verriegelt war. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Mit dem Öffnen der Tür rief sie: „Avery! Ich bin zurück und habe uns was mitgebracht. Avery?“
Keine Antwort.
Jenny stutze und schlich vorsichtig durch den Flur. „Avery?“, rief sie etwas verhaltener und horchend in jeden Raum. Da sah sie, dass die Tür zu Mrs. Watsons ehemaligen Zimmer offen stand. Jenny lief dorthin, schaute durch die Tür und rief erschocken: „AVERY!!!“
Jenny traute ihren Augen nicht. Avery stand schon mit den Füßen auf der Fensterbank des geöffneten Fensters und setzte bereits zum Sprung an. Geistesgegenwärtig hastete Jenny Holmes nach vorne und packte ihre Nichte am Rocksaum, an dem sie kräftig zog. Avery fiel hintüber in den Raum direkt auf ihre Tante. Doch das störte Jenny nicht. Ihr war nur wichtig, dass sie ihre Nichte bei sich hatte und fest in den Armen hielt.
„Was machst Du nur? Also wirklich!“, flüsterte Jenny Avery ins Ohr.
„Hmmmm... was? Wo? Hä?“, murmelte Avery langsam wieder zu sich kommend.
„Steh auf...“, sagte Jenny und half dabei ihrer Nichte auf. „Wir gehen jetzt mal schön ins Wohnzimmer, junge Dame!“
Während Avery in das andere Zimmer schlurfte, schaute sich Jenny in dem Raum um. Wie lange war sie schon nicht mehr hier drin? Es muss eine Ewigkeit her sein. Sie mied diesen Raum, der für sie voller Erinnerungen steckte und brachte es nie übers Herz, ihn auszuräumen und anderweitig zu nutzen. Sie ließ ihre blauen Augen über das Bett und die Kommode gleiten, in der noch immer ein paar Stücke von Mrs. Watsons Unterwäsche waren und lächelte dabei, als sie wieder McLoad sah, der verblüfft die halbnackte Watson anstarrte. Und sie sah diese seltsame indische Lampe, die sie damals mit Watson kaufte. Ihr hatte das potthäßliche Ding ja nie gefallen, aber sie wollte es natürlich auch ihrer Freundin nicht nehmen. Ihr gefiel dieses seltsame Objekt. Die Lampe musste wohl durch den Luftzug, den Jenny beim durchhasten des Raums machte, erloschen sein, denn nur noch blaue Dunstfäden kräuselten sich von dem Docht im Inneren dieses Lapislazuli-Eis. Jenny schloß das Fenster, verließ den Raum, blickte noch einmal in das wieder in fahles Dämmerlicht getauchte Zimmer und ließ die Tür ins Schloss fallen.
Avery saß in einem der Ohrensessel, die wuchtig im Wohnzimmer standen und blickte betreten zu Boden. Jenny setzte sich ihrer Nichte gegenüber und schaute sie streng an.
„Was sollte das eben, Avery? Wie kommst Du nur dazu in Räumen rumzuschnüffeln, die Dich nichts, aber auch gar nichts angehen? Und was zum Teufel wolltest Du am Fenster? Es sah aus, als ob Du springen wolltest!“, begann Jenny die Strafpredigt.
„Tante... ich....“, Avery begann fast schluchzend und mit hin und herwandernden Augen zu erzählen, „...weiß es nicht. Da waren... so Stimmen. Es war furchtbar! Ich hatte solche Angst. Ich wollte nur noch weg von da. Und da war dann dieses Licht... die Tür... der Ausgang, das Paradies!“
„Welches Paradies denn?“, insistierte Jenny.
„Na, die üppigen Wiesen... jenseits des Baches über den ich springen hätte sollen!“
In Averys Augen standen Tränen als sie das sagte und Jenny kam der leicht wirre Ausdruck darin komisch vor. Sie legte die Hand auf Averys Stirn und fühlte, ob sie Fieber hätte, doch die Stirn fühlte sich kühl, dafür schweißnass an.
„Welchen Bach denn? Hier in der Baker Street gibt es keinen. Ohnehin ist es keine gute Idee aus dem Erdgeschossfenster zu springen. Ach, was sollen nur die Nachbarn denken?“, seufzte Jenny und wunderte sich im selben Augenblick darüber, wie sie klang. Bin das wirklich ich?, dachte sich Jenny. Sie fand, dass sie wie eine alte Schachtel klang und wieder wurde ihr bewusst, wie viel Zeit schon vergangen war.
„Aber Tante Jenny... die Stimme... sie war in mir drin, ganz tief in meinem Kopf.... und sie war böse... abgrundtief böse!“, gab Avery mit Nachdruck kund.
„Was ist in dem Zimmer passiert? Erzähle es mir haargenau!“, forderte Jenny ihre Nichte auf und lehnte sich dabei in den Sessel zurück.
Avery erzählte, wie sie sich langweilte und dann neugierig durch das Haus streifte. Dabei in jedes Zimmer schaute und sich keine Gedanken darüber machte, ob sie das nun dürfe oder nicht. Dann betrat sie das Zimmer und schaute neugierig, wie junge Mädchen nunmal sind, herum. Schließlich war das nicht irgendein Zimmer. Es war das Zimmer von Tante Jennys Freundin, die stets an ihrer Seite war und mit der sie zahlreiche Abenteuer bestand und spektakuläre Fälle löste. Die Freundin, über die Jenny aber nie sprach und die Erinnerung an sie scheinbar hinter einer Zimmertür wegsperren wollte. Es gab für Avery, die ihre Tante zutiefst bewunderte kaum etwas interessanteres als das. Sie schaute sich um, was im Regal stand, was in der Kommode ist, usw. Doch das Licht, das nur schwer durch das lange ungeputzte Fenster fiel, war so mau, dass Avery, ohne große Überlegungen diese seltsame Lampe entzündete, die auf der Kommode stand.
„Ich schaute mich dann weiter um und sah viele Andenken oder sowas... irgendwas aus euren Abenteuern... aber das alles sagt mir nichts.... und dann wurde mir schwindelig. Anstatt, dass es durch die Lampe heller wurde, kam es mir vor, als ob es dunkler um mich werden würde. Ich schwankte und in meinem Kopf herrschte plötzlich ein gewaltiger Druck. Es war, als ob ich tausend Stimmen aus unsichtbaren Mündern hören würde. Panisch schaute ich um mich, doch da war nichts! Nur schwarze Leere und plötzlich diese bösartige Stimme, ganz nah in mir. Ich drehte mich um und versuchte diesen Teufel zu sehen. Vergeblich. Wie ich mich drehte... der Teufel schien in mir zu stecken. Als ob er aus mir spricht! Dann war da dieses Licht... dieses idyllische Licht.... es fiel durch eine Tür, die ich zu öffnen versuchte. Es sollte mein Fluchtweg, meine Rettung sein.... und dann.... dann lag ich auf Dir drauf. Am Boden.“, beendete Avery mit einem Schulterzucken ihre Erzählung.
„Das klingt seltsam...“, sinnierte Jenny und kramte tief in ihrer Erinnerung. Hatte Mrs. Watson nicht auch Bedenken, dass da jemand bei ihr im Raum ist und sie beobachtet? Deswegen war McLoad doch damals da? Und war es Watson nicht auch schwindelig zu der Zeit? Je mehr Jenny drüber nachdachte, umso merkwürdiger kam ihr diese ganze Geschichte vor und um so mehr Lust hatte sie auf einen frischen Klecks Schlagsahne.
„Avery. Halte Dich von dem Zimmer fern, hörst Du? Gehe da nicht mehr rein. Lege Dich jetzt ins Bett und schlaf ein bisschen. Ich muss nachdenken.“, sagte Jenny.
„Ist gut, Tante“, sagte Avery, stand auf und ging in das Gästezimmer. Deń Raum, in dem einst Anna wohnte.
Jenny verfiel ins Grübeln, wärmte ihre Erinnerungen an die Vorkommnisse damals auf und überlegte jedes kleine Detail. Was hatten sie damals gemacht? Wo waren sie gewesen? Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie im Hafen bei einem der Kolonialwarenhändler diese seltsame Lampe kauften. Und wie sich Jenny und Watson stritten wegen dem Ding. Da fielen ihr auch die Dosen mit indischen Gewürzen ein, die dort gehandelt wurden. War dort nicht ein Kontor mit einer Ostindien-Handelsgesellschaft? Hatte Dr. Baker Sander nicht die Gewürze erwähnt? Jenny musste das klären.
„Avery! Ich bin bald wieder da!“, rief Jenny beim Verlassen der Wohnung und sprang sogleich in ihr Automobil, das sie knatternd anwarf und in Richtung Hafen düste. Jenny war für ihre wilde Fahrweise bekannt, die zwar waghalsig anmutete, aber nie einer Pferdekutsche gefährlich wurde. Wohl auch deswegen, weil die Pferde schlau genug waren, aus dem Weg zu springen, wenn die Meisterdetektivin des Weges kam. Mit quietschenden Reifen hielt sie am Hafen vor dem großen aus Backsteinen errichteten Kontor der Ostindien-Handelsgesellschaft an. Sie blickte auf die hohen Tore und die großen Fenster und fragte sich, ob hier überhaupt noch Betrieb herrschen würde. Durch die schmutzigen und teilweise gesprungenen Scheiben konnte sie kaum etwas erkennen. Die Türen jedenfalls waren gut verschlossen und auch sonst machte alles einen sehr verlassenen Eindruck. Jenny ging um das Gebäude in eine kleine Seitengasse, wo sie ein eingeschlagenes Fenster sah. Irgendwer muss da wohl mal eingebrochen sein. Sie schaute durch das Fenster in ein vollkommen leeres Kontor. Hier war niemand mehr, den sie um Auskunft hätte bitten können. Also beschloss sie die Hafenverwaltung aufzusuchen und dort in Erfahrung zu bringen, was mit der Ostindien-Handelsgesellschaft geschah.
Die Verwaltung war in einem schmucklosen Gebäude untergebracht, das sich an der Zufahrt zum Hafen befand. Ein recht mürrisch aussehender älterer Mann saß hinter einem großen Schreibtisch auf dem zahlreiche Papiere und Papierrollen lagen. Der ganze Raum war mit allerlei Krimskrams rund um Matrosen und Seefahrt geschmückt. Ein großes Fischernetz hing von der Decke herab und die Wände zierten diverse Gemälde von Segelschiffen. Aber auch der eine oder andere Stich exotischer Ansichten war dort zu finden. Tahiti und Java, Ceylon und Borneo. Jenny schaute sich diese fremden Sachen aufmerksam an, bis sie die sonore Stimme des Mannes hinter dem Schreibtisch aus ihren Gedanken riss.
„Was kann ich für Sie tun, M‘am?“
„Oh, äh... Jenny Holmes mein Name. Ich wollte fragen, was aus der Ostindien-Handelsgesellschaft wurde.“, sagte die Meisterdetektivin.
„DIE Jenny Holmes? Die Meisterdetektivin? Welche Ehre! Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich habe einen hervorragenden Darjeeling hier.“, fragte der Mann und wies galant Jenny einen Platz an.
„Gerne. Ich habe noch nie einen... äh... wie heißt das... Darschelling?... getrunken.“, erwiderte sie die Frage und dachte sich, dass etwas Smalltalk bestimmt von Nutzen sein könnte.
„Ja, Darjeeling. Es gibt welche, die ihn den Champagner des Tees nennen. In der Tat ist er vorzüglich und durchaus zu empfehlen, aber es gibt so viel mehr als nur das. Aber nur zu... versuchen sie ihn. Er wird ihnen schmecken.“, sagte er charmant, während er Jenny eine Tasse einschenkte und setzte sich wieder in seinen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches.
„So, Sie interessieren sich also für die Ostindien-Handelsgesellschaft? Darf ich erfahren, warum eigentlich?“, begann er nun geschäftlich-nüchtern das eigentliche Gespräch.
„Sollte man sich nicht dafür interessieren?“, fragte Jenny verschmitzt lächelnd zurück und spitzte dann die Lippen um den Darjeeling zu kosten.
„Nun, es ist nicht alltäglich, dass sich jemand für eine einfache und nicht sonderlich erfolgreiche Handelsgesellschaft interessiert. Entschuldigen Sie meine Neugierde, aber wir haben hier meist nicht viele Gäste. Weibliche schon gar nicht. Aber natürlich gebe ich Ihnen gerne Auskunft, wenngleich keine sehr ausufernde, denn viel gibt es nicht zu sagen. Die Gesellschaft wurde, wie üblich, von drei Finanziers gegründet. Das Kontor wurde gemietet und auch die Zahlungen waren immer akkurat und pünktlich. Zunächst kamen viele Schiffe an, luden ihre Waren in das Kontor und diese wurden wohl auch auf die Märkte und Geschäfte verbracht, wo sie verkauft wurden. Doch schon kurze Zeit später - ich denke, es waren nur wenige Monate - blieben die Schiffe aus. Es kamen keine Waren mehr an und die Arbeiter erhielten keinen Lohn mehr. Wir schrieben damals die Verantwortlichen an, aber bekamen keine Antwort. So beauftragten wir einen Ermittler, der die Finanziers ausfindig machen sollte. Leider ohne Erfolg. Von den drei Herren fehlt bis heute jede Spur. Wir beschlagnahmten das Kontor und alle darin befindlichen Waren, verkauften diese in einer Auktion, die übrigens sehr erfolgreich verlief und fast alles seinen Besitzer wechselte, und schlossen das Kontor ab. Neue Mieter fanden wir bis heute nicht.“, sagte der Mann.
„Wann war diese Auktion?“, wollte Jenny wissen.
„Oh, das muss so vor 5 oder 6 Jahren gewesen sein. Ich könnte nachschauen, wenn Sie möchten?“, sagte der Verwalter.
„Nein, schon gut. Ungefähr genügt. Können Sie sich an einen langen schlaksigen Kerl mit olivener Haut erinnern, der an dem Kontor Waren verkaufte?“, fragte Jenny, die sich langsam ganz genau an den Kauf der Lampe erinnerte.
„Dunkel. Es war keiner unserer bekannten Hafenarbeiter. Er muss von der Ostindien-Handelsgesellschaft gewesen sein und darüber haben wir keine Unterlagen. Selbst wenn ich wollte... ich könnte Ihnen beim besten Willen keine Auskunft geben. Aber....“, sagte der Mann und beugte sich über den Tisch um Jenny verschwörerisch zuzuflüstern, „... ich wüsste, wer Ihnen mehr über diese Gesellschaft sagen könnte.“
Jennys Augen gingen auf und auch sie kam näher an das Gesicht des Mannes. „Verraten Sie es mir?“, fragte sie mit einem Hauch Erotik in der Stimme.
„Prof. Dr. Rem Ember. Eine Wissenschaftlerin, die sich mit Indien und dem Handel zwischen England und Ozeanien hervorragend auskennt. Wenn nicht sie, wer dann? Wenn ich nicht irre, lebt sie immer noch in Cambridge.“, gab der Mann nun wieder normal sprechend von sich.
Jenny sah kurz verwundert auf. Wieso sollte eine Professorin - was im viktorianischen England schon ungewöhnlich genug war - mehr über eine Handelsgesellschaft wissen, als der Hafenverwalter persönlich? Sie stellte die leere Tasse auf den Tisch und sagte: „Haben Sie vielen Dank für die Auskunft. Das hat mir sehr geholfen und der Tee war köstlich. Danke auch dafür. Aber ich sollte nun los. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen, Mrs. Holmes.“, sagte der Verwalter, der ebenfalls aufstand und die blonde Detektivin zur Tür begleitete, sie ihr galant öffnete und mit einem angedeuteten Diener sich nochmals von ihr verabschiedete.
Jenny sah auf die Uhr, die an einem Turm an der Hafenmole angebracht war und überlegte, wie lange sie nun nach Cambridge brauchte. Immerhin war es schon weit nach Mittag und abends brauchte sie nicht mehr bei Prof. Dr. Ember aufzutauchen. Daher beschloss sie, die Fahrt nach Cambridge auf den nächsten Tag zu verlegen und erst noch einen Abstecher in die Londoner Bibliothek zu machen.
Die haushohen Bücherregale, die in dem riesigen von Oberlichtern erhellten Raum der Bibliothek standen, hatten schon etwas beeindruckendes. Wie konnte man hier überhaupt ein Buch wiederfinden? fragte sich Jenny, die über den flauschigen Teppich lief, der jedes Trittgeräusch bis in die Unhörbarkeit dämpfte. So geräuschlos schwebte sie förmlich auf den von einer Lampe schwach erleuchteten Tisch der Bibliothekarin zu, die sie schon seit Betreten der Bibliothek mürrisch im Auge hatte.
„Guten Tag“, begrüßte Jenny Holmes die ältere Dame, deren strenger Blick sich sogleich in eine freundliche Miene vertauschte und die ganze Erscheinung der Mrs. Hasal, wie das messingfarbene Namensschild zeigte, vom Mürrischen ins Freundliche verkehrte.
