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Leseprobe

Ihre Rache steht ihm gut

Amelia Lemon

eins

BAD BOSS IN RAGE

Chris konnte es sich nur mit Mühe verkneifen, die Tür zum Büro seines Chefs hinter sich zuzuwerfen, als er es verließ und den Flur entlangging. Oder was hieß ›ging‹? Er schlich. Er musste seine Gedanken sortieren. Normalerweise konnte er das auch in einem üblichen Schritttempo, doch heute war alles anders. Heute war alles sehr viel … beschissener. Ja, das war das richtige Wort. Chris hatte es gewusst, er hätte heute Morgen nicht aufstehen sollen.

Hatte Chris auf seine Intuition gehört? Natürlich nicht.

Stattdessen hatte er sich beim Rasieren geschnitten und war mit zwei Klopapierschnipseln am Kinn und zwei weiteren an jeder Wange ins Büro gewankt. Dort hatte er sich den Kaffee übergeschüttet, den ihm seine Assistentin Sarah in die Hand gedrückt hatte – in einer brüllend heißen Tasse und selbstverständlich hatte sie den kühlen Henkel gehalten. Er war vor dem Schmerz durch die Hitze zurückgezuckt, nur hatte er dabei leider vergessen, loszulassen. Durch den Ruck hatte er sich das sonst so geliebte Elixier seiner Seele über die Hand und das Hemd gekippt, und das Brennen konnte man auch gut und gerne einen Vorgeschmack auf das Fegefeuer nennen.

Hatte er sich dann wie ein vernünftiger Chef umgezogen, in seinem Büro verschanzt und sich von seiner Assistentin bei jedem Anrufer und Besucher verleugnen lassen?

Nun ja, umgezogen hatte er sich durchaus, für den Rest war er allerdings nicht clever genug gewesen, und das hatte er jetzt davon.

Er saß in einem Haufen Mist und musste sich nun überlegen, wie er da herauskommen sollte. Aber was machte er sich vor? Es gab keinen Ausweg.

Sein Boss Henry war siebenundsechzig Jahre alt, und man konnte es ihm nicht übelnehmen, dass er sich nach dem Ruhestand sehnte. Nur hatte Chris ehrlich gesagt in den neun Jahren, die er für Bluhir Versicherungen arbeitete, darauf spekuliert, dass Henry eines Tages ihm den Laden übertrug. Auf Wirtschaftsforen wurde permanent darüber gejammert, dass Firmeninhaber händeringend Nachfolger suchten. Henry hingegen musste mal wieder aus der Reihe tanzen und löste seine Firma einfach auf. Nur weil diese momentan ein paar Turbulenzen durchmachte. Beinahe jede Firma machte zurzeit Turbulenzen durch. Die Preise stiegen, die Inflation kletterte in schwindelerregende Höhen, die politische Lage konnte man selbst mit dem größten Optimismus nur explosiv nennen. Trotzdem – so was legte sich. Irgendwann legte es sich immer. Ein paar Jahre und es würde seinen gewohnten Gang gehen. Chris hätte das hinbekommen! Laut Henry war Chris ein CEO, dem man sogar die eigene Mutter anvertrauen würde, damit er sie vom Rollator weg und zum Laufen brachte.

Bluhir Versicherungen war zwar nicht Henrys Mutter, aber hätte Henry ihm die Chance gegeben, hätte Henry eine hübsche, regelmäßige Rendite beziehen können, während Chris am Steuer stand und die Eisberge umschiffte.

Chris erhaschte einen Blick auf eines der Bilder, die den Flur zierten, und sah sein eigenes verkniffenes Gesicht als schwache Spiegelung in der Glasscheibe. Die Klopapierschnipsel hatte er vor dem Gespräch mit seinem Boss entfernt, die Schnitte brannten dennoch wie die Hölle.

Er hatte die Augenbrauen so zusammengezogen, dass sie nur noch von einer Falte getrennt wurden, und er hatte das aufgesetzt, was seine Ex-Frau als ›Todesblick‹ bezeichnet hatte, der Frauen entweder das Höschen wegschmelzen ließ (ihre Worte, nicht seine) oder in ihnen den Fluchtinstinkt aktivierte, und nur wer blöd war, hörte nicht darauf (das waren auch ihre Worte).

Der graue Nylonteppich schluckte das Geräusch seiner Schuhe, und so überraschte es Chris wenig, dass seine Assistentin zusammenzuckte, als er die Tür aufriss. Sie hockte in Jeansjacke hinter dem Schreibtisch und war gerade dabei, sich den Haargummi aus der Frisur zu ziehen. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr über die Schultern, und sie sah so erschrocken aus, dass Chris sich fragte, ob er sie bei etwas erwischt hatte. Ihm fiel nur beim besten Willen nicht ein, was es sein könnte. Sicher, die Jeansjacke war für die Assistentin eines CEO nicht angemessen, es wäre besser, sie trüge einen Blazer. Warum war ihm das nicht eher aufgefallen? Stand er bereits den ganzen Tag dermaßen neben sich? Am Ende ließ er nach, und die tanzten ihm auf der Nase herum. Wenn er sich das genau überlegte, war das aber auch schon wieder egal.

Chris holte tief Luft, und ihm fiel ein, dass er immer noch in der Tür stand und sich mit seiner Assistentin anstarrte, als wären sie sich völlig überraschend im Dunkeln begegnet.

Er zwang sich, ein paar Schritte zu gehen, überbrückte die Distanz zu der Tür hinter ihrem Schreibtisch, die in sein Büro führte. Nur kurz blieb er bei ihr stehen und erklärte: »Rufen Sie Matt Goodwell an. Sagen Sie ihm, dass ich ihn gern heute Abend im Golden Aurora sehen möchte, und reservieren Sie dort einen Tisch.«

Er hatte es so beiläufig wie möglich gesagt, dabei zitterten ihm sogar ein wenig die Knie. »Und bringen Sie mir einen Kaffee.«

Es war für Kaffee eigentlich schon zu spät am Nachmittag, aber er brauchte welchen. Damit konnte er zwar nachts nicht schlafen, allerdings könnte er das eh nicht. Selbst für ihn – dem man wohl die beste Startposition beim baldigen Rennen um Jobs in New York zuschreiben könnte – war das alles eine ungewöhnliche Situation, und eine beängstigende noch dazu.

