Cover

Leseprobe

Wer einmal beißt,
dem glaubt man nicht

Verflixt und zugebissen – Band 6

Allyson Snow

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

 

Horrorfilme mit väterlichen Nöten

 

 

Michael hockte auf der Rückbank einer schwarzen Limousine. So hätte er damals gern seinen Junggesellenabschied verbracht. Allerdings räkelten sich an Michaels Seite statt einer Stripperin zwei Kerle, deren Anzüge so stramm um die bulligen Körper saßen, dass bei jeder Bewegung die Nähte knirschten. Als wäre der Tag nicht bereits beschissen genug, presste einer der Armani-Hulks die Mündung einer Pistole unter Michaels Kiefer und grub die Finger so fest in seinen Arm, dass dieser bereits taub wurde. Aber so tat er wenigstens nicht mehr weh. Im Gegensatz zu Michaels Nase. Wann immer er Luft holte, stach der Schmerz bis in seine hinterletzte Gehirnwindung. Der Schlag in sein Gesicht war, verflucht noch eins, völlig unnötig gewesen. Als hätte er sich gegen diese beiden Rambos zur Wehr setzen können, als die ihn aus dem Büro in die Luxus-Karre gezerrt hatten.

Noch vor zwei Stunden hätte Michael das alles für eine mäßig interessante Einleitung eines Pen-and-Paper-Rollenspiels gehalten. Was sollte er sagen? Es war ganz offensichtlich kein Spiel. Dann könnte Michael nämlich eine Pause einlegen und sich mit seinen Mitspielern beratschlagen, wie zum Teufel er aus diesem Schlamassel herauskam!

Eine Flucht war schier aussichtslos. Um etwas Derartiges zustande zu bringen, müsste er erst über den Schoß des Mannes neben ihm klettern, und bei seinem Pech hielt der dabei nicht still. Selbst wenn, müsste Michael unverzüglich den Türöffner finden und beten, dass die Kinder- bzw. Entführtensicherung nicht aktiviert war. Sollte er es wider Erwarten aus dem Wagen schaffen, gab es noch genügend Autos, die ihn im Pariser Berufsverkehr rings um den Arc de Triomphe überfahren würden.

Es hupte wild durcheinander, Mopeds schlängelten sich inmitten der Autos vorwärts, und Michael zählte mindestens fünf, die sich beim Überholen so nahe an der Limousine entlang schoben, dass ihre Ellenbogen die getönten Scheiben streiften. Wenn das alles ein Traum war, dann ein verdammt mieser. Sie waren mitten im unbesorgten Getümmel der Stadt, in der Öffentlichkeit, trotzdem wusste niemand, dass hier gerade ein Mann von zwei Schwerverbrechern in Designer-Anzügen bedroht wurde.

Sie bogen in die Les Champs ein, fuhren an vielen kleinen Läden vorbei, in denen sich die Touristen tummelten. Ein paar Meter weiter, vor einem Café, lehnten sogar zwei Polizisten an ihren Motorrädern. Michael müsste nur laut genug schreien, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Ob die Karre schalldicht war?

»Denk nicht mal dran«, knurrte der Hüne mit der Pistole und presste ihm den Lauf so fest gegen den Hals, dass er nicht einmal mehr schlucken konnte. »Die sind alle von uns geschmiert, bâtard.«

»Genau«, grunzte es auf Michaels anderer Seite. »Wenn die nicht spuren, bekommen die ihre Gehaltserhöhung als Bleiinjektion verpasst.« Ein hässliches Feixen zuckte über das Gesicht des Mannes und brachte die Linien an seinen Mundwinkeln und um die Augen in Bewegung. »Aber es gibt immer mal wieder Pisser, die denken, sie wären klüger als die Mafia und die Polizei zusammen. Tja, falsch gedacht. Bald wirst du die Rechnung dafür begleichen. Ziemlich dämliche Idee, paar Mille von der Mafia zu verlieren.«

»Aber ich habe nicht …«

»Ja, ja, das Lied singen alle.«

Also bitte, Michael war nicht im Geringsten musikalisch, kein Lügner, und erst recht verlor er keinen Cent von dem Geld, das ihm jemand anderes anvertraute.

»Ich bin Finanzberater«, presste Michael so würdevoll hervor, wie es ihm mit beinahe eingedrücktem Adamsapfel möglich war. »Keiner meiner Kunden hat je sein Geld verloren. Vielleicht war die Rendite mal kleiner als erwartet, aber es gibt nun mal Jahre mit miesen Zinsen. Es gibt Zeiten, in denen sogar die Börse schlecht läuft. Aber sie erholt sich, wenn man nur genügend Geduld hat, sein Geld vernünftig anlegt und diversifiziert.« Dieser Sermon sprudelte routiniert aus ihm heraus, aber er wusste genau, dass jedes Wort überflüssig war. Die Kerle wollten ihn vermutlich nicht für den letzten Börsencrash verantwortlich machen. »Das einzige Geld, das ich je eingebüßt habe, war das, was mir meine Ex-Frau bei der Scheidung rausgepresst hat!«

Allein bei dem Gedanken an Chloé fing Michaels Nase wieder an zu bluten. Er schmeckte das Blut, es lief über seine Lippen und tropfte auf seine Hose.

»Tobie, gib ihm ein Taschentuch«, schnarrte der Mann, der Michael die Pistole gegen den Hals presste. »Jason hat es nicht gern, wenn seine Sitze Blut abbekommen.«

Michael hätte gern gefragt, wer dieser Jason war. Allerdings drückte ihm Tobie in diesem Augenblick ein Tuch auf die zerschlagene Nase und das darauffolgende Stechen ließ schier sein Hirn explodieren.

»Lass ihn!«, bellte es an Michaels Seite.

»Du bist zu weich«, behauptete Tobie, und Michael wusste im ersten Moment nicht, ob er ihn oder seinen Kumpan meinte.

Michael war zu sehr mit Stöhnen beschäftigt, als dass er eine sinnvolle Erwiderung gefunden hätte, die nicht aus ›aua‹ bestand, dafür antwortete Tobies Komplize.

»Es wäre unschön, wenn wir an einer Apotheke halten müssen, um ihn mit Riechsalz wieder auf die Beine zu bringen.«

»Hab dich nicht so, Franck, lediglich ein bisschen Vorfreude schaffen«, brummte Tobie. »Sonst kommt hier noch einer und haut sich die Taschen mit Moneten voll.«

Der Druck ließ nach, und als das Tuch herunterfiel, hob Michael reflexartig die Hand und fing es auf.

»Ich weiß nichts von Millionen«, beharrte er und hoffte, dass er nicht völlig hysterisch klang. Panischen Menschen glaubte man nicht. Das hatte er mal irgendwo gelesen.

Das Feixen wandelte sich in ein kaltes Lachen. »Das Lied kannst du unserem Chef vorsingen. Aber da solltest du die Töne besser treffen.«

»Ich habe nicht das Geringste damit zu tun!« Michaels Stimme überschlug sich, und in seinem Gehirn ratterten die Rädchen. Die Finanzberatungsagentur bestand lediglich aus vier Leuten. Alexandre, Hank, Michael und ihrem Boss David Gounelle. Welcher davon sollte mit Millionen herumgespielt haben? Das konnte doch nur David gewesen sein. David. Den Mund weit aufgerissen, starre blaue Pupillen, die weichen Wangen bleich, und die Angst hatte sich auf ewig in sein totes Gesicht eingebrannt. Michael hatte seinen Augen nicht trauen wollen, als er David so im Büro gefunden hatte. Er hatte Michael erst eine Viertelstunde vorher erlaubt, Feierabend zu machen, und dieser war schon auf dem Heimweg gewesen. Aber weil er sein Handy vergessen hatte, war er zurückgekommen und hatte die Leiche gefunden. Und bevor Michael auch nur einen klaren Gedanken hatte fassen können, der über ›heilige Scheiße‹ hinausging, waren schon Tobie und Franck in das Büro gestürmt, hatten einen Blick auf den Toten geworfen und ihn angebrüllt, ob er Michael Girard sei. Hätte er nur den Kopf geschüttelt, aber so schlau war er vor Schreck nicht gewesen. Kaum hatte Michael die Frage bejaht, hatten sie ihn schon in die Limousine gezerrt. Statt brauchbarer Hinweise, warum zum Geier jemand David getötet hatte, erzählten die ihm nur was von verlorenen Millionen. David war vermutlich der Hauptverdächtige gewesen, hatte behauptet, nichts zu wissen, und nun war er tot. Michael würde wahrscheinlich bald das gleiche Schicksal ereilen. Weil er keinen Schimmer von irgendwelchen Millionen hatte. Er hatte auch keine Ahnung, was David mit dem Geld angestellt hatte. David musste seine Griffel im Spiel gehabt haben, immerhin war er ein kontrollsüchtiger Tyrann gewesen. Dem wäre niemals entgangen, wenn einer seiner Mitarbeiter zahlungskräftige Kundschaft bediente, ohne ihn darüber zu informieren. Warum schossen die sich also ausgerechnet auf ihn ein? Warum auf keinen der anderen Verbliebenen?

»David hat die großen Aufträge geregelt«, versuchte Michael es erneut.

Francks Mundwinkel zuckten zu einem höhnischen Lächeln nach oben. »Ziemlich laue Masche, die Schuld auf ‘nen Toten zu schieben.«

Michael wünschte wirklich, er wäre die Sorte Mensch, die im Angesicht des drohenden Todes noch einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte. Die Wahrheit war weitaus erbärmlicher. Zwar verlegte er sich noch nicht aufs Winseln und Betteln, aber er wusste nicht, was er erwidern sollte, damit die ihm endlich glaubten. Sie würden ihn nicht laufen lassen. Ob ihm dann wenigstens dieser Jason glaubte? Der war hoffentlich heller als seine Schergen. Zum Teufel, er konnte nur sagen, dass er von nichts wusste. Aber dieses Nichtwissen hatte ihm bereits eine blutige Nase eingebracht. Und wenn Tobie ihm die Pistolenmündung weiter so in den Hals bohrte, musste die am Ende noch chirurgisch entfernt werden.