„Wie kann ich Ihnen dienen, Fräulein?“, fragte die ältere Frau, die ihre grauen Haare zu einem akkuraten Dutt gebunden hatte und ihre Brillengläser funkelten im fahlen Licht der Lampe.
Jenny war regelrecht geschmeichelt, dass sie als Fräulein bezeichnet wurde. Gerade in den letzten Tagen, als sie sich alt und schlapp neben einem jungen Wirbelwind wie Avery fühlte, war das schon eine Wohltat.
„Ach, das ist nett.“, kicherte Jenny und warf einen Blick auf das große Puzzle, das Mrs. Hasal wohl derzeit zusammensetzte. Viel konnte man noch nicht erkennen, nur etwas mehr vom Rahmen, in dessen Mitte verstreut hunderte von Puzzleteilen lagen und darauf warteten, zu einem Bild zusammengefügt zu werden. „Ich suche ein Buch über Indien. Vor allem über indische Kunstgegenstände oder Utensilien, wie Lampen und ähnliches. Haben sie so etwas da?“
Mrs. Hasal musste nicht lange überlegen und sagte zu Jenny: „Na, dann folgen Sie mir mal.“
Jenny wollte schon loslaufen, da blieb sie plötzlich stehen, als sie merkte, dass Mrs. Hasal nicht aufstand, sondern sich mit Quietschen und Knarzen auf der Stelle zu drehen schien. Nach der ersten Überraschung dieses unerwartenen Anblicks verstand Jenny erst, dass Mrs. Hasal auf einem Stuhl mit vier in alle Richtungen drehbaren Rädern saß und sich nur langsam mit ganz kleinen Trippelschritten über den tiefen Flor der Teppiche bewegen konnte.
„Das Alter, wissen Sie?“, sagte Mrs. Hasal achselzuckend und Jenny nickte.
Quietschend und quälend langsam fuhr Mrs. Hasal Jenny voran durch die Schluchten der Bücherregale bis sie endlich an ihr Ziel gelangten.
„Dort... in der 5. Reihe.... das dritte von links. Würden Sie es bitte selber holen?“, fragte Mrs. Hasal.
„Natürlich mache ich das.“, sagte Jenny, die schon eine Leiter, die am Regal angebracht war und sich auf kugelgelagerten Schienen an diesen entlangfahren ließ, in Richtung linke Regalseite bugsierte. Dann stieg sie die Leiter empor und entnahm dem Regal das angewiesene Buch. Eine ordentliche Staubwolke kam ihr dabei entgegen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass diese Werk schon lange keiner mehr in Händen hielt. Noch mehr wunderte sich Jenny aber darüber, wie genau Mrs. Hasal dieses Buch in ihrem Gedächntnis hatte. Sie stieg wieder von der Leiter ab und ging an der Seite von der Bibliothekarin zurück an deren Tisch, wo die Ausleihkarte gestempelt wurde, damit Jenny das Buch mit nach Hause nehmen konnte. Als dies geschehen war, verabschiedete sich Jenny von der resoluten Dame und fuhr schnurstracks nach Hause in die Baker Street.
Avery hatte sich mittlerweile wieder beruhigt und konnte auch wieder klare Gedanken fassen. Die Panik, die sie selbst im Schlaf noch packte, war verflogen und der Hunger durfte ihren Körper plagen. Jenny kochte ein leckeres Essen, das Beide mit Genuß aßen und nach etwas Plauderei und einem netten Abend, zog sich Jenny in ihr Schlafzimmer zurück, wo sie wissbegierig in dem ausgeliehen Buch las. Sie wollte schließlich vorbereitet sein, wenn es am nächsten Tag nach Cambridge ging.
Cambridge
Jenny war schon putzmunter als der Morgen graute. Nichts deutete darauf hin, dass sie die ganze Nacht lang in dem dicken Buch über Indien und seine Kulte las. Es war eine spannende Lektüre, doch was sich Jenny als Erkenntnis erhoffte, stand da leider nicht drin. Dennoch fühlte sie sich gut gewappnet um vor Prof. Dr. Ember nicht dumm dazustehen. Nach schneller Morgentoilette zog sich Jenny an und ging Avery wecken, die immer noch tief schlummerte.
„Avery... aufwachen... wir wollen frühstücken und dann los!“, säuselte Jenny sanft und ihre Nichte schlug langsam die Augen auf.
„Guten Morgen, Tante Jenny. Ich komme schon.“, sagte Avery schlaftrunken und gähnend.
Jenny Holmes ging in die Küche und setzte Tee auf. Solange der zog und ihre Nichte sich in ihre Garderobe packte, lief sie schnell zum Bäcker und holte ein paar frische Brötchen, die dann dick mit Orangenmarmelade beschmiert wurden. Ein paar Brötchen sollten schließlich der Proviant für die bevorstehende Reise sein. Als Jenny zurück war, saß Avery schon in der Küche und trank eher missmutig den Tee der Tante, der ihr einfach nicht schmecken wollte. Sie wollte lieber Kaffee haben, aber der Tee war besser als nichts und so schüttete sie ihn hinunter. Nach dem Frühstück packten sie ihren Proviant in einen Picknickkorb der im Fußraum des Beifahrersitzes verstaut wurde.
„Festhalten bitte... die Fahrt geht los!“, lachte Jenny ihre Nichte an, die sofort in das Lachen einfiel. Der Motor sprang knatternd an und das Automobil zuckelte über das Kopfsteinpflaster Londons in Richtung der altehrwürdigen Universitätsstadt Cambridge.
Es dauerte ein paar Stunden bis man die rund 80 Kilometer von London bis Cambridge hinter sich brachte. Entweder waren Schafherden auf den Straßen oder die Straße war so beschädigt, dass man sich erst einmal einen Umweg suchen musste und so kamen Jenny und Avery erst gegen Mittag dort an.
„Schau mal, das ist Cambridge. Siehst Du da vorne die große gotische Kapelle? Das ist das Kings College, wo die berühmtesten Denker wie Isaac Newton und Charles Darwin studierten.“, erklärte Jenny während sie durch das Zentrum der Stadt fuhren.
Avery bestaunte diese alten Bauwerke, da sie etwas vergleichbares aus Amerika nicht kannte.
„Das ist so irgendwas aus dem 13. Jahrhundert, wenn ich mich nicht irre. Oder schau da! Das ist dasTrinity College mit den beiden zinnenbewehrten Türmen. Da ist auch das Great Gate, das große Tor, das den Eingang zum College bildet.“, sagte Jenny.
Avery war sprachlos und konnte sich kaum sattsehen und Jenny nutzte die Gelegenheit ihre Nichte etwas durch die Gassen der Altstadt zu chauffieren. Nicht ganz ohne Eigennutz, denn mangels Straßenkarten wusste sie nicht genau, wo die angegebene Adresse von Prof. Dr. Ember zu finden sei. Jenny wusste nur, dass es unweit vom neugegründeten Museum für Archäologie und Anthropologie sein sollte, an dessen Aufbau die Koryphäe kräftig mithalf.
Seitlich der Universität in Richtung Tennis Court Road erblickte Jenny das Museum. Haargenau, wie man es ihr beschrieb. Ein dunkler verklinkerter Bau, dessen Zugang sich im Turm hinter einem Spitzbogentor befand. Von dort war es nicht weit und Jenny wurde der Weg gut beschrieben.
An einer Straßenecke fand sich dann dieser zweigeschoßige Sandsteinbau, der gewisse gotische Elemente aufwies und daher auch etwas erhabenes ausstrahlte. Das Haus war etwas zurückversetzt und der Vorhof war mit Platanen bestanden. Auf der Auffahrt zum Eingangsportal stand eine kleine, schwarze und sehr sportlich wirkende Kutsche.
Jenny parkte neben dieser und sagte zu Avery: „Du kannst Dir nun etwas die Beine vertreten. Schau Dich ruhig in der Stadt um. Da gibt es viel zu sehen. Hier hast Du ein bisschen Taschengeld, falls Du Dir was Schönes kaufen möchtest.“
Sie gab ihrer Nichte ein paar Pfund und Avery strahlte voller Vorfreude auf den Bummel durch die Stadt und deren mittelalterlichen Gassen, die mit kleinen Geschäften aber auch schäbig wirkenden Pubs nur so überhäuft zu sein schien.
„Au ja... bis später Tante Jenny!“, frohlockte sie und gab Jenny einen Kuss auf die Wange, bevor sie vom Sitz hüpfte und loslief.
„Avery!“, rief ihr Jenny nach,“Sei aber spätestens um 15 Uhr wieder hier, ja?!“
„Okaaaaaay“, rief Avery Jenny zu und war im selben Augenblick um die Häuserecke verschwunden.
Jenny sammelte ihre Gedanken, rief sich nochmal ins Gedächtnis, was sie bislang wusste, was noch nicht und was sie durch das gelesene Buch an bruchstückhaftem Halbwissen hatte. Dann stieg sie die Stufen der ausladenen Treppe empor und zog an einer Kette, die eine Glocke erklingen ließ.
„Sie wünschen?“, sagte ein etwas untersetzter Mann, als sich die Türe öffnete. Seine Livree ließ ihn unschwer als Butler des Hauses erkennen.
„Jenny Holmes. Guten Tag. Ich bin aus London gekommen um mir einen Rat von Prof. Dr. Ember zu holen in einer sehr wichtigen Angelegenheit.“, sagte Jenny äußerst freundlich.
Der Butler zog eine Augenbraue nach oben und musterte die Meisterdetektivin von oben nach unten.
„Haben Sie einen Termin?“, fragte er sie sodann.
„Äh.. nein... die Sache ist dringend und bedarf keines Aufschubs. Ich muss Prof. Dr. Ember sprechen, hören Sie?!“, sagte Jenny und wunderte sich selbst über den leicht flehenden Tonfall in ihrer Stimme.
„Warten Sie bitte hier. Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.“, sagte der Butler blasiert, schloss die Türe und ließ Jenny einfach so stehen.
Die Minuten vergingen und Jenny Holmes wurde langsam ungeduldig. Sie fragte sich, ob es aufdringlich wirken würde, wenn sie erneut klingelte. Oder sollte sie besser an die Tür pochen? Würde das jemand hören? Vermutlich nicht. Das Haus schien zu groß und die Tür zu massiv, als dass sie mit ihren zarten Händen genug Lärm machen hätte können. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben.
Dann ging die Tür wieder auf und der Butler stand mit seinem bewegungslosen Gesicht, aus dem keinerlei Emotion zu sprechen schien, vor Jenny und sagte: „Prof. Dr. Ember ist nun gewillt, Sie zu empfangen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen...“
Mit rollenden Augen betrat Jenny das Haus und folgte dem Butler, der sie durch die mit allerlei Artefakten und Kunstgegenständen aus Polynesien und Indien, aber auch aus der normannischen Zeit Englands, vollgestopften Flure zu einem hell erleuchteten Büro führte. Die Helligkeit des Raums erklärte sich durch die großen Glasflächen des Wintergartens, den sich Prof. Dr. Rem Ember als Arbeitsraum herrichten ließ.
„Prof. Dr. Ember. Hier ist Mrs... äh... Verzeihung... wie war der Name?“, sagte der Butler und blickte die Meisterdetektivin mit einem abschätzigen Blick an.
„Jenny Holmes!“, sagte sie zähneknirschend und nachdrücklicher als sie eigentlich wollte, doch da war der bissige Tonfall schon aus ihrem Mund geklungen.
„Ah ja, richtig. Jenny Holmes!“, erwiderte der Butler und wies mit der Hand in Richtung des großen Schreibtisches, vor dem zwei dunkelbraune Ledersessel standen.
Jenny verkniff sich ein Danke, was sie sonst ihrer guten Kinderstube wegen sagen würde. Der Kerl führte sie doch vor! Aber sie schluckte ihren Groll herunter und ging in die ihr angewiesene Richtung. Plötzlich kam um einen der Sessel herum eine recht kleine, dafür sehr adrett aussehende Frau daher. Ihre brünetten Haare waren zu einem langen Zopf geflochten und ihre interessant wirkenden und sehr anziehenden grünen Augen waren hinter einer Brille mit einem ganz schmalen Gestell aus etwas ähnlichem wie Bernstein verborgen. Mit einem gewinnenden Lächeln kam sie auf Jenny zu und reichte ihr die Hand.
„Sie müssen die Detektivin aus London sein über die die ganze Welt spricht. Seien Sie willkommen. Ich bin Rem. Den anderen Quatsch lassen wir, ja?“, sagte Prof. Dr. Rem Ember mit einer zu ihrer Erscheinung passenden süß-sympathischen Stimme.
„Freut mich Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, Prof. ...äh... Rem. Ich bin Jenny.“, erwiderte die Meisterdetektivin die Begrüßung und war sofort von dem Charme der kleinen Frau gefangen. Diese bot nun Jenny an in einem der Sessel Platz zu nehmen und bestellte ohne weitere Nachfragen bei dem Butler Tee für Beide.
***
Avery sah sich in der Stadt um und kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie sog diese Eindrücke in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Sie bestaunte die Seufzerbrücke mit ihren steinernen Fensterbögen, die über den Fluss Cam geht und verlor sich in den teils bunten Gassen der Altstadt, wo sich Fachwerk und Steingotik abwechselten. Sie stöberte durch die Geschäfte und genoss dabei die Einblicke, aber auch die Gerüche, die ihr beim Teegeschäft in die Nase stiegen und die so ganz anders waren, als das, was Jenny allmorgendlich aufkochte. Sie betrachtete aber auch voller Argwohn, wie betrunkene Studenten schon zur Mittagszeit aus den Pubs geworfen wurden. Ebenso ärgerte sie sich über manch Unrat, der auf der Straße lag und den sie so gar nicht von einer elitären Stadt erwartet hätte. Aber auch solche Überraschungen sind es, die diese Reise für sie so abenteuerlich machte. Als sie aus den engen Gassen der Altstadt heraus kam und in Richtung Hills Road spazierte, entdeckte sie den botanischen Garten der Universität. Zunächst wusste sie nicht, ob man ihn betreten durfte, aber sie scheute sich auch nicht eine ältere Passantin zu fragen, die ihr freundlich die Auskunft gab, dass ein Besuch des Gartens ein Muss sei, wenn man schon mal hier in Cambridge ist. Avery bedankte sich freundlich und betrat diese Gartenwunderwelt. Auf den Freiflächen, die durch Teiche unterbrochen waren und in den Glashäusern fanden sich allerei Pflanzen aus der ganzen Welt wieder. Die Botaniker versuchten diese hier im ostenglischen Klima zu kultivieren oder eben etwas mit den Glashäusern nachzuhelfen. Was Avery hier alles an unterschiedlichen Blättern und Blüten sah, raubte ihr den Atem. Sie hätte Stunden hier zubringen können. Die Eindrücke überwältigten sie fast und plötzlich merkte sie, wie ihr langsam die Füße weh taten. So viel ist sie doch gar nicht gelaufen, oder doch? Hatte sie die Zeit so vergessen, dass sie es gar nicht merkte? Sie ließ sich auf einer Bank nieder, die am Rande eines Teichs stand, in dem blühende Wasserlilien waren über denen Libellen ihre typische 8-förmige Flugbahn zogen und blickte den Wasserläufern zu, die über die Oberfläche flitzten.
***
Jenny blickte sich in dem großen Raum, der im Gegensatz zu den düsteren Fluren sonnendurchflutet war, um. Zwischen großen Grünpflanzen standen Statuen aus Holz und an den Wänden waren allerei Gemälde zu sehen, auf denen die exotischsten Ansichten waren. An der Zimmerwand zur Tür befand sich ein riesiges Bücherregal, das beinahe die gesamte Wand einnahm und das vollgestopft mit altertümlich aussehenden Folianten war, zwischen denen lose Blätter oder Hefte herausstanden. An der daran anschließenden Wand war ein großer offener Kamin, der von einer schlichten Steinumfassung gerahmt war und am Abzug prangte ein hölzernes Schild und ein Speer. Jenny vermutete, dass das wohl aus Afrika stammte, war sich aber nicht sicher. Könnte auch aus Ozeanien sein, schließlich ist das das Fachgebiet von Prof. Dr. Ember. Jennys himmelblaue Augen schweiften weiter über die großen Glasflächen, die die anderen beiden Wände des Raumes darstellten und den dahinter liegenden Garten, in dem Rhododendren im Sonnenglast um die Wette blühten. Der Butler kam mit dem bestellten Tee, den er mitsamt Service auf einem Teewagen vor sich herschob, wieder in den Raum und stellte vor Jenny und Prof. Dr. Ember je eine Tasse samt Untertasse und goß aus einer Keramikkanne etwas von dem herrlich duftenden Gebräu ein.