Er wollte gerade sein Büro betreten und lockerte seine Krawatte, als ihn die leise Antwort Sarahs erreichte.

»Mr. Graham, im Golden Aurora muss man mindestens fünf Tage im Voraus reservieren.«

Langsam drehte er sich um. »Heute muss es eben spontan sein.«

»Es gibt dort keine freien Tische.«

»Dann sorgen Sie dafür, dass es einen gibt, oder suchen Sie meinetwegen ein anderes, passendes Restaurant, wenn Sie das nicht hinbekommen.« Er merkte selbst, dass sein Tonfall zu grob war. Aber Herrgott, er hatte anderes zu tun, als sich um diesen Firlefanz zu kümmern. Er wollte mit einem Geschäftspartner essen gehen, möglichst an einem Ort, der suggerierte, dass er nicht die geringste Angst vor der baldigen Arbeitslosigkeit hatte, sondern ganz locker einen anderen Job bekam, und dazu war das Golden Aurora am besten geeignet.

Sarah spielte mit einer Locke, die sich um den obersten Knopf ihrer Jeansjacke gewickelt hatte, und ihr Blick ging an ihm vorbei. Sie fixierte nicht ihn, sondern den Türrahmen, und redete erneut so leise, dass Chris spürte, wie sein Blutdruck langsam stieg.

»Ich muss eigentlich längst unterwegs sein und meine Tochter abholen.«

Oh, deswegen die Jeansjacke. Sie war schon auf dem Sprung gewesen. Er sah zur Wanduhr. Zwölf Minuten nach fünf.

Zwölf Minuten Feierabend und Sarah zeigte keinerlei Bereitschaft, nur eine Minute an ihre vorgeschriebene Arbeitszeit dranzuhängen. Genau wegen solcher Leute, die nur Dienst nach Vorschrift machten, gingen Firmen pleite.

Chris zwang sich, tief durchzuatmen. Es war einfach nur ein beschissener Tag. Es gab keinen Grund, es an Sarah auszulassen.

Als er aufsah, bemerkte er den ängstlichen Blick seiner Assistentin. Er musste zu laut und zu ärgerlich geatmet haben, und anscheinend durfte er nicht mal mehr das.

»Gehen Sie«, sagte er so ruhig, wie er konnte. »Ihre Tochter ist wichtiger.«

Es war übrigens nur ganz wenig beleidigend, dass sie ihn völlig überrascht ansah. Als wäre er das Monster, dem plötzlich rosa Plüsch aus den Ohren wuchs.

Sarah packte rasch ihre Handtasche, sprang so abrupt auf, dass ihr Drehstuhl zurückrutschte und gegen die dahinterliegende Wand knallte, und lief rückwärts zur Tür. Mit einem ins Gesicht getackerten Lächeln und einem Ausdruck in den Augen, als wäre sie mit Müh und Not dem Teufel entkommen.

»Danke, Mr. Graham«, rief sie, bevor die Tür ins Schloss fiel.

Chris presste die Lippen aufeinander und lauschte in die Stille des Büros hinein. Er hörte das Pling des Aufzuges draußen, als dieser hielt. Er hörte ebenso, wie weitere Leute zum Fahrstuhl und in den Feierabend trotteten. Sie ahnten nicht, dass das bequeme Leben morgen ein Ende hatte. Die hundertvierzig Frauen und Männer, die wie er teilweise jahrelang für Bluhir Versicherungen gearbeitet hatten, würden bald keinen Fuß mehr in den siebten und achten Stock des Glastowers im Herzen von Manhattan setzen. Von heute auf morgen mussten sie sich eine neue Arbeit, einen neuen Selbstzweck und vor allem eine neue Finanzierung suchen.

Chris beneidete keinen von ihnen, er beneidete nicht mal sich selbst. Die nächsten Tage würde er damit verbringen, sie alle nach und nach vor die Tür zu setzen. Buchstäblich. Danach war er genauso arbeitslos. Jedenfalls, wenn er nicht schleunigst einen Job fand.

Chris setzte sich an seinen Schreibtisch, wählte die Nummer des Golden Aurora und verlangte einen freien Tisch.

Es war keiner frei, weder für Chris noch für den Papst, falls der es wagen sollte, spontan aufzutauchen. Das erklärte ihm ein frustrierter Kellner mehrmals. Als Chris sich partout nicht abwimmeln ließ und besagter Kellner diesen Satz ihm zum vierten Mal praktisch entgegenbrüllte, legte Chris auf.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er bei der Diskussion wohl laut geworden war. Er musste sich räuspern, und sein Hals fühlte sich rau an. Oder er bekam eine Grippe, das würde zu dem ganzen verfluchten Tag passen.

Chris wollte gerade die Nummer eines anderen Restaurants wählen, als sich die Tür zum Vorzimmer öffnete und Chris hörte, wie jemand eintrat. Kurz darauf tauchte Herman in Chris‘ Büro auf und lehnte sich betont lässig gegen den Türrahmen.

»Dich hat man ja bis in die Kaffeeküche gehört«, spottete er.

Mal sehen, ob er ruhiger reagierte, wenn Chris ihm die Kündigung überreichte. Bald Hermans Gesicht entgleisen sehen zu können, war der einzige Trost an diesem Mist.

»Das Golden Aurora ist nun mal sehr beliebt«, erwiderte Chris. »Und die Kellner sind abgebrüht.«

»Lassen sich nicht mal von der Queen beeindrucken, was?«, fragte Herman. »Wo ist denn Sarah?«

»Ihr Kind abholen.«

Herman hob spöttisch die Augenbrauen. »Das lässt du ihr durchgehen? Man muss sich schon entscheiden, was wichtiger ist.« Dem letzten Satz verlieh er einen so nonchalanten Ton, dass Chris nicht anders konnte, als sich provoziert zu fühlen. Er wiederholte, was Chris gern sagte, und warf ihm somit praktisch gleichzeitig mangelnde Konsequenz vor. Dabei war Herman nicht wesentlich besser als Sarah. Mitarbeitende, die pünktlich den Stift fallen ließen, waren ärgerlich. Jemand wie Herman, der zehn Stunden täglich damit verbrachte, sich aufzuplustern, war allerdings genauso Gift.

