Cover

Leseprobe

1

 

 

 

Fledermäuse bleiben nicht zum Frühstück

 

 

Allyson Snow

 

 

 

© Copyright: 2019 - Allyson Snow

 

Cover created by © Chris Gilcher - Buchcoverdesign.de
1. Lektorat, Korrektorat: Juno Dean
2. Lektorat, Korrektorat: Mathew Snow

3. Korrektorat: Dr.Andreas Fischer

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

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Kapitel 1

 

Auch Fledermäuse müssen zielen

 

 

Es gibt Millionen erste Sätze, tausende Möglichkeiten, ein Buch zu beginnen.

Der erste Satz muss fesseln. Er soll eine Offenbarung sein, ein Versprechen und das Argument, seine wertvolle Zeit mit diesem Bündel Papier zu verschwenden und nicht etwa mit einem Asterix-Comic. Aber seien wir ehrlich. Selbst die Prägung seines Toilettenpapiers besaß mehr Spannung als Docs erster Satz.

›Sie war schön und hatte ausgesprochen spitze Zähne.‹

Kein Wunder, dass Docs Finger bereits nach den ersten acht Worten ratlos über der Tastatur schwebten. Mit diesem Satz war schließlich schon alles gesagt.

Docs neuer Roman handelte von einer schönen Frau mit spitzen Zähnen. Einer Vampirin, um genau zu sein, und da lag das Problem: Vampire. Mal im Ernst – nicht nur, dass die Straßen mit blutleeren Leichen gepflastert oder zumindest sämtliche Blutbanken regelmäßig des Nachts leer geräumt sein müssten – wer glaubte schon an Kreaturen, die freiwillig im Sarg schliefen, wenn sie sich ein vernünftiges Bett leisten könnten? Und die, sobald sie an einem griechischen Restaurant vorbeigingen, betäubt vom Knoblauchgeruch zusammenbrachen? Warum war Doc noch nie vor besagten Lokalitäten über bewusstlose Passanten gestolpert? Oder waren die Menschen, die er für Obdachlose gehalten hatte, etwa betäubte Vampire? Als wäre das nicht absurd genug, tranken sie jede Menge Blut und mussten nie auf Toilette? Was geschah mit der Flüssigkeit, die spätestens nach dem ersten Liter fürchterlich auf die Blase drücken musste? Schwitzten die das aus? Ach, nein … Wenn ein Vampir um sein Leben rannte oder sich durch ein Rudel Werwölfe prügelte, sah man nie auch nur einen Schweißtropfen auf der blassen Stirn. Docs Meinung nach war die Spezies der Vampire von vorn bis hinten unlogisch.

Aber Vampirromane verkauften sich wie geschnitten Brot. Der düstere Vampir und die holde Maid, die mit fünfundzwanzig Jahren noch entzückend wenig von den zwischenmenschlichen Paarungsbräuchen wusste und damit noch keine sonderlich hohen Erwartungen entwickelt hatte.

Und … Halt! Sein erster Satz war nicht nur schlecht, er besaß auch noch einen erheblichen Fehler: Docs Vampir war eine Frau. Nein, nein, nein! Mist, verflixter. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht? Das ging nicht! Eine Frau, stärker als der arme Tropf, mit dem sie am Ende der knapp vierhundert Seiten einen Gaul klaute und in den Sonnenuntergang ritt? Nein, der Vampir in seinem Buch musste ein Mann sein. Aber eine Frau als Vampir hatte auch was. Okay, dann war Docs holde Maid eben frisch gewandelt (Wie vermehrten sich Vampire noch mal?) und brauchte einen starken, außerordentlich männlichen Gefährten, der sie in ihr neues, dunkles Leben einwies und mit stolzgeschwellter Brust vor den nächtlichen Gefahren bewahrte. Aus der Abenddämmerung wurde ein Vollmond, schließlich litten Vampire bekanntlich unter einer Sonnenallergie. Ja, das war gut.

Hoffentlich sah das sein Herausgeber ähnlich. Ob Doc ihm von seiner Idee erzählen sollte?

Besser nicht.

Docs Verleger durfte das Werk erst in seiner fertigen Gesamtheit kennenlernen, und am Ende würden ihm Tränen in den Augen stehen. Zurzeit heulte er nur, wenn er Doc (erfolglos) bekniete, doch mal wieder einen Bestseller zu schreiben.

›Doc, du bist einundfünfzig Jahre alt‹, pflegte Karl zu sagen. ›Machen wir uns nichts vor. Bis du stirbst, sind die Forscher mit den austauschbaren Organen noch lange nicht so weit, um dich am Leben zu erhalten. Du hast also noch dreißig bis vierzig Jahre. Eher dreißig. Wenn überhaupt. Also nimm diese dämliche Pfeife aus dem Mund und fang an zu schreiben!‹

Wenn Karl besonders schlechte Laune hatte, entriss er Doc die Pfeife und sprang darauf herum. Meistens mit der Drohung, ihm den letzten Cent aus der Urne zu klagen, wenn Doc es wagen sollte, an Teerlunge draufzugehen. Zum Glück war Docs Pfeife aus einem Stück Echtholz geschnitzt.

Doc gab es nicht gern zu, aber die Hysterie seines Verlegers war verständlich. Docs letzter großer Wurf lag mittlerweile fünf Jahre zurück, und langsam krähte kein Hahn mehr danach. Es hatte Zeiten gegeben, da fanden historisch bewegende Liebesromane von mindestens achthundert Seiten reißenden Absatz. Jetzt waren es Vampirbücher. Schön! Dann wurde eben aus dem armen Soldaten des kaiserlichen Reiches, der sich in eine schöne Hofdame verliebte und nur Hoffnung auf Erfüllung seiner geheimen Liebe hatte, wenn er Kopf und Kragen für ein paar Blechmedaillen und das kaiserliche Lob riskierte, ein Vampir. Egal, wie unlogisch die Natur diese Vampirspezies eingerichtet hatte!

Doc grübelte immer noch über dem zweiten Satz seines Manuskriptes, als ihn ein dumpfes Klatschen zusammenfahren ließ. Himmel noch eins, wenn die Kinder von gegenüber wieder nasse Taschentücher auf seinen Balkon geworfen hatten, würde er sich nicht mehr nur aufs Brüllen beschränken!