„Danke, Gordon.“, sagte Prof. Dr. Ember, „Sie dürfen gehen. Wenn Sie gebraucht werden, klingle ich.“
„Sehr wohl.“, sagte Gordon, der Butler, verneigte sich und verließ ohne weiteres Wort den Raum.
„Nun...“, begann Prof. Dr. Rem Ember das Gespräch mit der Meisterdetektivin, „...was treibt Sie zu mir? Bestimmt nicht der Tee, oder?“
„Nein, der nicht. Allerdings schmeckt der so köstlich, dass er alleine die Reise wert gewesen wäre.“, schmunzelte Jenny, bevor sie dann ernster wurde.
„Warum ich hier bin.... ich ermittle in einem Fall, der mich an gewisse Objekte wohl aus Ostindien brachte, die ich aber nicht deuten kann. Ich las auch in einem Buch, doch finden konnte ich nichts darüber. Wir erstanden einmal im Hafen von London eine Lampe....“
Jenny erzählte Prof. Dr. Ember die Geschichte, wie sie die indische Lampe kauften und sich Mrs. Watson im späteren Verlauf unwohl und beobachtet fühlte und wie nun ihre Nichte Avery plötzlich auch wirre Gedanken hatte und Jenny die Vermutung hegte, dass das auch mit der Lampe zu tun hätte.
„Nirgends wird aber so eine Lampe erwähnt.“, schloss Jenny Holmes ihre Erzählung ab.
„Hmm, das würde mich nicht wundern.“, sagte Prof. Dr. Ember dann, „Solche Lampen sind nicht gerade typisch für Indien. Es ist zwar ein großes Land in dem es viele unterschiedliche Bräuche und natürlich kulturelle Ausprägungen gibt, aber so ganz mag da etwas nicht passen. Sie sagten, die Lampe sei aus Lapislazuli? Den findet man meist im Westen, Richtung Hindukusch, aber bestimmt nicht in Ostindien. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass man den Lapislazuli so weit transportierte um eine schnöde Lampe daraus zu machen. Dazu wäre das zu teuer. Es sei denn, es käme einer rituellen Bedeutung in einem der Tempel zugute. Es gibt so viele Kulte in Indien... ach.. man könnte ganze Bibliotheken mit Studien darüber füllen.“, winkte die kleine Frau ab.
„Haben Sie keine Idee, wie ich an Informationen darüber gelangen könnte?“, hakte Jenny nach.
„Doch!“, lachte Prof. Dr. Ember los, „Sie können mich fragen. Ich die Expertin hier oder haben Sie das vergessen? Was sie mir da erzählen, erinnert mich an den fast unbekannten Kola-Kult, den es vereinzelt in Ostindien geben soll. Ein furchtbarer Kult, vor dem sich die meisten Menschen fürchten. Einige Forscher berichteten von Menschenopfern in Tempeln, die der Göttin Kali geweiht sein sollten, aber das ist widersprüchlich, weil Kali und Kola zwei paar Stiefel sind. Als sie das dunkle Öl erwähnten, fiel mir aber dieser Kult wieder ein. Es gab wohl Tempel, die hoch gebaut waren und ein bisschen an die Pyramiden der Mayas in Mittelamerika erinnerten. Der Kola-Kult soll ausgewählte Opfer zu einem Altar auf der obersten Ebene des Tempels geführt haben, wo sie über einer Schale mit Kerzen meditiert haben sollen. Kurze Zeit darauf begannen sie zu zittern und zu schreien und liefen zu einer fensterartigen Öffnung - die einzige, die noch offen war, denn alle anderen Zugänge wurden verschlossen - und von Panik ergriffen aus dieser in den sicheren Tod gesprungen sein sollen. Unter der Öffnung befanden sich am Boden Metallspitzen, die die Opfer aufspießten und manche von ihnen rangen Stunden mit dem Tod.“
„Das klingt ja scheußlich!“, sagte Jenny schockiert und verzog dabei das Gesicht, als ob sie in etwas furchtbar schmeckendes gebissen hätte.
„Ja, doch sind in den zahlreichen Kulten solche Opferrituale nicht unüblich. Was aber das Besondere an dem Kola-Kult sein sollte, war das Kola-Öl. Bis heute ist die Existenz dieses Öls fraglich und keiner weiß, aus was es wirklich gewonnen wird. Man weiß nur, dass die Kola-Jünger dafür Kriege geführt hätten. Das Öl wäre in die christliche Mythologie übertragen so etwas wie das Blut Christi. Etwas sehr heiliges also.“, dozierte Prof. Dr. Ember weiter.
„Verstehe.“, sagte Jenny nickend und nahm einen Schluck Tee. „Und Sie denken, das Zeugs in meiner Lampe ist Kola-Öl?“
„Durchaus. Nach allem, was Sie mir geschildert haben, würde ich das für möglich halten. Wenn das Öl verdampft, zieht es direkt durch die Nase ins Gehirn, wo es den Hippocamus besonders stark reizt und vermutlich das Cerebellum schwächt. Das dürfte wohl die starken Halluzinationen und die Stimmen erklären. Glaube ich, aber ich bin keine Medizinerin und vielleicht werden wir diese Annahme auch erst in einem Jahrhundert belegen können.“, grinste die charmante Professorin in einer unglaublich liebenswürdigen Weise und ein schelmisches Blitzen ging durch ihre grünen Augen, mit denen sie eben über den Rand der Brille hinweg Jenny Holmes ansah.
„Wenn aber das Kola-Öl so besonders und selten ist, dann ist es doch auch teuer, oder?“, fragte Jenny nach.
„Absolut. Vermutlich ließe sich ein Tropfen Öl sogar mit einem Kilo Gold aufwiegen. Es ist so selten, dass es eigentlich gar keinen Markt dafür gibt. Und wie der ganze Kola-Kult wohl auch schon lange in Vergessenheit geraten.“, sagte Prof. Dr. Ember schulterzuckend.
„Warum befindet sich dann diese seltsame Öl in Watsons Lampe? Wenn ich mich recht entsinne, wurde sie ihr damals von diesem Kerl am Kontor regelrecht aufgedrängt. Langsam glaube ich.... dass.... ach, nichts. Prof. Dr. Ember, .... äh ... Rem, Sie haben mir sehr geholfen. Vielen Dank für das Gespräch. Ich sollte nun wieder nach London. Wenn Sie mal zufällig dort sind, würde ich mich freuen, Sie wiederzusehen.“, sagte die Meisterdetektivin, stand auf und gab der brünetten Frau die Hand zum Abschied.
„Gordon!“, rief diese noch, während Jenny bereits Richtung Türe lief, „Begleiten Sie Mrs. Holmes bitte hinaus!“
„Sehr wohl.“, sagte der beleibte Butler, der plötzlich in der Tür stand und Jenny fragte sich unwillkürlich, ob der Kerl die ganze Zeit hinter der Tür stand und lauschte.
***
Avery genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, während sie die Idylle des botanischen Gartens in sich aufsaugte. So einen bunten und friedlichen Ort hatte sie bisher noch nirgends gesehen und wenn sie könnte, würde sie gerne hier bleiben. Doch unvermittelt raschelte etwas hinter hier und bevor sie sich umdrehen und schauen konnte, was da war, packte sie etwas von hinten und hob sie in die Höhe. Erschrocken schrie die junge Amerikanerin auf und wusste nicht, wie ihr geschah. Sie wurde im Kreis gedreht und ihr Herz pochte wie wild. Kaum, dass sie Boden unter ihren Füßen spürte, stemmte sie sich fest gegen den Druck in ihrem Rücken und beugte sich kraftvoll und einen lauten Schrei ausstoßend nach vorne. Die Last, die sie von hinten packte, schien über sie hinüber zu gehen und mit lautem Platschen in dem Teich zu landen.
„Holla!“, prustete ein junger Mann, den Avery wohl in das Wasser zwischen den Wasserlilien beförderte, los und nahm dabei seine blaue Kappe, die ihm ins Gesicht rutschte, in die Hände, um sie auszuwringen. „So ein ungestümes Mädchen aber auch.“
„Was sollte das denn? Wie kommen Sie dazu....“, ereiferte sich Avery mit zorngerötetem Gesicht.
„Ach, war doch alles nur ein Spaß!“, lachte der junge rothaarige Mann, der wohl einer der vielen Studenten in Cambridge war und die für ihre seltsamen Späße bekannt waren.
„Ein Scheiß-Spaß war das!“, schrie Avery den Mann an und plötzlich kamen ihr die Tränen. Weinend lief sie davon, weg von diesem Kerl, weg von diesem Schreck, der ihr tief in die Glieder fuhr.
Von weit her hörte sie noch ein „Entschuldigung...“, aber das sollte nicht mehr in Averys Bewusstsein dringen. Sie lief schnurstracks zurück zum Haus von Prof. Dr. Rem Ember, wo sie wieder in den Schutz ihrer Tante, in dem sie sich geborgen fühlte, wollte.
***
Jenny Holmes wurde von Gordon, dem Butler, zur Tür hinaus begleitet und dort freundlicher verabschiedet, als sie es eigentlich von ihm vermutet hätte. Vielleicht war er aber auch einfach nur froh, sie los zu sein? Möglich ist ja alles. Als Jenny die Stufen des Treppenaufgangs hinunter in Richtung ihres Automobils ging, kam Avery weinend über die Straße gelaufen.
„Tante Jenny! Tante Jenny!“, rief sie und rannte direkt auf Jenny zu, der sie sich in die Arme warf und jetzt erst richtig schluchzte.
Die Nähe zu ihrer Tante gab Avery sofort wieder ein Gefühl der Sicherheit und beruhigte sie schon wieder etwas.
„Was ist denn los? Was ist passiert?“, fragte Jenny besorgt und streichelte dabei den Rücken ihrer Nichte.
„Ach, so ein Kerl... ich saß auf der Bank... der packte mich von hinten... ich erschrak und hatte Angst, er würde mir was tun.... ich hatte solche Angst...“, schluchzte sie in Jennys Brust hinein.
„Oh, das ... ach.“, mehr fiel auch der Meisterdetektivin nicht ein und sie hielt es für besser, ihre Nichte einfach im Arm zu halten und abzuwarten, bis sie ihren Schreck ausgeweint hatte.
Tatsächlich beruhigte sich Avery recht schnell wieder und man setzte sich auf die lederne Bank des Automobils.
„Hast Du was erfahren können?“, fragte die junge Amerikanerin nun wieder gefestigt.
„Ja und das werde ich Dir auf der Fahrt nach Hause erzählen. Spannende Erkenntnisse waren das. Nur wie die mit Allem zusammenhängen ist mir noch nicht klar. Nicht ganz...“, sagte Jenny und ließ den Motor des Autos aufheulen.
Während der Fahrt nach Hause erzählte Jenny ihrer Nichte, was sie bei Prof. Dr. Rem Ember erfahren hatte und schwärmte dabei von dieser außergewöhnlichen Person, die sie tief beeindruckte und über die Maßen sympathisch fand. Avery hörte fasziniert den Erzählungen von Kulten und Tempeln zu und fing in Gedanken an, das eine oder andere Abenteuer in einem Dschungel zu erleben, wie es einem Buch von Rudyard Kipling entsprungen sein könnte. In diese Träumerei hinein gesellte sich wieder die Müdigkeit, die die junge Frau nach all den Erlebnissen übermannte und sie schlummerte auf dem Beifahrersitz ein. Jenny ließ sie schlafen und fischelte aus dem Picknickkorb, der noch immer im Fußraum stand, das letzte Brötchen mit Orangenmarmelade heraus, das sie aß, während sie darauf wartete, dass eine Schafherde die Landstraße zwischen Cambridge und London freigab.
London
Nach einer sehr erholsamen Nacht war Jenny Holmes schon früh auf den Beinen und bereitete für Avery und sich ein Frühstück vor. Eigentlich war sie nur deshalb so früh auf den Beinen, weil sie unbedingt zu Scotland Yard wollte um Inspektor Guby ihre neuen Erkenntnisse mitzuteilen. Sonst hätte sie wahrscheinlich nach der langen Fahrt von Cambridge nach Hause bis zum Mittag geschlafen.
Avery kroch mittlerweile auch aus den Federn und kam gähnend in die Küche, wo sie ihre Tante noch ganz verschlafen begrüßte. Jenny hatte sich langsam mit dem Gedanken angefreundet, dass man morgens auch was anderes als Tee trinken könnte und brühte für ihre Nichte ein kleines Kännchen Kaffee auf. Als sie ihr dieses reichte, strahlten die braunen Augen Averys kurz auf und sie goss sich sofort eine Tasse davon ein.
„Avery, ich gehe gleich zu Scotland Yard. Bleibst Du hier und wenn möglich... könntest Du die Küche etwas sauber machen?“, fragte Jenny Holmes, weniger aus Gründen, sich selbst vor der Arbeit zu drücken, sondern mehr um ihre Nichte mit etwas zu beschäftigen, damit sie nicht wieder vor Langeweile das Haus auf den Kopf stellt.
„Okaaaaay...“, sagte Avery augenrollend und nicht wirklich erfreut über diese Strafarbeit, als das sie es ansah.
„Sehr gut. Bin ja bald zurück.“, sagte Jenny, gab ihrer Nichte einen Kuss auf die Wange und verließ schnurstracks die Wohnung.
Bei Scotland Yard angekommen, begrüßte sie der Portier schon wie eine alte Kollegin, auch wenn Jenny nie bei der englischen Polizei angestellt war. Rob Kartäuser, ein älterer Mann dessen Vater aus Deutschland über den Ärmelkanal kam und sich bei der englischen Polizei einen Namen machte, verdiente sich als Portier ein Zubrot zu seiner Pension und war Jenny Holmes gegenüber immer äußerst hilfsbereit. Täglich saß er hinter den Eisenstangen, die den Portier vor Übergriffen böser Buben schützen sollten und bot dabei ein eher ironisches Bild, in dem die harmlosen Portiers hinter Gittern weggesperrt zu sein schienen. Wobei es immer auf den Standpunkt ankam, von welcher Seite man die Gitter betrachtete..., dachte sich Jenny selbst und grüßte freundlich zurück.
„Na, Rob, wie geht‘s? Hast Du die Fussballergebnisse schon gelesen?“
„Mir geht es immer prächtig. Solange ich noch hier sitzen und schönen Damen wie Dir Auskunft erteilen kann, bin ich bei bester Gesundheit. Und ja...“, er klopfte mit der Hand auf eine zusammengelegte Zeitung, „...ich habe die Ergebnisse gelesen. Ganz in meinem Sinne, meine Liebe.“
„Na, dann passt es ja.“, lachte Jenny fröhlich auf, bevor sie wieder ernster wurde, „Hat Inspektor Guby für mich ein bisschen Zeit? Ich müsste mit ihm sprechen.“
„Das wird wohl leider nichts. Guby ist ausgerückt. Leichenfund unten an der Themse. Keine Ahnung, wie lange das dauern wird.“, gab Rob bereitwillig Auskunft.
„Ah, okay.... dann eben ein andermal.“, sagte Jenny achselzuckend, verabschiedete sich und ging wieder. Ein Spaziergang an der Themse würde nun gut tun..., dachte sie verschmitzt lächelnd und ging direkt zum Themseufer.
Sie musste gar nicht weit an dem großen Fluss, der London durchschnitt, laufen, bis sie an den Auflauf von Polizei und Sanitätern kam. Inmitten des Gewusels erblickte sie sofort Inspektor Guby, der in seinem abgetragenen Mantel da stand, der Leiche, die eben mit einem kleinen Kran aus dem Wasser gezogen wurde, zusah und dabei genüsslich in einen Schokomuffin biss.
„Inspektor Guby! Inspektor Guby!“, rief Jenny Holmes, winkte und hüpfte ein bisschen auf und ab, damit sie Guby auch sah.
Als er die blonde Detektivin erblickte, gab er ihr mit einer knappen Geste zu verstehen, dass sie zu ihm kommen dürfe. Eine Einladung, die sich Jenny nicht zweimal sagen ließ.
„So, was treibt Sie zu mir?“, fragte Guby gerade heraus, kaum dass Jenny neben ihm stand.
„Ich war gestern in Cambridge bei einer Prof. Dr. Ember. Expertin für Ostindien und Ozeanien. Ich habe dort ganz neue Erkenntnisse gewonnen, die ich mit Ihnen besprechen wollte. Wir, also meine damalige Freundin und ich, kamen mal in den Besitz einer Lampe. Der habe ich ewig keine Beachtung geschenkt, aber wie nun Anna wieder auftauchte...., jedenfalls hat die Lampe was mit Anna zu tun. Wir sind sogar damals, wie ich mich heute Nacht erinnerte, deswegen mal in den Docks zu einer Wahrsagerin, die...“, rasselte Jenny ihre Aussagen herunter.
Doch Guby unterbrach sie.
„Gehen Sie mal bitte zur Seite. Legt die Leiche hier ab.“, kommandierte Guby einerseits Jenny und andererseits die Leute, die den Kran bedienten und zeigte dabei auf den Boden vor sich, wo die Leiche abgelegt werden sollte.