Michael versuchte, so gleichmäßig wie möglich zu atmen und das panische Kribbeln hinter seiner Stirn zu ignorieren. Er wünschte wirklich, er könnte sich einreden, es werde alles gut. Die Hoffnung flatterte in ihm, doch die Angst verlor sich damit nicht. Er merkte erst, dass er immer hektischer atmete, als Franck ihm einen harten Stoß gegen die Brust versetzte.

»Erspar uns die Panikattacke. Wenn du schnell redest, haste es auch schnell hinter dir«, lautete dessen zweifelhafte Aufmunterung. »Ne flotte Kugel aus dem Nichts ist manchmal ein Geschenk.«

Michael wollte auf der Stelle hier raus! Er warf sich über Francks Knie und Richtung Tür. Das Einzige, was er auf diesem Weg erreichte, war, dass seine Stirn gegen die Scheibe knallte. Er wurde grob zurückgerissen, und würde Michael nicht so zappeln, würde Franck ihm wahrscheinlich die Pistole noch mit dem Lauf voran in den Mund stopfen. Er lehnte sich mit seinem vollen Gewicht auf Michael, bis dieser keinen Muskel mehr rühren konnte.

Michaels Gedanken drehten sich im Kreis, rissen die Hände hoch und kreischten panisch durcheinander. Er musste sich eine hervorragende Story ausdenken. Herrgott noch eins, warum hatte er Chloé nicht öfter zu den Pen-and-Paper-Abenden begleitet? Solche Spiele schulten die Kreativität, aber er war nun mal ein Zahlenmensch. Er konnte Geld so verwalten, dass eine vernünftige Rendite dabei heraussprang, nur eine Geschichte, die ihm jetzt den Arsch rettete, das bekam er nicht hin. Michael fiel eine Alternative ein: Jason mit einem monotonen Fachvortrag über Finanzierungsmöglichkeiten in die Lethargie versetzen und dann rennen, als wäre der Teufel hinter ihm her. Das war zwar die mieseste Exit-Strategie aller Zeiten, aber was Besseres hatte er nicht.

Endlich schob sich Franck von ihm herunter, sein Blick ruhte warnend auf Michael. Sobald er falsch zuckte, würde sich der Hüne wieder auf ihn werfen. Die Flucht konnte er also vorerst von seiner To-do-Liste streichen.

Michael sah durch die Fenster die Straßen von Paris vorüberziehen. Einerseits wünschte er sich, diese Höllenfahrt würde endlich ein Ende nehmen. Andererseits fürchtete er sich vor dem, was ihm bevorstand, wenn die Limousine endgültig hielt.

Eigentlich erwartete er, dass sie ihn in die Vororte von Paris karrten. Zu einem verlassenen Lagerhaus oder in ein Gewerbegebiet, seinetwegen auch auf ein verwildertes Grundstück. Irgendwohin, wo ihn niemand schreien hörte. Aber er täuschte sich gewaltig. Sie kurvten durch die wuselige Innenstadt und bogen neben einem Hotel in die Einfahrt zum Hinterhof ein. Nur Mülltonnen, ein fünftüriger Smart und Fahrräder standen hier.

Franck stieß die Tür auf und packte noch während des Aussteigens Michael am Kragen. Mit einem Griff, als würde er hauptberuflich Leute zum Schafott begleiten, zerrte er ihn aus dem Wagen und bugsierte ihn zum Hintereingang. Er öffnete die Tür, und gefolgt von Tobie marschierten sie durch die Hotelküche. Michael starrte den Koch und seine Helfer sicher nicht minder verblüfft an wie diese ihn. Er war viel zu überrascht, um nach Hilfe zu rufen. Und selbst als Michael daran dachte, wagte er es noch immer nicht. Franck drückte die Mündung der Pistole gegen Michaels Seite, verdeckt von seinem Sakko. Er manövrierte Michael durch eine Lobby mit spiegelblankem Marmorboden. Michael erhaschte gerade noch einen Blick auf den beleuchteten Namen ›Hôtel des Lamomières‹, und schon befanden sie sich in einem Lift. Die Türen schlossen sich, und Michael war einfach nur übel. Die Erleichterung darüber, in einem Hotel – einem Ort voller Zeugen – gelandet zu sein, verursachte ihm einen leichten Schwindel, und trotzdem befahl er sich, sich nicht zu früh zu freuen. In Krimis starben schließlich auch haufenweise Menschen in Hotels.

Die Fahrt im Aufzug erschien endlos, Tobie hatte die Taste für den obersten Stock gedrückt. Das Herz klopfte hart in Michaels Brust. Als sich die Türen öffneten, schleiften ihn die beiden einen langen Flur entlang, ausgelegt mit rotem Flor. An einer dunklen Holztür steckte Tobie eine Schlüsselkarte in den Schlitz, stieß die Tür auf, und Franck schob Michael in die Suite. Die Tür fiel hinter ihnen zu, und Michael ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er war riesig. Vor einem Kamin standen eine Chaiselongue und wuchtige Sessel, in denen man sicher herrlich in den Wälzern aus dem Bücherregal schmökern konnte. Darüber hing ein Kronleuchter, mit dem man locker jemanden den Schädel spalten konnte, wenn der Deckenhaken nachgab. Die Türen führten sicherlich in die Schlaf- und Badezimmer. Und auf der anderen Seite des Raumes gab es einen Whirlpool. Einen Whirlpool mitten im Zimmer! Das Becken war hüfthoch und thronte inmitten einiger Liegen, die mit weißem Stoff bezogen waren. Der Fußboden und der Pool waren in dunkle Fliesen eingefasst, und von oben schenkten kleine Strahler heimeliges Licht.

Das Einzige, was nicht zu der Luxusausstattung passen wollte, war der Inhalt des Pools. Er brodelte wie kochendes Wasser. Dichter Nebel waberte über den Rand, die Schwaden wanderten am Boden durch die Suite und lösten sich auf, sobald sie ein Luftzug durch das offen stehende Fenster erwischte. Es stank erbärmlich, wie in einem explodierten Chemielabor.

Franck folgte Michaels Blick und grinste gehässig. »Ein Bad in Schwefelsäure und du brauchst dir nie wieder Sorgen um verstopfte Poren machen.«

»Ich dachte immer, Schwefelsäure wirkt ätzend auf die Atemwege«, entfuhr es Michael. Bis auf den Gestank, der einem die Tränen in die Augen trieb, konnte er sich ganz offensichtlich nicht über absterbende Lungenflügel beschweren.

»Glaubst du mir etwa nicht?«, bellte Franck, und Michael hob schnell die Hände.

»Ich stelle ganz sicher keine Folterinstrumente infrage.«

Am Ende wollten sie es ihm noch beweisen, dass da wirklich Schwefelsäure drin war. Aber was machte er sich vor? Das würden sie ohnehin. Seine Erleichterung war eindeutig verfrüht gewesen, und diese Erkenntnis traf ihn umso härter. Die scherten sich nicht um irgendwelche Zeugen. Die wollten ihn hier fertigmachen. In einer Suite, die man sonst benutzte, um seine Auserwählte zu betören. Na ja, bis auf das Schwefelsäurebad. Damit schlug man wohl selbst die hartnäckigste Frau in die Flucht.

Michaels Herz schlug ihm dermaßen hoch im Hals, dass es ihm faktisch bereits auf der Zunge hockte und sich kreischend an seinem Backenzahn festklammerte. Er zitterte, und seine Beine fühlten sich an wie Pudding. Franck ließ ihn unvermittelt los, und Michael stöhnte, als er mit den Knien voran auf dem Boden aufschlug. Herrlicher Mist. Der erste Schritt der Folter bestand anscheinend darin, ihn sich selbst seine Kniescheiben zertrümmern zu lassen.

Er hörte das Klappen der Tür und hob den Kopf. Sein Blick fiel auf den eintretenden Mann, der die Tür zufallen ließ und sich dagegen lehnte. Zu seinen Füßen kauerte ein Hund, der Michael einen kurzen, desinteressierten Blick zuwarf und sich dann auf Erkundungstour durch die Suite begab. Michael sah ihm kurz nach, bevor er sich wieder auf die Gefahr konzentrierte, die eindeutig der Kerl an der Tür war, der gerade … einen Joint rauchte? Das war dann wohl Jason. Er sah nicht sonderlich alt aus. Höchstens Mitte dreißig. Das rotblonde Haar fiel ihm in die Stirn, und sein Bart war kurz genug, um exakt drei Tage alt zu sein. Den feinen Linien um seine Augen nach zu urteilen, lachte er viel. Bloß war das hier kein blöder Scherz, denn er musterte ihn so kalt, dass Michael sich verspannte, bis es in seiner Brust stach.

»Gibt es eigentlich einen Grund, warum ihr ihn hierhergebracht habt?«, wandte sich Jason an Franck.

»Du hast gesagt, wir sollen ihn an einen Ort bringen, der nicht zu weit vom Hotel entfernt ist«, rechtfertigte sich Franck.

Tobie nickte. »Genau, und was ist näher als eine Suite im Hotel?«

»Wie high war ich, als ich euch eingestellt habe?«, fragte Jason.

Wahrscheinlich war es besser, dass die beiden keine Antwort gaben. Besser für sie, aber auch nicht sonderlich gut für Michael. Dieser sah sich zwar möglichst unauffällig nach einem Fluchtweg um, aber wenn er nicht gerade einen selbstmörderischen Sprung aus dem Fenster wagen wollte, stand vor dem einzigen Ausgang aus der Suite ein rauchender Mafioso, der sich über seine Mitarbeiter ärgerte und jetzt auf Michael zutrat. Dieser rappelte sich auf und wich zurück.

»Um mich zu betrügen, hättest du früher aufstehen müssen.« Jasons Stimme war sanft, trotzdem schwang in ihr eine Drohung mit, dass Michael vor Angst beinahe die Luft wegblieb.