Doc schwang auf seinem Drehstuhl herum und spähte über das Sofa hinweg zur Balkontür. Gerade rechtzeitig, um sehen zu können, wie ein dunkler Fleck an der Scheibe hinunterrutschte, sich mit einem letzten Quietschen löste und auf dem Boden landete. An der Glastür blieb lediglich ein handbreiter Fettfleck zurück.

Doc seufzte. Es waren nicht die frechen Bengel und ihre Wurfgeschosse. Nein, es war schon wieder einer dieser selbstmordgefährdeten Vögel. Wie viele Raubvogel-Silhouetten sollte er noch an die Scheiben kleben? Er konnte jetzt schon kaum durchsehen!

Docs Drehstuhl knackte leise, als er sich erhob und die Balkontür öffnete. Er rechnete fest mit dem Anblick einer beduselten Taube oder eines hysterischen Spatzens. Aber es war eine Fledermaus, die den Eingang zu ihrem Domizil im Dachsparren um etwa zwei Meter verfehlt hatte.

»Was hast du gedacht, was das wird?«, fragte Doc, erhielt aber logischerweise keine Antwort. Vorsichtig hob er das Tier auf und trug es in die Küche. Die Fledermaus schlug mit dem rechten Flügel, doch der linke hing kraftlos herunter. Für Doc sah er gebrochen aus, aber was wusste er schon? Nur, dass Fledermäuse Tollwut übertragen konnten. Verflixt, er hätte sie lieber mit der Wurstzange aufheben sollen.

Er legte das Tierchen auf seinem Küchentisch ab und ja, es war albern, mit einer Fledermaus zu reden, aber Doc konnte sich einen Ratschlag nicht verkneifen: »Das nächste Mal solltest du besser zielen.«

Irrte er sich, oder warf ihm das Tier einen schiefen Blick zu?

Ha! Ihm kam eine grandiose Idee! Seine Vampirin würde, unbegabt wie sie war, regelmäßig gegen Scheiben donnern, sehr zum Ärgernis ihres Beschützers. Dieser wiederum war ein düsterer Vampir, ernst, verbittert, vom Leben (und dem Tod) enttäuscht. Einer, der keinerlei Sinn für Humor besaß, sonst würde dessen Part nur aus Gelächter bestehen. Das war genial, Docs Synapsen waren genial! Sie arbeiteten derart spektakulär, dass er fast den Arm hob, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen.

»Du entschuldigst mich«, wandte sich Doc an die Fledermaus und wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen. »Fühl dich wie zu Hause, ich muss jetzt an meinem Roman weiterschreiben!«

Er schwor bei allem, was ihm heilig war, jetzt klappte der Fledermaus glatt das Mäulchen auf. Gut, offenbar wurde er verrückt, aber das Berufsrisiko nahm er in Kauf. Wenn die Flut der Ideen nicht so plötzlich abriss, wie sie begonnen hatte, würde sich das Buch praktisch von allein schreiben. Er müsste sich keine Sorgen mehr um seine Miete machen, die kreischenden Teenager rannten bei Signierstunden seinen Stand ein, und er könnte mit deren Müttern flirten. Warum hatte er sich so lange gegen Vampirgeschichten gesträubt?

Doc sprintete aus der Küche und fiel beinahe in seinen Bildschirm, so abrupt stoppte er davor. Der Stuhl ächzte unter Docs schwungvollem Hinsetzen und kippte nach hinten. Doc klammerte sich an seinem Schreibtisch fest, schob sich in eine sichere Position und hämmerte auf die Tasten ein, bis die Tastatur über den Tisch hüpfte.

Gerade erreichte Doc die magische Zahl der ersten fünfhundert Worte und ließ seine arme Protagonistin im Sturzflug auf eine Schaufensterscheibe zubrettern, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Die Fledermaus schlurfte um die Ecke, an seinem Fernsehschrank, den Tomatenpflanzen und dem Sofa vorbei, quer durch das Wohnzimmer. Der verletzte Flügel zog eine Staubfluse hinter sich her.

Was besaß Doc doch für schlechte Manieren! Fairerweise musste man sagen, dass die Menschen von gegenüber genauso schlecht waren.

Er sprang auf und ging der Fledermaus hinterher, denn diese peilte gerade mit erstaunlicher Präzision sein Schlafzimmer an. Woher wusste das Tier, dass es hinter der Stube lag? Und überhaupt! Es war unhöflich, gleich das Bett zu annektieren! Wie beruhigend, dass er nicht der Einzige mit schlechten Manieren war.

Doc holte die Fledermaus an der offenen Tür ein, hob sie vorsichtig hoch und ging mit ihr zurück in die Küche. Der Richtungswechsel schien dem kleinen Ding überhaupt nicht zu gefallen. Sehnsüchtig starrten die dunklen Knopfaugen an Doc vorbei, dorthin, wo dessen weiches Bett stand. Sehnsüchtig … Ja, klar, seine Fantasie machte schon wieder Überstunden.

Erneut legte er die Fledermaus auf dem Tisch ab, fand im Altpapierstapel einen Pappkarton, den er mit Zeitungspapier auslegte, und setzte das Tier hinein. Jetzt sah sie nicht mehr sehnsüchtig, sondern in höchstem Maße unzufrieden aus. Sie bleckte sogar die winzigen Zähne, und ihre Nase wurde noch runzliger. Na gut … Seufzend faltete ihr Doc aus dem Papier noch ein Kissen, und ein ausgeleiertes Unterhemd, das er aus dem Sack für den Kleidercontainer wühlte, sollte die Decke darstellen. Sicher, das war keine Luxusbehausung, aber er wohnte ja auch nicht gerade im Hilton! Da konnte sie ihn noch so missmutig anstarren. Wenn sie einen Whirlpool und ein Kingsize-Bett wollte, hätte sie gegen eine andere Scheibe fliegen müssen. Die Fledermäuse von heute waren für seinen Geschmack ganz schön undankbar! Aber er wollte nicht so sein, das Tier hatte mit Sicherheit Schmerzen.