Aber vielleicht waren ja alle schlauer als Chris. Was nutzte es einem, sich Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr den Hintern buchstäblich aufzureißen, die Menschen zu enttäuschen, die man liebte, wenn man von heute auf morgen sowieso auf der Straße stand?

»Einen Tisch zu reservieren bekomme ich auch noch hin«, erwiderte Chris und drehte sich auf seinem Drehstuhl von ihm weg, um erneut nach dem Telefon zu greifen. Das unmissverständliche Zeichen, dass Herman gefälligst verschwinden sollte.

Doch während Chris bereits die nächste Nummer eintippte, merkte er, wie Herman näher trat und beiläufig eine Mappe in der Hand schwenkte.

»Ist Henry jetzt zu sprechen?«

»Das musst du ihn selbst fragen«, brummte Chris, drückte die letzten Ziffern der Nummer und griff nach dem Hörer. Aber er müsste ihn Herman wahrscheinlich an den Kopf werfen, damit der den Wink mit dem Zaunpfahl überhaupt kapierte.

Der rückte lieber an Chris’ Schreibtisch heran und beugte sich vor. Vertraulich leise fragte er: »Was hast du eigentlich mit dem Alten so lange besprochen? Ihr wart vier Stunden in seinem Büro.«

»Das wirst du erfahren, sobald die Zeit reif ist«, erwiderte Chris und legte den blöden Hörer wieder auf. Er konnte nicht reden, wenn ihn Herman dermaßen anstarrte.

»Das klingt ja geheimnisvoll.«

Immerhin war Herman nicht dreist genug, direkt nachzufragen, ob ihm Chris was verriet.

»Hast du die Zahlen für das letzte Quartal aufbereitet?« Chris gab sich nicht die geringste Mühe, seinen gereizten Unterton zu überspielen.

»Ich muss noch Belege bei der Bank abfordern. Deswegen wollte ich ja mit dem Alten sprechen. Ich brauche seine Unterschrift.«

»Der Alte ist unser Arbeitgeber, bezahlt unser Gehalt, hat ein Minimum an Respekt verdient, und außerdem besitze ich die Vollmacht, für ihn zu unterschreiben. Auch für die Bank.«

Herman bewies leider nicht den Anstand, nun zusammenzuzucken. »Henry weiß, wie ich es meine. Wir kennen uns schließlich schon seit dem Studium.«

Genau das war der Grund, warum Chris Herman bisher nicht einfach gefeuert hatte. Egal, wie groß die Versuchung gewesen war. Er streckte die Hand nach der Mappe aus. »Gib es her.«

Herman sah ihn unschlüssig an. »Ich würde lieber gern mit …«

»Gib es her!«, stieß Chris zwischen zusammengepressten Zähnen heraus.

Herman zuckte mit den Schultern, als wäre es plötzlich gleichgültig, und legte ihm die Mappe auf den Tisch. Chris schlug sie auf, setzte seine Unterschrift auf das Dokument, auf dem ›Anforderung vertraulicher Unterlagen‹ stand. Beinahe hätte er mit seinem alten Namen unterschrieben. Chris Parker. Weil Kendyl damals bei der Hochzeit darauf bestanden hatte, den Namen ihrer Familie weiterzutragen, hatte er ihren angenommen. Und aus Chris Graham war Chris Parker geworden. Als ob Parker außergewöhnlich wäre, aber er war verliebt und bescheuert gewesen.

Gestern – rund ein Jahr nachdem seine Ehe geschieden worden war – hatte er die Mitteilung und einen neuen Ausweis bekommen. Mit seinem Geburtsnamen. Chris hatte geglaubt, es würde ihn von den Erinnerungen an Kendyl befreien, wenn er nicht mehr mit ihrem Familiennamen unterschrieb. Die Wahrheit war, dass er in dem Moment, als er ansetzte, ›Parker‹ zu schreiben und sich darauf konzentrierte, stattdessen mit ›Graham‹ zu unterzeichnen, sein Leben nur noch mehr hasste. Er hatte seine Ehe mit seiner Liebe zur Arbeit ruiniert. Das hatte er jetzt davon.

Mit seinem besten ›Todesblick‹, den er draufhatte, gab er Herman die Mappe zurück. »Ich bin morgen um sieben Uhr im Büro. Dann will ich die Zahlen auf meinem Tisch.«

»Den Spitznamen ›Pitbull‹ musst du dir nicht tagtäglich erarbeiten, er gehört eh schon zu dir«, verkündete Herman beleidigt, und dem Himmel sei Dank, er verschwand endlich.

Obwohl es Chris egal sein sollte, was andere über ihn dachten, wurmte ihn diese Bezeichnung gewaltig.

›Du solltest ein Coaching buchen‹, hatte Henry – ›der Alte‹ – zu Chris gesagt. ›Unsere Art zu führen ist nicht mehr gewünscht. Neuerdings wollen alle mit Zuckerwatte gepudert werden, sonst gehen sie zu hippen Start-ups, die nur ein halbes Jahr bestehen, aber hey, dort kann man Tischtennis spielen. Wir hingegen sind Wölfe. Wer nicht leistet, wird gerissen, nur sind wir jetzt die aussterbende Art. Du bist allerdings erst vierunddreißig, du kannst dich anpassen. Lass dir ein paar Zähne ziehen und durchs Fell kraulen. Dann liegen dir die alle zu Füßen, und du findest mit Leichtigkeit was Neues.‹

Chris würde mal behaupten, dass er bei seiner Sarah kurzzeitig einen Zahn verloren hatte, bei Herman war ihm dieser jedoch prompt nachgewachsen. Chris würde sein Haus und seinen mickrigen Kontostand darauf verwetten, dass ihm ein Coaching nicht das Geringste einbrachte. Er hasste schlechte Arbeit, er hasste es, wenn Menschen ihre Zeit mit Reden verplemperten, und er sah nicht ein, warum man Anweisungen mit einem ›Ach, wenn Sie zwischen Kaffeepause und Ihrem Feierabend Zeit hätten …‹ beginnen sollte. Wenn ihn das zu einer miesen Führungskraft machte, hatte er ein gewaltiges Problem. Dann konnte er bald weder seine Rechnungen bezahlen, noch seiner Ex-Frau und seinem Sohn den Unterhalt. Kendyl hatte sicherlich immenses Verständnis dafür, wenn ihn wegen seiner Art niemand einstellte, schließlich hatte sie ihn genau deswegen verlassen.

zwei

HIT THE BOSS (ABER NUR GANZ LEICHT)

Marlene wäre beinahe gegen die Tür des Restaurants gelaufen, so sehr war sie in Gedanken versunken. Nur das Funkeln des goldenen Schriftzugs Streetwise Lane im Scheinwerferlicht eines der unzähligen vorbeifahrenden Fahrzeuge ließ sie rechtzeitig innehalten.