»Ich fasse es nicht, dass ich überhaupt fragen muss …«, sagte Jason, »aber wo zum Teufel ist mein Geld?«

Das wüsste Michael auch wahnsinnig gern. Dann könnte er auf der Flucht die Ganoven mit Bündeln und Münzen bewerfen. »Ich weiß nichts darüber.«

»Wenn ich für diesen Satz jedes Mal einen Euro bekäme, könnte ich mir inzwischen eine Insel davon kaufen.«

»Dann erwischst du immer die Falschen?« Michael hätte sich am liebsten geohrfeigt. Mit einer Kraft, die eher auf einen gestandenen Preisboxer als auf einen angefressenen Mafioso hindeutete, der andere für sich arbeiten ließ, packte er Michael am Hals und hob ihn hoch. Durch Michaels ohnehin schon malträtierte Kehle drang kein Laut heraus, und es kam kein Sauerstoff hinein. Michael versuchte sich aus dem Griff zu winden, aber genauso gut könnte er auch versuchen, gegen einen hungrigen Eisbären zu gewinnen. Der knurrte garantiert ähnlich. Michael hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, seine Sicht verzerrten schwarze Schlieren, und er merkte, wie seine Beine in der Luft strampelten, ohne Halt, ohne etwas zu treffen. Sein Peiniger versetzte ihm einen Stoß, und Michael krachte auf den Boden, diesmal auf den gefliesten Teil der Lounge. Schmerz zuckte durch seine rechte Seite, seine Schulter und seine Kehle.

Michael hatte es doch gewusst – er traf nicht die richtigen Töne.

Er rang nach Luft und konnte das intensive Aroma des Joints riechen, als sich Jason vor ihn hockte. »Du bist nicht zufällig an einem Vortrag über Finanzierungsmöglichkeiten interessiert?«, fragte Michael schwach.

»Du bist ja ein ganz Mutiger«, schnurrte sein Gegenüber regelrecht.

Michael wünschte, es entspräche der Wahrheit. Ihm entkam nur ein Ächzen, als er nach oben gezogen und gegen die Einfassung des stinkenden Pools gestoßen wurde. Der weiße Hund sprang schwanzwedelnd auf einen Liegestuhl und legte sich hin, als würde er bei der heutigen Hinrichtung in der ersten Reihe sitzen wollen.

»Amüsiere mich, du Narr«, sagte der Chef der Schlägerbande. »Vielleicht rettet es dir das Leben.« Er hielt inne und zog an dem Joint. »Fairerweise muss ich sagen, dass es genauso gut sein kann, dass ich dir danach den kümmerlichen Rest deines Lebens so zur Hölle mache, bis du denkst, ich wäre der Teufel persönlich.«

»Das ist längst der Fall«, erwiderte Michael und spähte in den Pool. Das Geblubber hatte ein wenig nachgelassen, und der Nebel trat nicht mehr so stark über die Einfassung. Michael fühlte sich an Trockeneis erinnert.

»Grimme Taten erwachet. Auf zu Zorn, auf zu Verderben und blutig Morgen!1«, faselte Jason, und Michael starrte ihn fassungslos an.

»Na, wo ist das her?«, setzte Jason grinsend nach und blies eine Rauchwolke in Michaels Richtung.

»Herr der Ringe.«

»Da kennt sich jemand aus«, stellte Jason anerkennend fest. Wenn der ihm jetzt noch Beifall klatschte, sprang Michael freiwillig in den Säurepool. Er kam sich vor wie in einer schlechten Horrorkomödie. Das Dumme daran: Es war immer noch ein Horrorfilm, und wenn ihm niemand zufällig eine Axt in die Hand drückte, war er derjenige, der in der ersten halben Stunde des Films draufging. Dabei rief er nicht mal blöde ›Ist jemand hier?‹ in den gruseligen dunklen Raum.

Wieso eigentlich nicht?

»Ist jemand hier?«, fragte er, und seine Stimme zitterte angemessen, sodass jeder Regisseur entzückt wäre.

Jason blinzelte irritiert. »Machen dich die Dämpfe schon high?«

»Nein, ich wollte auch aus einem Film zitieren.«

»Den kenn ich wohl nicht.« Jason zuckte die Schultern und schnippte die Reste des Joints weg. In Michaels Richtung. Vorsichtshalber stolperte er weg von dem Pool, am Ende explodierte das Ding noch. So wollte er nicht sterben. Hatte er erwähnt, dass er überhaupt nicht sterben wollte?

»Ich habe mit dem Geld nichts zu tun gehabt.«

»Der Film ist mir ebenso unbekannt, welcher soll das sein?«

Herrgott noch eins. »Es ist der Film ›Michael Girard hat nichts mit irgendwelchen Millionen zu tun gehabt!‹. Meine Kunden sind Menschen um die vierzig, die sich Gedanken um ihre Altersvorsorge machen, oder halbwegs rüstige Rentner, die ihren Ruhestand genießen wollen. Davon besitzt keiner Millionen.«

»Das kannst du dem Pfarrer bei deinem Begräbnis erzählen, solltest du es als Geist zurückschaffen«, erwiderte Jason gelangweilt. »David hat mir gesagt, dass sich ein gewisser Michael Girard um die Details der Abwicklung kümmert. Ebenjener wäre ein kreativer und außerordentlich verlässlicher Kopf, wenn es darum ginge, Geldbestände offiziell werden zu lassen.«

Es war die Ironie seines Lebens. Da hatte sich Michael verdammt lange Jahre abgerackert, um von David für seine Arbeit gewürdigt zu werden, und dieser elende Mistkerl schob seinen Namen ausgerechnet für Geldwäsche vor. Michael fehlten die Worte. Wie zum Teufel sollte er beweisen, dass das eine Lüge war?

»Wo ist eigentlich David?« Jason wandte sich seinen Mitarbeitern zu, die sich prompt ansahen, als wäre der jeweils andere schuld.

»Tot«, antwortete Franck dumpf. »Wir haben den da mitgenommen, als er sich davonmachen wollte.«

»Ich würde meine Mutter für gutes Personal verkaufen, wenn ich noch eine hätte«, knurrte Jason. »Wer hat David umgebracht?«

»Ich weiß es nicht …« Michaels Blick huschte zu Franck und Tobie. Vielleicht waren die ja schon vorher da gewesen und dann noch mal zurückgekommen, als sie sahen, wie er das Büro betrat?

»Nee«, sagte Franck schnell. »Der war schon hinüber, als wir ankamen.«

»Ich habe nichts gehört«, wehrte Michael ab und würgte. »Ich war schon auf dem Weg nach Hause, hatte aber mein Handy vergessen. Also ging ich zurück zum Büro, und als ich aufschloss, lag er dort.«

»Und meine Jungs haben dich zufällig mit der Tatwaffe erwischt?«, spottete Jason.

»Nein!«

»Ne Knarre oder so haben wir nicht gesehen. Aber er kann nicht lange tot gewesen sein«, wandte Franck ein. »Das Blut quoll noch aus der Wunde. Wir haben aber ehrlich gesagt nicht nachgesehen, ob jemand Spuren hinterlassen hat und …«

Wortlos ging Jason zu Franck, packte ihn an den Schultern und stieß ihn in den Pool.

Franck tauchte mit einem lauten Platschen ein, zappelte, und Michael rechnete mit dem schrecklichsten Anblick, als sein Kopf die Wasseroberfläche wieder durchstieß. Er stützte sich auf den Poolrand und hievte sich hinaus. Er tropfte fröhlich in den Ablauf, aber er war lediglich nass.

»Wenn ich an Ermittlungen interessiert wäre, würde ich die Polizei nicht von der falschen Seite des Gesetzes in den Wahnsinn treiben«, pflaumte ihn Jason an, bevor er spöttisch die Lippen verzog. »Das nächste Mal triffst du hoffentlich bessere Vorbereitungen. Ein Whirlpool voller Trockeneis! Wenn ich meinen Ruf ruinieren will, dann mach ich das selbst.«

Also waren Michaels Chemiekenntnisse doch nicht so schlecht! Das hier war ein Horrorfilm mit äußerst miesen Special effects, aber wer wäre Michael, sich darüber zu beklagen? »Und was stinkt hier so?«

»Alte Windeln von meiner Kleinen«, ächzte Franck und schüttelte sein Bein aus. »Der Chemiker unseres Vertrauens hat sich beim letzten Experiment leider selbst in die Luft gesprengt, deswegen konnte ich auf die Schnelle keine Schwefelsäure besorgen. Also musste Trockeneis für die Dämpfe herhalten, und Kinderschisse lassen jeden Schwefelgeruch alt aussehen.« Er hörte auf, sich zu schütteln, und deutete hinter eine Poolliege. Dort lag tatsächlich ein Haufen Windeln. Der weiße Hund schien mit ihnen spielen zu wollen, doch wann immer er zu nahe kam, schreckte selbst er vor dem Geruch winselnd zurück.

Michael könnte schwören, dass er den Abfall genauso konsterniert betrachtete wie Jason.

»Ich war eben mit der Müllentsorgung dran.« Franck hüstelte und sah seinen Boss an. »Eine Zeitlang wollten wir Baumwollwindeln benutzen. Ist besser für die Umwelt, aber so schnell kommt man nicht mit Waschen nach. Kackt deine Kleine nicht auch, als würde sie dafür bezahlt werden?«

»Sie pupst auf jeden Fall eine Menge. Bei dem ganzen Methangas wundert es mich, dass besagte Umwelt rund um mein Haus nicht bereits einer atomar verseuchten Einöde gleicht«, brummte Jason.

Bevor Michael sich in die Selbsthilfegruppe gepeinigter Väter einmischen konnte, trat Jason nahe an ihn heran.

»Du willst mir also einreden, du wärst so unschuldig wie ein Baby vor dem ersten Schiss?«, knurrte Jason.