»Was fressen Fledermäuse gern?«, fragte er. »Mehlwürmer?«

Konnten Fledermäuse eigentlich angewidert aussehen? Doc schüttelte den Kopf über sich selbst. Natürlich konnten sie das nicht. Das wäre ja noch schöner. Er deckte die Fledermaus vorsichtig zu und achtete darauf, ihren Flügel nicht zu berühren.

Morgen würde er eine Aufzuchtstation anrufen. Heute, zum Sonntag, war um diese Zeit niemand mehr zu erreichen. Fledermäuse hatten gefälligst nur werktags, von neun bis achtzehn Uhr, gegen Scheiben zu knallen.

Doc öffnete die Tür seines vergilbten Kühlschrankes und kramte nach einer Packung Milch, die kaum eine Woche über dem Verfallsdatum lag. Die Fledermaus hatte Glück. Er hatte gestern eine neue gekauft, auch wenn er sie im ersten Moment unter den Wurstpackungen übersah. Wurst. Hervorragendes Stichwort! Liebevoll drapierte Doc auf dem Rand der Milchschüssel ein paar Salamischeiben. Wenn dem Tierchen diese ausgezeichnete Räucherware nicht zusagte, konnte er sie ja immer noch selbst essen.

Er schob der Fledermaus die Schüssel vor die eingedrückte Nase, die unter seinem Unterhemd hervorragte. Dankbarkeit sah anders aus, aber vielleicht war diesen Geschöpfen der skeptische Ausdruck schon von Natur aus gegeben. Oder er war an eine notorisch kritische Fledermaus geraten. Genau genommen könnte er schwören, dass ihr Blick begehrlich wurde, wenn sie ihn musterte. Aber sich anknabbern zu lassen … Nein, so weit reichte seine Gastfreundschaft nicht!

Sein eigener Magen übertönte ja schon jeden Schreibanfall, in froher Aussicht auf das wöchentliche Festmahl. Denn Doc erwartete etwas sehr viel Besseres als Milch und Salami. Seine heißgeliebte Roulade! Wegen der Fledermaus war er auch noch spät dran, genau genommen sollte er schon seit zehn Minuten im ›Ochsen‹ sein. Also in der Kneipe ›Zum Ochsen‹, nicht, dass hier merkwürdige Gerüchte aufkamen.

»Mach nichts kaputt, und wenn das Telefon klingelt, geh ruhig ran«, instruierte Doc die Fledermaus. Er eilte in den Flur, um seine lilafarbenen Hauspuschen (ein Geschenk, leider) gegen gesellschaftlich anerkannteres Schuhwerk zu tauschen. Tabak, Streichhölzer und seine Pfeife wanderten gemeinsam mit dem Hausschlüssel in die Tasche seines Mantels, und er hielt noch einmal inne, um auf Geräusche aus der Küche zu lauschen. Doch mehr als ein Rascheln war nicht zu vernehmen. Nun, bei einer verletzten Fledermaus konnte man hoffentlich sicher sein, dass sie einem nicht die Hauspuschen zerkaute. Obwohl das bei den Dingern ein Segen wäre.

Doc warf die Tür hinter sich zu, und der leicht modrige Geruch des alten Treppenhauses umfing ihn. Das Gebäude, in dem er wohnte, war ein altes Fachwerkhaus und vor mehr als dreihundert Jahren erbaut worden. Er wohnte im obersten Stock, und das Haus besaß natürlich keinen Fahrstuhl, sodass Doc nicht in Versuchung geriet, seine tägliche Fitnesseinheit durch Treppensteigen zu schwänzen. Außerdem mochte er den stickigen Duft. Holz, Vergangenheit, Geschichte. Aber jetzt hatte er keine Zeit, das zauberhafte Flair zu genießen. Die Stufen knarzten, als er sie eilig hinunterpolterte. Er stieß die Tür auf, und kalte Luft umfing ihn, geschwängert von den Vorboten des ersten Frostes. Doc fror und zog seinen Mantel enger.

Es war erst kurz nach sechs, doch schon jetzt waren die Bordsteine in Jondershausen im wahrsten Sinne des Wortes hochgeklappt.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite rollte Frau Rottenmecker ihren quietschenden Hackenporsche hinter sich her. Doc nickte ihr höflich zu und schlug den Weg zum ›Ochsen‹ ein.

Jeden Sonntagabend traf er sich mit Spooks in dem Gasthaus, um Schach zu spielen. Es war eine lieb gewonnene Gewohnheit, beide genossen die Stunden fernab der Trostlosigkeit des Kaffs und der Langweiligkeit seiner Bewohner. Als Doc aus London ins Rhein-Main-Gebiet umgesiedelt war, die Heimat seiner Großeltern, hatte er Ruhe gesucht, aber kein Mensch rechnete mit so viel Ruhe. Er hätte seinen Wohnsitz liebend gern wieder in eine Großstadt verlegt, aber wer zum Henker sollte diese horrenden Mieten bezahlen? Da verrottete er lieber in der Einöde und flüchtete sich in Kreativität. Trotzdem war er froh gewesen, als sein alter Studienkollege verkündete, ebenso nach Jondershausen zu ziehen, weil Spooks‘ Frau Nancy unbedingt vor dem Brexit in das ›vernünftige Europa‹ auswandern wollte und hier die Häuserpreise noch erschwinglich waren.

Doc stieß die schwere Holztür des ›Ochsen‹ auf und genoss einmal mehr das gediegene Ambiente. Die Wände waren mit alten Holzbrettern vertäfelt und führten hinauf zu den nackten Holzbalken, die das Dach stützten. An Nägeln hingen Pflanztöpfe mit künstlichen Blumen, Kuhglocken und Bleistiftzeichnungen von Kühen, Feldarbeitern und Pferden, die Pflüge durch die Erde zogen.

An einem der windschiefen Tische, das Schachbrett spielbereit aufgebaut, saß Spooks. Eigentlich hieß er Edgar Desmond Marley Spooks. Spooks‘ Mutter fand den Namen stattlich, Spooks hingegen weniger. Er weigerte sich, auf Edgar oder Desmond oder gar Marley zu hören, und wollte seit dem achten Lebensjahr nur noch mit dem Nachnamen angesprochen werden. Wenn man ihn Edgar nannte, wurde er rot wie eine überreife Tomate, die kurz vorm Platzen stand.