Eigentlich hatte sie geglaubt, ein Cocktailkleid, das naturbelassenen Stoff und den Chic der High Society vereinte, wäre einfach. Tja, offenbar nicht. Die A-Linie aus einem reinen Baumwollstoff, die sie gestern als völlig perfekt empfunden hatte, war heute nur noch eines: langweilig. Marlene brauchte ein neues, ein modernes Element. Schnallen? Nein, zu offensichtlich. Eine ungewöhnliche Farbe? Aber welche?

Die Klinke zum Streetwise Lane fühlte sich kühl in ihrer Hand an, und Marlene sog tief die Luft ein. Sie hatte den September in New York schon immer besonders gefunden. Er war lauter, belebender – ganz anders als der stürmische September in der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war. An New York gefiel ihr, dass man die Frische bemerkte, die der Regen mit sich brachte. Zu oft überlagerten die Abgase der Autos jegliche anderen Gerüche.

Marlene nahm sich bewusst einen Augenblick Zeit. Gleich würde sie hellwach und konzentriert sein müssen und hoffentlich nicht aus Nervosität zum Trampel mutieren. Jetzt hatte sie eine winzige Sekunde, in der sie den Autos nachsehen konnte, die auf der Straße vorbeifuhren, und wie die Regentropfen im Licht der Straßenlampen, Werbeschilder und Ladenbeschriftungen glitzerten. Die meisten Menschen, die vorbeieilten, hatten die Schultern hochgezogen und duckten sich unter einem Schirm. Nur der Mann neben ihr trug einen Hut, von dessen Krempe das Wasser tropfte.

Moment mal – der Mann neben ihr.

»Äh«, machte Marlene.

»Sind Sie fertig?«, fragte der besagte Mann. »Wollen Sie jemandem noch einen Antrag machen? Sich an der Tür festkleben? Weiter ins Nichts stieren? Ich weiß, dass manche Überlegungen zu wichtig sind, um sie zu unterbrechen, aber zur Hölle – lassen Sie mich wenigstens hinein, bevor Sie alles blockieren.«

Marlene zuckte unter seinem Wortschwall zusammen. Sie wich instinktiv zurück, weg von der Tür, und er zog diese auf. Den Fuß auf der Schwelle drehte er sich zu ihr um. »Kommen Sie mit hinein oder nicht?«

Gott im Himmel, sie war heute noch zerstreuter als sonst. »Ähm …«

»Jetzt kommen Sie endlich!«

Der Befehlston jagte ihr praktisch das Adrenalin durch die Adern, und er hätte sie genauso gut am Arm packen und mit sich zerren können – aus Reflex machte Marlene einen gehorsamen Sprung nach vorn und … blieb an der verblödeten Holzschwelle hängen. Sie stolperte, ruderte mit den Armen, schlug sich prompt die Hand an der noch blöderen, äußerst massiven Eingangstür an und knallte gegen den Kerl, der diese bis eben offengehalten hatte.

Sie hielt sich an seinem Sakko fest. Nein, nicht an seinem Sakko. Das war sein Schal – ein qualitativ hochwertiger Mohairschal, wie die Textilfetischistin in ihr erfreut feststellte. Ihn freute das sicher nicht so sehr. Er gab ein ersticktes Geräusch von sich, packte sie an den Schultern und schob sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die nun geschlossene Tür prallte. Er hatte allerdings wohl weniger damit gerechnet, dass sie nicht losließ. Bei allen Mächten des Himmels – sie hasste es, wenn sie wie ein Reh im Scheinwerferlicht erstarrte, nur weil sie überfordert war.

Jetzt stand sie hier, würgte ihn, während er ihr so nahe war, dass sie sein Aftershave riechen konnte. Es roch ein wenig nach Menthol, nach Leder und nach Mandarine? Sie kannte nur einen Mann, der es schaffte, selbst im Sommer nach Mandarinen zu riechen.

»Bitte, lassen Sie endlich los.« Er klang so gequält, dass sie tatsächlich ihren Griff lockerte.

»Es … es tut mir wirklich leid«, stammelte sie. »Ich habe einfach das Erste gegriffen, woran ich mich festhalten konnte, und das waren nun mal, äh, Sie. Oder vielmehr: Ihr Schal.«

»Ich werde mir abgewöhnen, einen zu tragen. Das ist mir zu gefährlich.«

Sie lächelte entschuldigend und hob den Blick. Weg von dem schwarzen Schal, den er um seinen Hals gewunden hatte, wobei zwischen dessen Stoff und dem Hemdkragen ein kleines Stück seiner Haut zu sehen war. Haut mit den dunklen Stoppeln eines Fünftagebartes. Hatte sie erwähnt, dass es diese Kleinigkeiten waren, die ihr an anderen Menschen auffielen? Vor allem an Männern? Die Art, wie ein Hemdkragen einen Hals betonte oder der Schnitt eines Sakkos die Schultern. Wie ein Gürtel die Aufmerksamkeit des Betrachters zur Taille lenkte.

Was sie nun zu sehen bekam, war im Übrigen nicht weniger verfänglich. Es war sein Gesicht – ein sehr hübsches Gesicht. Diese Tatsache hätte sie bestimmt nicht dazu gebracht, abermals zu erstarren. Es war vielmehr der Umstand, dass sie ihn kannte. Das war Chris Parker.

Dichtes Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde, am Übergang zu seinem gestutzten Bart. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine steile Falte, und Marlene wusste nur zu gut, wie schnell diese Falte entstand. Diese Mimik hatte Marlene vier Monate lang studiert, nach ungefähr einer Woche hatte sie angefangen, sie zu hassen. Chris Parker war ein schöner Mann, solange er nicht den Mund aufmachte. Leider hielt er diesen äußerst selten, man müsste ihn schon betäuben. Und nur Gott allein wusste, wie oft sie nah dran gewesen war.