»Es wäre sehr praktisch, wenn ich das könnte«, ächzte Michael. »Ich würde meine Seele dafür verkaufen.«

»Für einen Pakt mit dem Teufel haben wir keine Zeit«, erwiderte Jason. »Also warst du nicht auf der monatlichen Gala von Héctor Berthier?«

»D-d-doch.«

»Und hast du eine Aktentasche aus dem blauen Barockzimmer mitgenommen?«

»Ich sollte sie für David mitnehmen. Er sagte, darin befänden sich Papiere, die er für Monsieur Berthier prüfen soll.«

Michael gefiel nicht im Geringsten, wohin das Gespräch führte. Was war in dieser verfluchten Tasche gewesen? Geldbündel? Dafür war sie zu leicht gewesen. Jason tat ihm nicht den Gefallen, es zu verraten. Er schlug eine Seite seines Sakkos zurück, und Michael rechnete mit dem Anblick einer Pistole, aber er holte lediglich ein gefaltetes Blatt Papier raus. Er erkannte den Briefbogen des Auktionshauses Sotheby's, Jason entfaltete das Schreiben und tippte auf etwas am Ende der Seite.

»Wessen Unterschrift ist das?«

Michael schloss die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein. »Meine«, presste er hervor und hob die Lider.

Selbst Sauron wäre bei Jasons diabolischen Lächeln der Eine Ring runtergefallen. »Dann, mein bedauernswerter Freund, hast du jetzt ein gewaltiges Problem.«

 

2

 

Bitte aus dem mörderischen Bällebad abholen

 

 

So sehr Natalia das Dasein als Vampir hasste, es besaß eindeutig Vorteile. Selbst die beste Wanze musste man erst einmal in die Nähe des Gespräches schmuggeln, um mithören zu können, statt sich entspannt an die nächste Ecke zu lehnen und einfach nur die Ohren zu spitzen. Oder im jetzigen Fall: an die Tür zur Suite. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, im Flur Wachen aufzustellen. Zweimal war sie von einem Etagenkellner gestört worden, aber sie hatte sich schnell im Treppenhaus verborgen und war zurück zur Tür gerast, sobald die Luft rein war. Dadurch hatte sie sicher einiges verpasst, aber trotzdem genügend mitbekommen, um sagen zu können: Jasons aktuelles Opfer gab sich erstaunlich wenig Mühe, seinen Hintern zu retten. Er leugnete zwar grundsätzlich, das Geld geklaut zu haben, war jedoch bei Jasons sonstigen Fragen geständiger als jeder Verbrecher, dem sie jemals begegnet war. Viel Zeit auf Erden würde Michael nicht mehr beschieden sein, wenn er so weitermachte. Jason würde aus ihm herauspressen, wo das Geld war, und dann endete dieser Mann als Abendessen des Blutsaugers. Sollte sich Michael Girard die Kohle tatsächlich unter den Nagel gerissen haben, konnte man getrost ›selbst schuld‹ auf seinen Grabstein meißeln. Aber Natalia gönnte es Jason schlichtweg nicht, es sich so einfach zu machen. Michael war der Schlüssel zu einer Horde Mafiosi, die ihr Geld bei der Agentur von David Gounelle gewaschen hatten, und Natalia wollte jedes schmutzige Detail wissen. Dann wollte sie Haftbefehle beantragen lassen und jeden beteiligten Kriminellen persönlich in eine Zelle stecken. Bis auf Jason Harris – ihn wollte sie nicht nur einsperren, sie wollte wesentlich mehr.

Natalia verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Warum redeten die nicht mehr? Girard hatte doch zugegeben, dass da irgendwo seine Unterschrift stand. Machte Jason Kaffeepause, oder was war los?

Sie hörte das Kläffen eines Hundes und ein gedämpftes Keuchen. Das Geräusch kannte sie, es entstand, wenn man jemanden an der Kehle packte. Wusste der Henker, wieso Jason sein Verhör vorzeitig beendete. Vielleicht hatte er ja genauso Kohldampf wie Natalia.

Der Etagenkellner lieferte dem Klappern von Tellern und Deckeln nach zu urteilen in einer anderen Suite auf der Etage gerade das Abendessen. Das roch herrlich nach Bouillabaisse, selbst für eine Vampirin, die sich auf Blut spezialisiert hatte.

Das Keuchen im Inneren der Hotelsuite endete in einem Röcheln. Verflucht, das war nicht gut. Natalia vergewisserte sich, dass die Pistole immer noch in dem Halfter unter ihrem Arm steckte, trat von der Tür zurück, bis sie die Wand des Flures im Rücken spürte. Sie stieß sich ab und donnerte mit aller Kraft, die sie in ihrem vampirischen Dasein aufbringen konnte, durch die Tür. Die stoppte ihren Lauf nur minimal. Natalia sprengte sie buchstäblich aus den Angeln, und erst als sie gegen jemanden krachte, verlor sie das Gleichgewicht. Sie landete auf einem menschlichen Körper und den Trümmern der Tür. Zwischen den Splittern erkannte sie einen schwarzen Anzug und ein Gesicht, das eindeutig zu einem von Jasons Mitarbeitern gehörte. Der Kerl rührte sich nicht mehr. Sie wälzte sich herum und erhaschte einen Blick auf Jason. Er stand bloß da, die Arme vor der Brust verschränkt und dieses unsäglich breite Grinsen im Gesicht.

Sie wollte sich auf ihn werfen, doch etwas sprang auf ihre Brust. Weiches Fell kitzelte sie im Gesicht, und eine raue, feuchte Zunge leckte ihr mehrfach über das Gesicht.

»Hau ab«, fauchte sie und bekam prompt Fell in den Mund. Sie schob das verflixte Vieh von sich herunter. Unter weißen Fellbüscheln blitzten sie dunkle Knopfaugen an, und der Hund wedelte so enthusiastisch mit dem Schwanz, dass er sich dabei fast selbst umwarf.

Als wäre es nicht bereits demütigend genug, von einem Kläffer aus dem Konzept gebracht zu werden, hievte Jason sie am Arm auf die Füße. Leider ging er auf Abstand, ehe sie die Nähe zu ihm für eine gepflegte Körperverletzung missbrauchen konnte.

»Natalia! Hat Peppi deinen dramaturgischen Auftritt versaut?«, erkundigte sich Jason. »Du hast ausgesehen, als ob du dich auf mich stürzen wolltest, bevor er dich begrüßt hat. Aber du kannst gern noch mal reinkommen.« Jason kramte aus seiner Tasche einen zerknitterten Joint und zündete ihn an. Natalia verdrehte die Augen. Wenn der Typ halb so viel kiffen würde, wären die meisten Pariser Drogendealer arbeitslos.

Natalia rappelte sich auf und sah die Anwesenden der Reihe nach an. Das hiesige Hotelpersonal müsste von dem Radau längst auf den Plan gerufen worden sein, aber der Flur blieb leer. Es sah nicht mal der Etagenkellner nach, was hier los war. Entweder hatten sie vorher die Anweisung erhalten, die Füße stillzuhalten, wenn sie seltsame Geräusche wie einen in Todesangst schreienden Mann oder eine zersplitternde Tür hörten, oder sie besorgten bereits Verstärkung. Sie würde es sehen, wenn es so weit war. Im Moment besaß sie gute Chancen, sich Michael Girard krallen und mit Jason fertigwerden zu können.

Der zweite seiner Männer, die Michael ins Hotel geschleift hatten, stand tropfnass neben dem Whirlpool, und er war … ein Mensch. Einzig und allein seine Waffe konnte ihr gefährlich werden, denn leider eiterten die Kugeln auch bei Vampiren schlecht raus. Angeschossen zu werden war zwar nicht unbedingt tödlich, aber es tat trotzdem weh.

Und dann war da noch Michael Girard. Strubbeliges braunes Haar und dunkle Augen, in denen sich die Angst spiegelte. Seine Nase hatte geblutet, und es duftete nach B Rhesusfaktor negativ. Sie liebte diese Blutgruppe. Sie schmeckte wie guter, leichter Landwein. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und ihre Kehle brannte. Sie brauchte langsam Blut.

»Also was ist jetzt?«, riss Jasons Stimme sie aus ihren Gedanken.

»Ich komme nicht noch mal rein!«, murrte Natalia.

»Schade, dann hättest du dich nämlich mal umziehen können. Die Lederjacke ist dir mindestens drei Nummern zu groß, und warum trägst du Männerschuhe?«

»Damit kann man Idioten wie dir besser in den Hintern treten.«

»Das ist nicht richtig. Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass Stiftabsätze sehr viel größere Schmerzen verursachen«, grinste Jason.

Das wäre tatsächlich mal ein Argument, freiwillig in Schuhe mit absurd hohen Absätzen zu steigen.

Natalia griff in ihre Jackentasche und hielt Jason ihren Dienstausweis unter die Nase. Sie konnte es sich gerade so verkneifen, ihre Personalien samt Mittelfinger gegen seinen Zinken zu pressen. »Du bist verhaftet.«

»Weswegen?«

»Freiheitsberaubung.«

Jason fasste nach ihrer Hand und drückte sie von seinem Gesicht weg. »Wessen Freiheit war ich so neckisch zu stehlen?«

Natalia sah wortlos zu Michael Girard. Er hatte sich auf eine Liege gesetzt, der Hund kletterte auf seinen Schoß und schmiegte sich an ihn. Michaels Teint machte den verputzten Wänden Konkurrenz, aber er kraulte das Tier. Mit starrem Blick und blutverschmiert.

Jason drehte den Kopf und betrachtete ihn ebenso. »Den habe ich nicht entführt«, behauptete er. »Er ist mein Lover und steht drauf, wenn ich ihn unsanft zu unseren Tête-à-Têtes holen lasse. Nachher mault er mich sicher voll, weil ich wieder die Fesseln vergessen habe. Aber dann stellt das Personal an der Rezeption immer neugierige Fragen, und wir sind noch nicht bereit, uns zu outen. Ich meine, schließlich sollte ich es sein, der es meiner Frau sagt.«

Warum zum Teufel hatte Natalia nicht einfach angefangen, wild auf Jason einzudreschen? Es war jedes Mal dasselbe! Sie wollte ihn festnehmen, er machte den Mund auf und haute eine halbseidene Erklärung nach der anderen raus, die ihm dann jedoch das Privileg sicherte, mit einem triumphierenden Grinsen aus dem Revier zu marschieren. Und sie bekam erneut eine Abmahnung wegen Nichteinhaltung der Vorschriften und durfte an einer vielbefahrenen Kreuzung den Verkehr regeln.