Die war noch in einer Art Sack drin, der an dem Kran hing. Erst als die Leiche auf dem Boden ankam und sich die Seile entspannten, faltete sich der Stoff zu einer Plane auf und man konnte die Leiche sehen. Jenny stieß einen Schrei aus.
„Ja, was denn?“, fragte Guby und schaute Jenny Holmes verwundert an.
„Das... das....“, sie zeigte mit dem Finger auf die tote Frau, „...ist sie. Das ist die Wahrsagerin, bei der wir damals waren. Wegen der Lampe und Anna.“
„Aha.“, sagte Guby nur und beugte sich zu der Leiche hinunter.
Die blonden Locken von einst waren zu hellgrauen, fast weißen Strähnen verkommen und die Wangen waren noch eingefallener, als sie es damals schon waren. Die bunte Kleidung, die zum Teil indischen Sarongs nachempfunden war, war aber wie eh und je.
Als sich bei Jenny der erste Schreck gelegt hatte und ihr Verstand wieder wie der einer Meisterdetektivin funktionierte, fragte sie sich, ob es nicht einen Zusammenhang zwischen ihrer erneuten Ermittlung in dem Fall und dem Auffinden dieser Frau gab.
„Schon seltsam, Inspektor Guby...“, murmelte sie.
„Was meinen Sie?“, fragte Guby.
„Na, dass genau diese Wahrsagerin heute in der Themse gefunden wird, als ich mich an sie erinnerte und bei der wir damals wegen Anna waren. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das zusammenhängt.“, sagte Jenny.
„Iwo... wird scho net.“, winkte Guby ab und Jenny kam der Inspektor immer mehr vor, als ob er zwei Gesichter hätte. Einmal das des regeltreuen Beamten und das des losen unbedarften Burschen, welches er eben zeigte. „Kommen Sie heute Nachmittag in mein Büro, Mrs. Holmes. Dann wissen wir mehr und dann werde ich mir auch ihre Aussagen anhören.“
„Na gut, Inspektor Guby. Ich werde um Vier da sein. Recht so?“, sagte Jenny mit etwas gerümpfter Nase.
„Passt scho.“, sagte Guby, kratzte sich am Kopf und rief seinen Männern, die mittlerweile Leiche und Apparate in der Lieferkutsche verstaut hatten, zu: „Geh ma!“
Jenny schlenderte noch eine Weile am Themseufer entlang und hing ihren Gedanken nach. Sie hörte das leise Rascheln der Blätter in den Bäumen, das der sanfte Wind verursachte und schaute abwechslend vom braunen Wasser des Flusses hinauf zum blauen Himmel an dem weiße Wolken entlang zogen. Sie versuchte sich krampfhaft an jedes Detail von damals zu erinnern und versuchte Zusammenhänge zu erkennen, aber egal wie sehr sie sich auch anstrengte, es wollte nicht gelingen. Zu diffus waren die Fetzen der Erinnerung, als dass sich ein klares Bild ergab. Sie musste einfach mehr in Erfahrung bringen. Das war ihr klar.
Die blonde Meisterdetektivin ging wieder nach Hause in die Baker Street, wo sie Avery in einer sauber geputzten Küche erwartete.
„Hallo Tante! Gibt‘s was Neues?“, wollte die junge Amerikanerin wissen.
„Wie man es nimmt. Man fand heute in der Themse die Leiche der Wahrsagerin, bei der wir damals waren und ich könnte wetten, dass das zusammenhängt. Nachher gehe ich zu Scotland Yard und dann sehen wir weiter. Aber jetzt habe ich erst mal Hunger.“, sagte Jenny.
Sie kochte für sich und Avery ein leckeres Mittagessen und nach einer kurzen Verdauungspause, kramte sie in den Küchenschränken herum, bis sie ein sauberes Glas mit Schraubverschluss fand. Zur Sicherheit kochte sie dieses Glas noch eine halbe Stunde in Wasser ab, bevor sie es an der Luft trocknen ließ. Dann ging sie in Mrs. Watsons Zimmer und nahm vorsichtig die Indische Lampe von der Kommode. Sie füllte etwas von dem Kola-Öl in das Glas und schraubte den Deckel fest auf. Dann verstaute sie das Glas in ihrer Handtasche, stellte die Lampe zurück auf Watsons Kommode und verschloss die Tür wieder. Ein schneller Blick auf die Uhr verriet Jenny, dass es schon nach drei war und sie sich sputen musste, damit sie rechtzeitig bei Guby im Büro bei Scotland Yard wäre.
„Avery, ich muss los. Ich bin dann gegen Abend wieder da. Pass auf Dich auf.“, sagte Jenny zu ihrer Nichte, gab ihr einen Kuss auf die Wange und verließ die Wohnung.
An Rob Kartäuser, der wie gewohnt in seinem vergitterten Häuschen am Eingang des großen Gebäudes saß, ging sie nur winkend vorüber und gleich in Richtung der großen Treppe, die hinauf zu den vielen Büros führte, von denen eines das des Inspektors Guby war. Sie wollte schon an die Tür klopfen, da wurde diese aufgerissen und Guby stand vor ihr.
„Ah, Mrs. Holmes!“, sagte er etwas verdutzt, „Sie sind schon da? Na gut, dann folgen Sie mir. Wir sollen zu Dr. Baker Sander in die Pathologie kommen.“
Ohne weitere Worte preschte Guby an Jenny Holmes vorbei den Flur hinunter in Richtung des knatternden Paternosters, der die Beiden in den Keller des Polizeigebäudes bringen sollte. Wieder bot Guby der Dame keine Hilfe beim Ausstieg an, sondern eilte voran durch den dunklen, röhrenartigen und schwach erleuchteten Gang. Jenny versuchte Schritt zu halten, doch Guby war fix. Das musste sie ihm lassen. An der großen Doppelschwingtür angekommen, wurde er wieder zu dem galanten Inspektor, der der Dame plötzlich die Tür aufhalten und sie freundlich zum Eintritt einladen konnte.
In dem großen Gewölbe, das die Pathologie beherbergte, saß an einem Seziertisch Dr. John Baker Sander und hatte eine silberne Haube vor sich.
„Ah, Mrs. Holmes! Welch Freude Sie zu sehen. Und Guby.“, lachte ihnen Dr. Baker Sander entgegen, als sie den Raum betraten. „Kommen Sie nur herein. Immer hereinspaziert.“
„Tag, Doc.“, sagte Guby knapp.
Jenny sagte nichts und schaute nur fragend auf diese Haube, die Dr. Baker Sander anhob.
„Ich hoffe, Sie verzeihen mir, aber ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen und mir hängt der Magen durch.“, sagte er und der Duft eines frischen Steaks nebst Kartoffelsalat stieg Jenny und Guby in die Nase.
Dr. Baker Sander machte sich über das Steak auf dem Seziertisch her und benutzte natürlich auch kein Messer, sondern eines seiner Skalpelle. Wie es sich für einen Pathologen gehörte, schnitt er auch nicht einfach ein Stück des Steaks ab. Nein, er führte einen sauberen Y-Schnitt an dessen Oberfläche durch, klappte sodann zwei Fleischlappen zur Seite und konnte mit der Gabel direkt in das blutige Innere des Steaks stechen. Wahrlich englisch war das Stück Fleisch, denn beim kleinsten Pieks kamen Schwälle von Blut heraus. Aus dem Inneren beförderte er abwechseld ein Stück blutigen Fleisches und etwas Kartoffelsalat in den Mund. Der seltsame Humor von Pathologen.
„Nun, was haben wir denn?“, fragte er kauend und zeigte dabei mit dem Skalpell auffordernd auf Guby.
„Also....“, begann Inspektor Guby und klopfte mit seinem Stift auf das hölzerne Klemmbrett, das er in Händen hatte und auf dem mehrere Blatt Papier klemmten. „Wir konnten die Tote identifizieren. Sie selbst nannte sich ‚Die große Nussini‘, aber so einen Blödsinn kann sie ihrer Katze erzählen. In Wirklichkeit hieß die Margit Livercheese und stammte ursprünglich aus Süddeutschland. Viel ist über ihre Vergangenheit nicht bekannt. Nur, dass sie schon als Kind nach England kam, ein Lyzeum besuchte und sich dann in einer Seitengasse der Docks als Wahrsagerin, Medium und Geistheilerin niederließ. Sie behandelte Personen und handelte mit Dingen wie Talismanen und Fetischen und sowas. Naja, man muss ja nur so dumm sein und dran glauben, was?“, erzählte Guby. „Seit einiger Zeit ist der Laden der ‚Großen Nussini‘ geschlossen. Die Anwohner sahen niemanden, der sich darum kümmerte und die Bank des Vermieters, der unauffindbar ist, beteuerte, dass die Miete immer pünktlich bezahlt wurde. Angehörige und Freunde schien sie nicht gehabt zu haben, jedenfalls konnten wir keine ausfindig machen. Sie lebte wohl mit ihrer Katze alleine.“
„Ist das alles?“, fragte Jenny.
„Joa, von mir aus schon.“, nickte Guby ihr zu und blickte dann auf Dr. Baker Sander, der mittlerweile das blutige Innere des Steaks verspeist hatte und nun die letzten Reste der verkohlten Außenseite aß.
„Oh... ich bin dran.“, sagte er kauend und von Guby zu Jenny schauend. „Na, dann wollen wir mal.“
Dr. Baker Sander wischte sich im Aufstehen den Mund mit einer Serviette ab, die er dann auf den Seziertisch warf und nach hinten zu den Kühlschränken lief. Dort holte er eine Bahre raus, auf der der Leichnam der Wahrsagerin lag und deckte sie soweit auf, dass nur der Bereich vom Kopf bis zu den Schlüsselbeinen zu sehen war.
„Schauen Sie bitte hier!“, sagte Dr. Baker Sander in einem dozierenden Tonfall. „Hier sieht man deutliche Eindrücke vermutlich von Daumen. Der Größe nach männliche Daumen. Die Todesursache ist auf gar keinen Fall Ertrinken oder ein Herzinfarkt. Sie wurde eindeutig erwürgt. Sehen Sie, diese Punkte liegen genau an der Aufhängung des Kehlkopfes. Es bedarf nicht einmal viel Kraft um diese und anschließend das Zungenbein zu brechen. Danach kann man den Hals problemlos zusammendrücken und das Opfer erstickt.“
„Aha... wie lange dürfte sie schon tot sein?“, fragte Jenny.
„Das ist das merkwürdige. Sie ist schon länger tot.“, grinste Dr. Baker Sander.
„Waaaas?“, fragte Jenny sichtlich erstaunt.
„Ja, sie wurde ähnlich konserviert wie die Leiche der Anna. Sie muss irgendwo in einer kühlen, nicht besonders trockenen Luft gelegen haben. Das zeigt der leichte Schimmelbefall auf der Haut. Am Rücken hingegen zeigten sich Spuren eines Salzes, das ich mit dem, welches ich an Annas Leiche fand, abglich. Identisch.“, frohlockte Dr. Baker Sander beinahe.
„Das heißt...“, murmelte Guby.
„Das heißt, dass Anna und diese Nussini am gleichen Ort waren?“, vollendete Jenny Gubys Gedanken.
„Jawohl... und zwar identisch gelagert. Übrigens fand ich an der Kleidung dieser Livercheese ebenfalls solche Katzenhaare, die unter dem Mikroskop sehr ähnlich wie die Haare an Annas Leiche aussahen. Und auch diese waren mit indischen Gewürzen versehen. Man müsste mir glatt einen Apfel für ein Steak vormachen, wenn das nicht das Gleiche wäre!“, grinste der Pathologe euphorisch.
„Jo, dann schau mer mal, was ma finden. Machs gut.“, sagte Guby wieder in seiner lockeren Art und ging einfach, ohne Dr. Baker Sander oder die Meisterdetektivin eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Der Kerl ist drollig, nicht wahr?“, lachte Dr. Baker Sander.
Jenny hingegen schüttelte nur mit dem Kopf. Dann fiel ihr das Glas ein, dass sie vorhin abfüllte. Sie griff in ihre Tasche, holte das Glas heraus und hielt es hoch.
„Dr. Baker Sander. Das hier ist eine Probe des seltenen Kola-Öls. Das Zeugs schwimmt in meiner Lampe herum und hat mit dem Tod von Anna und dieser Wahrsagerin zu tun. Sie haben hier doch ein Labor? Würden Sie es für mich mal untersuchen? Ich möchte wissen, was das genau ist.“, fragte sie den Pathologen.
Der schaute von ihren blauen Augen zu dem Glas mit der dunkelbraunen Flüssigkeit und wieder zurück.
„Na, geben Sie schon her. Schönen Frauen kann ich keinen Wunsch abschlagen.“, lachte er, nahm das Glas und ließ es in einer Tasche seines weißen Mantels verschwinden. Während er die Leiche von Margit Livercheese zurück in den Kühlschrank schob, sagte er über die Schulter hinweg zu Jenny Holmes: „Kommen Sie morgen mittag nochmal vorbei. Bis dahin dürfte ich wissen, was das für ein Teufelszeug ist, ja?“
„Vielen Dank, Dr. Baker Sander“, sagte Jenny freudestrahlend. „Bis dahin. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“, erwiderte der Pathologe und schaute Jenny nach, wie sie sein Reich verließ.
Zurück in der Baker Street erzählte Jenny Holmes Avery die neuen Details und die junge Amerikanerin lauschte den Ausführungen ihrer Tante mit großer Neugier.
„Irgendwas hat es damit zu tun, aber leider ist der Laden der ‚Großen Nussini‘ geschlossen. Auf dem Nachhauseweg ging ich dran vorbei. Der Vermieter des Ladens wohnt da, ist aber scheinbar verreist und keiner weiß, wie lange. Findest Du es nicht auch seltsam, dass so ein Laden, der wohl kaum richtig brummen wird, seine Miete pünktlich zahlt, wenn die Ladenbesitzerin tot ist?“, sagte Jenny.
„Ja, in der Tat. Weißt Du was, Tante Jenny? Wir sollten uns da mal umsehen!“, meinte Avery.
„Ich weiß nicht.... wir müssten ja regelrecht einbrechen....“, murmelte Jenny Holmes.
„Oh ja, warum nicht? Eine Nacht-und-Nebelaktion. Komm schon, nur so findest Du raus, was da los ist. Da bin ich mir sicher!“, kicherte Avery und schaute dabei ihre Tante mit einem Dackelblick an, dem keine Frau auf der Welt widerstehen kann.
„Also gut. Heute Abend gehen wir zusammen zu den Docks und schauen, wie wir in den Laden kommen. Vielleicht finden wir da was, das uns wirklich weiterhilft? Vor morgen Nachmittag kann ich eh nichts machen.“, sagte Jenny.
„Au jaaaa!“, freute sich Avery.
Endlich startete für sie das große Abenteuer.
***
Dicke Nebelschwaden zogen durch die hereinbrechende Dämmerung, als Jenny Holmes und ihre Nichte Avery an den Docks der englischen Hauptstadt ankamen. Die wenigen Gaslichter, die an einigen Hauswänden hingen, spendeten nur wenig Licht, das ohnehin von dem trüben Nebel, der so typisch für London war, geschluckt wurde. Die Feuchtigkeit schlug sich an den kalten Mauern der Häuser ab und ließ sie wie mit Raureif überzogen wirken. Das Plätschern des Wassers und das von weit her erklingende Geläut einer Boje drangen an die Ohren der Detektivin und ihrer abenteuerhungrigen Nichte.
Am Laden der ‚Großen Nussini‘ angekommen, versuchte Jenny einen Blick durch das große Schaufenster zu werfen, das sich unter dem großen grün-gelben Schild befand, welches das als „Fachgeschäft für Wahrsagerei und Geistheilung“ auswies. Im Schaufenster war allerlei Krimskrams zu sehen. Von Traumfängern und Schrumpfköpfen über Kristallkugeln und Voodoopuppen bis hin zu Tarotkarten und unterschiedlich geformten Kerzen war alles dabei, was man für solchen Budenzauber brauchte. Eigentlich sah der Laden nicht verlassen aus. Jenny konnte keinen Staub erkennen, der sich unweigerlich in der Zeit auf allen ausgelegten Waren hätte ablegen müssen. Ein Indiz, das ihr sofort ins Auge stach. Die grüne Holztüre neben dem Schaufenster war fest verschlossen und der daneben angebrachte Briefkasten war leer.
„Lass uns mal schauen, was wir seitlich oder hinten entdecken können.“, flüsterte Jenny Avery zu, die nur wortlos nickte und ihrer Tante hinterherschlich.
Neben dem großen Gebäude, das wohl mal ein Lager gewesen sein musste, war weder ein Fenster noch eine Tür zu finden. Lediglich eine Metallleiter fand sich, die auf das Dach führte. Bevor Jenny aber dort hinaufstieg, wollte sie erst noch sehen, was man in sicherer Bodennähe finden könnte.