Bevor sie etwas sagen konnte, räusperte sich jemand. Sie schoss herum, und ihr Blick fiel auf einen Kellner hinter dem Stehpult, der sie höflich-fragend anlächelte.

Ihr ehemaliger Boss trat weg von ihr, und warum zum Henker fühlte sich ihre Seite auf einmal leer an? Sie sollte über solche Gefühle hinweg sein!

Und warum sagte er nichts zu ihr? Hatte er kein Wort mehr für seine einstige Assistentin? Es war zwar inzwischen drei Jahre her, aber er würde sich doch wohl an die Frauen erinnern können, die er Tag für Tag in den Wahnsinn getrieben hatte.

»Chris Graham, ich habe einen Tisch für zwei reserviert«, sagte ebenjener gerade, und in Marlenes Bauch bildete sich ein heißes Gefühl, und sie hatte plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Einen Tisch für zwei? Hatte er ein Date? Als sie für ihn gearbeitet hatte, war er mitten in der Scheidung gewesen. Scheinbar hatte er seinen Namen zurückgeändert. Um für eine andere Frau frei zu sein?

Der Kellner nickte, winkte einer Kollegin und bat diese, Chris zu Tisch vier zu bringen. Marlene sah ihm nach. Er warf ihr nicht den kleinsten Blick zu, schien sie schon wieder vergessen zu haben.

»Und Sie, Mrs. …«, durchdrangen die Worte des Kellners ihre gedankliche Blase, und Marlene blinzelte. Sie musste wirklich daran arbeiten, sich besser zu konzentrieren.

»Mrs. Gallagher«, sagte sie. »Jerry Blum hat einen Tisch reserviert.«

»Ja, hier steht es.« Der Kellner trat hinter dem Pult hervor. »Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Marlene hatte Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben und nicht einfach nur staunend stehen zu bleiben. Immerhin lenkte sie der Anblick des Essenssaales von Chris Graham ab.

Schwere Kronleuchter baumelten von der Decke, es gab diskrete Nischen mit Zweiertischen, dann wieder größere Tische mit Sitzbänken. Der Teppich bestand aus Flor, der garantiert so teuer war wie Marlenes komplette Wohnungseinrichtung.

Sie hatte sich immer noch nicht darum gekümmert, ihre Wohnsituation ihrem aktuellen Einkommen anzupassen, und vor allem war sie es nicht gewohnt, in einem teuren Restaurant sicher auf High Heels zwischen den Tischen zu laufen, an denen reiche Menschen saßen. Verdammt reiche Menschen. Die, die ihre Kleider tragen sollten, wenn es nach Marlene ging. Damit sie noch populärer wurde. Aber sie konnte sich mit einem miesen Entwurf auch alles zunichtemachen.

Obwohl sie wusste, dass es lächerlich war, fühlte sie sich von allen angestarrt. Als wüssten alle, dass sie nicht dazugehörte. Dass ihr großer Erfolg nur ein Irrtum war, der sich bald berichtigen würde.

So wie Chris seinen Fehler berichtigt hatte, als er sie sechzehn Wochen, nachdem er sie als Assistentin eingestellt hatte, wieder vor die Tür setzte.

drei

BEZIEHUNGEN SIND ALLES

Kaum hatte ihn die Kellnerin zu seinem Tisch geführt, hatte Chris den Schal schleunigst abgelegt und hoffte, dass diese Verrückte ihm nicht noch Würgemale zugefügt hatte. Gott, hatte die Frau einen Griff gehabt. Als würde sie tagtäglich Leute mit dem Strick um den Hals zum Galgen schleifen. Dabei traute man ihr das auf den ersten Blick nicht zu. Sie hatte mehr wie jemand gewirkt, der hier nicht nur völlig fehl am Platz war, sondern auch in Gedanken eher in der Hängematte an einem Strand schaukelte, als im verregneten New York etwas zustande zu bringen. Wahrscheinlich war sie eine reiche Erbin. Nur so konnte er sich erklären, dass jemand mit neongrünen Strähnen im sonst schwarzen Haar in einem Restaurant wie dem Streetwise Lane essen konnte. Obwohl die Speisekarte eher nach einem mittelmäßigen Imbiss klang, sollte man sich davon nicht täuschen lassen. Die Burger wurden mit essbaren Blüten dekoriert, die Spitzen der Fritten waren mit Blattgold ummantelt, und der Ketchup war sicherlich von Tomaten gewonnen worden, die ihr Fruchtfleisch mit Freude gespendet hatten. Wie kam man bitte schön sonst auf solche horrenden Preise?

Aber immerhin schien Matt beeindruckt zu sein. »Ich war noch nie hier«, sagte er beinahe ehrfürchtig. »Wie hast du hier so kurzfristig einen Tisch bekommen?«

»Beziehungen«, behauptete Chris gelassen. Die Wahrheit war, dass er einfach Glück gehabt hatte. Ein Pärchen hatte abgesagt, und Dienstagabend war die Warteliste meist nicht sonderlich lang. So hatte es zumindest der Kellner erklärt.

Matt wackelte mit den Augenbrauen. »Stellst du mir die Beziehung irgendwann mal vor oder behältst du die allein für dein Bett?«

Chris musste sich beherrschen, nicht genervt zu schnauben. Bei Matt drehte sich größtenteils alles um Sex. Es war ein Wunder, dass er von Chris nicht verlangte, mit den Kandidatinnen zu schlafen, die er ihm regelmäßig vorstellte, wenn Chris‘ Assistentin mal wieder das Handtuch geworfen hatte.

»Es ist keine Frau«, erwiderte Chris.

»Holla«, machte Matt. »Sag nur, du probierst jetzt Männer.«

»Sollte ich das je tun, komme ich auf dich zurück.«

Matt strahlte plötzlich und warf ihm absurderweise eine angedeutete Kusshand zu. Langsam konnte sich Chris nicht mehr entscheiden, ob ihn die Preise verstörten oder sein Gegenüber.

»Dann will ich übrigens hierher ausgeführt werden, bevor du mir an die Wäsche gehst«, verkündete Matt und schloss die Speisekarte. Entspannt lehnte er sich zurück und wartete, bis auch Chris das in Leder gebundene Buch weglegte.