»Stimmt das?«, fragte sie Michael genervt. Wenn der jetzt Ja sagte, kündigte sie, und die Bürger von Paris konnten zusehen, wer sie vor übergriffigen Vampiren beschützte.

Und was machte Michael Girard? Er stierte von ihr zu Jason und wieder zurück, als könnte er sich nicht entscheiden, an wessen Verstand er mehr zweifelte.

Herrgott noch eins, wo waren die Zeiten, als man sich dankbar in die rettenden Arme der Polizei warf? Oder hatte Jason ihn schon kaputt gemacht?

Auch wenn ihr absolut nicht der Sinn danach stand, gab sie sich also verflucht viel Mühe, ihm ein ›Hilf mir‹ zu entlocken. »Vor mir brauchen Sie keine Angst haben«, sprach sie ruhig und konnte es sich nicht verkneifen, in Jasons Richtung zu nicken. »Ich will genau das Gleiche wie Sie. Jason in einem Bleisarg auf dem Grund der Seine versenken und am besten den gesamten Fluss zuschütten. Leider darf ich das nicht, aber ich kann Sie beschützen. Ich arbeite für die Mordkommission des …«

»Der Ausweis ist wirklich eine schlechte Fälschung«, mischte sich Jason ein.

»Halt den Mund und lass deinen Sub reden!«, fauchte Natalia.

Jason fing dermaßen laut an zu lachen, dass Natalia dem Drang nicht mehr widerstehen konnte. Sie griff unter ihre Jacke, riss den Revolver aus dem Halfter und drückte ab. Bedauerlicherweise konnte der elende Vampir selbst im größten Lachanfall rechtzeitig ausweichen. Das Geschoss blieb in der Wand stecken.

Natalia zielte erneut, die Kugel prallte an der Kamineinfassung ab und zerschoss eine der Lampen am Kronleuchter, bevor sie in der Decke einschlug. Aber sie war nicht die Einzige, die so wahnsinnig war, in dem Apartment herumzuballern. Jasons Kumpan ließ sich ebenfalls nicht lumpen. Er ging bei einem der breiten Polstersessel in Deckung und pumpte ein halbes Magazin in die Ledergarnitur, hinter der sich Natalia in Sicherheit brachte, und in die dahinterliegende Wand.

»Hör gefälligst auf, mein Hotel zu demolieren«, hörte sie Jason schnauzen.

Einen Teufel würde sie tun. Wenn sie nicht schnell genug war, würde Jason diesmal nicht nur dastehen und blöde Witze reißen. Er würde sie angreifen oder sich mindestens mit Michael verdrücken.

 

 

Konnte ihn bitte jemand retten kommen? Jemand mit Geisteskraft?

Michael kannte sich nicht sonderlich gut bei der Mafia aus, in den Filmen gehörten kernige Sprüche dazu, aber die beiden hier schienen den Verstand verloren zu haben.

Diese Frau wollte Polizistin sein? Das glaubte Michael nicht. Das wollte er nicht glauben. Wenn er draufging, dann wollte er es mit der Illusion tun, dass die öffentliche Sicherheit nicht in den Händen völlig wahnsinniger Frauen lag, die sich mit Mafiosi kabbelten, als wären sie ehemalige Geliebte, die sich das neue Glück nicht gönnten.

Michael tat das, was jeder Mensch mit Vernunft tun sollte, wenn zwei völlig Verrückte um sich schossen – er ließ sich zu Boden fallen und suchte nach einem Weg zum Ausgang. Er war hinter der Chaiselongue Richtung Tür gerobbt und nur noch wenige Meter von ihr entfernt, als das Geballer aufhörte. Dafür tauchten Jasons Schuhe in seinem Sichtfeld auf.

»Immer ein interessanter Anblick, wenn Menschen auf der Flucht zunehmend Ähnlichkeit mit den Ratten entwickeln, die sie sind«, spottete der Mafioso.

Bevor Michael etwas erwidern konnte, spürte er einen Luftzug, als jemand über ihn hinweghechtete, und hörte Jasons Ächzen beim Zusammenprall. Michael kniete sich hin und erhaschte einen ausgezeichneten Blick darauf, wie Jason und die angebliche Polizistin ineinander verkeilt und mit einem lautstarken Rumsen im Bücherregal landeten.

Dass sich eine Frau mit einem Mann prügelte, war wohl dem fortschreitenden Feminismus zuzuschreiben, dass sie es in einer schier wahnwitzigen Geschwindigkeit taten, eher Michaels überbordender Fantasie. Kaum blinzelte er, hatten sie die Chaiselongue umgestoßen, einen bodenlangen Spiegel zertrümmert und es fertiggebracht, den Kronleuchter dermaßen ins Schwingen zu versetzen, dass der Deckenhaken nachgab und das Ding krachend herunterfiel, genau auf Tobie, der sich in diesem Moment aufgerappelt hatte und in Francks Arme taumeln wollte. Die Polizistin hingegen brach Jason mit Sicherheit das Rückgrat, als sie ihn mit dem Rücken voran gegen die Kante der Whirlpool-Einfassung stieß. Aber Jason richtete sich nur auf, packte seine Gegnerin im Genick und zwang ihren Kopf unter Wasser.

Peppi winselte und drängte sich zwischen Michaels Beine. Wenn er Schutz suchte, war er bei Michael an der falschen Stelle. Er konnte von Glück reden, wenn er diesen Irrsinn überlebte. Je schneller er rannte, umso besser standen seine Chancen. Sollten die sich doch gegenseitig umbringen, aber ohne ihn.

Er rappelte sich auf, bekam den Türrahmen zu fassen und warf sich regelrecht in den Flur. Aber nicht sein Schwung riss ihn prompt wieder von den Füßen, sondern ein Stoß von hinten.

»Du bleibst hier, bâtard.« Francks Knurren machte dem Peppis glattweg Konkurrenz.

Peppi kläffte und verbiss sich in Francks Bein. Der war für ein paar Sekunden abgelenkt. Wenige Meter von ihnen entfernt parkte ein Servierwagen. Michael hechtete zu ihm und griff das Erste, was ihm nützlich erschien. Eine Fleischgabel. Sie nach Franck zu werfen, brachte ihm immerhin die Zeit für eine wesentlich bessere Idee ein. Die leere Flasche Chianti konnte man wunderbar auf gegnerischen Schädeln zertrümmern. Nur brauchte Michael dazu eine Gelegenheit und die gab ihm Jasons Hund. Peppi fiel Franck erneut an und attackierte dessen, äh, Schritt, während Franck sich humpelnd und fluchend um die eigene Achse drehte, um ihn loszuwerden. Michael holte aus und schlug die Flasche auf Francks Schädel. Wie in Zeitlupe ging er in die Knie und kippte um.

Peppi kläffte begeistert, und Michael kam sich auf einmal doch nicht mehr völlig überlebensunfähig vor. Er schnappte sich Francks Pistole, im nächsten Augenblick sah er Jason im Gang auf sich zumarschieren, dicht gefolgt von der Polizistin. Ihre schwarzen Locken wehten hinter ihr her, und ihr Gesicht war so finster, dass Michael eine Sekunde lang vor ihr mehr Angst empfand als vor Jason. Und ausgerechnet als Michael wenigstens zur Abschreckung mit seiner Waffe auf Jason zielen wollte, sprang ihm Peppi an den Beinen hoch und zappelte wild. Verflucht noch eins, dieser elende Hund wusste ganz genau, was er gerade verhinderte.

»Oh, Michael, chérie, willst du etwa schon gehen?«, knurrte Jason.

»Unser Date habe ich mir schöner vorgestellt.« Ehe Michael auch nur mehr als ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung schaffte, packte ihn Jason an der Schulter und wirbelte ihn so herum, dass er zwischen ihm und Natalia stand. Er drückte Michaels Arme vor dessen Brust zusammen. Peppi jaulte, weil er das Spiel nicht verstand, und die Einzige, auf die Michael jetzt noch schießen könnte, wäre die Polizistin. Diese wiederum hielt aber ihren eigenen Revolver in der Hand, und wenn sie abdrückte, dann erwischte sie Michael. Ihre Augenbrauen waren so eng zusammengezogen, dass sie eine Linie bildeten. Einzig und allein eine Narbe in ihrer rechten Braue unterbrach den buschigen Strich.

»Du wirst mir auf der Stelle Michael Girard ausliefern«, verlangte Natalia, »und dann wirst du dich festnehmen lassen, sodass ich einen Haftrichter aus dem Schlaf klingeln kann, damit er sich mit dir befasst und keine Kaution festsetzt.«

»Also bitte, nur weil du kein Privatleben hast, musst du nicht das von anderen kaputt machen«, spottete Jason. »Meine Frau wartet zu Hause auf mich. Mit dem Baby.«

»Gott steh uns bei – du hast dich ernsthaft vermehrt?«, entfuhr ihr hörbar entsetzt.

Jason lachte hinter ihm. »Du siehst, ich habe meinen Teil zur Nachwuchssicherung getan. Jetzt bist du dran.«

»Gib mir Michael, dann kann ich es ja mal mit ihm versuchen«, forderte Natalia lauernd.

»Nichts da, ich habe ihn zuerst gefunden.«

»Anscheinend erwidert er deine Liebe aber nicht!«, blaffte Natalia.

»Ich bin noch nicht mit Erobern fertig.«

»Ich bin schlecht im Bett.« Das platzte schneller aus Michael heraus, als er denken konnte, aber zum Teufel, wie sollte man da widerstehen?