Hinter dem Gebäude war ein großes Tor, das selbstverständlich auch fest verschlossen war. Hier wurden wohl einst die Waren angeliefert, die dann innen gelagert wurden. Über dem Tor waren einige Fenster zu sehen, die dunkel und verlassen schienen. Rechts von dem großen Tor war eine Tür, die den Zugang zu der Wohnung im ersten Stock darstellte. Das Klingelschild wies es deutlich als die Wohnung des Vermieters aus.
Auf der anderen Seite des Gebäudes befanden sich zwei Müllcontainer, die schon ihre beste Zeit hinter sich gehabt hatten. Der Rost fraß das Metall auf, das vom Wasserdunst schwer angegriffen war. Zwischen den beiden Containern allerdings war eine Tür. Als Jenny probeweise die Klinke griff und eigentlich davon ausging, dass auch diese Tür ihnen zuverlässig den Weg versperren würde, erschrak sie leicht, als die Tür sich gegen die Erwartung öffnen ließ.
„Avery!“, zischte Jenny der jungen Amerikanerin zu, „Hier rein, komm schnell!“
Avery nickte nur wortlos und verschwand mutig in der Dunkelheit des Raums hinter der Tür. Jenny blickte sich nochmal um, ob sie auch niemand beobachten würde und verschwand dann ebenso schnell im Inneren des Gebäudes. Geräuschlos schloss sie die Tür hinter sich.
Jenny kramte in ihrer Tasche herum und beförderte aus ihr eine Lampe, die genau genommen nur aus einem metallischen Teller von dem ein Dorn abstand und einem gebogenen Haltegriff bestand. Zwischen Griff und Dorn befand sich eine konkav gewölbte polierte Scheibe, die als Reflektor dienen sollte. Auf den Dorn steckte sie eine Stumpenkerze und entzündete diese mit einem Streichholz. So gering die Leuchtkraft der Kerze zunächst anmutete, so gut warf der Reflektor einen Lichtkegel durch den Raum und sobald sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, lichtete sich der Blick und man konnte erstaunlich viel erkennen.
Der flackernde Schein streifte durch den Raum und beleuchtete die vielen Objekte in den vollgestopften Regalen mit gespenstischem Licht. Avery beschlich eine Angst, als sie in dem schwachen Licht immer wieder Fratzen von Masken und Schrumpfköpfen aufblitzen sah. Dieser Ort war ihr unheimlich und sie krallte sich an den Rockzipfel ihrer Tante, die sie um nichts in der Welt in dieser Dunkelheit verlieren wollen würde.
„Sieht aus wie damals.“, flüsterte Jenny, „Wir waren damals auf der Spur nach Anna schon einmal hier. Diese Nussini sollte uns helfen und angeblich wollte sie Anna gesehen haben. Ich erinnere mich noch gut daran, als sie uns weismachen wollte, sie könne in der Glaskugel lesen und dabei ihre nervige Katze ihr die Tour vermasselte. Schau mal, da an dem großen Tisch saßen wir. Die Glaskugel ist immer noch da und hat immer noch den Sprung darin, den sie seinerzeit schon hatte. “
Bei der Erinnerung musste Jenny lächeln, was Avery aber in der Dunkelheit gar nicht sah.
„Ihr ‚Killerkätzle‘ nannte sie es. Dabei war es nur ein fauler, vollgefressener Kater. Wirklich geholfen hatte sie uns damals aber nicht. Als ich mich an diese Szene erinnerte fiel mir aber wieder der Geruch ein, der hier im Laden herrschte. So würzig. Wenn mich nicht alles täuscht, muss es da hinten.... ja, da.... hinter dem Vorhang in eine Wohnung gehen. Komm!“, sagte Jenny und Avery folgte ihr wie ein Welpe, der bei Fuß ging.
Jenny ging auf diesen schweren dunkelroten Vorhang zu, der beinahe die gesamte Seite des Ladens einnahm. Sie suchte vorsichtig den Durchlass durch den Stoff und schob ganz behutsam ihre Hand hindurch, als sie diesen fand. Langsam öffnete sie den Vorhang und leuchtete in die Stube dahinter.
Hinter dieser Stoffbarriere war die Wohnung der ‚Großen Nussini‘. Eigentlich durfte man das nicht einmal Wohnung nennen. Neben einem wurmstichigen Kleiderschrank stand ein marodes Bett, daneben ein Bollerofen, der auch als Herd diente, ein hölzerner Tisch und zwei klapprige Holzstühle. So hauste also Margit Livercheese, die allen als ‚Große Nussini‘ was vormachen wollte. Über dem Bollerofen befand sich ein schlichtes Holzregal in dem sich bunte irdene Töpfchen befanden. Jenny nahm eines dieser Gefäße, hob den Deckel an und roch hinein.
„Das ist es! Daran kann ich mich erinnern.“, sagte sie und hob Avery den Topf unter die Nase.
„Uhhh... das riecht ja streng.“, sagte die junge Amerikanerin und verzog dabei das Gesicht.
„Naja... starke Gewürze sind nicht Jedermanns Geschmack. Aber das müssten genau die Gewürze sein, die sich an den Katzenhaaren finden. Da könnte ich wetten. Die ‚Große Nussini‘ wird die Gewürze wohl kaum noch brauchen.... also nehme ich sie mit, wenn es dann morgen zu Dr. Baker Sander geht. Er wird mir bestimmt sagen können, ob das diese Gewürze sind.“
Jenny packte die Töpfchen in ihre Tasche und schaute sich weiter in der Behausung der Geistheilerin um. Aber neben bunten Sarongs in dem Kleiderschrank war nichts weiter von Belang zu finden.
Etwas enttäuscht meinte Jenny zu ihrer Nichte: „Schade, ich hatte mir mehr erhofft. Immerhin haben wir die Gewürze und sind dann hoffentlich einen Schritt weiter.“
Schulterzuckend ging sie an Avery vorbei zurück in den Laden. Wieder streifte der Lichtschein ihrer Lampe an den Regalen vorbei und als Jenny meinte im Vorbeigehen diese Indische Lampe entdeckt zu haben, ging plötzlich die Flamme der Kerze aus.
„Tante Jenny?“, fragte Avery lauter und ängstlicher als sie wollte, als sie die plötzliche Finsternis umschloss.
„Ja, keine Sorge. Ich muss nur ... moment... wo sind denn nun die Streichhölzer? Na, find mal was in dem dunklen Loch hier....“, sagte Jenny gelassen, während sie in ihrer Tasche kramte, bis sie endlich das Schächtelchen mit den Zündhölzern fand.
Avery war erleichtert, als die Flamme aufloderte und die wieder entzündete Kerze ein bisschen Licht spendete.
„Och nee... ist es doch nicht.“, sagte Jenny, die die vermeintliche Indische Lampe nun genauer betrachtete und dabei feststellte, dass die zwar eine gewisse Ähnlichkeit hatte, aber weder aus Lapislazuli bestand, noch der Form nach ihrem Exemplar glich.
„Na komm, Avery. Wir gehen erstmal wieder nach Hause. Mal sehen, was ich morgen von Dr. Baker Sander erfahre.“, sagte Jenny, die ihre Nichte am Arm nahm und in die Richtung der Tür führte, durch die sie hereinkamen. Sorgsam löschte Jenny die Lampe mit speichelbenetzten Fingern, verstaute sie in ihrer Tasche, öffnete vorsichtig die Tür und lugte hinaus, ob sie da nicht vielleicht jemand beobachten würde. Doch die Luft war rein und so schob sie zuerst Avery hinaus, dann verließ sie selbst den Raum und schloss die Tür hinter sich ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Dann nahm sie ihre Nichte bei der Hand und die Beiden gingen nach Hause in die Baker Street, wo sie müde ins Bett fielen.
Am nächsten Tag mussten erst einmal wieder die Vorräte aufgestockt werden. Jenny war es schon lange nicht mehr gewöhnt für Zwei zu sorgen und hatte sich in der Menge, die es einzukaufen galt, geirrt. So zogen sie gestärkt von einem leckeren Frühstück, das für Jenny aus Schwarzem Tee und Orangenmarmeladebrötchen und für Avery aus Kaffee und Rührei bestand, los. Den ganzen Vormittag lang bummelten sie durch Londons Geschäftsstraßen und kauften hier und dort was sie für den Vorratsschrank brauchten. Avery las in der Heimat von dem großen Flohmarkt in der Portobello Road und nahm sich vor, einmal über diesen zu stromern und in der Vielzahl der feilgebotenen Waren zu stöbern. Das hatte sie bei all dem abenteuerlichen Trubel ganz vergessen.
„Tante Jenny, wo ist eigentlich die Portobello Road?“, fragte Avery.
„Och, willst ein bissl krämern?“, fragte Jenny verschmitzt lächelnd.
Avery nickte nur und ein auffälliges Blitzen ging durch ihre Augen, was Jenny sofort zum Lächeln brachte. Sie erklärte ihrer Nichte, wie sie dorthin käme. Ohnehin sei sie am Nachmittag bei Scotland Yard und in der Zeit könne Avery sich ruhig einen Bummel gönnen.
Nachdem die Vorräte in Jennys Küche verstaut waren und sich der mittägliche Hunger meldete wurde erst einmal ein leckeres Mahl zubereitet, das Jenny und Avery mit Genuss verspeisten. Derart gestärkt begleitete Jenny ihre Nichte zur legendären Portobello Road, gab ihr ein paar Pfund in die Hand und verabschiedete sich. Avery soll ihren Spaß haben und wird den Weg auch alleine zurück finden. Da war sich Jenny sicher. Sie schaute lächelnd dieser jungen Frau zu, die leicht hüpfend sich im Trubel der Händler und feilschenden Kunden verlor. Sie selbst ging zu Scotland Yard, wo sie eine Verabredung in der Pathologie hatte.
„Ah... die blauesten Augen Londons beehren mich wieder. Welch Freude!“, begrüßte Dr. John Baker Sander die blonde Detektivin in seiner jovialen Art.
„Hallo, Dr. Baker Sander.“, erwiderte Jenny die Begrüßung knapp und fuhr gleich weiter, „Konnten Sie was in Erfahrung bringen? Was hat es mit dem Öl nun auf sich?“
„Nun ja... es hat lange gedauert und es war nicht leicht. So viel kann ich schon verraten.“, sagte Dr. Baker Sander, der mit einer ausladenden Geste Jenny einen Platz an seinem Schreibtisch anbot, der inmitten seines Büros stand. Jenny konnte sich gar nicht erinnern, jemals in Dr. Baker Sanders Büro gewesen zu sein. Sie konnte sich bislang nicht einmal vorstellen, wie dieser quirlige Typ überhaupt an einem Schreibtisch über Akten saß. Sie sah ihn immer nur durch die Gänge flitzen oder an irgendwelchem toten Fleisch schnippeln, aber nie an einem Tisch Akten wälzen.
Kaum saß sie, begann der Pathologe im Dozententon: „Also, zunächst.... konnte ich nicht herausfinden, aus was genau dieses Kola-Öl hergestellt wird. Es scheint pflanzlichen Ursprungs zu sein, aber die Pflanze, Knolle oder Frucht ist keine der uns Bekannten. Zumindest mir nicht. Pflanzlich aber deshalb, weil sich in dem Öl wohl ein Aminoethyl-Derivat eines Indols fand. Das ähnelt stark Tryptaminen und lässt damit die Vermutung hegen, dass der Dampf, der beim Verbrennen des Öls entsteht und eingeatmet wird, beim Menschen ähnlich Substanzen wie Psilocybin wirken lässt.“
„Psiii .. lo.... was?“, fragte Jenny.
„Psilocybin. Das ist der Stoff in Pilzen, die einen bunte Affen sehen lassen.“, lachte Dr. Baker Sander wieder in seiner typischen Art auf. „Sehen Sie, Psilocybin bewirkt einen rauschartigen Zustand, der mit Halluzinationen einhergeht. Viele Pflanzen enthalten solche Stoffe und nicht wenige davon werden in irgendeiner Weise verdampft und somit nimmt man über die Atemwege dieses Zeugs auf. Es wird oft in Tempeln verwendet. Nicht nur in weit entfernten Gebieten. Denken Sie nur an den Weihrauch, der in christlichen Kirchen verbrannt wird. Viele Religionen nutzen solche Stoffe für tranceartige Zustände. Die einen tanzen sich in solche transzendentale Zustände, andere ziehen sich was durch Nase.“, sagte Dr. Baker Sander und kicherte dabei. Dann fügte er aber in ernstem Tonfall hinzu: „Aber dieses Kola-Öl ist hingegen Teufelszeug. Die Konzentration der halluzinogenen Stoffe darin ist immens hoch und dadurch hat das einen irren Wirkungsgrad. Wer davon viel einatmet, kann froh sein, dass er es übersteht. Glaube ich zumindest. Ich verrate Ihnen was....“
Er kam ganz nah an Jenny heran und flüsterte: „Ich versuchte gestern abend noch etwas davon und sah plötzlich meine Leichen tanzen!“
Dr. Baker Sander lehnte sich laut lachend wieder zurück. Doch Jenny Holmes war das Lachen vergangen. Dieses Teufelszeug hatten sie in der Wohnung? Kein Wunder, dass Watson ständig Angst hatte und sich verfolgt fühlte. Oder dass Avery panisch aus dem Fenster springen wollte. Und erwähnte Prof. Dr. Rem Ember nicht von den grausamen Todesfällen des Kola-Kultes?
„Dr. Baker Sander.... wirkt das Kola-Öl immer gleich? Also... ich meine... bei allen?“, fragte Jenny.
„Nun ja....“, begann Dr. Baker Sander, „... das kann man so nicht sagen. Ich möchte nicht ausschließen, dass es, wie bei den meisten Substanzen, unterschiedliche Dosierungen braucht. Je nach körperlicher Veranlagung oder Gewöhnung. Sagen wir so... ein langjähriger Opiumraucher wird wohl eine ganze Menge von dem Kola-Öl einatmen müssen, als ein Schulknabe, der nichts gewöhnt ist.“
„Hmm.....“, brummte Jenny nachdenklich.
„Ich kann Ihnen nur raten vorsichtig mit dem Zeugs zu sein. Besser Sie schütten es weg... oder... nein.... füllen Sie es in eine Flasche, die Sie fest verschließen können und verbuddeln Sie sie im Keller oder sonstwo, wo sie niemand je finden wird.“, sagte Dr. Baker Sander in einem eindringlichen Tonfall.
„Ach, Doktor, ich habe hier noch etwas....“, sagte Jenny, die wieder aus ihren Gedanken, in denen sie sich kurze Zeit verlor, aufwachte, „... ich fand diese Gewürze.“
Sie stellte die kleinen Töpfchen aus ‚Nussini‘s Küche auf den Tisch und schob sie dem Pathologen hin.
„Können Sie herausfinden, ob das die Gewürze sind, die an den Katzenhaaren zu finden waren?“, fragte sie ihn.
„Sicher. Sogar recht schnell. Halbe Stunde ungefähr. Möchten Sie warten?“, fragte Dr. Baker Sander stirnrunzelnd und Jenny nickte nur als wortlose Bestätigung.
Solange der Pathologe im Labor verschwunden war, trippelte Jenny Holmes nachdenklich in dem Gewölbe der Pathologie umher. Um sie herum war geschäftiges Treiben der Mitarbeiter Dr. Baker Sanders, die Leichen wuschen oder andere vorbereiteten. Dabei die eine Leiche aus dem Kühlschrank holten und dabei eine andere hineinschoben. Ja, auch damals war der Kostendruck hoch und man musste sich was einfallen lassen, wie man viele Leichen in wenige Schränke unterbringen kann. Als dabei eine der Kühlschranktüren zugeworfen wurde und dadurch ein kalter Lufthauch über Jennys Wange strich, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Lufthauch, der ihre Lampe ausblies! Er war ähnlich kalt und ähnlich stark. Jenny stellte sich an eine der Kühlschranktüren und spürte den leichten Luftstrom der eisgekühlten Luft, der durch den Türspalt zog. Hatte sie im Dunkel des Ladens was übersehen?
„Soooooooooo!“, freudestrahlend riss Dr. Baker Sander Jenny aus ihren Gedanken. Sie erschrak beinahe, als der Pathologe bis über beide Ohren grinsend vor ihr stand. „Ich habe ein eindeutiges Ergebnis. Ja! Die Gewürze, die Sie mir zum Abgleich gaben, sind haargenau - entschuldigen Sie das Wortspiel - die selben, wie sie an den Katzenhaaren der Leichen von Anna und Livercheese zu finden sind.“
„Killerkatzenhaare....“, murmelte Jenny, der dabei der Mund offen stehen blieb. Ihre blauen Augen wanderten wild umher, zogen sich bei den Gedanken, die nur so durch ihren Kopf rasten, zusammen und dann hatte es die blonde Meisterdetektivin ganz eilig.