»Was brauchst du diesmal?«, fragte Matt. »Wieder eine Assistentin? Ich dachte, du wärst mit Sarah zufrieden.«

»Bin ich immer noch«, erwiderte Chris. »Sie macht ihre Sache meistens gut.«

»Meistens.« Matt lachte. »Das sollte sie sich als Urkunde aufhängen. ›Chris Graham hat gesagt, ich mache meine Sache meistens gut.‹ Das ist wie ein Orden.«

»Verrat ihr das nicht, sonst will sie eine Gehaltserhöhung«, brummte Chris. Es fiel ihm verdammt schwer, einfach auszusprechen, was er brauchte. Einen Job. Für sich selbst.

Aber die Worte wollten nicht so recht auf seine Zunge. Sie sperrten sich, flüsterten ihm ins Ohr, dass das alles sicherlich nur ein Irrtum war oder ein schlechter Traum. Morgen würde Henry zu ihm kommen und ihm sagen, dass er es sich überlegt habe. Er würde die Firma einfach Chris übergeben. Dann erinnerte sich Chris allerdings an das ungläubige, beinahe herablassende Lachen, als er Henry genau das vorgeschlagen hatte.

»Ich …«, setzte Chris an, wurde jedoch von der Kellnerin unterbrochen, die an ihren Tisch kam. Sein Magen flatterte, als sie die Bestellung aufgaben, und er hätte Matt am liebsten geschüttelt, als dieser sich nicht zwischen zwei Weinen entscheiden konnte.

»Nimm den Greensleeve«, knurrte Chris, und sein eigener Tonfall wurde ihm erst bewusst, als die beiden ihn verdutzt ansahen. Er hob die Hände und zwang sich zu einem Lächeln. »Vertrau mir.«

Matt zuckte mit den Schultern und nickte der Kellnerin zu, die endlich – endlich! – verschwand. Matt betrachtete ihn eingehend.

»Ich habe zurzeit einen Personalchef in der Vermittlung. Ziemlich gut, wenn man mich fragt. Ach, und eine Grafikdesignerin, die gerade die Nase voll von der Selbstständigkeit hat«, sagte er. Gott, glaubte er, Chris wäre so aggressiv, weil Matt ihm nicht schnell genug Vorschläge lieferte? Hatte Chris wirklich einen dermaßen miesen Ruf?

»Ich brauche niemanden«, erwiderte Chris und verkniff sich ein leises Seufzen. »Du kennst nicht zufällig jemanden, der einen CEO sucht, dem sein aktueller Boss gesagt hat, er solle sich die Zähne ziehen lassen, weil die Arbeitswelt weich geworden ist?«

Matts Augenbrauen hoben sich, bis sie mit dem Haaransatz zu verschmelzen schienen. Schließlich legte er den Kopf in den Nacken und lachte laut los. Er hielt sich den Bauch, und sein Lachen war so auffällig, dass die anderen Gäste auf jegliche Diskretion pfiffen und sich zu ihnen umdrehten.

Ausgerechnet jetzt ging Chris‘ Blick zu der Frau mit den schwarz-grünen Haaren. Eine neongrüne Strähne fiel ihr über die Nase. Sie starrte sie unverhohlen an, allerdings unterschied sie sich damit kaum von den anderen. Sie saß mit zwei Männern am Tisch, hatte die Ellenbogen abgestützt und hielt ein Weinglas in der Hand. Als sie es exte, wünschte er, er könnte es ihr gleichtun. Vielleicht fiel ihm dann endlich ein, warum sie ihm so bekannt vorkam. Hätte er sie schon einmal getroffen, müsste er das doch wissen. Diese Frau war mit Sicherheit nicht nur heute so verträumt und gemeingefährlich zugleich.

Chris schüttelte diesen Gedanken ab und atmete tief durch. Als sich Matt beruhigte, wandten die anderen Gäste ihre Blicke ab, allein die Furie mit den schwarz-grünen Haaren sah immer wieder zu ihnen. Sie konzentrierte sich zwar auf ihre Begleiter, stocherte aber abwesend mit einer Gabel in der Suppe herum, bis ihr einer der Männer einen Löffel in die Hand drückte. Selbst in der eher diffusen Beleuchtung sah Chris, wie sich die Röte auf ihren Wangen ausbreitete. Sie hob die Lider, und ihr Blick begegnete ausgerechnet seinem. Schnell wandte er ihn ab. Er hatte Besseres zu tun, als eine fremde Frau anzustarren. Egal, wie sehr etwas in ihm klingelte. Es spielte keine Rolle, verflucht noch eins.

Matt rieb sich den Bauch und eine Träne aus dem Augenwinkel. »Schön, zurück zum Ernst des Lebens. Du verarschst mich nicht und brauchst wirklich einen Job?«

»Ja«, brummte Chris und zwang sich, nicht zu dem anderen Tisch zu starren. Er könnte schwören, dass die Fremde genauso oft verstohlen zu ihnen linste, wie er es tat. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Er hatte unwichtige Dinge stets ausblenden können, und diese Frau war eindeutig unwichtig.

»Der Weg für frisch ausgeschiedene Manager ist meistens schwierig«, sagte Matt nun ernster. »Bluhir Versicherungen ist nicht so groß, dass du problemlos in einen Konzern wechseln könntest, und bei kleineren Firmen sind es meist familieninterne Manager.«

»Du willst mir sagen, ich soll irgendwo einheiraten?«, spottete Chris und lächelte schief. »Das ist keine Ehe wert.«

Matt grinste breit. »Meine Rede. Ich werde sehen, was ich tun kann. Augen und Ohren offenhalten, schließlich will ich dich als Kunden behalten. Du kannst nur Leute von mir einstellen, wenn du selbst einen Job hast.«

Er zwinkerte Chris so verschwörerisch zu, dass diesem klar wurde, dass er Matt definitiv zu einem weiteren ›Date‹ ins Streetwise Lane einladen musste (und die Rechnung übernehmen), wenn dieser ihm einen neuen Job einbrachte. Vermutlich musste er ihm sogar wirklich an die Wäsche gehen, nur damit Matts Ego strahlte. Aber alles war besser, als in ein paar Tagen nichts mehr zu tun zu haben. Am Ende dachte er dann ständig darüber nach, woher er diese Frau kannte, und dann war der nächste Schritt Trash-Fernsehen und totale Verblödung.