»Ich hör wohl nicht richtig«, empörte sich Jason, »und dafür habe ich eine Limousine und Luxussuite springen lassen!«

»Gut möglich, dass ich die Sitze der Limo vollgeblutet habe.«

»Mach dir keine Sorgen, ich werde sie mit dir vergraben.« Jason drückte ihn an sich und vor allem seine freie Hand auf Michaels Kehle. War der Griff bereits vorhin eisern gewesen, war das nichts im Vergleich zu jetzt. Michael fühlte sich, als hätte ihm jemand eine Schraubzwinge um den Hals gelegt.

Michael wollte die Pistole heben, Jason irgendwie eine Kugel reinknallen, aber er konnte Jasons Kraft nichts entgegensetzen. Zu allem Überfluss hatte Peppi beschlossen, seine Krallen durch Michaels Hosenbeine zu bohren.

Das würde also das letzte sein, was Michael spürte. Die spitzen Klauen Peppis wie Nadelstiche und das Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Vielleicht sollte Michael die Augen schließen. Es gab Dinge, die wollte man nicht sehen. Dazu gehörten leere Klopapierrollen auf Restauranttoiletten, mit Panzertape reparierte Risse an einem Flugzeugtriebwerk und der eigene Tod.

 

 

Wirklich hervorragend. Sie konnte nicht auf Jason schießen, ohne Michael zu erwischen. Bevor sie Jasons Griff gelockert hätte, war Michael längst an der abgeschnittenen Blutzufuhr zum Gehirn gestorben. Immerhin drückte Jason bei dem bebenden Michael nur vorn und seitlich die Kehle zu. Sein Genick würde er also nicht brechen können, wenn er unvorsichtig zuckte. Und Jason würde zucken. Vor Schmerz.

Jason stand nahe an einem bodenlangen Fenster, das auf den Hinterhof hinaus zeigte. Das würde ein netter Flug werden. Natalia hob ihre Pistole und schoss auf die Glasscheibe hinter Jason.

»Och komm«, sagte Jason. »Das war sogar für dich ein mieser Schuss.«

Natalia antwortete nicht. Sie warf sich mit der Pistole in der Hand gegen Michael, der immer noch Peppi am Bein hängen hatte, und damit auch gegen Jason. Dieser taumelte die wenigen Zentimeter bis zur Scheibe zurück, und dem Gewicht von drei Personen und einem Hund konnte das Glas nicht standhalten. Es zerbrach in tausend Teile, und sie fielen. Der Fall dauerte nicht sonderlich lang und endete im Hinterhof. Genau genommen auf der Limousine und auf Jason.

Der Wagen begann wie wild zu pfeifen. »Alarm«, kreischte das elende Ding. »Alle in die Rettungsboote. Limousinen und Smarts zuerst!«

»Selbst dein Auto hat nicht alle Tassen im Schrank«, murmelte Natalia.

Jason klemmte stöhnend unter ihnen und hatte Michael losgelassen. Dieser rollte einfach von ihm herunter, als Natalia sich zur Seite wälzte. Er knallte auf den Asphalt, aber wenigstens bewegte er sich noch, und sie konnte kein weiteres frisches Blut an ihm riechen. Auch wenn sie sich nicht sicher war, ob er wimmerte oder der Hund.

»Sieh zu, dass du wegkommst«, zischelte sie ihm zu.

»Bitte halten Sie Abstand«, pflaumte das Auto. »Die einstweilige Verfügung des Verbots zur Näherung auf dreihundert Meter ist in Bearbeitung.«

Okay, das war lustig.

»Sieh an, sogar du kannst lächeln«, ächzte Jason. Leider sah er nicht aus wie ein geschundener Vampir, der sich erst mal aus einer Delle seines Wagendachs schälen musste, die seine Umrisse aufwies. Seine Augen glühten rot vor Wut, und er setzte sich viel zu schnell auf. Er griff in ihre Haare, und sie spürte deutlich, wie er sie herumschleudern wollte. Es fühlte sich an, als würde er sie skalpieren. Aber sie wälzte sich auf Jason, warf die Arme um seinen Hals und schlang die Beine um ihn. Sie würde Michael Zeit verschaffen, und wenn es das Letzte war, was sie Jason heute antat.

»Ich habe eine schlechte Nachricht für dich«, zischte sie. »Ich werde dich jetzt wegen tätlichen Angriffs festnehmen und ins Gefängnis stecken.« Jason öffnete den Mund, aber sie redete einfach weiter. »Ich weiß, ich weiß, Gitterstäbe halten einen Vampir nicht auf, und es wäre auch nicht deine erste spektakuläre, nicht zu erklärende Flucht, doch dafür habe ich eine Lösung. Ich werde ein halbes Dutzend Sicherheitskräfte in und vor deiner Zelle aufstellen. Unwissende Menschen. Du kannst nicht riskieren, dass so viele dein Geheimnis kennen und es herumerzählen. Sie alle zu töten, würde dir so viele hartnäckige Ermittler einbringen, dass nicht mal du dich überall rauslavieren könntest. Du würdest über kurz oder lang verurteilt werden.«

Jason musterte sie für einen Moment, bevor er den Kopf schief legte und so breit grinste, dass sie seine spitzen Eckzähne sehen konnte. »Ein Urteil würde sich prima neben dem Spiegel in meinem Bad machen.«

»Das glaubst auch nur du. Ich will, dass du verschwinden und untertauchen musst, weil auf dich Haftbefehle ausgestellt sind. Das wird dein Leben ziemlich unbequem machen.«

»Woanders ist es auch schön.«

»Aber du willst nicht aus Paris weg«, behauptete Natalia. Jasons Lächeln blieb unerschütterlich auf seinem Gesicht eingemeißelt, als würde es nie wieder weggehen. Aber sie kannte ihn. Seine Mundwinkel rutschten eine Nuance nach unten, und seine Augen glühten noch intensiver rot – bei Jason Harris war das mit einem Heulkrampf gleichzusetzen.

»Du hast dich gerade so hübsch eingerichtet«, stichelte sie. »Deine Geschäfte laufen. Deine erwachsene Tochter ist samt ihrer Familie hier. Wie dumm wäre es, wenn du umziehen müsstest.«

»Natalia, das wird nicht funktionieren.«

»Wir können ja Wetten abschließen.«

»Dein Gehalt ist sowieso schon mickrig, warum willst du darauf auch noch verzichten?«

Natalia schielte auf das, was in ihrem Augenwinkel auftauchte. Der weiß schimmernde Holzgriff, dessen Gravuren ihr nur zu bekannt waren. Er hielt ihre Waffe hoch.

»Schmuckes Ding«, sagte Jason. »Ein Erbstück?«

»Von meinem Großvater.«

Jason setzte ihre eigene Pistole an ihre Brust und lächelte sie an. »Mit dir ist es zweifellos lustig, aber langsam bin ich zu unausgeschlafen für diesen Mist.«

Der Knall ließ ihre Ohren klingeln und überlagerte alles andere. Und dann kam der Schmerz. Er stach durch ihre Lunge, entzündete darin ein Höllenfeuer. Jason stieß sie einfach von sich herunter und von dem Wagen. Sie hustete, würgte Blut hervor und verwünschte diesen elenden Kerl. Aus ihrer Kehle kam nur ein heiseres Röcheln.

»Die einstweilige Verfügung wurde zugestellt«, schnauzte die Karre. »Bitte suchen Sie sich einen anderen Platz zum Verbluten.«

Jason schwang sich von der Limousine, und brächte der Schmerz sie nicht beinahe um, würde sein Humpeln blanke Schadenfreude in ihr auslösen. Er marschierte an den Mülltonnen und dem geparkten Smart vorbei, ging zum Tor und sah die Straße hinunter.

»Ich gratuliere«, spottete Jason. »Du hast tatsächlich dafür gesorgt, dass er entkommt, und meinen Hund hat er auch noch geklaut.« Doch er kam zurück, als durch die Hintertür die ersten Polizeibeamten stürzten. Allen voran leider Robert Moreau, seines Zeichens ihr Boss und leider auch der Lebensgefährte von Jasons Assistentin Helen. Der einzige Polizist, der nicht von Jason geschmiert war, und trotzdem nach seiner Pfeife tanzen musste.

»Was zum Teufel ist hier los?« Robert blieb so abrupt stehen, dass ihre Kollegin Alix in ihn hineinrannte. Zwar sah er zu Jason, aber zu Natalias Frustration zog er nicht seine Dienstwaffe und knallte ihrem verblödeten Angreifer eine Kugel rein.

»Du kommst zu spät«, kritisierte Jason.

Robert verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben zufällig andere Dinge zu tun, als bei jeder Schießerei vorstellig zu werden, die in einem deiner Hotels stattfindet. Erfahrungsgemäß ist das für uns ohnehin Zeitverschwendung. Alle behaupten, es wäre ein entartetes Air-Soft-Match gewesen, und die Schusswunden können sie sich natürlich nicht im Geringsten erklären. Und die Toten verschwinden spätestens im Leichenschauhaus.«

»Diesmal könnte ich dir tatsächlich ein wenig Papierkram bescheren.« Jason deutete auf Natalia. »Ich will sie wegen Hausfriedensbruch, Zerstörung der Valentinssuite und einem stümperhaften Versuch der Körperverletzung anzeigen. Ich wusste ja schon immer, dass euer Training mies ist, aber ihre Angriffe gleichen einer Beleidigung. Als würde sie einer blinden Oma die Handtasche rauben wollen.«

»Er hat einen Menschen entführt.« Natalia hustete einen blutigen Klumpen vor die Füße ihres Chefs, und dieser wich angeekelt zurück, um prompt mit Jason zusammenzustoßen, der sich die Hand auf die Brust legte.

»Habe ich nicht.«

Natalia rappelte sich auf und stützte sich an der pfeifenden Limousine ab. »Pardon, du hast ihn verführt, nur will er lieber was mit deinem Hund anfangen!«

»Ist das nicht strafbar?«, überlegte Alix, und Robert verdrehte die Augen.

»Er hat Peppi geklaut«, protestierte Jason.