„Vielen Dank, Dr. Baker Sander. Sie haben mir unwahrscheinlich geholfen. Sagen Sie Inspektor Guby bitte Bescheid, dass er zum Laden der ‚Großen Nussini‘ kommen soll, sobald er kann.“
Jenny gab dem Pathologen ohne nachzudenken einen Kuss und lief dann schleunigst aus dem gruseligen Gewölbe durch den tunnelartigen Gang zu dem Paternoster, der sie zurück ins Tageslicht brachte.
Jenny verließ das Gebäude von Scotland Yard und wäre beinahe auf der Treppe ins Straucheln geraten, weil sie schon lange keine solche Eile mehr gewohnt war. Auch hier spürte sie wieder das Alter, das sie sonst gerne verdrängte. Früher wäre sie locker die Strecke zu den Docks gelaufen, doch heute? Nein, sie entschied sich lieber dafür in eine der bereitstehenden Kutschen zu steigen und sich fahren zu lassen.
„Kutscher, zu den Docks bitte. Und zwar schnell!“, befahl sie dem Mann auf dem Kutschbock, der sich seinen Zylinder zurechtrückte und mit der Peitsche seine Pferde antrieb.
Ratternd ging die Fahrt los und Jenny spürte jeden einzelnen Stein des Kopfsteinpflasters an ihrem Hintern. Die Sitzbank in der Kutsche hätte dringend neu gepolstert werden müssen.
„He da, ist das der Weg zu den Docks? Hallo?!“, schrie sie dem Kutscher zu, der sich zu ihr umdrehte.
„Ja, natürlich. Denken Sie etwa, ich weiß nicht, wie man fährt?“, fuhr er die Detektivin an.
Immer das gleiche mit diesen Halunken, dachte sich Jenny, weil sie sich sicher war, dass der Kerl einen Umweg fuhr um ihr mehr Geld aus der Tasche zu ziehen.
Als die Kutsche plötzlich in der Nähe der Portobello Road auftauchte, wo sie eigentlich gar nicht lang fahren sollte, sah Jenny aus dem Fenster ihre Nichte am Straßenrand stehen.
„Halten Sie an!“, rief sie dem Kutscher zu und dieser stoppte die Pferde.
„Avery! Komm!“, rief Jenny durch das Fenster der Kutsche und öffnete die Tür.
Avery schaute zuerst ratlos, dann aber lächelte sie und stieg in die Kutsche ein.
„Was ist denn los, Tante Jenny? Warum bist Du so aufgebracht und dann auch noch mit Kutsche unterwegs?“, fragte Avery.
„Die Kutsche ist nur zur Not und sollte der Kerl nicht bald in die richtige Richtung fahren, kann er was erleben!“, knurrte Jenny. „Als ich bei Dr. Baker Sander war hatte ich eine Idee... oder vielmehr eine Erkenntnis. Wir müssen bei der ‚Nussini‘ was übersehen haben. Und sollte dieser Kutscher heute noch die Docks erreichen, könnten wir endlich nachschauen. He, fahren Sie endlich mal richtig, verdammt nochmal!“
Den Kutscher schien das nicht zu kümmern. Er bog von einer Straße in die nächste und fuhr in einem ziemlichen Zickzack durch London.
„Wie war der Bummel?“, wollte Jenny Holmes von Avery wissen.
„Och, ganz nett, aber auch nicht das, was ich mir vorstellte.“, sagte Avery etwas bedröppelt.
„Das ist meist so. Das Geheimnis des Lebens ist es, nicht mit zu großen Erwartungen an die Dinge heranzugehen, weißt Du? Wenn man nichts erwartet, kann man auch nicht enttäuscht werden. Ein goldenes Prinzip.“, sagte Jenny.
„Naja, aber schön war es dennoch. Nur ist mir das Abenteuer mit Dir lieber, Tante Jenny.“, grinste Avery und ein Blitzen ging durch ihre braunen Augen.
„Das glaube ich.“, lachte Jenny.
Endlich kamen sie doch an den Docks von London an. Nach einer gefühlten Weltreise, die der Kutscher mit den Beiden veranstaltet zu haben schien. Die Detektivin und ihre Nichte stiegen aus und Jenny musste sich erst einmal strecken, weil ihr alles von der holperigen Fahrt weh tat. Mürrisch drückte Jenny dem Kutscher einige Pfund in die Hand und als dieser protestieren wollte, dass es zu wenig sei, fing er sich einen Blick aus Jennys blauen Augen ein, der ihn prompt verstummen ließ. Besser die paar Pfund nehmen, als am Ende sogar sein Leben zu verlieren. Der Kutscher räusperte sich und trieb seine Pferde an.
Obwohl noch genug Tageslicht an diesem frühen Abend herrschte, ging Jenny schnurstracks auf die Tür zwischen den Müllcontainern zu und öffnete sie. Jegliche Vorsicht über etwaige Beobachtungen von Nachbarn ließ sie beiseite und ging in den Laden der Wahrsagerin. Avery folgte ihr auf dem Fuße. Im Inneren war es heller als am vergangenen Abend, da durch das Schaufenster genug Licht durchkam um den Raum zwar nicht zu fluten, aber nicht mehr so ganz in schattenhaften Schemen verschwimmen ließ. Jenny ging auf das Regal zu, an dem sie den Luftzug verspürte, der ihre Lampe ausblies und untersuchte die Stelle. Auch jetzt spürte sie diesen kühlen Hauch, der von der Wand hinter dem Regal zu kommen schien. Sie betrachtete die Dinge, die in dem Regal gestapelt waren und konnte mit dem Tinnef selbst nicht viel anfangen. Dennoch nahm sie ein paar Dinge in die Hand und betrachtete sie eingehend. Als sie einen hölzernen Fetisch, dessen grässliche Fratze zwar handwerklich hervorragend geschnitzt aber eben potthässlich war, wieder ins Regal stellen wollte, kippte dieser um und fiel zu Boden. Jenny bückte sich leicht ächzend - das Alter eben - nach dem Fetisch und sah dann im schwachen Licht, das in Bodennähe herrschte, auffällige Kratzer in den hölzernen Dielen des Fussbodens. Diese Kratzer beschrieben einen viertelkreisförmigen Bogen, der von einem Regalfuss aus in den Raum abging. Jenny blickte empor zu dem Regal und rüttelte leicht daran. Die Gegenstände darin wackelten bedrohlich und schienen fast allesamt herauszufallen, wenn man noch mehr das Regal rückte. Doch das war Jenny in dem Moment egal.
„Avery, pack mal mit an.“, sagte sie zu ihrer Nichte, die dieser Aufforderung sofort nachkam und ebenfalls an das Regal fasste.
Gemeinsam zogen sie daran und quietschend und knarzend gab das Regal seinen Widerstand auf.
„Natürlich!“, rief Jenny erfreut aus, „Das darf in keiner guten Detektivgeschichte fehlen. Eine Geheimtür!“
Mit dem hölzernen Regal öffnete sich in der Mauer dahinter ein Durchgang, der von einem Stück Mauerwerk, welches an der Rückseite des Regals befestigt war, gut verschlossen war. Vor allem aber nahezu unsichtbar. Eine gute, fast perfekte Tarnung. Das musste Jenny anerkennen. Hinter dem Durchlass befand sich eine steinerne Wendeltreppe, die nach unten führte. Jenny kramte aus ihrer Tasche wieder die Stumpenkerzenlampe heraus und entzündete sie. Damit leuchtete sie in den dunklen Treppengang, den sie vorsichtig hinabstieg.
Am Ende der Treppe befand sich eine Kammer, die einer Gruft nicht unähnlich war. An der linken Seite der Kammer war etwas ähnliches wie ein Regal und ansonsten war der Raum mit Holzkisten und anderem Gerümpel vollgestopft. Es war unangenehm kühl und Feuchtigkeit schlug sich an den Wänden nieder hinter denen man das Gegluckse des Themsewassers hörte. In dem Regal war eine ungefähr zwei Meter lange und einen halben Meter breite hölzerne Schale, die mit salzähnlichen Kristallen gefüllt war. Es erinnerte etwas an ein Bett und Jenny wurde bei dem Anblick sofort klar, was sie hier entdeckt hatte. Hier musste Anna all die Jahre aufbewahrt worden sein. Und Margit Livercheese. Die Feuchtigkeit, die den Schimmel auf der Haut verursachte, das Salz am Rücken der Leichen, das sie aber auch konservierte.
Jenny und Avery durchsuchten den ganzen Raum, in der stillen Hoffnung, etwas finden zu können, das sie weiterbrachte. Warum nur wurde Anna hier aufbewahrt? Wie kam sie überhaupt hier her? Fragen, die Jenny langsam schmerzhaft im Kopf umhergingen, weil sie sich immer weniger einen Reim auf die ganze Sache machen konnte.
„Haaaalloooooo? Mrs. Holmes? Wo sind Sie? Dr. Baker Sander sagte, ich solle Sie hier treffen...?“, durchdrang plötzlich Inspektor Gubys Stimme die Stille.
Avery erschrak leicht und ließ einen kleinen verhaltenen Schrei los. Jenny hingegen rief gelassen nach oben: „Wir sind hier unten, Inspektor Guby. Kommen Sie.“
„Na, was haben wir denn hier?“, fragte der Inspektor als er die Wendeltreppe nach unten kam und sich in dem fahlen Schein von Jennys Funzel umsah.
Die blonde Meisterdetektivin berichtete Guby kurz ihre neuen Erkenntnisse und deutete auch auf die Salzbahre, doch der Inspektor stand nur da in seiner abgewetzten Jacke und kratzte sich am Kopf.
„Meinen Sie? Sind Sie sicher, dass hier Anna gelegen haben soll?“, fragte er.
„Natürlich oder wie können Sie sich das erklären? Nehmen Sie eine Probe des Salzes und lassen Sie es untersuchen. Es wird gewiss das selbe Salz wie an den Leichen sein.“, sagte Jenny eindringlich.
„Ja, und wenn schon. Salz gibt es viel.“, sagte Guby achselzuckend.
„Das ist zwar richtig, aber wozu sonst sollte das Salz so aufbewahrt werden? Und schauen Sie doch genau....“, Jenny leuchtete mit der Funzel in das Regal über das Salz, „...sehen Sie nicht diese Abdrücke? Das ist eindeutig ein menschlicher Körper, der da gelegen haben muss!“
„Na, okay... so langsam überzeugen Sie mich doch. Ich lasse das hier morgen untersuchen.“, sagte Guby und wollte schon gehen, als sich Avery meldete.
„Schaut mal hier. Auf den Kisten steht eine Adresse drauf.“, sagte sie.
Jenny nahm einen der Adresszettel von den Holzkisten, die vereinzelt im Raum verstreut waren und betrachtete sie.
„Das ist eine Adresse am anderen Ende der Stadt. Da sind doch nur Lagerhäuser, oder? Adressiert an die Ostindien-Handelsgesellschaft? Die ist doch im Hafen und nicht da....?“, fragte Jenny verdutzt. „Wie kommen die Kisten denn dann hierher?“
„Merkwürdig....“, murmelte auch Guby.
„Lasst es uns herausfinden!“, sagte Avery dann und die Detektivin und der Inspektor schauten sie an.
Guby zuckte mit den Schultern als wortloses Einverständnis und Jenny wollte keine Widerrede geben, weil in ihr die Wissbegierde brannte und sie so schnell wie möglich herausfinden wollte, was diese neue Spur für sie bedeutete. Und ob sie nun endlich der Lösung, was mit Anna und Livercheese geschah, näher kam.
Die Drei verließen den geheimen Kellerraum und das Gebäude, wo die Polizeikutsche des Inspektors parkte. An der Kutsche waren noch zwei Bobbys, die auf Guby warteten.
„Okay, Sam...“, sagte Guby und zeigte auf den Rechten der Beiden, einen hochgewachsenen muskulösen Blondschopf, „...Du bleibst hier und passt auf, dass niemand den Laden betritt. Ich schicke Dir einen Trupp vorbei. Und sobald ich bei Scotland Yard Bescheid gegeben habe, fahren wir zu der Adresse.“
„Jawohl!“, sagte Sam pflichtbewusst und stellte sich vor die Tür zwischen die Müllcontainer.
Jenny, Avery und Guby stiegen in die Kutsche und der andere Bobby kletterte auf den Kutschbock.
Nach einem kurzen Stop bei Scotland Yard kam Guby wieder in die Kutsche, in der Jenny und Avery warteten. Zu dem Bobby auf dem Bock gesellte sich ein weiterer, der ihm aus dem Gebäude folgte. Kaum schloss der Inspektor die Kutschentür rief er den beiden Bobbys zu: „Nun aber los!“
Zu Jennys Erstaunen war die Sitzbank der Polizeikutsche wunderbar gepolstert. Jeglicher Stoß wurde gedämpft und es war eine Wohltat für ihren Hintern, vergleicht man das mit der vorigen Fahrt. Dass dazu auch der direkte Weg und nicht ein ellenlanger Umweg gefahren wurde, gefiel ihr auch. Kurzzeitig dachte sie darüber nach, künftig nur noch mit der Polizei zu fahren und schmunzelte bei dem Gedanken in sich hinein. Nein, eigentlich war sie froh, wenn sie selbst wieder hinter dem Steuer ihres Autos sitzen und durch London brettern könnte. Aber nun war sie schon mit offiziellem Gefährt unterwegs.
Am äußeren Stadtrand von London befanden sich mehrere Fabrik- und Lagerhallen. Einige davon machten einen verlassenen und verwahrlosten Eindruck. Die ganze Gegend hinterließ nicht gerade den besten Eindruck, aber sie befürchteten auch kein großes Verbrechen hier. Vielmehr schien dieser Teil der Stadt verlassen zu sein und diese Menschenleere verlieh der Szene etwas gespenstisches.
Die große Lagerhalle, die das Ziel ihrer Fahrt war, lag inmitten dieser heruntergekommenen Gebäude. Der Efeu, der die Fassade berankte, ließ einen denken, dass er alleine das marode Mauerwerk zusammenhielt. Die Vorderseite des Lagerhauses nahm ein großes Tor ein. Darüber ein paar Fenster, die vom Schmutz schon blind waren und ein Ausleger für eine Seilwinde, freilich ohne Seil. Hier schien schon lange kein Arbeiter mehr gewesen zu sein.
„Ist das die richtige Adresse?“, grübelte Inspektor Guby.
„Na, so steht es doch da, oder?“, meinte Jenny, die sich selber über dieses Gebäude wunderte.
Avery war natürlich schon dabei am Tor zu fummeln und sehr zu ihrem Erstaunen schwang der Torflügel ganz leicht auf.
„Offen... kommt!“, sagte sie grinsend zu Jenny und Guby und winkte ihnen zu, dass sie ihr folgen sollten.
„Avery... na, sag mal.... Du bleibst gefälligst hier, junge Dame!“, echauffierte sich Jenny und zog ihre Nichte am Arm.
Dann ging sie voraus in die Lagerhalle, gefolgt von Guby und den beiden Bobbys. Ganz hintendrein schlich Avery. Die Truppe pirschte sich vorsichtig durch die Halle, deren Beleuchtung hauptsächlich durch die großen Oberlichter kam, von denen ein paar gesprungen oder gleich ganz kaputt waren. In dem Labyrinth der Regalgänge huschten quietschende Ratten herum und brachten sich vor den Menschen in Sicherheit. Einige der Regale waren leer, andere wiederum mit Holzkisten bestückt. Die meisten davon bereits geöffnet und bis auf etwas vergammeltes Stroh leer. An ein paar wenigen Kisten prangte noch ein Adressschild auf dem deutlich die Ostindien-Handelsgesellschaft als Empfänger genannt wurde. Leise schlichen sie weiter und bogen in einen weiteren Regalgang ein, in dem sie plötzlich eine dunkle Gestalt wahrnahmen, die in einer der Kisten kramte.
„Halt! Polizei! Stehenbleiben!“, schrie Guby, aber natürlich hörte die Person nicht auf ihn und rannte los.
Guby und die beiden Bobbys hinterher. Alle drei bliesen in ihre Pfeifen, als ob das hier draussen im Nirgendwo einer hören würde. Jenny hingegen ging den Weg, den sie gekommen waren zurück. Irgendwas sagte ihr, dass sie so dem Bösewicht den Weg abschneiden könnte und Avery rannte ihrer Tante nach. Wo sich die Bobbys aufhielten konnte Jenny ja prächtig hören und so konnte sie abschätzen, welchen Fluchtweg der böse Bube für sich auserkoren hatte. Tatsächlich sah sie den Schatten des Flüchtigen gerade hinter dem Regal entlang huschen, an dessen Ende sie stand und im genau richtigen Augenblick hob sie ihr Bein hinaus. Der Flüchtige stolperte darüber und schlug der Länge nach hin. Dabei rutschte sein Kopf in den dunklen Hut, den er auf hatte, so dass der Mann nichts mehr sehen konnte. Als er sich auf den Rücken drehte und aufstehen wollte, nahm Jenny nur noch den Schatten ihrer Nichte wahr, die wie eine Wrestlerin waagerecht in der Luft stand und laut schrie: „Auf ihn mit Gebrüüüüüüüüüüüll!!!“.
Danach landete ihr Ellbogen zielsicher genau dort, wo es Männern am meisten weh tut. Der Bösewicht schrie auf und krümmte sich vor Schmerz am Boden, als endlich Guby und die Bobbys atemlos von der Verfolgung ums Eck kamen. Schnaufend standen sie da und Jenny Holmes stemmte die Hände in die Hüften.
„Na, kommt ihr auch endlich? Würde es den Herren was ausmachen dieses Subjekt nun dingfest zu machen?“, sagte sie in Richtung Guby, der nur keuchend nach Luft rang.
Dann holte er aus seinem Mantel ein paar Handschellen heraus und schaute sie an, als ob er sie zum ersten Mal sehen würde. Er drehte sie hin und her und Jenny befürchtete tatsächlich, dass dies sein erstes Mal war. So schnappte sie ungeduldig die Handschellen und sagte: „Geben Sie schon her. Alles muss man alleine machen!“
Dabei ließ sie die Handschellen um ihren Finger kreisen und Inspektor Guby dachte sich, dass die blonde Detektivin darin wohl Übung hatte. Avery drehte den sich immer noch im Schmerz windenden Mann auf den Bauch, sodass Jenny ihm die Hände im Rücken fesseln konnte. Nun schnappten die Bobbys, die langsam wieder bei Puste waren, den Übeltäter und wollten ihn schon abführen, da rief Jenny: „Halt! Wir wollen doch mal sehen, wer das ist.“
Sie griff den Hut, der über dem Kopf des Mannes stak, zog ihn ab und ihre blauen Augen weiteten sich.
„Natürlich! Ich hätte es mir doch denken können.... Dr. Fiesiatry, mein Erzfeind!! Wer sonst?!“, rief sie aus, als sie das ihr bekannte Gesicht des legendären Verbrechergenies vor sich sah.
***
Der Verhörraum von Scotland Yard war karg eingerichtet. Lediglich vier Stühle und ein Tisch, dessen Beine zur Sicherheit aller vor randalierenden Verbrechern auf dem Boden festgeschraubt waren, standen inmitten des grob verputzen Raums vor einem vergitterten Fenster. Neben Inspektor Guby saß Jenny Holmes, die ausnahmsweise am Verhör teilnehmen durfte. Beide betrachteten sie Dr. Fiesiatry, das legendäre Verbrechergenie, der zusammengesunken ihnen gegenüber saß. Auch an ihm hat der Zahn der Zeit kräftig genagt und wahrscheinlich war es auch das Alter, das zu dem Umstand seiner Verhaftung hatte führen können. Vielleicht auch der Grund dafür, dass dieses Genie des Bösen, dem man nie etwas nachweisen konnte, unvorsichtig wurde? Oft hatte die Meisterdetektivin Indizien gegen ihn gesammelt, aber sie konnte ihm nie wirklich etwas zur Last legen. Am Ende kam Dr. Fiesiatry doch wieder ungeschoren davon. Aber so sehr sein Körper auch durch das Alter und ein paar Gebrechen, die die Zeit mit sich bringt, gezeichnet war, so wach war sein Blick, mit dem er die blonde Meisterdetektivin fixierte. Guby beachtete er scheinbar gar nicht. Vielleicht weil er ihn als ihm ungleich und unwürdig betrachtete? Nicht wie diese gewitzte Detektvin, die ihm immer so nah, wie sonst niemand, auf den Pelz rückte und ihn doch nie zu fassen bekam. Dr. Fiesiatry konnte den Scharfsinn und die Kombinationsgabe der Detektivin bewundern. Das Schurkenleben wäre doch langweilig, wenn es nicht würdige Gegner gäbe, die sozusagen das Salz in der Suppe sind.
„Gratulation, Mrs. Holmes.“, sagte Dr. Fiesiatry mit fester Stimme. „Sie haben mich gefasst. Nun sitze ich hier. Vor Ihnen. In Eisen gelegt. Doch, was werfen Sie mir eigentlich vor?“
Jenny holte das kleine Glas, in das sie etwas von dem Kola-Öl füllte, aus ihrer Tasche und stellte es vor Dr. Fiesiatry auf den Tisch.
„Das ist Kola-Öl... wie Sie mit Sicherheit wissen werden.“, sagte sie und blickte ihn unverwandt an.
Das Verbrechergenie zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Na und?“
„Kola-Öl aus einer Lampe, die wir von der Ostindien-Handelsgesellschaft kauften oder besser gesagt kaufen sollten.“, half Jenny dem Doktor auf die Sprünge.
„Jau und die Ostindien-Handelsgesellschaft haben Sie mit zwei Anderen gegründet. Steht hier in der Akte.“, sagte Guby, der von seinem Klemmbrett aufschaute.
„Ist es ein Verbrechen ein Handelsgeschäft zu eröffnen?“, fragte Dr. Fiesiatry.
„Nein, das nicht. Aber lange Bestand hatte es nicht. Lief wohl nicht, oder?“, bohrte Guby nach.
„Der Handel mit Devotionalien aus dem indischen Raum lief wirklich nicht besonders toll. Da haben Sie recht, aber es ist noch lange kein Grund mich zu verhaften.“, sagte Dr. Fiesiatry.
„Wo sind eigentlich ihre Mitgründer?“, fragte Jenny.
„Die wollten unbedingt nach Indien. Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen wurde. Entweder ist das Schiff gesunken oder ihre Leichen verrotten im Dschungel. Sie kamen jedenfalls nie wieder.“, sagte Dr. Fiesiatry gelassen.
„Als Watson und ich damals bei der Ostindien-Handelsgesellschaft bummelten, hatten wir das Gefühl uns würde etwas aufgedrängt. Gezielt aufgedrängt...“, sagte die Meisterdetektivin nun und lehnte sich zurück. Sie beobachtete das Verbrechergenie genau. Wartete seine Regung ab.
„Es kamen viele dort vorbei, stöberten und kauften auch was. Ist das so ungewöhnlich?“, fragte Dr. Fiesiatry.
Jenny stand auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und sagte: „Nun ja, ungewöhnlich ist es, wenn man jemandem etwas absichtlich aufdrängt.“
Ein süffisantes Lächeln spielte um ihre Lippen und die Augen von Dr. Fiesiatry nahmen einen fragenden Ausdruck an.
Die Meisterdetektivin ging zur Tür, öffnete diese und rief hinaus: „Bringen Sie ihn bitte herein!“
Dr. Fiesiatry zuckte und seine Augen weiteten sich, als ein hagerer Inder den Raum betrat.
„Piloo! Was machst Du denn hier?!“, rief Dr. Fiesiatry, als er genau den Mann wiedererkannte, der damals Jenny und Watson diese Lampe verkaufte.
„Ich.... ich...“, stotterte dieser los und sagte dann mit hängenden Schultern, „...ich sollte damals eigentlich wieder nach Indien zurück, nachdem ich tat, was dieser Mann von mir verlangte. Ich sollte Ihnen...“, dabei zeigte er auf Jenny, „...diese Lampe verkaufen. Unbedingt. Zur Not sollte ich sie Ihnen schenken. Danach bekam ich ein bisschen Geld... doch wollte ich nicht mehr nach Indien zurück. Ich schlug mich mehr recht als schlecht in London durch....“
„Bis wir Sie fanden. Danke, Piloo. Sie können gehen!“, sagte Guby.
„Hund, Du!“, schrie Dr. Fiesiatry los, der ganz entgegen seiner Sitten die Fasson verlor.
Beinahe wäre er aufgesprungen und Piloo an die Gurgel gegangen, doch zwei Polizisten drückten ihn zurück auf seinen Stuhl.
„So... und nun erzählen Sie mal, warum wir die Lampe so dringend haben mussten!“, forderte Jenny Dr. Fiesiatry auf, der erkannte, dass er nun nicht mehr aus der Nummer kommen würde.
„Also gut. Der Handel mit den indischen Dingen sollte zunächst wirklich ein florierendes Geschäft werden. Es wurde auch in bester Absicht gegründet, bis die Beiden spurlos verschwanden. Wie ich vorhin erwähnte, weiß niemand, was ihnen geschah. So saß ich dann da, alleine mit der Gesellschaft. Eines Tages kam mit einem der Handelsschiffe ein Mann mit, der mir eine Flasche mit diesem seltsamen Öl anbot. Er meinte es sei viel zu kostbar um es zu verkaufen und erzählte mir von dem Kola-Kult, ihren Riten und wie sie das Öl benutzten um Menschen zu manipulieren oder in den Wahnsinn zu treiben. Ich konnte es fast nicht glauben und probierte das Öl aus. An einer Dirne, die ich in Whitechapel aufgabelte. Ihre Kammer war unter dem Dach im vierten Stock. Nachdem wir uns vergnügten, gab ich etwas von dem Öl in die Kerze, die den Raum beleuchtete und ging. Blieb unten auf der Straße stehen und hörte kurze Zeit später schon die ersten Schreie dieser Frau. Panisch riss sie das Dachfenster auf und sprang hinaus, als ob der Teufel persönlich hinter ihr her wäre. Sie klatschte direkt vor mir auf das Pflaster und war sofort tot. Dann zückte ich ein Messer und schnitt den Bauch der Frau auf um es wie ein weiteres Opfer von Jack the Ripper aussehen zu lassen. Tatsächlich wurde sie als solches angesehen und niemand verschwendete einen Gedanken an einen anderen Täter.
Ich begriff augenblicklich, welche Macht ich mit diesem Öl haben würde und wie ich mich manch lästiger Seele entledigen könnte, ohne dass der geringste Verdacht auf mich fallen würde.
So nahm dann mein Racheplan an Euch Gestalt an. Die Lampe, dieses potthässliche Teil, war uninteressant, doch sie diente mir als trojanisches Pferd, um das Öl in Euer Haus zu bringen. Es glückte und fortan stand ich jeden Abend vor Eurem Haus und beobachtete Euch. Sah ab und zu, wie die Lampe entzündet wurde, doch Watson schien keine Anstalten zu machen in irgendeine Panik zu geraten. Es war mir schleierhaft, warum das Öl, das bei allen Anderen so wunderbar funktionierte, hier nicht anschlug.
Nach Wochen war das Öl verbrannt und ich musste mir was einfallen lassen, wie ich den Vorrat aufstocken kann. Alles, was ich durch die Ostindien-Handelsgesellschaft bekam verschleuderte ich für einen Witzpreis und falls das nicht klappte, lagerte ich die Waren aus in das Lagerhaus, in dem ihr mich erwischt habt. Lieferung um Lieferung wartete ich begierig darauf eine neue Flasche mit Kola-Öl zu bekommen. Als ich endlich in den Besitz einer weiteren Dosis kam, überließ ich die Ostindien-Handelsgesellschaft ihrem Schicksal und suchte einen Weg in Eure Wohnung.
Am frühen Morgen sah ich, dass der Verschluss des Fensters hinüber war. Man konnte es ganz einfach aufdrücken und hineingelangen. So füllte ich die Lampe wieder auf und schlich mich natürlich abermals durch das Fenster zurück. Als ich gerade aus dem Fenster stieg, kam diese Göre ums Eck und schrie mich an. Sie kam auf mich zu und wollte mir die Augen auskratzen, da griff ich einfach nach etwas. Irgendetwas! Plötzlich war diese Strebe des Metallgeländers, die wohl lose war, in meiner Hand und ich schlug zu. Anna - so hieß sie doch, oder? - sackte tot vor mir zusammen.
Nun war guter Rat teuer. Ich packte den Leichnam und verstaute ihn in meiner Kutsche. Einer der verschwundenen Gesellschafter der Ostindien-Handelsgesellschaft hatte unter seiner Wohnung einen Laden vermietet. Er erzählte mir von dem geheimen Kellerraum darin, wo er einst einmal eine Mumie aus Ägypten lagerte, die er für viel Geld verkaufte. Natürlich war der Handel mit Mumien illegal und die Ware heikel. Kein Käufer möchte viel Geld für kaputte Mumien bezahlen. Er lagerte sie deshalb auf einem Salzbett, damit die Feuchtigkeit des Raums dem mumifizierten Körper nichts anhaben konnte. Das gleiche Salz verwendeten schon die alten Ägypter zur Mumifizierung. Es war ein ideales Versteck für den Körper der jungen Frau. Dass er dabei auch konserviert wird, war mir gerade recht. Nichts müffelte und somit verriet sich das auch nicht.
So weit war alles klar und die Jahre gingen ins Land. Leider entdeckte die Mieterin des Ladens, diese ‚Große Nussini‘, die Geheimtür und musste ihre neugierige Nase reinstecken. Kommissarisch übernahm ich die Vermietung des Ladens und als ich wieder einmal die Miete einstreichen wollte, stellte sie mich zur Rede. Sie drohte mir damit, alles der Polizei zu sagen, es sei denn ich würde ihr den Laden kostenlos überlassen. Das klang für mich nach einem fairen Deal und ich sagte zu. Aber sie misstraute mir. Naja, um ehrlich zu sein, traute ich ihr auch kein Stück weit. Also wundert es mich auch nicht. Trotz meiner Zusage, wollte sie mich verraten. Das konnte ich nicht zulassen. Ich packte ihr Katzenvieh und drehte ihm den Hals rum. Direkt vor ihr und sagte ihr, dass ich das mit ihr machen würde, wenn sie nicht den Mund halten würde. Erschrocken schaute sie mich an und Zornesröte stieg in ihr auf. Wie eine Furie ging sie auf mich los und schlug auf mich ein. Da packte ich ihren Hals und drückte zu. So fest ich konnte und so lange, bis sie schlaff zu Boden fiel.
Beide Leichen waren zu viel für den Kellerraum und das Salz funktionierte auch nicht so gut, wie es sollte. An Anna machten sich Zeichen der Verwesung bemerkbar und so konnte ich sie nicht länger in diesem Raum lassen. Da fiel mir dieses verlassene und verwahrloste Anwesen außerhalb der Stadt ein. Die Dornbüsche dort erachtete ich als treffliches Versteck für die Leiche der jungen Frau. Die Natur würde sie überwuchern und so lange vor aller Augen verstecken bis Würmer und Käfer sie auf natürliche Weise verschwinden ließen. So brachte ich eines Nachts die Leiche dorthin, verwahrte sie sorgsam in einem der Büsche und bahrte die Leiche der Wahrsagerin auf dem Salz auf.
Wer konnte denn auch ahnen, dass irgendwann mal jemand so blöd sein würde und diese Bruchbude kauft? Da kam dieser dünne Lord Lemon daher und richtete das alles als Lemonshire wieder her. Es grenzt an ein Wunder, dass die Tote nicht eher entdeckt wurde. Und für mich gab es keinen Weg mehr, die Leiche von dort unbemerkt wegzuschaffen. Also hoffte ich darauf, dass der Busch sein Geheimnis bewahren wird.“, schloss Dr. Fiesiatry seinen Bericht ab.
„Nur fuhr dann die Gärtnerin leider das Gebüsch um und Annas Leichnam kam wieder zum Vorschein.“, fügte Jenny hinzu.
„Ja... und die Leiche war so gut konserviert, dass sie praktisch wie eben erst gestorben wirkte. Als dann die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden und Sie, werte Mrs. Holmes, die damals schon bei der ‚Großen Nussini‘ rumschnüffelte, immer mehr über die Ostindien-Handelsgesellschaft in Erfahrung brachte, wurde mir das Versteck zu heiß. Ich wollte die Leiche in der Themse versenken, aber leider wurde sie irgendwie an die Oberfläche gespült und gefunden.“, erzählte Dr. Fiesiatry weiter.
„Ich weiß nicht, ob wir überhaupt auf Sie gekommen wären, Dr. Fiesiatry, wenn wir nicht zufällig in dem Lagerhaus über Sie gestolpert wären. Aber dass ein übereifriger Polizeischüler den armen Piloo fand, den Sie damals als Krämer beschäftigten und der uns bereitwillig Auskunft über Sie gab, ist ein Glücksfall, den selbst die schlaueste Detektivin eben auch braucht, um einem Genie auf die Schliche zu kommen.“, sagte Jenny Holmes siegessicher lächelnd.
„Das Glück ist ein launisches Wesen, Mrs. Holmes.“, sagte Dr. Fiesiatry.
„Und Sie sind nun Gast des Towers.“, lachte Inspektor Guby auf. „Abführen, Burschen!“
Die kräftigen Polizisten packten Dr. Fiesiatry unter den Achseln, hoben ihn vom Stuhl und führten ihn ab. Er würde in einer Zelle im Tower sicher genug verwahrt bleiben, bis er dem Richter vorgeführt werden könnte. Da war sich zumindest Guby sicher. Jenny Holmes weniger. Sie hatte Bedenken, ob die dicken Mauern des Towers wirklich einen Mann wie Dr. Fiesiatry halten können. Diesem Genie traute sie alles zu.
„Mrs. Holmes? Ich bedanke mich für die Zusammenarbeit und wünsche ihnen für die Zukunft, von der Sie ja nimmer so viel haben, alles Gute. Unterzeichnen Sie bitte hier.“, sagte Guby zu Jenny und hielt ihr sein Klemmbrett hin, auf dem eine Abschrift des Protokolls war, welches von der Meisterdetektivin per Unterschrift beglaubigt werden musste. Jenny musste sich zurückhalten um Guby nicht die Leviten zu lesen. Hatte der Kerl doch die Frechheit zu ihr zu sagen, dass sie nicht mehr viel Zukunft hätte! So ein Flegel!!, fluchte sie innerlich und ließ sich dennoch äußerlich nichts anmerken. Sie unterzeichnete den Wisch und verabschiedete sich.
***
Es vergingen ein paar Tage, bis die Polizei die Leichen von Anna und Margit Livercheese freigab und sie endlich zu ihrer letzten Ruhe gebettet werden konnten. Sie sollten auf dem Highgate Cementary im Norden Londons bestattet werden. Der damals noch recht neue Friedhof empfing die Besucher und Trauernden mit auffälligen neogotischen Mausoleen, aber auch den besonderen Anlagen, wie dem Circle of Lebandon, einem Kreis aus Katakombengräbern, die rund um eine libanesische Zeder gebaut wurden. Ohnehin waren die exotischen Pflanzen, die extra auf diesem Friedhof kultiviert wurden, ein besonderer Anblick für all diejenigen, die Auge und Gespür dafür hatten. Aber auch der für die viktorianische Zeit so typischen Faszination für das alte Ägypten wurde bei der Anlage des Friedhofs Rechnung getragen. Die Egytpian Avenue ist ein tunnelartiger Durchgang, der von ägyptischen Obelisken flankiert wird und in dem zwei sich gegenüberstehende Reihen von Gräbern sind, die sich hinter riesigen Metalltüren befinden, an denen sich manch kuriose Eigenschaft, wie umgedrehte Schlösser finden lassen. An all diesen außergewöhnlichen Grabanlagen vorbei, ging man unter den Schatten der hohen Bäume hindurch zu dem neuen Gräberfeld ganz am Rande des Friedhofs.
Dort fanden sich neben Jenny Holmes und Avery auch Dr. John Baker Sander, Inspektor Guby, Lady Biberly und Lord Lemon ein, der großzügigerweise die Bestattungskosten übernahm. Selbst die von Margit Livercheese, der ‚Großen Nussini‘, da sie weder Angehörige noch Freunde und auch keine Katze mehr hatte. Sie sollte in ein Grab neben Anna kommen, die nun hoffentlich ihren Frieden gefunden hat.
Jenny Holmes kämpfte gegen die Tränen an, die ihr dieser sentimentale Augenblick in die Augen trieb. Sie erinnerte sich plötzlich an so viele Begebenheiten, die sie damals zu dritt erlebten und auch daran, wie sie Anna oft in der Gegend herumscheuchten und sie mehr wie eine Magd, als eine Praktikantin für das Detektivleben behandelten. Im Nachhinein tat es ihr leid, doch das Rad der Zeit lässt sich nun einmal nicht zurück drehen.
Die Gruppe der Trauernden stand um die offenen Gräber herum, über denen, auf Holzstangen gestellt, die Särge mit Blumenschmuck aufgebahrt waren und lauschten den Worten des Priesters, der neben rezitierten Bibelversen auch ein paar seelentröstende Worte an die Umstehenden sprach. Über Annas Leben konnte er wenigstens ein bisschen was erzählen, doch bei Margit Livercheese kam er ins Stocken. Was sollte er auch sagen? Wir beerdigen heute eine Wahrsagerin, deren einziger Freund ein fauler Kater war? Schon traurig, was es alles an gescheiterten Existenzen in einer Stadt wie London gab, dachte sich Jenny dabei. Natürlich konnte nicht jeder das Glück eines Lord Lemon haben, der schon mit dem goldenen Löffel auf die Welt kam und sich nie um seinen Lebensunterhalt sorgen musste. Betrachtet man die Frauen, die ehelos oder verstossen sich in düsteren Ecken wie Whitechapel als Prostituierte verdingen mussten oder welche Halunken in den Hafenkneipen rumlungerten und versuchten unbedarften Trotteln das letzte Hemd abzuknöpfen, erhält man einen ganz anderen Blick auf die Welt, als es die behüteten und eher sorglosen Menschen der Mittelschicht haben. Die echauffieren sich dann darüber, dass die Wäscherei das Tischtuch nicht ganz so weiß bekam, dass es einen blendete und sorgten sich nur darum, irgendwie bei Gesundheit zu bleiben. Dass es aber auch in einer reichen Stadt wie London große Armut gab, die die Kriminalität förderte, weil einen oft der Hunger dazu trieb, übersahen diese Leute geflissentlich. Man mag diese Art der Beschaffungskriminalität sogar verstehen, doch was trieb einen Mann wie Dr. Fiesiatry dazu an? Aus gut betuchtem Hause, außerordentlich intelligent und elitär gebildet, frei von jeglicher Not. Hatte er wirklich Spaß am Bösen? Gibt es eine Art native Lust am Bösen? Fragen, die der blonden, mittlerweile sogar aschfahlen Detektivin am Grabe der beiden Frauen durch den Kopf gingen und in ihr die Leere der Unbeantwortbarkeit hinterließen.
„Amen!“, schloß der Priester seine Rede und die Sargträger griffen die Seile, mit denen sie die Särge schließlich in die Erde hinabließen, nachdem man die Holzstangen darunter entfernte. Danach warfen alle der Reihe nach eine Blume, die sie die Zeremonie über in Händen hielten, zu den Särgen und gaben mit einer kleinen Schaufel etwas Erde, aus einer Schale, die daneben stand, dazu. Als dies der Letzte getan hatte, verneigte man sich noch einmal in Andacht an die Verstorbenen und ließ den Friedhofsgärtner dann die Gräber zuschaufeln.
***
Am nächsten Tag fand sich eine lustige Gesellschaft auf Lemonshire zusammen zu einem großen Umtrunk, den man nach all den Ereignissen, die eigentlich auch auf diesem Anwesen ihren Anfang nahmen, veranstaltete. Neben Jenny Holmes war natürlich auch ihre Nichte Avery geladen, die nun endlich die Freunde ihrer Tante kennenlernen durfte. Selbstverständlich war man auf die junge Dame gespannt, von der die Meisterdetektivin in höchsten Tönen schwärmte. Daneben durften natürlich auch nicht Inspektor Guby fehlen, der sich in einen Sessel des Salons setzte und an einem Gin nippte, und Dr. Baker Sander, der sich in ein angeregtes Gespräch mit der Countess Katja of Saxonia vertiefte. Rob Kartäuser wurde von Jenny Holmes persönlich zu dem Umtrunk eingeladen und stand staunend in dem großen Salon von Lemonshire. Er betrachtete die Bilder, die Stukkaturen und natürlich Lady Biberly und Jenny Holmes. Prof. Dr. Rem Ember nahm extra den Weg von Cambrige nach London auf sich um dieser Party beizuwohnen und verwickelte Lord Lemon in ein fesselndes Gespräch über die seltsamen Sitten polynesischer Frauen, die ganz selbstverständlich gegen Geschenke ihre Liebesdienste anboten. Was von den Missionaren gar nicht gerne gesehen wurde und manch ein Kirchenmann, der das Treiben verbieten wollte, bezahlte mit seinem Leben dafür. Selbst Fürstin Nightingale, die sonst nur selten ihre Behausung verließ, kam zu der Party und nahm regen Anteil daran. Lady Biberly verstand sich als prächtige Gesellschafterin und kümmerte sich vorbildlich um die Verköstigung und Unterhaltung ihrer Gäste. Haushälterin Sabine hatte alle Hände voll zu tun, die Gläser der Gäste nachzufüllen oder ihnen neue Törtchen und Canapees aus Blossems Bakery zu reichen.
„Das ist also die kleine Avery?!“, sagte Lady Biberly und betrachte die junge Dame. „Sehr hübsch und so talentiert.“
„Ja, man kann stolz sein auf sie. Und sie hat uns auch ordentlich geholfen.“, flunkerte Jenny nicht ganz ohne Stolz. Dass ihre Hilfe darin lag, Dr. Fiesiatry den Schmerz seines Lebens zuzufügen, verschwieg sie tunlichst. Das ziemte sich nicht.
Avery wusste vor lauter Schüchternheit gar nicht, wem sie nun zuerst antworten sollte. Alle drängten mit Fragen über Amerika und wie es ihr im alten Europa gefallen würde, auf sie ein, so dass sie am gernsten geflüchtet wäre. Aber Jenny gab ihr immer einen leichten Knuff in die Seite und die junge Amerikanerin sprudelte mit ihrer Antwort nur so heraus. Von draussen her hörte man wieder das Knattern der Gärtnerin Bibi, die wohl schon wieder den Rasen mähte, doch diesmal störte der Lärm nicht. Er ging im Gelächter der Party unter, die bis spät in die Nacht dauerte.
***
Tags darauf machte sich Jenny mit einem ordentlichen Brummschädel, weil sie doch mehr getrunken hatte, als sie eigentlich wollte und vertragen hätte, daran ihrer Nichte beim packen zu helfen. Die Zeit mit ihr war wie im Fluge vergangen und die Rückreise über den großen Teich stand an. Als der große Koffer gepackt war, wuchtete Jenny ihn ächzend zum Auto und war froh, das schwere Ding endlich hinten festgezurrt zu haben. Dann gab es endlich Frühstück. Ihr knurrte schon der Magen und sie war fest entschlossen, die letzte Gelegenheit zu nutzen, einmal das allmorgendliche Essen ihrer Nichte zu versuchen. Also nahm sie eine Tasse Kaffee und einen Teller Rührei. Wider Erwarten schmeckte ihr diese Kombination ausgesprochen gut, aber der Kaffee schien ihr zu bitter. Sie gab ja gerne mal ein bisschen Milch in den Tee und so versuchte sie das auch mit dem braunen Gebräu und als sie es nun kostete, gingen ihre blauen Augen verzückt auf. So schmeckte ihr der Kaffee und er war zusammen mit dem ausgesprochen leckeren Rührei ein Gedicht. Das merkte sie sich und fühlte sich plötzlich wie ein junges Mädchen, das etwas Neues entdeckte. Verflogen war die Pein des Rückens, die sie wegen des schweren Koffers plagte. So konnte man sich trotz vorangeschrittenen Alters doch noch jung fühlen! Nicht unbedingt jung am Körper, sondern jung im Herzen und jung im Geiste.
Derart gestärkt stieg man dann ins Automobil, dessen Motor Jenny aufheulen ließ und knatterte aus London heraus in Richtung Plymouth, wo das Schiff, das Avery zurück in die Heimat bringen sollte, wartete.
Am Kai des Hafens übergab Jenny den schweren Koffer an einen der Stauer, die dafür zuständig waren, die Gepäckstücke im Bauch des Schiffes verschwinden zu lassen. Danach meldete sie ihre Nichte bei dem Steward, der neben der Gangway stand an.
„So.... nun ist es soweit. Jetzt heißt es Abschied nehmen.“, sagte Jenny fast weinerlich zu Avery und kämpfte tatsächlich mit den Tränen.
„Ja, leider, Tante Jenny. Es war richtig schön bei Dir und so aufregend. Ich hatte richtig Spaß. Weißt Du, eigentlich will ich schon fast gar nicht mehr zurück.“, sagte Avery.
„Deine Mutter wartet auf Dich. Sonst würde ich Dich glatt behalten.“, sagte Jenny und versuchte ein Lachen, das aber gekünstelt wirkte unter ihren tränenfeuchten Augen.
„Komm uns doch besuchen Tante Jenny. Warum nicht? Du hast doch jetzt Zeit. Oder etwa nicht?“, schlug Avery vor.
„Ich? Äh....“, stutze Jenny plötzlich.
Tatsächlich wurde ihr eigentlich erst jetzt klar, dass sie in den letzten Tagen den einzigen noch offenen Fall ihrer Karriere löste und sie auch nicht vorhatte, weiter als Detektivin zu ermitteln. Schon vorher nahm sie sich zurück und ja, auch das Alter ist ein Faktor dabei gewesen, sich mehr und mehr aus der Verbrecherjagd zu lösen. Dass sie nun aber gar keinen Fall mehr hatte und wohl auch keinen mehr annehmen würde, wurde ihr erst jetzt so richtig klar. Die Aussicht darauf, im Winter in einem Sessel neben einem Ofen zu sitzen und Wollsocken zu stricken, erbaute sie aber auch nicht. So alt fühlte sie sich noch nicht, auch wenn sie freilich nicht mehr die Jüngste war. Ihre Nichte hatte wirklich recht. Warum sollte sie nicht eine Fahrt nach Amerika machen? Sie hatte die Zeit und die Mittel dazu und war auch noch nie außerhalb Englands.
„Du hast recht, Avery.“, sagte Jenny dann. „Ich werde Euch in Amerika besuchen. Ich mache alles soweit klar und komme dann in ein oder zwei Monaten zu Euch. Ist das ein Wort?“
„Jaaaaa!“, freute sich Avery und fiel ihrer Tante vor Freude um den Hals.
Da ertönte die Schiffsglocke, die alle Passagiere zusammenrief und zum Boarding aufforderte.
„Ich muss dann, Tante Jenny. Eigentlich schade, dass Du nicht gleich mit kannst. Aber ich freue mich irrsinnig, wenn Du uns dann besuchen kommst. Das kann ich kaum erwarten. Mach es gut.“, sagte Avery, umarmte ihre Tante nochmal innig und ging dann die Gangway hinauf.
Bei dem Anblick musste Jenny lächeln, fiel ihr doch wieder ein, wie sie dieses junge Mädchen zum ersten Mal erblickte und Avery dann die Gangway hinab purzelte. Von oben an der Reling winkte Avery Jenny zu und die Meisterdetektivin konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie wischte sie sich von den Wangen und winkte blinzelnd zurück. Die Gangway wurde eingeholt, der Anker gelichtet und die großen weißen Segel wurden gehisst. Die Seagull lief aus und Jenny hoffte, dass sie Avery sicher in den Hafen von New York bringen würde. Immer noch winkend blieb sie am Kai stehen und erst als das Schiff die Hafeneinfahrt verlassen hatte, ging Jenny zu ihrem Auto und fuhr zurück nach London, wo sie erst spät am Abend anlangte und müde in ihr Bett in der Baker Street fiel.
E N D E
1939 erzählt die Geschichte junger Menschen die sich durch den Beginn des 2.Weltkrieges durch unglückliche Umstände kennen lernen und gefährliche Abenteuer bestehen.
https://www.bookrix.de/_ebook-vanessa-moonlight-1939/
Es gibt den bis jetzt verborgenen, wenn auch sehr eigenartigen sowie schillernden Seifenblasenplaneten schon sehr lange. Dr. Rimor von der internationalen Weltraumwarte (iWw) entdeckte ein, wie er glaubte, sich bewegendes „Wurmloch“ und schlug Alarm. Die Lunaria-Galaxie schickte ihr Raumschiff zu einem Erkundungsflug los, bei dem sich herausstellte, dass es kein Wurmloch ist, sondern ein Planet, der wie seine Bewohner gerettet werden muss. Zusätzlich bleibt es noch durch ihr außergewöhnliches und sehr gut behütetes Geheimnis spannend.
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Tarsis. Ein entlegener Felshaufen mitten im All. Ein Projekt des Terraformings und der Besiedelung durch die Menschheit. Vorangetrieben von Idealisten und amnestierten Sträflingen. Dort in Tarsis-City sorgt Biberella für Recht und Ordnung. Doch eines Tages ging das Bier aus...
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Nach den vielen Abenteuern, die die Meisterdetektivin in England erlebte, braucht Jenny Holmes Abwechslung und beschließt, die Einladung ihrer Schwester, sie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu besuchen, anzunehmen. Jenny schließt mit ihrem alten Leben in der Baker Street komplett ab und nimmt sich vor, künftig in der Neuen Welt zu leben. Nach der strapaziösen Überfahrt und der unendlich lange erscheinenden Zugfahrt in die Südstaaten, schließt die Meisterdetektivin ihre Schwester Jane und ihre Nichte Avery überglücklich in die Arme. Auch die Bekanntschaft mit dem gutaussehenden Frank lässt Jenny längst verloren geglaubte Gefühle spüren. Doch das Glück scheint nicht von langer Dauer, denn das Leben in den Südstaaten war anders, als Jenny Holmes das erwartete...
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Texte: Fizzy Lemon
Cover: Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Jenny