vier

ALLES, WAS IHR WOLLT

Michael berührte mal wieder Marlenes Arm. Er hatte es inzwischen sicherlich ein Dutzend Mal getan, und trotzdem schaffte es Marlene einfach nicht, sich voll und ganz auf das Gespräch zu konzentrieren. Nicht mal auf das Essen. Dabei sollte sie es genießen. Sie hatte die Preise gesehen, und immerhin bezahlte sie die Rechnung. Wobei das Geld ja eigentlich nicht ihres war. Es war das von Jerry und Michael. Sie hatten in Marlene und ihre winzige Firma investiert. Jerry war ein bekannter Designer. Sein Label war in diesem Jahr sogar auf der Fashion-Show in Mailand vertreten gewesen, und er hatte erst kürzlich einen millionenschweren Deal mit einer internationalen Textileinzelhandelskette auf die Beine stellen können. Seine Kollektionen waren auf jedem zweiten Plakat in New York zu sehen, und wenn man ihm glauben konnte, dann ebenso in jeder großen amerikanischen, kanadischen und europäischen Stadt.

Das wollte Marlene auch.

Und trotzdem konnte sie immer nur wieder zu Chris starren. Was war denn bitte los mit ihr? Eine Minute mit ihm, und es war wie früher! Er dominierte ihre Gedanken, und sie bekam nichts auf die Reihe.

Ein Gefühl, das sie nicht bestimmen konnte, schaukelte in ihrem Bauch und in der Suppe hin und her. Wie ein Klumpen, der sich einfach nicht auflösen wollte.

»Gedanklich steckt sie noch im Atelier«, mutmaßte Michael und sah dabei so missmutig aus, als hätte ihn Jerry mit einer Frau betrogen.

»Du hast mein vollstes Verständnis, aber ich glaube nicht, dass es das Atelier ist, was sie so fesselt«, sinnierte Jerry. Zu Marlenes Entsetzen sah er direkt zu Chris. »Hübscher Kerl.« Jerry grinste. »Dein Ex?«

»Gott, nein«, platzte Marlene heraus.

»Ha«, rief Jerry aus. »Du wünschst dir, es wäre dein Ex, das hieße nämlich, ihr hättet euch schon schweißbedeckt und grunzend vor Leidenschaft zwischen den Laken gewälzt.«

»Gott im Himmel«, murmelte Michael.

»Gott im Himmel«, stimmte Marlene zu und schob ein entschlossenes »Nein« hinterher.

»Wenn du ihn nicht willst, ich nehme ihn.« Jerry wackelte mit den Augenbrauen.

»Davon will ich ein Video«, murmelte Marlene. Sie wollte unbedingt sehen, wie ein Chris Graham vor Jerrys alles überrollender Art in Deckung ging.

Jerry lachte. Seine Augen hatte er mit Kajal umrandet, und die dunkle Farbe intensivierte das Blau seiner Iriden. Er tätschelte ihre Hand mit seiner Pranke. Grundsätzlich war an dem Mann alles zu groß geraten. Sogar jetzt bräuchte er sich nur vorzubeugen und würde gegen die Lampe über dem Tisch stoßen.

»Du gefällst mir von Tag zu Tag besser«, flüsterte er.

Eigentlich müsste sie darüber froh sein. Je lieber er sie mochte, umso mehr investierte er in sie und ihre Kollektion. Allerdings hatte sie erlebt, wie Jerry die Nachricht, dass die Mutter gestorben war, in eines dieser flockigen Gespräche eingebunden hatte. Die Mutter seines Gesprächspartners wohlgemerkt, und der hatte fünfzehn Minuten gebraucht, bis es zu ihm durchgesickert war, dass Jerry eher vom Tod seiner Mutter erfahren hatte als er selbst.

Genauso beiläufig würde Jerry den Traum ihrer Existenz zerstören, wenn sie ihn nur ein bisschen verärgerte.

»Wir haben dein Konzept übrigens auf das Nötigste zusammengestrichen«, verkündete Michael prompt so trocken, als hätte er seinen Fisch bestellt, den er ständig aß.

»In Amerika hergestellt, absolut fair produziert, aus veganen und natürlichen Stoffen, so wie du es willst«, schwärmte Jerry. »Und selbstverständlich mit einem umwerfenden Design. Wenn wir unsere Köpfe zusammenstecken, werden wir die Modebranche ordentlich auf den Kopf stellen. Meine Erfahrung und deine Frische.«

Marlene lächelte bemüht. Das alles klang gut, und doch hatte sie das Gefühl, dass es einen Haken gab. Einen Haken, der ihr nicht gefiel.

Michael drehte sich auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite und schlug die Beine übereinander. Dafür, dass er nicht nur im Geschäft, sondern auch im Privatleben Jerrys Partner war, sah er fast schon bieder aus. Er trug einen Anzug ohne ein dekadentes Detail. Schwarz, das Sakko ein wenig tailliert geschnitten, weißes Hemd. Er und Chris könnten problemlos die Anzüge tauschen, und es würde nicht im Geringsten auffallen.

»Das ist alles mit hohen Kosten verbunden«, dozierte er gerade. »Natürlich sind die Kleider im Luxussegment angesiedelt. Trotzdem … Bevor wir zu großkotzig mit den Preisen einsteigen, sollten wir überlegen, nicht auch Kollektionen zu haben, die gewöhnliche Menschen tragen können.« Jerry rümpfte die Nase, aber ein strafender Blick von Michael ließ ihn den Mund halten. »Ich habe mir einen Überblick über das Chaos verschafft, das du Buchhaltung nennst, Marlene. Ihr lauft nicht profitabel, und das Problem ist großenteils euer Personal. Die Kosten sind zu hoch. Wie viel Urlaub haben eure Leute eigentlich? Und wieso sind die ständig krank und damit noch nicht entlassen? Ihr seid ein Start-up, ihr könnt euch faule Eier nicht leisten.«

Jerry warf Marlene einen Blick zu, den man getrost mit ›Ich hab es dir ja gesagt‹ übersetzen konnte. Sie seufzte leise. Sie hatte vorrangig junge Mütter eingestellt, oft mit mehr als zwei Kindern. Die Frauen also, die kaum eine Chance hatten, woanders einen Job zu finden, und mittlerweile wusste Marlene auch, wieso. Weil die Kinder krank waren, weil sie zum Arzt mussten, weil die Kita geschlossen hatte.

»Auf jeden Fall braucht ihr einen Geschäftsführer«, stellte Michael fest.

»Ist das alles?«, fragte sie verdutzt, und jetzt blinzelten Michael und Jerry erstaunt.

»Brauchen wir noch mehr?«, sinnierte Jerry und sah dabei Michael an.

Dieser hob die Schultern. »Im Moment nicht. Das Konzept ist gut, Jerry wird dafür sorgen, dass deine Designs nicht nur künstlerischer Schwachsinn sind, und jemand kümmert sich darum, dass wir nicht nur den Angestellten das Geld hinterherwerfen.«

Marlene überhörte den ›künstlerischen Schwachsinn‹ lieber. Sie war viel zu erleichtert darüber, dass Jerry und Michael nicht mehr von ihr forderten. Mit einem Geschäftsführer konnte sie leben. Es war jedenfalls besser, als wenn sie ihr nicht helfen wollten. Jemand, der wusste, was er tat, war ihr herzlich willkommen, und eine kleine Last fiel ihr vom Herzen.

Sie nickte und spähte zu Chris. Der war zum Glück seit fast einem Jahrzehnt bei Bluhir Versicherungen und würde dort nicht weichen, aber vielleicht fanden sie ja jemanden, der ähnlich attraktiv, äh, fachkundig war und vor allem nicht so ein hemmungsloses Arschloch.

fünf

RETTE SICH, WER KANN

Für einen Septembertag in New York herrschte herrliches Wetter. Die Sonne schien durch die bodenlangen Fenster seines Büros. Chris spürte ihre warme Kraft am linken Arm und auf der Schulter, der Rest von ihm lag im Schatten. Im Grunde war er ein typischer Sesselpupser und Couchpotato – von zu viel Sonnenschein fühlte er sich eher unter Druck gesetzt, gefälligst nach draußen zu gehen und das Leben zu genießen, statt zu arbeiten oder Filme zu sehen. Doch heute sehnte sogar er sich hinaus, danach, aus dem Büro zu flüchten, sich im Central Park auf eine Bank zu setzen und Joggern dabei zuzusehen, wie sie um jeden Atemzug und jeden Schritt rangen.

Stattdessen sah er in tränenverhangene braune Augen, die ihn anflehten, alles zurückzunehmen, was er gerade gesagt hatte. Dass dieses Unternehmen sich nicht einfach in Luft auflöste. Dass sie nicht alle ihre Jobs verloren, dass sie nicht vor dem großen Nichts standen.

»Es tut mir leid«, sagte Chris schwach. Er hatte diese Worte in den vergangenen Tagen x-mal gesagt, und nie hatte er sie ehrlicher gemeint als in diesem Moment. Gracie arbeitete in der Marketingabteilung. Sie war hochschwanger, wäre längst im Mutterschutz, hatte es sich allerdings nicht leisten können, weil der Vater ihres Kindes beschlossen hatte, dass er kein Kind wollte. Sie hatte bis zum Geburtstermin in zwei Wochen arbeiten wollen. Das alles nur, um noch ein wenig Geld zu verdienen, bevor das Kind kam und sie nicht abschätzen konnte, wann sie wieder einsteigen könnte. Bei Bluhir Versicherungen konnte sie es jedenfalls nicht mehr.

Bei manch anderer hätte es Chris nicht so sehr berührt. Auch nicht, wenn sie wie Grace alleinerziehend sein würde. Es wäre für ihn unter die Kategorie ›das Leben spielt mitunter scheiße‹ gefallen. Gracie war jedoch eine kluge, strebsame und treue Mitarbeiterin, und sogar Chris konnte an solche sein Herz verlieren. Erst recht, wenn sie versuchten, ihm keine Szene zu machen, und sie nun den Rotz hochzog, um nicht endgültig die Fassung zu verlieren.

Er reichte ihr ein Taschentuch, und Gracies Hand zitterte, als sie es entgegennahm und auf ihr Gesicht presste. »Du bist in Sachen Social Media ein absoluter Star, du wirst etwas finden.«

»So?« Sie schniefte und deutete auf ihren Bauch.

»Ich kann mich umhören«, versprach er, doch er wusste selbst, dass sie schlechte Karten hatte. Niemand wollte jemanden, der gleich wieder ausfiel, weil er ein Kind zur Welt brachte und nicht den Anstand besaß, dass am Freitagabend zu erledigen, damit man Montagmorgen arbeiten konnte.

»Sehr nett.« Gracie seufzte und schnäuzte sich. »Aber mach dir keine Mühe.«

»So was biete ich nicht jedem an.«

Sie lachte auf und hickste. »Das weiß ich. Schließlich bist du offiziell hartherzig, und alle denken, du hättest schon etwas Neues.«

»Das stimmt nicht«, widersprach er. »Also, dass ich was Neues habe.«

Eine Träne kullerte über ihre Wange und blieb einen Moment lang an ihrem Mundwinkel hängen, den sie bei ihrem schiefen Lächeln hochgezogen hatte.

»Du hast genug Geld. Du kannst Urlaub machen.« Gracie war wohl die Einzige, die es schaffte, das zu sagen, ohne dass die Bitterkeit des Neides darin mitschwang.

»Vielleicht«, erwiderte er. Die Wahrheit war, dass er weitaus weniger verdient hatte, als alle glaubten, und der Meinung waren sogar seine Ex-Frau, ihr Anwalt und im Übrigen auch das Gericht gewesen. Wahrscheinlich hatten die seinen Steuerbescheid für eine Fälschung gehalten, anders konnte er sich nicht erklären, warum sie einen derart hohen Unterhalt festgelegt hatten. Chris hatte nicht widersprochen – er hatte einen Abschluss finden wollen, und die dümmsten Fehler des Lebens waren nun mal bekanntlich die teuersten. Außerdem versorgte Kendyl ihren gemeinsamen Sohn gut. Da Chris kein nennenswertes Privatleben besaß, beschränkten sich seine Ausgaben auf Essen, Netflix und die Hypotheken für sein neues Haus, in das er

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Amelia Lemon
Cover: Zeilenfluss
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2023
ISBN: 978-3-96714-290-7

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