»Dem Köter trau ich zu, dass der Michael Girard geklaut hat«, blaffte Robert und rieb sich die Nasenwurzel. »Wer hat zuerst geschossen?«

Immerhin war Jason nicht so kindisch, sofort wieder auf sie zu deuten, aber Natalia würde ihm sein dämliches Grinsen schon vergehen lassen. Robert presste die Lippen aufeinander und massierte sich inzwischen ausführlich die Stirn. Er sollte nicht so tun, als hätte er unsägliche Schmerzen. Durch ihre Lunge war eine Kugel gepfiffen.

»Sie stirbt doch nicht daran?«, fragte Alix besorgt, als Natalia erneut Blut hustete.

Sie hätte sich zu gern gegen Jason gewehrt, der sie herumdrehte, bis sie mit dem Rücken zu Robert und Alix stand. Sie spürte, wie er ihre Lederjacke anhob und auf eine Stelle darunter tippte. Scharf sog sie die Luft ein. Merde, tat das weh.

»Seht ihr das Loch mit dem roten Rand? Das ist die bemerkenswert langsam heilende Austrittswunde. Es war ein glatter Durchschuss«, dozierte Jason. »Die Kugel ist an ihren Rippen vorbeigegangen.«

»Was du natürlich so berechnet hast«, sagte Robert lauernd.

»Natürlich«, erwiderte Jason fröhlich. »Schließlich wollte ich mich gegen die Furie verteidigen, nicht sie töten. Und so langsam wie sie heilt, braucht sie eine doppelte Mahlzeit oder eine Wagenladung Blutbeutel, mindestens.«

Jason ließ sie geradewegs in Roberts Arme fallen. Der Geruch des lebenden Blutes drängte alles in den Hintergrund, und nur mit Mühe konnte sich Natalia zurückhalten, sich nicht in ihrer eigenen Truppe einen Mitternachtssnack abzuzweigen. Dafür gab es andere Kollegen. Die, die einem um acht Uhr in der Früh mit einem sadistisch unbekümmerten Lächeln ›guten Morgen‹ wünschten.

»David Gounelle ist tot«, sagte Robert. »Und deine Leute wurden am Tatort gesichtet.«

Jason zuckte die Schultern. »Da musst du sie schon selbst fragen. Jedenfalls wenn sie wieder sprechen, essen, laufen und denken können. Natalia hat sich nicht schlecht an ihnen ausgelassen.«

»Ich habe einen ausgeknockt«, widersprach Natalia. »Den anderen hat Michael Girard niedergeknüppelt.«

Alix hob skeptisch die Augenbrauen, und Roberts Blick wurde finster. Er starrte Natalia an, als überlege er, welche die lauteste und unbequemste Kreuzung in Paris sei. »Sag mir, dass die Männer dein Leben bedroht haben!«

»Sie haben das von Michael Girard bedroht«, fauchte Natalia. »Du könntest Jason verhaften!«

»Und wofür bitte? Wir können froh sein, wenn wir ihm keinen Schadenersatz zahlen müssen.«

»Gute Idee«, rief Jason dazwischen.

»Verschwinde«, blaffte Robert den Vampir an. »Deine Frau wartet auf dich. Sie hat mich und Helen völlig hysterisch angerufen, ob wir wüssten, wo du bist, weil dein Sonnenschein von Töchterchen seit über einer Stunde brüllt wie am Spieß.«

Jason stöhnte. »Verdammt, ich muss noch Ohropax besorgen.«

 

3

 

Verhörmethoden unter Kollegen

 

 

Da ging er hin. Ohne Handschellen. Jason zwinkerte ihr auch noch zu, als er an ihr vorbeimarschierte, in den Smart stieg und unbehelligt wegfuhr.

Würde sie sich nicht gerade ein komplettes Organ aus dem Leib husten, würde sie ihm noch ein paar wüste Beschimpfungen hinterherrufen. So konzentrierte sie sich allein darauf, das Atmen vollständig einzustellen. Vampire benötigten keinen Sauerstoff mehr, trotzdem gewöhnten sie sich die Bewegungen des Brustkorbs nicht ab. Es war selbst jetzt verflixt schwer, es sein zu lassen, obwohl jeder Atemzug stechenden Schmerz durch ihre Brust jagte.

»Sollen wir dich ins Krankenhaus bringen? Kennst du einen wissenden Arzt, der dir helfen kann?« Roberts Stimme klang gedämpft zu ihr durch. Er hatte sie zu Boden sinken lassen, weil ihre Beine sie nicht trugen. Am liebsten hätte sie sich wie ein Embryo zusammengerollt. Natalia fühlte sich wie in einem Kokon aus Watte, sie schüttelte den Kopf. Sie kannte keinen Arzt, der nicht hysterisch im OP anrufen würde, um sich dann zu wundern, warum zur Hölle ihre Lunge nach einem Durchschuss völlig intakt war und sie lediglich furchtbar blass um die Nase war. Sie kannte auch keinen Arzt, der ihr bereitwillig etwas von den ohnehin ständig knappen Blutkonserven überlassen würde. Die, die sie zu Hause bunkerte, würden nicht ausreichen. Sie brauchte einen Menschen. Wenn Jason recht behielt, dann sogar zwei. Ausgerechnet Michael Girards Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge, sie erinnerte sich an seinen Geruch – die Mischung aus seinem Aftershave und seiner Blutgruppe –, und das bohrende Gefühl des Hungers nahm zu. Druck in ihrem Magen, Brennen in der Kehle. Natalia meinte sogar, dass ihre Eckzähne schmerzten, und sie konnte kaum den Blick von Roberts Hals lösen. Sie wollte nichts lieber, als ihre Zähne durch die weiche Haut stoßen, die Vene aufreißen und das Blut auf ihrer Zunge schmecken.

»Bringt mich in das nächste miese Viertel«, bat sie leise.

Robert drückte ihren Arm und wandte sich von ihr ab. »Alix, du fährst sie.«

»Sie soll zusehen, wie sie was zu essen bekommt.« Neben Robert kauerte sich auch Alix auf den Boden und starrte Natalia feindselig an. »Ich bin ihre verdammte Partnerin, und sie nimmt mich nie mit!«

»Du wirst sie fahren. Ich muss hierbleiben und dafür sorgen, dass sämtliche Überwachungsbänder gelöscht werden und ja niemand eine Zeugenaussage macht«, schnarrte Robert. Es war unfassbar, dass ausgerechnet die Polizei das alles vertuschte. Aber schon klar. Sie hatte angefangen zu schießen und die Einrichtung zu zertrümmern. Wenn Jason eine Rechnung an die Polizei stellte, war sie geliefert.

Zumindest hustete sie inzwischen nicht mehr so viel Blut. Ihre Lunge schien sich zu regenerieren. Als Natalia über ihren Oberkörper tastete, bemerkte sie zwar das Loch in ihrem Shirt, aber in ihrem Fleisch fand sie keines. Als Ausgleich drückte ihr die Müdigkeit umso stärker die Lider nach unten, am liebsten würde sie dem Drang nachgeben und einschlafen.

Robert fasste in ihre Jackentasche und holte ihren Dienstausweis hervor. Sein Blutdruck musste gestiegen sein, das Rauschen in ihren Ohren nahm zu, und sie musste jegliche Selbstbeherrschung aufbringen, um ihn nicht doch noch zu beißen.

»Du wirst dich nähren und dann nach Hause gehen, betrachte dich für den heutigen Abend als beurlaubt«, sagte er streng. »Wir sehen uns morgen Vormittag auf dem Revier. Zieh deine Uniform an.«

Innerlich stöhnte Natalia auf. Uniform hieß Streifendienst und kein Mordfall.

Alix griff ihr unter die Arme. Sie zerrte sie auf die Beine und schleifte sie zur Ausfahrt hinaus. Ihr Dienstwagen parkte in zweiter Reihe mit Warnblink- und mobiler Rundumleuchte auf dem Dach.

Das Hupen der Autos, das Röhren der Motoren, das blinkende Licht, der Gestank der Abgase und der Kanalisation, das Kreischen einer aufgebrachten Taube, das alles hämmerte nun in Natalias Geist und wurde erst dumpfer, als Alix sie auf den Beifahrersitz ablud und die Wagentür schloss. Dafür hing der köstliche Duft lebenden Blutes umso intensiver in der Luft, kaum dass sie sich hinter das Steuer setzte. Natalia atmete ein und bereute es prompt. Sie zischte schmerzerfüllt.

Alix startete den Motor und reihte sich in den Verkehr ein. »Du hättest mich anrufen sollen. Oder wenigstens Robert, er ist dein Vorgesetzter. Aber nein, du musst allein die Heldin spielen, um Michael Girard zu retten.«

»Der Typ ist ein Vampir.«

»Michael Girard?«

»Nein, ich rede von Jason«, stöhnte Natalia. »Du bist ein Mensch, Robert ist ein Mensch, alle anderen auf dem Revier sind Menschen. Ihr kommt nicht gegen ihn an.«

»Du ja offensichtlich ebenso wenig«, gab Alix zurück. Natalia schnaufte genervt. Verflucht noch eins, sie würde ihr wahnsinnig gern widersprechen, aber sie hatte leider recht. Michael Girard rannte jetzt durch die Straßen von Paris, und Jason brauchte wahrscheinlich nur eine halbe Stunde, um ihn aufzustöbern. Er wäre bescheuert, wenn Michael nach Hause zurückkehrte. Er ging vielleicht zu einem Freund. Aber die einzige Adresse, die sie kannte, war die seiner Ex-Frau. Weil diese immer noch im gemeinsamen Haus lebte.

Natalia stierte sehnsüchtig aus dem Fenster. Die Straße runter erkannte sie eine Metro-Station. Ein Ort, an dem sich Obdachlose und Drogensüchtige tummelten. Zwar gab es dort viele Zeugen, aber sie würde schon eine dunkle Nische finden. Oder jemanden allein in der Bahnhofstoilette treffen.

»Lass mich hier raus«, ächzte sie und streckte die Hand nach dem Türgriff aus, aber Alix drückte auf die Zentralverriegelung und fuhr weiter.