»Du bist zu spät, mein Freund«, tadelte ihn Spooks.

Schwerfällig ließ sich Doc auf den Stuhl gegenüber plumpsen. »Die Buchstaben haben sich gewehrt. Vampirgeschichten sind doch nicht so einfach, wie ich erwartet habe. Dabei können Vampire kaum anders sein als Menschen, oder?«

»Du glaubst doch nicht an Vampire, Doc?«, fragte Spooks perplex. »Das ist blanker Unsinn.«

Doc nahm seine Pfeife aus der Tasche, stopfte den Tabak hinein und zündete sie an. »Meine Güte, warum echauffierst du dich so? Jedes Volk braucht einen Aberglauben, es liegt in der Natur des Menschen.«

Doc zog genüsslich an seiner Pfeife und blies den Rauch über den Tisch. Eine Wolke nach Honig und Rum duftenden Tabakrauchs waberte durch den Raum. In einem Kaff wie Jondershausen interessierte sich niemand für Nichtraucherschutz.

Der Geruch lockte Paula an, die Kellnerin. Ihre Arme waren vom Tragen der schweren Teller und Gläser gestählt, ein dünner Schweißfilm glänzte auf ihrem Gesicht und betonte ihre rosigen Wangen. Ursprünglich war sie eine waschechte Blondine. Aber ihre Haarfarbe wechselte je nach Jahreszeit von Honiggelb über Braun bis Rot. Zurzeit trug sie ein solch unnatürliches Rot, dass man befürchten musste, jemand könnte sie mit einem Feuerlöscher verwechseln.

Paula beugte sich über den Tisch, um nach Spooks‘ leerem Glas zu angeln, und bot ihm einen ausgezeichneten Einblick in ihr Dekolleté. Fast verpasste Doc, was sie von sich gab.

»Vampirgeschichten sind cool. ‘n Bier, Doc?«

Er räusperte sich und starrte den schwarzen König an. »Danke, ja. Und eine Roulade!«

»Gern.« Paula lächelte und strich im Vorbeigehen über Docs Schulter.

Als sie den Tresen erreichte, beugte sich Spooks nach vorn und flüsterte: »Du solltest ihr den Gefallen tun und sie nach Hause begleiten, dann gibt sie vielleicht Ruhe.«

»Ich bin nicht bescheuert«, raunte Doc und setzte seinen linken, mittleren Bauern nach vorn. »Du weißt genau, wie so was in einem Kaff wie Jondershausen endet. Wenn sie der Hafer sticht, holt sie ihre Brüder, und die überzeugen mich dann mit Hieben davon, dass es besser ist, die entweihte Jungfrau zu heiraten.«

»Zum Heiraten ist sie zu jung für dich«, erwiderte Spooks und schob sein Pferd in Docs Richtung. »Du willst doch bestimmt nicht immer für ihren Vater gehalten werden.«

»Danke«, knurrte Doc.

»Ihr seid fast zwanzig Jahre auseinander.«

»Wie ich schon sagte – danke!«

»Ach Doc.« Spooks lachte. »Man muss sein Alter akzeptieren. Andere haben in deinem Lebensabschnitt schon Enkelkinder.«

Ein wahnsinnig unauffälliger Themenwechsel. Dazu sollte man wissen, dass Spooks seit zwei Wochen stolzer Großvater eines Mädchens war. Doc konnte sich nicht einmal vorstellen, Vater zu sein, geschweige denn Großvater. Ihm hatte schon die Sippschaft seines Bruders in London gereicht. Wann immer die eigene Brut keine Lust auf ihren Nachwuchs hatte, bekam man diesen aufs Auge gedrückt. Da starb er lieber einsam, am besten sofort. Denn Spooks kramte sein Smartphone hervor, hielt es Doc unter die Nase und zeigte ihm Bilder eines Babys. Das sollte ein Mädchen sein? Sie sah aus wie ein alter Mann! Sabbernd, kahlköpfig und mürrisch. Mal zeigten die Bilder sie von oben, dann von der Seite, an der großen, festen, weißen Brust ihrer Mutter, und schließlich wie sie die Muttermilch auskotzte. Kurzum: Spooks‘ Enkelin sah auf jedem Foto gleich aus. Die Bilderflut stockte nur dann, wenn Spooks eilig eine Figur über das Schachbrett schob. Als Paula die Roulade vor Doc abstellte, hatte Spooks immer noch nicht gemerkt, dass er sich seit fünf Zügen im Schach befand.

»Schachmatt«, sagte Doc schließlich und bereitete dem Elend ein Ende, indem er seinen Turm so rückte, dass Spooks‘ König schon ein Ninja sein müsste, um aus dieser Falle herauszukommen.

Aber Spooks hatte überhaupt nicht zugehört! Er rückte seinen König mit einem abwesenden Lächeln einfach auf das benachbarte Feld und schnippte im nächsten Augenblick mit dem Daumen über das Handydisplay, um Doc ein weiteres Babyfoto zu präsentieren.

Doc fing Paulas mitleidigen Blick auf und das Lächeln, bei dem sich auf ihren Wangen kleine Grübchen bildeten. Als er ihr weiter in die Augen sah, trat sie neben seinen Stuhl und beugte sich über seine Schulter. Spooks grinste begeistert. Noch eine Zuschauerin, die sein perfektes Enkelchen bewunderte. Aber Doc könnte schwören, dass Paula sich ebenso wie er keinen Moment für ein fremdes Kind interessierte. Die losen Strähnen ihres Haars kitzelten ihn am Hals, und er roch die Süße ihres Parfüms. Eine Mischung aus Blumen und Honig.

»Sehr hübsch«, sagte sie laut. Sie drehte den Kopf, bis ihre Lippen Docs Ohr berührten, und hauchte: »Du könntest es gerade sehr viel schöner haben. Weißt du, was ich an dir am liebsten mag?«

Nein, er sollte nicht fragen. Das wäre ein Fehler. Ach, verflucht. »Was denn?«

»Das hier«, raunte Paula leise. Während Doc mühsam auf das Bild des Babys starrte, strichen Paulas Finger durch seinen Bart, seine Wange entlang, hinauf bis zu seiner Stirn. »Und das hier.«

Donnerwetter. Sie fuhr in seine Haare und ein wohliger Schauer breitete sich in seinem Körper aus.

»Du stehst also auf graue Haare«, murmelte Doc.

»Ich stehe auf dich, Doc Murphy«, schnurrte sie. »Wofür steht ›Doc‹ überhaupt?«

»Für gar nichts. Es ist die Kurzform von Madoc.«

»Und ich dachte schon, du magst Doktorspielchen.« Paula biss neckisch in sein Ohrläppchen.

Er sog scharf die Luft ein. »Deine Mutter würde bei so einer blöden Idee die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.« Hoffte er zumindest.

»Warum sollte sie? Du bist doch ein anständiger Kerl.«

Toll. Es gab kaum eine größere Beleidigung für einen Mann. »Ich bin nicht anständig«, widersprach er, und das war, leider Gottes, die größte Lüge aller Zeiten.

»Bist du ein Bösewicht, ja?« Paula lachte, und ihr Atem streichelte seinen Hals. »Solche Männer liebe ich. Befiehl mir, und ich werde mich mit Hingabe vor dir räkeln. Nackt oder in schwarzen Seidendessous. Was magst du lieber, Doc Murphy? Möchtest du selbst auspacken oder gleich alles sehen können?«

Was sollte man dazu noch sagen? Er starrte so angestrengt auf dieses vermaledeite Display, dass es vor seinen Augen verschwamm. Warum half ihm Spooks nicht? Der bekam es überhaupt nicht mit! Er faselte gerade darüber, dass seine Familie Weihnachten bei ihnen feiern würde. Ob Doc nicht auch kommen wolle?

»Du könntest Weihnachten auch bei mir kommen«, flüsterte Paula an seinem Ohr. »Die Glocken bringen wir ohne Weihnachtslieder zum Klingen.«

Es wäre so einfach. Er könnte mit Paula mitgehen und Spooks sitzen lassen. Aber dann bekäme er Paula zeit seines Lebens nicht wieder los. Genau deswegen hatte er bis heute jeden ihrer Annäherungsversuche ignoriert. Kein noch so tiefes Dekolleté oder knapper Rock hatte es geschafft, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Scheinbar.

Die Wahrheit war, dass Paula nicht nur verflucht heiß war, sondern ihre Frechheiten genau sein Typ. Allerdings hatte er zu viel Respekt vor der Überzeugungskraft ihrer Brüder. Einer davon war Pfarrer! Doc würde sich schneller vor dem Altar wiederfinden, als er seinen Tod vortäuschen könnte. Und Schriftsteller, die nicht alles haben konnten, schrieben sowieso besser. Allerdings … So inbrünstig (und stinkend langweilig), wie sich Spooks gerade über die Frucht der Frucht seiner Lenden ausließ, erwachte in Doc der lang ignorierte Drang, sich doch mal wieder mit dem Vorgang der Zeugung zu beschäftigen. Vielleicht war es Zeit für eine kleine Dummheit. Umziehen konnte er immer noch.

 

Kapitel 2

 

Wer hat in meiner Wäsche gewühlt?

 

 

Doc tat es dann doch nicht, also die Dummheit. Inkonsequenz war schon seit jeher sein größter Fehler gewesen.

Der Drang, Spooks das Telefon aus der Hand zu schlagen und ihm ins Gesicht zu brüllen, dass das Kind auch auf dem fünfzigsten Foto wie ein deformierter Gnom aussah, war verdammt groß. Genauso wie der, Paulas Hand zu ergreifen und mit ihr einen Spaziergang in der frostigen Oktobernacht zu unternehmen. Aber Doc blieb brav, verbot sich jegliches Sehnen nach weiteren Berührungen von Paula, verabschiedete sich freundlich von allen und warf beim Hinausgehen nicht einmal die Tür zu. Ein Musterbeispiel eines gutmütigen, wohlerzogenen Mitglieds einer ignoranten Gesellschaft.

Pah, gutmütig und wohlerzogen. Zum Gähnen langweilig traf es eher. Kein Wunder, dass ihm kaum etwas Spannendes einfiel. Wie sollte Doc die aufregenden Abenteuer zweier Vampire beschreiben, wenn er nicht an Vampire glaubte und die einzige Spannung in seinem Leben darin bestand, nicht zum Brandstifter zu mutieren und dieses öde Kaff samt seinen Bewohnern einfach anzuzünden?

Wenigstens begleitete der fast volle Mond seinen Weg. Zwar gab es hier Straßenlaternen, doch da sich kein anständiger Dorfbürger um diese Zeit noch auf den Straßen herumzutreiben hatte, blieben diese aus Spargründen zwischen Mitternacht und drei Uhr ausgeschaltet. Doc war es recht. Kriminelle schliefen hier ohnehin vor Langeweile ein, und er kannte den Weg inzwischen auswendig, schließlich war er ihn oft genug kichernd entlanggetaumelt. An der Straßenlaterne legte er meistens einen Zwischenstopp ein und beteuerte ihr, wie hübsch sie aussehe. Ein guter Schwips in Ehren. Aber nur an Feiertagen! Sonst galt man in diesem Kaff als Säufer. Grundgütiger, er fand sich ja selbst schon zum Gähnen. Hatte Gott den Menschen dafür erschaffen? Für ein bürgerliches, todlangweiliges Leben und ab und zu einen kleinen Schwips? Wenn es hier schon so öde war, wie war es dann erst im Himmel? Vielleicht sollte er vor seinem Ableben in etwa dreißig Jahren noch ein paar Todsünden begehen.

Docs Schritte stockten auch nicht, als sich eine Wolke vor den Mond schob und ihn in tiefere Dunkelheit hüllte. Sein Blick schweifte zu seinem Wohnhaus und auch zum Fenster seiner Küche. Nanu? Warum brannte bei ihm Licht? Es wies ihm den Weg wie ein Leuchtturm.

Er kratzte sich den Kopf. Ganz kurz meinte Doc, einen Schatten hinter dem hell erleuchteten Fenster wahrzunehmen. Die Silhouette einer Frau? War Paula bei ihm eingebrochen, um ihren Ambitionen Nachdruck zu verleihen?

Doc blieb stehen und starrte auf sein Fenster, doch der Schatten zeigte sich nicht noch einmal. Schwachsinn. Er hatte nur schief geschaut. Oder seine Fantasie ging mit ihm durch. Er sollte endlich seinen Roman weiterschreiben, bevor ihm dieser noch den letzten Funken Verstand in seinem Kopf auffraß.

Doc beschleunigte seinen Schritt, schloss die Haustür auf und stieg die Treppen nach oben. Er drehte den Schlüssel im Schloss seiner Wohnungstür und was zum Henker …? Nicht nur in seiner Küche, auch im Flur brannte Licht! Wer hatte seine Schuhe umgeräumt? Die drei Paare standen nach Farbe sortiert auf der Ablage neben der Tür. Die lilafarbenen Hauspuschen ganz links, daneben die braunen Halbschuhe, gefolgt von den schwarzen. Aber das war noch nicht alles. Die Strickjacken, die er immer an die Garderobe hängte, anstatt sie in den Wäschekorb zu werfen, waren fort. Gestohlen? Aber welcher Einbrecher sortierte Schuhe und klaute getragene Kleidung?

Schritt für Schritt wagte sich Doc in die Wohnung hinein. Seine Küche glänzte unnatürlich sauber. Kein Krümel lag auf dem dunklen Holz, der Edelstahl der Spüle strahlte, und die Staubschicht auf den Gewürzdosen war verschwunden. Er folgte einem rüttelnden Geräusch bis ins Bad und fand seine Waschmaschine bei der Arbeit vor. Doc kratzte sich ratlos am Kopf. War er nach seinem Schreibfieber in einen Wahn der Hausarbeit verfallen und konnte sich nicht mehr erinnern?

Doc wanderte zurück in die Küche und warf einen Blick in die Behausung seiner neuen Mitbewohnerin. Das provisorische Bett war zerknittert und leer. Doc spähte in sein Wohnzimmer, direkt auf die dürren Tomatenstängel. Doch diese wanden sich nicht mehr am CD-Regal nach oben, sondern hingen nun von Fäden gehalten an einem Holzstab. So sahen sie endlich mal aus, als könnte aus ihnen noch etwas werden, trotz der unpassenden Jahreszeit. Die Erde war dunkel und feucht. Sie blieb an Docs Finger kleben, als er ihn in die Erde steckte. Jemand hatte die Pflanzen gegossen. Schnell hastete Doc in sein Schlafzimmer, den einzigen Raum, den er noch nicht inspiziert hatte. Die Laken waren glattgezogen, die Decken akkurat gefaltet und die Kissen hochkant drapiert. Verflixt und zugenäht, wer war hier gewesen? Doc setzte seine Kissen niemals so ordentlich auf das Bett. Wenn sie nachts auf den Boden fielen, hob er sie manchmal erst am nächsten Abend wieder auf!

Ein Einbrecher war es mit Sicherheit nicht gewesen. Auf den ersten Blick fehlte nichts, weder Docs Computer noch der Fernseher. Geld versteckte er nur in seiner Geldbörse, und die war mit ihm im ›Ochsen‹ gewesen. Was blieb noch? Paula? Die hätte er dann sicher in seinem Bett gefunden. Die Fledermaus? Erledigte die aus Dankbarkeit für halbherzige Krankenpflege die Hausarbeit?

Allerdings fand er hier keine Spur von dem Tier. Genauso wenig im Bad, im Wohnzimmer, in der Küche oder in der Tomatenstaude. Die Fledermaus konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!

Doc kniete sich vor die Waschmaschine. In der Trommel rotierte weiße Wäsche. Wann hatte er seine schmutzigen Klamotten sortiert? Das gab es doch nicht! In dem hellen Schaum konnte er kein Kleidungsstück erkennen, das farblich nicht hineinpasste. Das war bei ihm nie der Fall. Irgendwas rutschte immer in die falsche Ladung. Im Übrigen sah er auch keine schwarze Fledermaus, die in dem Wust Weißwäsche, Wasser und Schaum herumgeschleudert wurde.

Verflixt noch eins, er war der einzige Mann, der es schaffte, in seiner Junggesellenbude eine Fledermaus zu verlegen. Ächzend brachte er sich wieder auf die Beine und beäugte die Waschmaschine misstrauisch. Stoisch ratterte sie weiter. Wenn sie eine Halluzination war, dann eine sehr laute.

Ihm war von den vielen Umdrehungen der Waschmaschine schwindlig, als Doc ratlos zurück ins Wohnzimmer wanderte. Sein Blick fiel auf den Computer. Die Betriebslampe der Maus leuchtete rot, der PC war also noch an.

Hm … Vorsichtig stupste Doc die Maus an. Der Bildschirm wurde hell, sein Manuskript war immer noch offen. Nun gut, wenn er schon mal hier war, konnte er auch ein paar Sätze schreiben. Die Fledermaus fand er ja doch nicht. Wusste der Geier, wo sich das verflixte Tier verkrochen hatte. Vielleicht hatte sie ja wirklich ein Einbrecher geklaut.

Doc dehnte seine Finger und setzte sich auf den Stuhl. Er beugte sich gerade über die Tastatur, da blieb sein Blick an den letzten Worten des Absatzes hängen.

»… und die schöne Vampirin Ramina war außerordentlich fasziniert von diesem unordentlichen Kerl. Welche Geheimnisse dieser wohl unter seinem Berg schmutziger Socken verbarg? Andere bewahrten ihre Leichen im Keller auf, dieser Mann warf einfach einen Haufen getragener Unterhosen darüber.«

Panisches Kribbeln setzte hinter Docs Stirn ein. Das hatte er nicht geschrieben. Seine Protagonistin hieß nicht Ramina. Der Mann, in den sie sich verlieben sollte, war auch kein unordentlicher Vampir. Der entsorgte seine Leichen in den Abwasserkanälen der Stadt oder hob ihnen fein säuberlich ein Grab aus!

Docs Herz hämmerte in seiner Brust, und seine Hände zitterten. Ein kalter Schauer zog über seinen Rücken. Er hatte nicht die Hausarbeit gemacht und es wieder vergessen. Genauso wenig wie er das Licht angelassen hatte. Jemand hatte in der Wohnung sein Unwesen getrieben. Diese Worte … Das war er keinesfalls gewesen. Bevor er in den ›Ochsen‹ gegangen war, hatte das Manuskript aus knapp fünfhundert Worten bestanden. Jetzt waren es dreimal so viele! Zur Hölle! Man konnte ihm den Fernseher klauen, die Wohnung durchwühlen, äh, aufräumen, aber niemand hatte sich an seinem Buch zu vergreifen!

Die Rollen des Stuhls quietschten, als Doc ihn zurückschob. Er hetzte zum Lichtschalter und drehte das Deckenlicht auf die höchste Stufe. Die LED-Lampen tauchten das Wohnzimmer in kaltes, bläuliches Licht, und die Helligkeit ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Wenn dieser Mistkerl noch hier war, würde er ihn finden! Doc sah unter das Sofa, hinter seinen Fernseher, in die Schränke, selbst auf den Balkon. So durchsuchte er jeden Raum seiner Wohnung, bewaffnet mit einer Flasche Bourbon, die ihm beim Überprüfen der Bar in die Hände gefallen war. In jedem Raum trank er sich einen Schluck Mut an. Alkohol erhöhte bekanntlich die Fähigkeit, hart zuzuschlagen.

Doch er fand nichts. Er war allein in der aufgeräumten Wohnung. Doc drehte den Schlüssel zweimal im Schloss der Eingangstür, und zur Sicherheit verriegelte er auch noch sein Schlafzimmer. Er kontrollierte dreimal, ob Tür und Fenster wirklich geschlossen waren, setzte sich atemlos auf das Bett und streifte die Schuhe ab. Leider mit seinen Socken, aber dafür zog er die Decke umso fester um sich. Er schwitzte und fror gleichzeitig. Nur der Bourbon schaffte es langsam, Schluck für Schluck, ihm ein warmes Gefühl in der Magengrube zu bescheren. Je mehr er trank, umso mehr sank er in sich zusammen. Die Welt begann sich leicht zu drehen, und Doc zuckte fürchterlich zusammen, als die Waschmaschine den Schleudergang startete und durch die Wohnung zu tanzen schien. Doch irgendwann rückte auch dieses Geräusch in den Hintergrund. Mit jedem Schluck schwand Docs Paranoia und wich seliger Teilnahmslosigkeit. Docs Lider wurden schwer, die Flasche glitt ihm aus der Hand, und sein letzter Gedanke galt dem Glück, dass diese nun leer war. Sonst würde morgen seine Bettwäsche wie eine Schnapsbrennerei stinken.

 

Kapitel 3

 

Hilfe, meine innere Stimme ist

eine Fledermaus!

 

 

Es waren wirre Träume, die ihn verfolgten. Wie sonst war es zu erklären, dass ihn ein Sonnenstrahl weckte und er schlaftrunken aufschreckte, um dann festzustellen, dass auf seiner Decke die vermisste Fledermaus saß?

»Ich weiß nicht, wie du dieses Chaos hier gemacht hast, in la dernière nuit2!«

Doc starrte die Fledermaus an, die tadelnd mit dem gesunden Flügel raschelte. Er könnte schwören, die Fledermaus redete mit französischem Akzent.

»Was ist, petit3? Bist du nicht nur bleu4, sondern auch taub?«

Diese Fledermaus gäbe eine sehr überzeugende Ehefrau ab. Nur war er gar nicht verheiratet. Oder hatte er etwas verpasst? War er Paulas geistlichem Bruder in die Hände gefallen?

»Mon dieu, mach den Mund zu. Dein Atem ist fürchterlich.«

»Fledermäuse können nicht sprechen und schon gar nicht Französisch«, krächzte Doc. Jawohl! Wo kämen sie hin, wenn Tiere die menschliche Sprache könnten? Gut, man könnte einen Hirsch nach dem Weg fragen, wenn man sich verirrte, aber was, wenn ihn seine geliebte Roulade vor dem Essen noch des Mordes bezichtigte?

Die Fledermaus schlug mit dem gesunden Flügel, aber wenigstens sagte sie nichts mehr. Gott sei Dank. Er war noch zu jung für Wahnvorstellungen. Es gab nichts Schlimmeres, als ein Buch zu schreiben und dabei den Bezug zur Realität zu verlieren. Bisher hatte er so etwas für ein Ammenmärchen gehalten, und doch bekam er gerade das Gefühl, dass etwas dran sein könnte. Zum Teufel, als hätte er nicht schon genug Probleme. Er brauchte schleunigst eine gute Geschichte und dann die Einnahmen aus den Tantiemen, sonst würde er mit der Fledermaus unter der Brücke landen. So wie sie ihn ansah, würde sie bestimmt nicht die kleine Kiste mit ihm teilen.

Polternd fiel die Flasche zu Boden, genauso wie Docs Blick. Herr im Himmel, seine Welt schwankte wie ein betrunkener Seemann. Stöhnend legte er die Hand auf die Augen. Er schob ein Bein aus dem Bett, ganz vorsichtig, und tastete. Pure Erleichterung durchströmte ihn, als seine Sohle auf den kühlen Boden traf und er sich sofort ein wenig sicherer fühlte. Also setzte er das zweite Bein nach und griff nach seiner Wandlampe, um sich nach oben zu ziehen. Die Schrauben ächzten, aber sie hielten. Deutsche Wertarbeit eben. Und jetzt?

Kaffee. Er brauchte unbedingt Kaffee. Zitternd hangelte sich Doc an seiner Schlafzimmerwand entlang, die Tür bot einen ausgezeichneten letzten Halt, bevor er auf sich allein gestellt war. Er war froh, dass er es durch das Wohnzimmer schaffte, ohne über das Sofa zu fallen, und den Eingang zur Küche beim ersten Mal traf.

Abrupt blieb er stehen. Mitten auf seinem Küchentisch standen eine Thermoskanne und daneben eine saubere Tasse. Was für sich genommen bereits erstaunlich war, denn er hatte gestern früh keine einzige mehr gefunden und seither selbstverständlich auch kein Geschirr gewaschen. Das hieß ja … Jemand war heute früh noch einmal in seine Küche eingebrochen und hatte Kaffee gekocht!

Doc drückte die Hand gegen seine schmerzende Stirn. Wer kam dafür infrage? Paula? Es konnte nur Paula sein.

»Verfluchtes Weib«, knurrte er. Wenn er sie erwischte, würde er … Ja, was? Paula schien alles zu gefallen, was er tat. Egal, wie spröde er sich gab. Ach, zum Teufel mit den Frauen.

Das Rascheln hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenfahren. In einer schnurgeraden Linie schoss eine Kugel an ihm vorbei und landete polternd in der Kaffeetasse. Schwarze Schwingen lugten daraus hervor, ebenso wie zwei dunkle Knopfaugen. Die Fledermaus schüttelte missbilligend den Kopf.

»Merde5! Ich bin auch schon mal besser geflogen, dein Duft ist nicht gut für mein Radar.«

Diese warme, weibliche Stimme ließ Doc ein weiteres Mal zusammenfahren. Er drehte sich um seine eigene Achse, sah in den Spalt zwischen seiner Küchenzeile und der Wand. Irgendwo hier musste sich der Witzbold doch verstecken! Ein Witzbold mit einer schönen, melodischen Stimme.

»6? Ich bin hier!«

Doc fuhr herum, aber sein Blick fiel nur wieder auf den Küchentisch und die Fledermaus. Er starrte sie an. Sie stierte zurück. Ihre winzigen Krallen verhakten sich am Rand der Tasse, und das Porzellan klirrte, als das Tier mit der Nase voran aus dem Gefäß purzelte. Sie spannte den verletzten Flügel, und Doc hörte ein Stöhnen. Nein, kein Ächzen aus seiner eigenen Kehle, es sei denn, er schaffte neuerdings auch hohe Töne.

Ganz langsam ging Doc rückwärts und prallte prompt gegen den Türrahmen. Schnell schob er sich um das Hindernis herum und wankte ins Bad. Er brauchte unbedingt einen klaren Kopf.

»Ah, du willst ins Bad? Duschen ist gut, macht sexy!«, rief ihm die Stimme hinterher.

Am Waschbecken warf er sich Wasser ins Gesicht, aber es half nichts. Der Tonfall dieser Stimme ließ sich nicht aus seinem Kopf waschen. Auch der Versuch, sich in der Dusche mit eisigem Wasser zu Tode zu kühlen, half nicht. Der Anblick seines eigenen Spiegelbildes, wie er so aus der Kabine taumelte, war auch nicht dazu gemacht, sich besser zu fühlen. Seine von anderen stets bewunderten Locken klebten feucht am Kopf fest. Dicke Tränensäcke lagen unter Docs Augen, lenkten aber nicht sonderlich effizient von den dunklen Schatten ab. Genauso wenig polsterten sie die Falten auf, die neben seinen Augen verliefen.

»Oh, cherie, wirklich sexy«, flötete es hinter ihm. Mit hängendem Flügel hockte die Fledermaus neben der Waschmaschine. Sie starrte ihn nicht misstrauisch oder halbwegs intelligent an, wie es Tieren zu eigen war. Nein, sie maß wirklich jeden Zentimeter seines tropfenden Körpers.

»Séduisante7.«

Attraktiv? Doc wagte noch mal einen Blick in den Spiegel. Der Anblick hatte sich nicht zu seinen Gunsten verändert. Er sah abgespannt aus. Ja, er war gestresst, eindeutig. Deswegen drehte er gerade durch. Anders konnte es nicht sein.

»Verschwinde. Gaff anderen Leuten ihre Körperteile weg«, murrte er und griff nach einem Handtuch. Er hatte sich selten so unwohl gefühlt, nackt vor jemandem zu stehen. Aber Herrgott, es war nur eine verdammte Fledermaus! Die Kiefer aufeinandergepresst begann Doc sich abzutrocknen und versuchte wahrlich, das permanente Glotzen des Tieres auszublenden. Vergeblich.

»Jetzt verschwinde endlich«, donnerte Doc.

»Oh, ist es der fette Kater, der dich übellaunig macht?«, fragte die Fledermaus schnippisch.

»Nein, es ist kein Kater«, blaffte Doc. »Aber ich werde mir heute einen besorgen, dann kann er dich fressen!«

Doc stapfte auf die Fledermaus zu und endlich, das freche Ding zuckte zum ersten Mal erschrocken zusammen. Er wollte der Fledermaus einen saftigen Tritt verpassen. Einen, der ihr endlich Respekt einflößte. Doc hatte den Fuß bereits angehoben, aber er konnte es nicht. Er misshandelte keine Tiere, niemals. Die Fledermaus konnte nichts dafür, dass er sich einbildete, sie würde mit ihm reden.

Doc seufzte, stupste die Fledermaus vorsichtig mit dem großen Zeh an und schob sie über die Schwelle in den Flur. Dann verließ ihn allerdings jegliche Hemmung. Er knallte die Tür in den Rahmen, sodass sie bebte, und schloss ab.

Hervorragend. Er hatte der Fledermaus die Tür vor der platten Nase zugeschlagen und sich im Badezimmer eingesperrt. Er konnte stolz auf sich sein. Vor allem, weil er hier keine frische Kleidung hatte. Nur die von

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Verlag: Zeilenfluss

Texte: Allyson Snow
Bildmaterialien: Stenzel Washington, https://stock.adobe.com/de/16513307, Frankfurt am Main; CaroDi, https://stock.adobe.com/de/29107184 Love devil. Greeting card with beautiful girl. vector; Freepik, Designed by Freepik.com
Cover: Buchcoverdesign.de / Chris Gilcher
Lektorat: 1. Lektorat, Korrektorat: Juno Dean; 2. Lektorat, Korrektorat: Mathew Snow; 3. Korrektorat: Dr. Andreas Fische
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2019
ISBN: 978-3-96714-016-3

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