»Erst sagst du mir, welches Problem du mit Jason Harris hast. Das ist doch nicht normal.«

»Alix, ich habe Hunger. Willst du wirklich, dass ich dir an die Kehle gehe?«

Alix warf ihr nur einen schnellen Seitenblick zu. »Du wirst dich beherrschen.« Das war kein Befehl, es klang wie eine Feststellung. Ihr Vertrauen hätte sie gern.

»Lass mich raus«, verlangte Natalia erneut. Da, ein paar verwinkelte Gassen. Vor ihrem inneren Auge manifestierte sich das Bild, wie sie im Schatten verschwand, jemanden mit sich zerrte und ihre Zähne in sein Fleisch versenkte.

»Ich warte auf eine Antwort«, störte Alix ihren Wunschtraum.

»Der Bastard regiert praktisch die Pariser Mafia, und ich bin eine Polizistin. Dass ich ihn nicht zum Scrabble-Abend einladen will, sollte klar sein.«

»Da steckt mehr dahinter«, gab Alix ungerührt zurück. »Und ich will wissen, was.«

»Es gibt nichts«, beharrte sie und stöhnte, als Alix extra auf die benachbarte Spur wechselte, um ein Schlagloch zu erwischen.

»Ich glaube dir nicht. Nächster Versuch.«

Das gab es doch nicht! Ehe Natalia abermals etwas Nichtssagendes von sich geben konnte, beschleunigte Alix und knallte durch ein weiteres Schlagloch. Natalia ächzte, als die Wunden in ihrer Lunge wieder aufzuplatzen schienen.

»Das ist Folter!«

»Rede endlich«, fauchte Alix. »Wieso reagierst du so auf Jason Harris? Sobald du ihn siehst, wirst du zur unkontrollierten Furie, und ich will wissen warum. Wenn wir uns gegenseitig den Hintern decken sollen, muss ich es wissen. Warst du mit ihm im Bett?«

»Nein.«

»Ich schlage sogar Lügendetektoren, wenn es darum geht, die Wahrheit rauszufinden, und du sagst mir nicht die Wahrheit.« Alix‘ Stimme klang eisig.

»Schön, ich war mit ihm im Bett.«

»Warst du in ihn verliebt?«

Natalia stöhnte diesmal nicht vor Schmerz, sondern vor Empörung. »Nein, verflucht.«

»Dann versteh ich das nicht.«

»Er ist ein Verbrecher«, fauchte Natalia.

»Aber ein hübscher.«

Der Himmel steh ihnen bei, wenn Alix sich jetzt auch noch in den Vampir verknallte. »Michael Girard gefällt mir besser«, rutschte ihr heraus, bevor sie sich selbst an der Mittelkonsole den Schädel einschlagen konnte.

Alix zog die Mundwinkel hoch, aber der Ausdruck in ihren Augen blieb besorgt. »Lass das Robert nicht hören.«

Wenn sie könnte, würde sie Alix‘ Gedächtnis löschen, damit diese das genauso wenig gehört hatte. Der Schmerz schränkte eindeutig ihr Denken ein. Sie fand Michael nicht attraktiv. Okay, schön, er war attraktiv, aber das war ihr verdammt noch mal egal.

»Ich habe Hunger«, beschwerte sich Natalia. »Ich kann nicht denken, wenn ich Hunger habe.« Und bei ihr half nicht mal ein Snickers.

»Du wirst nie wieder ohne mich losziehen. Ich bin deine Partnerin. Ich kann verhindern, dass dir Verbrecher Kugeln in den Körper jagen. Und wenn du das nicht endlich kapierst, solltest du dir schleunigst ein Opfer mit Verstand suchen, damit du nicht nur dessen Blut, sondern auch etwas vom Gehirn abbekommst«, schimpfte Alix.

»Das ist anatomisch überhaupt nicht möglich.«

»Angeblich war die Medizin vor tausend Jahren sehr rückschrittlich, trotzdem haben Azteken bereits Operationen am offenen Schädel vorgenommen, und das macht Robert mit dir, wenn du dich nicht zusammenreißt.«

Natalia packte Alix am Arm. »Lass mich auf der Stelle raus«, knurrte sie.

Alix hielt tatsächlich abrupt am Straßenrand und entriegelte den Wagen. Natalia drückte den Türöffner und wäre fast aus dem Auto gefallen. Sie hatte vergessen, das Bein zuerst rauszustellen. Natalia schob sich auf den Gehsteig, knallte die Tür zu und wankte, so schnell es ging, in das Gewühl der Straßen und Gassen, weg von der Hauptstraße und neugierigen Augen.

Aber heute war nicht ihr Glückstag. Der Gott, der für Vampire zuständig war, hasste sie oder er war gerade in der Vesper-Pause.

Ihr begegneten beinahe ausschließlich Pärchen. Wenn sie einen einzelnen Passanten fand, dann war sie nicht flink genug, bis jemand anderes die Straße betrat.

Natalia wanderte ziellos umher. Erst als sie das Straßenschild der Av. du Général Gallieni erspähte, kam ihr die Erkenntnis. In der Nähe wohnte Michaels Ex-Frau. Und in diesem Moment sah sie einen Mann allein den Gehweg entlanggehen. Weit und breit hörte sie keine weiteren Schritte außer denen des Mannes. Die Umzäunungen der Häuser boten zwar keinerlei Nischen, aber so langsam war ihr selbst das egal. Ein Baum musste als Sichtschutz reichen.

 

4

 

Verfolgung will auch gelernt sein

 

 

Michaels erster Impuls hatte ihn in einer Geschwindigkeit, auf die sein Personal Trainer stolz gewesen wäre, die Straße entlanggetrieben. Er war gegen Passanten gerempelt, hatte sich Beschimpfungen eingefangen und war in einen Bus gesprungen, dessen Türen einladend an einer Haltestelle offen standen.

Seine Jacke wurde an einer Seite von dem Gewicht der Pistole, die er Franck abgenommen hatte, nach unten gezogen. Sie war nach dem Sturz aus dem Fenster mit ihm auf den Asphalt gefallen, und er hatte sie eingesteckt. Jetzt schien es ihm, als wüsste wirklich jeder, was in seiner Jackentasche steckte, und ihn beim nächsten Halt Polizeibeamte aus dem Bus zerrten und wegen unerlaubten Waffenbesitzes einsperrten. Er sollte zur Polizei gehen, das wäre die vernünftigste Lösung. Also zur richtigen Polizei, nicht zu dem, was diese Verrückte hatte darstellen wollen. Aber dann funkte ihm eine andere Synapse Francks Worte dazwischen: Die Polizei war von denen gekauft. Mit Sicherheit nicht alle, aber bei seinem Glück landete er genau in den Armen eines Beamten, der sich von den Bestechungsgeldern eine Jacht zusammensparte und Michael höchstens auf diese einlud, um ihn vor den Hoheitsgewässern zu versenken. Wahrscheinlich raste der Streifenwagen nur deswegen so eilig an dem Bus vorbei, um dem gruseligen Mafioso und der verrückten Polizistin zu helfen, nicht ihm.

Michael suchte sich im hinteren Teil des Busses einen Platz, als dieser anfuhr und sich in den Verkehr einfädelte. Er zuckte zusammen, als Peppi mit einem Kläffen auf den Nachbarsitz sprang. Mist. Michael hatte gehofft, ihn so abschütteln zu können.

Aber das gelang ihm auch nicht, als Michael ein paar Haltestellen später ausstieg, um auf den nächsten Bus zu warten. Das Einzige, was Michael tun konnte, war, Peppi das Halsband abzunehmen und ihn abzutasten. Er spürte keinen Sender unter dem Fell, und Michael betete zu allen Göttern, dass der Hund nicht gechipt war. Mit einem simplen Chip konnte man ohnehin keinen Hund orten, aber was wusste er denn, was ein Mafioso seinem Lieblings-Fiffi einsetzen ließ. Er wollte seine Spuren verwischen und brauchte dringend einen Plan, was er nun tun sollte.

Nach Hause konnte er nicht. Von hier aus würde er mindestens eine Stunde bis zu seiner Wohnung brauchen, und dort wartete vermutlich bereits ein kiffender Jason Harris auf ihn, der sich mit einer angeblichen Polizistin anzickte oder weiterprügelte.

Peppi hockte zu seinen Füßen, fiepte und schmiegte sich an sein Bein. Mit treuherzigen Augen sah er zu ihm auf und wedelte mit dem Schwanz.

»Sitz«, befahl Michael, und der Hund folgte. Ein Linienbus blieb stehen und öffnete seine Türen. Wärme schlug Michael einladend entgegen, aber noch zögerte er.

Streng sah er Peppi an. »Platz!«

Michael sprang in der letzten Sekunde, bevor sich die Türen des Busses schlossen, in das Innere. Aber Peppi landete noch vor ihm zwischen den Sitzen und tollte fröhlich im Gang. Michael rieb sich die Nasenwurzel. Das hielt doch kein Mensch im Kopf aus.

An der Haltestelle Av. Laferrière stieg er aus und zockelte mit Peppi auf den Fersen die schulterhohe grüne Hecke entlang. Früher war er diesen Weg jeden Tag gegangen. Am Morgen zur Arbeit, am Abend nach Hause, mit der Vorfreude auf Chloé im Bauch. Jetzt überlegte er, ob ihn Chloé überhaupt reinließ. Mit der Scheidung vor einem halben Jahr hatte sie nicht nur sein Haus und sein Geld mitgenommen, sondern auch seine Freunde. Allem voran seinen besten Freund, mit dem sie eine Affäre gehabt hatte. Michael besaß wirklich ein unschlagbares Händchen für treulose Flachpfeifen. Aber gerade hatte er keine andere Wahl. Er brauchte einen Platz zum Nachdenken, und gegen eine Dusche hätte er herzlich wenig einzuwenden.

Ein paar Minuten später stand er vor dem Haus,

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Allyson Snow
Bildmaterialien: // http://tka-coverdesign.weebly.com/font-copyrights.html
Cover: T.K.A-CoverDesign / t.k.alice@web.de
Lektorat: Juno Dean
Korrektorat: Mathew Snow
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2022
ISBN: 978-3-96714-251-8

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /