Den Teddy an die Brust gedrückt, steckte Amelie ihr Gesicht zwischen die Streben des Treppengeländers, um den fremden Mann unten im Flur genauer in Augenschein zu nehmen. Der sanfte Lichtschein, der aus der Küche drang, reichte nicht aus, um sein Gesicht zu erkennen. Sie erkannte lediglich, dass der Besucher groß und schlank war.
Leise tapste sie Stufen hinunter. Ihren Teddy hielt sie fest im Würgegriff, und seine weichen Beine schleiften hinter ihr über die Treppenstufen.
Die Gestalt bewegte sich.
»Bist du ein Vampir?« Sie war zwar erst fünf Jahre alt, aber sie fand ihre Frage außerordentlich klug. Wer sonst sollte im Dunkeln durch die Hintertür kommen? Das machten nur Vampire. Ihr Papa hatte das gesagt!
Papa war ein toller Polizist. Das sagte Mama immer. Und sein Chef sagte, wenn er zu Besuch war und Amélie mit einem verstohlenen Zwinkern Süßes zusteckte, dass ihr Papa eine sehr gute Spürnase besaß. Was immer das heißen mochte.
Papas Nase war groß und gerade, eine typische Papanase halt. Aber warum ihr Papa seinen »Zinken« (die Worte seines Chefs, nicht ihre) immer an die richtigen Stellen steckte, um die schlafenden Hunde mal ordentlich aufzuscheuchen, war ihr auch ein Rätsel. Sie hatte nachts noch nie einen Hund in der Nachbarschaft bellen hören. Manchmal jaulte die Chipie von gegenüber.
Sie erreichte gerade die letzte Stufe, als sich der Mann zu ihr herumdrehte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte er.
Amélie störte sich nicht daran, dass sie ihm gerade einmal bis zur Hüfte reichte. Sie legte den Kopf in den Nacken, um besser sehen zu können. Obwohl, viel zu sehen gab es nicht. Es war zu dunkel. Dafür fand sie seine Stimme schön.
»Mein Papa hat das erzählt. Ich habe Knoblauch gegessen. Bekommst du jetzt Ausschlag davon?«
»Nein, bekomme ich nicht«, erwiderte der nächtliche Besucher.
Amélie hielt ihren Teddy in die Höhe. »Knautschi ist auch ein Vampir!«
»Ja, er hat sehr spitze Zähne«, lobte ihr Gesprächspartner und hockte sich hin, um auf ihrer Augenhöhe zu sein. »Hast du keine Angst?«
Angst? Wovor denn? Angestrengt zog sie die Stirn in Falten und die Nase kraus. »Nein, Papa sagt, dass Vampire böse sind. Aber ich glaube, er hat unrecht. Du bist lieb.«
Das matte Licht spiegelte sich in seinen Augen, die wie hübsche Steine aussahen. So wie die Steine in der Kette ihrer Mutter, die sie nur zu Weihnachten trug.
Amélie folgte ihrem Instinkt und schlang die Arme um seinen Hals. Ob sie falsch lag? Natürlich nicht. Warum auch? Knautschi mochte diesen Vampir auf Anhieb, genauso wie sie selbst.
Der Vampir kippte ein wenig nach hinten (also wirklich, so schwer war sie gar nicht!) und Knautschi baumelte in seinem Rücken. Sie dachte sich nichts dabei, als dieser Mann sie hochhob und in die Küche trug.
Sie wusste nur eines: Dieser Mann mit den grünen Augen war lieb! Und wehe dem, der etwas anderes behauptete.
* * *
Nun, nach zwanzig Jahren, sah Amélie erneut in diese Augen. Das außerordentliche Grün, das sie an Mutters Smaragd-Schmuck, funkelte wie damals. Sie strahlten dieselbe Wärme aus, nach der sie sich, seit dem Tag, als er verschwunden war, so sehr gesehnt hatte. Ein Blick, der alles versprach. Geborgenheit und doch mit einem Schalk, der schwor, sie nicht nur zu beschützen, sondern auch von einem Abenteuer ins nächste zu stoßen.
Die dunkelblonden Haare fielen ihm ungeordnet in die Stirn, auf der eine fingerlange Wunde klaffte. Ein kleiner Blutstropfen wanderte nach unten und verfing sich in seinen Brauen. Warum musste sie ihn ausgerechnet hier, in einem Verhörzimmer und in Ketten gelegt wiedersehen? Er war doch ihr Held, dem niemand etwas anhaben konnte.
Sie hatte ihn von ihrer ersten Begegnung an geliebt. Seine Nähe, die so viel Ruhe ausstrahlte. Sein charmantes Grinsen, für das sie ihn schon als schneidezahnloses Mädchen heiraten wollte. Mehrmals pro Woche hatte er ihren Eltern den Scotch weggetrunken und mit ihr gespielt. Bis zu ihrem siebten Geburtstag. Er war nicht gekommen und auch danach niemals wieder aufgetaucht. Es hatte ihr das kindliche Herz gebrochen.
Heute hämmerte es gegen ihren Brustkorb, als liefe sie untrainiert einen Marathon, während sie ihre Lunge hinter sich her schleifte.
Er schien die karge Einrichtung des Zimmers, die Ketten, die um seine Gelenke lagen, und die Männer, die mit weiteren Fesseln dafür sorgten, dass nicht einmal Hulk die Flucht gelingen würde, zu ignorieren, und starrte sie unbeirrt an, bis seine Mundwinkel ein Stück nach oben zuckten. Er musste es sein! Ihr Vampir hatte ständig gegrinst.
Hinter ihr erklangen schwere Schritte und weckten sie aus ihrer Starre. Mit einem leichten Humpeln trat Enzo Brubier, der Anführer der Pariser Vampirjäger heran. Seine Nase war von dem Hieb, den er kassiert hatte, bevor sein Opfer vom Eisenkraut betäubt in die Knie gegangen war, geschwollen. Allerdings beeinträchtigte nicht einmal der rotgetränkte Taschentuchzipfel, der aus seiner Nase ragte, seine Autorität. Sie waren seit vier Jahren ein Paar, doch selbst Amélie schrak einen Moment vor der derzeitigen Gefühllosigkeit in seiner Miene zurück. Enzo war ein Mann von fünfunddreißig Jahren, der wirken konnte, als wäre er seit fünfzig Jahren ein kaltblütiger Killer. Knapp zwei Meter hoch überragte er Amélie um zwei Haupteslängen. Seine Gestalt war schmal, aber sehnig und kraftvoll. Die Hände in die Seiten gestützt sah er auf Amélies leibhaftige Kindheitserinnerung nieder.
»Ah, wie schön, Jason Harris. Die Jagd hat endlich ein Ende.«
»Kennen wir uns?«, fragte der Vampir interessiert, doch sein Blick lag nicht auf Enzo sondern auf ihr.
Seine Stimme war ein sanfter ruhiger Bass, der sich nach gemütlicher Daunenbettdecke anfühlte. Amélie lächelte. Sie konnte sich kaum dermaßen irren. Er war es. Ihr Held. Ihr Beschützer. Ihr Vampir. Niemals würde sie diese Stimme vergessen, niemals dieses Lachen. Okay, davon hörte sie gerade nicht viel. Gefesselt und auf den Knien lachten die wenigsten. Jedenfalls nicht, wenn fünf Männer mit Maschinengewehren um einen herumstanden.
Eine wahrlich unwürdige Position und zudem noch unbequem, trotzdem sah Jason nicht verängstigt aus. Im Gegenteil. Er sah Amélie an, als würde er mit einem Drink in der Hand entspannt an der Theke eines Clubs stehen.
»Es reicht, wenn ich dich kenne«, erwiderte Enzo ruppig und lenkte so Jasons Blick auf sich.
»Es ist unhöflich, sich nicht vorzustellen. Ich nenne gern Dinge beim Namen. Da ich deinen nicht kenne, nenne ich dich Eduard.«
Amélie schnappte nach Luft. Enzo war kein Mensch, der Scherze verstand. Enzos Erwiderung folgte auf dem Fuße. Oder in Jasons Fall auf die Nase. Es knirschte hässlich, als Enzo seine Faust mit voller Wucht im Gesicht seines Gefangenen platzierte und dieser aufstöhnte. Schmerzhaft zog sich Amélies Herz zusammen.
»Sag doch einfach, wenn dir der Name nicht gefällt«, empörte sich der Geschlagene alles andere als reumütig, dafür umso nasaler. Er hustete erstickt, da einer von Enzos Männern ihm eine Kette so fest um den Hals, dass Blut aus den kleinen Schnittwunden hervorquoll. Auch wenn Vampire nicht auf die Luft zum Atmen angewiesen waren, konnte sich Amélie nicht vorstellen, dass das angenehm war.
»Ist das wirklich nötig?«, fragte Amélie leise.
»Gemeingefährliche Tiere sind das«, schnaubte Enzo. »Morgen bringen wir ihn ins Gefängnis. Bis dahin kannst du ihn mit Fragen zu löchern. Pass auf dich auf und beeil dich. Je eher wir ihn wieder mit Eisenkraut schlafen legen, umso besser ist es.«
Ein Interview mit einer Sterblichen, kurz bevor der Gang in ein Gefängnis anstand, das explizit für kriminelle Vampire gebaut wurde und aus dem es kein Entkommen gab. Schon möglich, dass das auch für einen Vampir ungewöhnlich war.
Jason, der sie mit einem unnachahmlichen Interesse musterte, machte sie nervös, und so wich sie seinem Blick aus.
Enzo strich ihr über die Wange. »Keine Sorge, Mäuschen. Der Bursche ist so fest eingespannt, der kann keinen Unsinn machen.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Amélie und lächelte verkniffen. Mäuschen! Wie konnte man die Frau, mit der man das Bett teilte, mit einem Nagetier vergleichen?
Prustete dieser Vampir hinter ihr amüsiert? Aber eines glaubte sie Enzo unbesehen: Jason konnte nicht weg. Die Fesseln um seine Handgelenke saßen so eng, dass sich die Haut blau einzufärben begann. Die Enden der Ketten waren an Deckenhaken befestigt und straff gespannt. Es gab kein Entkommen für ihn.
Die Finger ineinander verkrampft sah sie ihrem Freund nach, als er mit seinen Männern den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss. Jetzt war sie mit Jason allein.
Sich auf den Holzstuhl zu setzen, der das einzige Inventar des Raumes bildete, war die pure Erleichterung für ihre zittrigen Knie. Nervös versuchte sie den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Okay, das war ihre Chance, das Rätsel um ihr neu erworbenes Magengeschwür zu lösen.
»Ich heiße Amélie Denaux«, sagte sie. Gott sei Dank, sie stotterte nicht. Ob ihm ihr Name bekannt vorkam?
»Wie schön, das erspart mir, mir einen Namen auszudenken«, spottete Jason.
»Ich bin Journalistin und schreibe über Enzo Brubier und seinen Kampf gegen Vampire. Die Welt soll erfahren, dass es diese Wesen nicht nur dem Reich der Mythen gibt. Und dass man in der Lage ist, für Sicherheit zu sorgen, indem man kriminelle Vampire einsperrt«, erklärte Amélie, während sie ihre Tasche nach einem kleinen Block und einen Kugelschreiber durchsuchte. Mist. Wo hatte sie den schon wieder liegen gelassen?
»Alle Vampire sind kriminell«, erwiderte Jason. »Den Block hast du im Auto vergessen.«
Verunsichert sah Amélie zu ihm hinab. Er hatte im Wagen selig unter dem Einfluss von Eisenkraut geschnarcht. Geschnarcht! Der einzige Vampir, der betäubt noch schnarchen konnte. Oder hatte der nur so getan? Woher wusste er, wo ihr Block war?
»Wie –«, setzte sie zu der Frage an, die ihr auf der Zunge lag, doch Jason verdrehte die Augen.
»Also was willst du? Ich bin zwar nie der Gesellschaft einer schönen Frau abgeneigt, aber ich würde mich gern ungestört meiner Befreiung widmen.«
Moment! Sein Kompliment war zwar schmeichelhaft, nichtsdestotrotz vorhersehbar und platt, aber Befreiung …? Wovon träumte er?
»Das ist unmöglich«, platzte sie heraus, doch Jason lächelte sie mit purer Herablassung an. »Überlass das ruhig mir.«
Oh, das würde sie auch. Mal sehen, ob er immer noch so hochnäsig war, wenn er für den Rest seines untoten Lebens in einer dunklen Zelle an eine Wand gekettet hockte. Dort gab es Blut nur noch in Konserven und auf Zuteilung. Aber hey, vielleicht hatte er ja eine überzeugende Idee, wie er sich bei ihr revanchieren könnte, wenn sie ihm bei der Flucht half. Sie konnte ihren Kindheitsfreund kaum im Gefängnis vermodern lassen! Menschen zu töten würde sie ihm abgewöhnen. Für jedes Problem gab es eine Lösung.
»Hör auf damit, das ist unheimlich«, unterbrach Jason ihr Kopfkino.
Erschrocken ließ sie ihren Kugelschreiber fallen. »Aufhören? Womit?«
»Kennst du den Grinch?«
Sie rutschte ein wenig unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. »Ja, wieso?«
»Du hast gerade gelächelt wie der.«
War sie gerade noch damit beschäftigt, eine Sitzposition zu finden, in der ihr nicht ständig das rechte Bein taub wurde, wurde jetzt ihr Gehirn leicht taub. Sie hatte sich wohl verhört?
»Gerade hast du mich noch schön genannt«, warf sie schnippisch ein.
»Ja, da hast du auch nicht gelächelt.«
Missmutig verzog sie den Mund. Toll. Sie war als Journalistin so einiges gewohnt. Flirts, eindeutige Anmachen, erbärmliches Gebettel, hochnäsige Kommentare zu ihren Knien, aber mit dem Grinch hatte sie noch niemand verglichen.
Tief durchatmen. Man durfte keinen Gefesselten schlagen. Das war unfair. Es war nichts weiter als ein normales Interview. Warum hatte sie sich noch mal auf Enzos Angebot eingelassen, die Exklusivrechte dieser Story zu bekommen, wenn sie nicht ihn, sondern seine gefangenen Vampire mit Fragen behelligte? Sie hatte sich dem Zauber seines Planes nicht entziehen können. Alle sollten erfahren, dass es Vampire gab. Und dass diese mehr als nur die romantischen Verklärungen der modernen Literatur waren.
Amélie zog ihre Bluse zurecht und ignorierte sein selbstgefälliges Grinsen. »Wie ist es, hunderte Menschen getötet zu haben, um deren Blut zu trinken?«
Die Ketten klirrten leise, als Jason sein Gewicht verlagerte. »Wie ist es, über hundert Schweineschnitzel gegessen zu haben?«, lautete seine spöttische Gegenfrage.
»Ich esse kein …«
»Dann eben Kalb.«
»Ich esse kei–«
»Froschschenkel!«
»Ich bin Vegetarierin!«
Jason schnaubte. »War ja klar.« Im nächsten Moment hustete er erstickt. Pah, man sollte eben nicht lachen, wenn man halb erwürgt wurde.
»Vampire können leider keine Vegetarier sein. Entweder wir trinken Blut wie die Menschen Wasser oder wir sterben. Und ein Hungertod ist für einen Vampir noch schmerzlicher als für einen Menschen, sagt man zumindest.«
»Es gibt Blutkonserven.« Amélie verschränkte die Arme vor der Brust. »Niemand muss heute mehr töten, um an Blut zu gelangen. Es macht euch doch Spaß, Menschen zu töten.«
Eigentlich war Amélie aus dem Alter raus, in dem man sich unbedingt noch um die Meinung anderer scherte. Aber sie fühlte sich nicht im Geringsten ernst genommen, und das ärgerte sie maßlos. Erst recht da Jason sie ansah, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Es gibt schon für die Krankenhäuser kaum Blutkonserven. Wie sollte es da erst genügend für alle Vampire geben?« Jason sank zurück und erklärte: »Außerdem ist kaltes Blut nicht ausreichend. Wer sich dauerhaft davon ernährt, wird ebenso schwächer wie die, die sich von Tierblut ernähren. Es ist von der Natur nicht vorgesehen. Die Menschen werden auch nicht gesünder, wenn sie Analogkäse essen. Sie essen Tiere wie Vampire sich an Menschen nähren. Das nennt man Nahrungskette. Hast du sicherlich mal im Biologieunterricht gehabt.«
Jasons Argumente waren logisch und nachvollziehbar. Sofern man sich das eingestehen wollte. Sie hatte damals schon gewusst, dass er ein Vampir war. Als Kind hatte es sie nicht gestört. Vermutlich, weil sie überhaupt nicht begriffen hatte, was es hieß, ein Vampir zu sein. Man war der Tod auf zwei Beinen. Immer wieder. Nur, um das eigene kümmerliche Leben aufrecht zu erhalten. Er hatte also recht, wenn er darauf beharrte, dass alle Vampire kriminell waren. Zumindest die, die Menschen töteten, um ihre volle Stärke zu erhalten. Das war egoistisch und wider die Natur! Das Leben eines jeden Menschen war unantastbar!
Das Rasseln der Ketten ließ sie ihren Blick wieder heben. Und ein kleiner Schauer fuhr durch ihr Innerstes, als sie geradewegs in seine grünen Augen sah.
»Würdest du mir einen Gefallen tun?«, fragte Jason einlullend sanft.
»Kommt darauf an«, erwiderte sie zögerlich.
»Mir juckt eine Stelle am Rücken.«
Fassungslos starrte sie Jason an. Mal abgesehen davon, dass sie nicht wusste, ob einem Vampir überhaupt etwas jucken konnte, sollte man meinen, es wäre sein geringstes Problem!
»Wenn du mir diesen Gefallen tust, dann beantworte ich auch noch zwei weitere deiner Fragen«, hörte sie Jasons lockenden Tonfall.
»Als ob du eine Wahl hättest«, gab Amélie bockig zurück.
»Man hat immer eine Wahl«, sinnierte Jason mit zunehmend verklärtem Blick.
»Dann hat man also auch als Vampir immer eine Wahl? Die ob man tötet oder nicht? Oder als Mafiaboss?«, fragte Amélie skeptisch. Worauf Jason auch immer hinaus wollte, es war Unsinn!
»Natürlich hat man sie. Statt in der Mafia mitzumischen, hätte ich auch Polizist werden können«, erwiderte Jason, und unweigerlich hielt Amélie den Atem an.
War es Zufall, dass Jason ausgerechnet diesen Beruf für sein Beispiel wählte oder sprach er es in dem Wissen an, dass ihr Vater selbst Polizist gewesen war?
»Statt sich zu nähren, könnte man als Vampir einfach verhungern oder sich im nächsten Weihwasserbecken ertränken«, fuhr er fort. »Oder aber man verbindet das Nützliche und nährt sich von den Menschen, die sonst ein anderer umbringen würden.«
Aus welchem schlechten Film hatte er denn das bitte?
»Das ist die selbstgerechteste Erklärung, die ich jemals gehört habe!«, platzte Amélie heraus.
»Mag sein, aber so ist es nun mal. Also, was ist jetzt? Es juckt wirklich entsetzlich. Einer ausgesprochen moralische Christin, wie du es bist, ist es doch sicherlich die heiligste Pflicht, einem bald zu ermordenden Mann den letzten Wunsch zu erfüllen.«
»Bald zu ermordend? Du?« Amélie fuhr sich über die kitzelnde Nase. »Dir wird es besser ergehen als jedem einzelnen deiner Opfer!«
Gut, im Gefängnis gab es ein paar verhexte Ketten, damit die Vampire nicht ständig die Einrichtung demolierten, aber das war immer noch besser, als tot zu sein. Man konnte eben nicht alles haben.
»Dann sag doch einfach, dass du Angst hast, ich könnte dich beißen«, erwiderte Jason spöttisch.
Das folgende Schnauben von Amélie hatte alle Ungläubigkeit verloren. Es war durch und durch abfällig. In ihren Adern kreiste Eisenkraut. Das schmeckte für Vampire wie versalzener Espresso. Mit dem netten Effekt, dass ihm nicht nur die Galle wieder hochkam, sondern er davon genauso betäubt wurde, als würde man es ihm spritzen. Aber gut, wenn er es versuchen wollte, dann würde sie ihm diesen abstrusen Wunsch erfüllen.
Bewusst straffte Amélie die Schultern. Sie stand von ihrem Platz auf und starrte ihn herausfordernd an.
Jason sah so unschuldig und unbeteiligt aus, dass es sämtliche Alarmglocken in ihr zum Schrillen brachte. Alles in ihr wünschte sich die CIA herbei. Aber bon Dieu! Was sollte schon passieren? Diese Fesseln waren von einer Hexe verzaubert worden. Niemand konnte sie zerreißen.
Sie atmete noch einmal tief durch und beugte sich über ihn. Das Klirren der Ketten hätte ihr eine Warnung sein müssen. War es auch. Bedauerlicherweise waren ihre Instinkte und Fähigkeiten als Stadtmensch viel zu verkümmert, um mit der Reaktionszeit eines Vampirs mithalten zu können.
»Au!« Eine Phiole fiel auf ihren Fuß. Wo kam die plötzlich her?
Ein bestialischer Gestank stieg ihr in die Nase. Ihre Augen tränten und ihre Lunge brannte. Ihr Husten war mehr Würgen. Wenn der sie umbringen wollte, war er auf dem richtigen Weg.
Mit einem ohrenbetäubenden Rasseln fiel ein Teil der Ketten zu Boden.
»Was ist das für Zeug?«, stöhnte Amélie. Schön, dass ihr Gehirn an der Beantwortung dieser Frage interessiert war, anstatt daran, die Flucht zu ergreifen. Ein Fehler, der ihr siedend heiß bewusst wurde, als sie Jasons Griff spürte. Seine Finger verhakten sich in ihrem Gürtel und zogen sie zu sich auf den Boden.
Instinktiv sträubte sie sich gegen ihn, bis der vertraute Geruch ihrer Kindheit in ihre Nase stieg. Sein Geruch. Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Der Garten ihrer Eltern, die alte Hollywoodschaukel und sie sie selbst, wie sie neben einem Mann saß, der ihr geduldig die Sternbilder erklärte.
»Ich weiß zwar, dass Frauen zu gerne mit mir kuscheln wollen. Aber es ist ein wenig ungewöhnlich, wenn es ausgerechnet die Frau möchte, die ich gerade dazu nötigen wollte, mir die restlichen Fesseln abzunehmen«, hörte sie Jasons Stimme an ihrem Ohr und zuckte unweigerlich zusammen.
Seine freie linke Hand ruhte locker auf ihrer Taille. Eine sachte Berührung, der sie sich ebenso entgegenschob wie dem Rest seines Körpers. Sie schmiegte sich in seine Arme. Ging es noch peinlicher?
Sie zuckte, um zurückzuspringen, doch da packte Jason fester zu. Na gut, dann wehrte sie sich eben verbal. »Das liegt vielleicht an der Haschisch-Wolke, die dich umgibt.«
»Ich wusste doch, dass mein Drogenproblem irgendwann meine Rettung sein würde«, lachte Jason. »Und jetzt mach schon. Vielleicht führe ich dich dann zum Essen aus.«
Ernsthaft? Er lachte? Amélie verzog missmutig das Gesicht. Mit einem Vampir essen zu gehen, war eine Einladung, die man mit Vorsicht genießen sollte. Schließlich war bei dieser Formulierung nie die Rede davon, dass jemand anderes als der Vampir essen würde.
Sie war selten so froh wie in diesen Momenten, dass sie Eisenkraut zu sich nahm. Bedauerlicherweise reduzierte das Vampir-Betäubungsmittel die Arten, wie Jason sie trotzdem um ihr Leben bringen konnte, lediglich um eins. Weder würde es Jason davon abhalten, ihr das Genick zu brechen, noch sie zu erwürgen. Und dass er eines von beidem plante, zeugte allein seine Hand, die sich vielsagend um ihren Hals legte. Eine Handlung, die so viel Konzentration zu erfordern schien, dass er darüber das Grinsen vergaß.
Sie spürte ihren eigenen Herzschlag unter seinen Fingern, als sie die Ketten erst von seinem Hals und schließlich von seinem anderen Handgelenk löste.
»Danke«, sagte Jason, diesmal ohne jeglichen Spott. Damit hörte die gute Erziehung allerdings auf. Denn weder besaß er die Güte, die Hand von ihrem Hals zu nehmen, noch beachtete er ihren Widerstand, als er sie zum Fenster zog.
»Wie viele schießwütige Gesellen stehen auf dem Dach?«, fragte Jason und schmiegte seine Wange an ihre. Sein Bart kitzelte sie leicht.
Dieser blöde Kerl machte sich doch über sie lustig! Und sie fiel darauf herein. Ihre Hand, die sie auf seinen Arm gelegt hatte, um ihn von sich wegzudrücken, verkrampfte sich unter dem Schauer, der sie durchlief. Wenn sie jetzt noch anfing zu kichern, würde sie sich selbst umbringen.
»Du bist erstaunlich«, stellte Jason fest. »Die meisten würden hysterisch schreien.«
Amélies Augen weiteten sich für einen Moment und sie hörte auf, ihn von sich wegzudrücken. »Was mache ich denn?«
»Du lächelst.«
Prompt zog sie ihre Mundwinkel wieder nach unten. Sie hatte gelächelt? Teufel noch eins. Was auch immer Jason geraucht hatte, allein die Wolke des Geruches machte sie völlig stoned!
»Zwei«, gab sie wesentlich unfreundlicher von sich, denn er drückte leicht ihren Hals zu. Damit besaß er ihre volle Aufmerksamkeit.
»Und wie viele davon wären bereit, auf dich zu schießen?«
»Keiner natürlich!«, erwiderte Amélie empört. »Die sind nicht so schlecht erzogen wie du!« Was, wie ihr nun einfiel, ein empfindlicher Nachteil war.
»Wenn ich irgendwann mal Lust habe, mit einer selbstgefälligen Irren auszugehen, mache ich es wieder gut.«
Gerade wollte Amélie dieser unhöflichen Ausgeburt des Teufels eine gesalzene Antwort entgegen schleudern (oder in Ermangelung einer solchen Antwort einfach gegen sein Schienbein treten), da zerschlug er mit einem schnellen Hieb das Fenster.
Bevor sie sich versah, schwebte sie in der Luft. Nicht etwa in der Luft, während bis zum Boden lediglich zwanzig Zentimeter fehlten. Nein! Sie hing in Jasons Arm. Und dieser wiederum hing an einer verfluchten Hausmauer, circa zehn Meter über der Straße! Warum musste Enzo seine Gefangenen immer im obersten Stock einquartieren? Hatte der Angst, die würden Parterre schneller abhauen?
Nur am Rande registrierte sie das Krachen der Tür im Inneren des Raumes und das hektische Stimmengewirr. Für Amélie zählten allein der tanzende Abgrund unter ihren Füßen und die Tatsache, dass nur Jasons Arm sie von dem sicheren Tod auf dem Pflaster trennte.
»Au«, protestierte Jason, als sich Amélie hektisch an ihn klammerte. Die Lichter der unten fahrenden Autos verschwammen vor ihren Augen. Das Blut rauschte in ihren Ohren und ihr einziger Wille richtete sich allein nur noch darauf, sich an ihm festzuhalten. War ihr völlig egal, ob sie ihm gerade die Fingernägel in die Haut rammte.
Bitte lieber Gott, wenn er sie fallen ließ, würde sie erst ihm und dann Petrus eine zimmern. Sie war noch nicht mal dreißig! Sie hätte gerne noch etwas vom Leben. Und zwar ein bisschen mehr als den kurzen Flug auf ein Auto!
Mit jeder Bewegung, die er machte, verkrampfte sie sich noch mehr. Sie konnte nicht einmal das Wimmern unterdrücken. Doch irgendwann änderte sich ihre Perspektive. Sie starrte nicht mehr in den flackernden Abgrund, sondern auf grauen Betonboden. Das Dach!
»Sehr gut. Du hast sie zu Tode erschreckt.«
Erschrocken zuckte ihr Kopf nach oben. Für einen Moment hatte sie sich eingebildet, Jason klinge so, als hätte er Spaß.
»Auch wenn du aufhören könntest, mich erwürgen zu wollen.«
Oh, sie hatte nicht gemerkt, dass sie sich nicht nur an seinen Arm geklammert hatte, sondern auch an seinen Hals, inklusive Hemdkragen. Der Stoff war zerrissen. Oh Mann … Wenn Jason sie nicht gehalten hätte …
Sie stöhnte leise. Das Bild, wie sie auf den Asphalt zusegelte, würde sie heute bestimmt noch in ihren Träumen beglücken. Erst langsam entwickelte sie wieder Gefühl für ihren Körper. Was eine sehr schlechte Idee war. Ihre Knie bebten unkontrolliert. Sie lehnte sich Halt suchend gegen Jason. Der sie nicht etwa festhielt … Nein. Der macht was ganz anderes!
»Du hast nicht wirklich die Hände in den Hosentaschen?«, fragte Amélie mit belegter Stimme.
»Du hast doch folgerichtig festgestellt, dass ich schlecht erzogen bin. Aber gut, wenn du kuscheln willst.«
Im nächsten Moment spürte Amélie seine Arme, die sich kräftig um sie legten. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt zum Sterben. Einerseits aus Scham. Andererseits aus Genuss.
Endlich fiel ihr Blick auf Enzos Männer, die das Schauspiel zwischen Amélie und Jason mit offenem Mund und angelegten Gewehren verfolgt hatten.
Oh, die würden nicht abdrücken. Niemand wollte es riskieren, Enzo erklären zu müssen, warum seine Freundin die nächsten Tage wegen einer Schusswunde schlechte Laune hatte.
»Kannst du ihnen bitte sagen, dass sie ihre Waffen weglegen sollen, bevor ich dir etwas brechen muss? Nicht, dass es ein Problem wäre, aber meine Mutter würde sich im Grabe herumdrehen, wüsste sie, dass ich eine holde Jungfer bedrohe«, sprach Jason so laut, dass nicht nur Amélie sondern auch Enzos Männer seine Worte hörte.
»Jungfer? Aus welchem Jahrhundert stammst du, Junge?«, fragte der größere der Wachmänner. Er hob die Hände, als Amélie schmerzerfüllt aufheulte.
Hat Jason sie tatsächlich gerade gekniffen? Sie versuchte sich seinem Griff zu entwinden, doch je mehr sie sich wehrte umso fester kniff er zu. Dieser verfluchte Bastard! Sie würde von seiner Kneiferei morgen eine blaue Taille haben!
»Schon gut, schon gut. Wir legen unsere Waffen weg. Siehst du?«
Die Gewehre schlitterten über den Boden. Amélie sah, wie die beiden Männer sie genauer musterten, vermutlich auf der Suche nach einer blutenden Wunde. Verärgert presste Amélie die Lippen zusammen. Ja, sie war wehleidig, na und? Es war völlig legitim, zu jammern, wenn ein Vampir einem die Finger in die Taille bohrte und dort eine (natürlich nicht vorhandene!) Fettfalte drückte. Ein Messer hatte der nicht im Geringsten nötig!
Doch bevor sie auch nur ein Wort zu ihrer Verteidigung sagen konnte, wurde sie hochgehoben. Die Umgebung verschwamm und raste in schwindelerregender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Ihr Magen drückte nach oben und kitzelte an ihrem Gaumen. Selbst schuld, wenn sie ihm auf die Schulter kotzte.
Sie suchte nach einem Halt in dem rasenden Tunnel und sah nach unten. Schwerer Fehler. Sie sah eine hell beleuchtete Hauptstraße unter sich, dann ein Stück festen Boden, bis ein gähnend schwarzer Abgrund folgte. Das Gesicht in die Halsbeuge ihres Entführers gepresst, kniff sie die Augen zusammen. Der Himmel stehe ihr bei. Hoffentlich wollte er nicht mit ihr auf den Eiffelturm klettern.
»Lass uns zu deinem Vater gehen.«
Amélie hatte nicht das Geringste dagegen, ihrem Vater den unangekündigten nächtlichen Besucher vorzustellen, solange sie ihn dafür nicht loslassen musste. Die Arme um seinen Hals geschlungen und ihre Wange an seiner, ließ sie sich in die Küche tragen.
»Lass sie runter«, brüllte Papa und sprang auf.
Warum tat er so, als hätte er einen Geist gesehen? Sie fand diesen Mann ausgesprochen lieb. Und ihr Teddy schien sich dieser Meinung anschließen zu wollen.
»Lass. Meine. Tochter. Runter!«, forderte ihr Vater erneut.
Flehend sah sie ihren Papa an. Sie wollte nicht runter! Und wäre Mama hier, würde sie ihn ermahnen, nicht so unfreundlich zu Gästen zu sein!
Es polterte fürchterlich, als ihr Papa den Stuhl beiseite schleuderte und nach der Pistole griff. Erschrocken fuhr sie zusammen und drückte die Arme fest um ihren Vampir.
»Du erwürgst mich«, hustete dieser.
»Vampire kann man nicht erwürgen«, widersprach sie.
Und erschießen im Übrigen ebenso wenig. Das sah wohl auch ihr Vater ein und legte die Waffe weg.
Die Hände zu Fäusten geballt, starrte er Amélie und ihren neuen Freund so wütend an, dass selbst ihr unwohl wurde. Ihr kleines Herz klopfte schneller, und sie hob den Kopf, um den Mann anzusehen, auf dessen Armen sie saß. Seine Augen hatten die Farbe geändert. Einfach so. Anstatt grün strahlten sie in einem satten tiefen Rot. Vielleicht sollte sie jetzt Angst haben. Aber sie hatte keine. Rot sah super aus. Fast so schön wie das Grün.
»Wie machst du das?«, fragte sie interessiert und berührte seine Wimpern. Aber er schüttelte unwillig den Kopf.
»Ich nehme an, Sie wissen, warum ich hier bin«, sagte der Vampir zu ihrem Vater.
Oh, hatte Papa ihn eingeladen? Aber warum war er dann so böse? Langsam wagte sie es, ihren Griff ein wenig zu lösen, und zog den Teddy über die Schulter des Vampirs zu sich heran, um ihn an sich zu drücken.
»Papa?«, sprach sie ihn zögerlich an, denn er sah so unglaublich blass aus. So blass wie Mamas roher Croissantteig. Kurz zuckte sein Blick zu ihr, spiegelte eine Sorge wider, die Amélie das Herz schwer werden ließ.
»Es würde nichts bringen, uns zu töten. Die Beweise sind immer noch da. Der Haftbefehl kann auch von jemand anderem erwirkt werden.«
»Oh, es würde schon etwas bringen. Die Befriedigung persönlicher Rachegelüste zum Beispiel. Aber Sie haben Glück, Denaux, dass Sie eine so bezaubernde Tochter haben. Sie bekommen dank ihr eine zweite Chance. Lassen Sie Ihre Ermittlungen im Sande verlaufen, damit ich nicht erst in Versuchung komme, Ihrer Frau, Ihrer Tochter oder Ihnen selbst etwas anzutun. Es gibt sicherlich tausend Dinge, um die Sie sich kümmern können.«
Ihr Vater sackte ein wenig in sich zusammen. »Also gut … Ich vernichte alles, was brisant werden könnte.«
Selten hatte sie ihren Vater so tonlos sprechen hören. Sie wäre gern zu ihm gelaufen, um ihn in die Arme zu nehmen. Allerdings könnte ihr Vampir vielleicht abhauen, wenn sie ihn losließ. Vampire musste man festmachen, das hatte Papa immer gesagt. Oder war es festnehmen?
Unruhig rutschte sie ein wenig hin und her. Wieder sah sie zu dem Vampir auf, und auch wenn sie sich vom Bauchgefühl her eher bedroht fühlte, so zuckten ihre Mundwinkel doch unwillkürlich nach oben. Ihr Vampir erwiderte ihr Lächeln und offenbarte zwei ausgesprochen seltsame Eckzähne.
Sie drückte vorsichtig den Daumen gegen die Spitze seines Zahns. Es pikste ein wenig, und ein kleiner roter Tropfen trat hervor. Sie steckte sich den Finger in den Mund, um daran zu saugen.
»Beißen sich Vampire damit selbst auf die Zunge?«, sprach sie die Frage in ihrem Kopf ohne zu zögern aus.
Er lächelte nun so, dass sie seine Zähne nicht mehr sah. »Nein … Also, besser gesagt, eher selten.«
***
Es war wirklich nicht der passende Moment für Kindheitserinnerungen. Oder zog einem tatsächlich das Leben am inneren Auge vorbei, wenn der Tod nahte? Hoffentlich nicht! Sie würde es Jason übelnehmen, wenn er ihr Leben beendete. Als Geist würde sie ihn heimsuchen. Genau das wollte sie ihm sagen, als sie den Kopf hob und dabei ihr Blick wieder nach unten fiel. Oh … verflucht!
»Könntest du bitte aufhören, so zu kreischen? Es ist unerträglich«, hörte sie Jason sagen. Er hielt so abrupt an, dass ihr schwindelte, und ließ sie los. Nicht nur ihre Kiefer rumsten, als sie diese zuklappte. Ihre zitternden Knie hatte keine Chance mehr gegen die übermächtige Erdanziehung. Ohne Jasons Halt fiel sie hart auf den Hintern. Warum nur war ihr Hintern nicht fetter?
»Noch mehr blaue Flecken«, stöhnte sie gequält.
»Du solltest den Boden küssen. Das macht der Papst auch immer so.«
Zu ihrer Schande musste Amélie gestehen, dass sie durchaus die Hände auf das Flachdach presste und sich über den sicheren Halt freute. Wäre es nicht völlig erbärmlich, würde sie sich sogar hinlegen … und es küssen. Aber wer wusste schon, ob Jason das nicht als Einladung interpretierte, sich auf Amélie zu legen und nachzufühlen, ob sie sich wirklich nichts getan hatte.
»Ich bin nicht katholisch«, erwiderte Amélie und verkniff sich mit Mühe den Nachsatz: Das solltest du eigentlich wissen. Ihre Familie war nicht katholisch. Warum sollte ausgerechnet sie es jetzt sein?
Sie rappelte sich auf und schaute über Dach, auf dessen Ziegeln sich die Lichter der Stadt spiegelten. In einiger Entfernung leuchtete hell der Eifelturm.
Jason stand breitbeinig und mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht neben ihr und blickte zu ihr herab. »Zu geizig, Kirchensteuer zu zahlen, was?«
»Nein, dann wären Stolz und Rachsucht eine Todsünde.« Mit aller Kraft und so schnell es ihr möglich war, schwang sie ihr ausgestrecktes Bein herum. Vampire hatten auch nur empfindliche Kniescheiben, aber sie hatte sich im Winkel geirrt. Zwar trat sie Jason die Füße weg, doch dafür krachte dieser mit seinem gesamten Gewicht auf sie. Ihr synchrones Stöhnen war sicherlich noch unten auf der Straße zu hören.
»Bon sang.«
»Holy shit.«
»Freut mich, dass sich unsere Völker so gut verstehen«, erwiderte Amélie mit Tränen in den Augen. »Könntest du bitte deinen Ellenbogen aus meinen Rippen nehmen?«
Warum hatte sie nie gelernt, die Konsequenzen ihres Handelns besser zu berechnen? Es war doch klar, dass bei ihrem Glück immer alle auf sie drauf fielen.
Amélie seufzte erleichtert, als sich Jason ein wenig hochstemmte, und kein Felsbrocken mehr auf ihrer Brust lastete. Was für ein Gefühl, wieder frei atmen zu können und seine Finger an ihrem Bauch zu spüren. Moment mal! Was?
»Anfassen ist verboten!« Empört schlug sie seine Hand weg.
»Schon gut, du humorlose Nonnenanwärterin. Ich wollte nur wissen, ob du dir etwas gebrochen hast.«
»Nonnenanwärterin!«, echauffierte sie sich. Sie hatte sich doch wohl verhört? »Das heißt im Übrigen Novizin.«
»Ich korrigiere mich: humorlose, besserwisserische Novizin«, gab Jason nicht sonderlich beeindruckt zurück und rutschte von ihr herunter.
»Du hast ›neugierig‹ vergessen. Im Übrigen schuldest du mir noch die Beantwortung zweier Fragen.«
»Du hast mir genau genommen vorher drei Fragen gestellt«, erwiderte Jason und versuchte aufzustehen. Doch sie hängte sich an das Revers seines ohnehin schon demolierten Sakkos.
»Gar nicht wahr!« Okay, das kam jetzt etwas kindischer über die Lippen als geplant.
»Doch!«
»Ich habe mich mit fünf Jahren schon nicht über den Tisch ziehen lassen und ich fange jetzt bestimmt nicht damit an«, fauchte Amélie. Und nein, sie ließ nicht los. Was früher schon funktioniert hatte, würde heute auch funktionieren.
Jason stellte sich (und sie) auf die Beine. »Darf ich dich zitieren? Dann hat man also auch als Vampir immer eine Wahl? Die ob man tötet oder nicht? Oder als Mafiaboss?«, äffte er sie nach!
»Sprich noch einmal in dieser Tonlage, und ich werde dir mit einem Tritt dabei helfen, noch höher zu kommen!«
»Das waren drei Fragen, junge Lady.«
»Nenn mich noch mal junge Lady, und die junge Lady amputiert dir gleich deinen winzigen uralten Gauner!«
Nicht einmal seine Barthaare konnten es verbergen. Jasons Mundwinkel zuckten, und schließlich brach er in heiteres Gelächter aus. Pah.
Beleidigungen machten keinen Spaß, wenn der andere darüber lachte. Amélie verengte die Augen. »Also zu meinen beiden Fragen …«
»Eine Frage. Und dafür, dass ich deine vorherigen drei Fragen als eine werte, könntest du mir zumindest deine Brüste zeigen … obwohl … viel gibt es da ja nicht.«
Sie wusste nicht, über welche Unverschämtheit sie sich als Erstes aufregen sollte; so wütend war sie. »Dafür hast du mich erstaunlich oft im Arm«, erwiderte sie schnippisch.
»Dass du keine Brüste hast, heißt ja nicht, dass du hässlich bist. Im Gegenteil. Wärst du mir nicht unheimlich, würde ich mit dir ausgehen.«
Ihr Gehirn war noch dabei, sich eine gewaschene Erwiderung auf diese Mischung aus Kompliment und Beleidigung zu überlegen, das löste Jason ihre Finger. Verdammt, sie hatte nicht aufgepasst! Erneut griff sie nach ihm, doch er wich aus. Wenn dieser Mistkerl glaubte, er könnte sich ohne Weiteres davonstehlen, hatte er sich geirrt!
»Ich lass dich nicht eher weg, bis ich meine Antwort habe.« Wenn sie irgendwann dazu kam, ihre verdammte Frage zu stellen!
»Sei froh, dass du noch lebst. Außerdem haben wir ohnehin nicht genügend Zeit. Deine Freunde werden bald hier sein. Dank der Sirene, die sich deine Stimme schimpft, wird es ihnen ein Leichtes sein, uns zu verfolgen.«
Hätte sie sich nur den Teaser eingesteckt! Dann könnte sie jetzt eine hübsche Ladung Strom durch diesen impertinenten Vampir jagen.
Erneut versuchte sie, nach ihm zu greifen, doch sie strauchelte. Ihr Knöchel schmerzte unter der Belastung, und ihr war immer noch schwindlig. Doch es war etwas ganz anderes, was ihr ein frustriertes Seufzen entrang. Die Stelle, auf der Jason soeben noch gestanden hatte, war leer. Ebenso wie der Rest des Daches. Humpelnd lief Amélie zu dem Rand des Gebäudes. Sie meinte, auf der Straße einen Schatten zu sehen, der sich eilends entfernte.
»Glaub ja nicht, dass du mir so einfach davonkommst«, schrie sie ihm hinterher und stolperte im nächsten Moment zurück. Direkt in den Abgrund zu sehen, war keine gute Idee.
Jetzt war er weg. Super. Gut gemacht, Amélie.
Toll. Und wie kam sie jetzt von diesem blöden Dach runter? Die Tür zum Treppenhaus des Gebäudes stellte sich als verriegelt heraus. Sie würde lieber hier oben verhungern als versuchen, die Fassade nach unten zu klettern.
Sie setzte sich auf den Boden und sah in den Himmel.
Über ihr funkelte der Abendstern. Gott, wie hatte sie es geliebt, wenn Jason mit ihr die Landstraße entlang gefahren war, bis zu einem kleinen Wäldchen. Weit ab von den Lichtern der Stadt und dem Bett, in das sie um die Uhrzeit eigentlich gehörte, hatte er ihr wilde Stories zu den Sternen und den Planeten erzählt.
Was sollte sie tun?
Jason war unter keiner Adresse in Paris zu finden. Dass Enzo ihn gefunden hatte, grenzte an ein Wunder. Keiner wollte Jason verpetzen. Nicht einmal seine ärgsten Feinde. Diese verbrecherische Bande hielt ohnehin zusammen wie Pech und Schwefel.
Enzos hatte ihn nur erwischt, weil er herausgefunden hatte, dass Jason an diesem Abend die Ehefrau eines Mafiosos entführen wollte. Diese Ehefrau war wesentlich einfacher zu überwachen gewesen als Jason selbst.
Seit über einem Jahr versuchte Enzo ihn zu stellen. Ein kleiner Artikel in einem unbekannten Science-Fiction-Magazin faselte über Vampire, die unerkannt unter Menschen lebten und erwähnte ausgerechnet Jasons Namen. Verrückte Verschwörungstheorien, das dachten die meisten Menschen.
Kaum jemand hatte den Artikel gelesen, geschweige denn ernstgenommen, bis auf Enzo. Und seitdem war er davon besessen, Jason zu finden und ihn als Vampir zu überführen.
Zugegeben. Seine sonstigen Fänge waren dermaßen unbekannt, die Offenbarungen über Vampire würde jeder nur als dummes Gerede abtun. Wenn jedoch ein Prominenter oder ein stadtbekannter Verbrecher ein Vampir war, dann würde man die Zeitungen aus den Ständen reißen, die Radios und Fernseher bis zum Anschlag lauter drehen, und Enzo wäre der gefeierte Held. Und sie die bejubelte Journalistin.
Nun ja … wohl eher nicht. Denn sie würde gewiss nicht zusehen, wie Enzo Jason hinter Gitter steckte, bevor sie nicht ein, zwei Detailfragen mit diesem geklärt hatte. Dazu müsste sie ihn erst einmal wiederfinden.
Amélie legte sich auf den Rücken, und die Kühle des Bodens kroch ihr in die Glieder. Sie musste sich etwas verdammt Gutes einfallen lassen. Ob die Sternschnuppe ihr bei diesem Wunsch helfen konnte?
Krachend schlug die Tür auf, an der Amélie bisher gescheitert war, und Fabrice hüpfte fluchend auf einem Bein herum.
»Diese verdammte Tür!«, stöhnte er.
Enzo schob sich an seinem winselnden Mitarbeiter vorbei, und Amélie kam ihm freudig entgegengelaufen. Ha, auf Enzo war Verlass! Er war ihrem Hilferuf (nicht Geschrei) gefolgt!
Aber Enzos erste Frage bestand keineswegs darin, sich zu erkundigen, wie es ihr ging, sondern in welche Richtung der seiner Meinung nach verblödete Vampir geflüchtet war. Amélie zuckte die Schultern. Wenn sie das wüsste, wäre sie schon längst hinterher.
»Verflucht noch eins, wie konnte das passieren?«, brüllte er so laut, dass die Fernsehantenne bedenklich wippte.
»Der ist leider nicht so blöd, wie du sagst. Der ist längst über alle Berge«, mischte sich Fabrice ein und kratzte sich an der kahlen Stelle an seinem Hinterkopf.
»Kein Wunder bei der Geräuschkulisse«, fügte ein anderer Mitarbeiter hinzu. »Wahrscheinlich ist er nun der erste taube Vampir auf diesem Planeten.«
»Ihr hättet euch auch bestimmt leise wimmernd über Abgründe von mehreren Metern Tiefe schleppen lassen. Und wegen der durchnässten Hose und der damit einhergehenden Geruchsbelästigung hätte er euch fallen lassen«, blaffte Amélie und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ruhe jetzt!«, fuhr Enzo dazwischen, bevor die Diskussion völlig an Niveau verlieren konnte. »Also, wie ist das passiert?«, wandte er sich erneut an Amélie.
»Mir geht es hervorragend. Danke der Nachfrage«, erwiderte Amélie spitz. »Nur meine Rippen und mein Knöchel schmerzen etwas.«
Enzos Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie eine dicke schwarze Linie bildeten und die markanten Gesichtszüge finster und bedrohlich erschienen ließen.
»Hat er dir wehgetan?«, grollte seine Stimme mit unüberhörbarer Wut. Er grollte tatsächlich, wenn er sauer wurde. Wie ein Gewitter vor der Apokalypse.
»Nicht absichtlich«, erwiderte Amélie ein wenig milder gestimmt. Nein, sie gehörte nicht zu den Frauen, die ständig verhätschelt werden wollten. Aber ein wenig Beschützerinstinkt durfte man von dem eigenen Freund doch wohl erwarten. Selbst Jason hatte sofort begonnen, zu fummeln, um sich von ihrer Unversehrtheit zu überzeugen.
»Was heißt das?«, schnarrte Enzo.
»Das heißt, dass er auf mich drauf gefallen ist«, erklärte Amélie geduldig und warf Fabrice einen strafenden Blick zu. Sein wieherndes Gelächter war absolut unpassend.
Enzo rieb sich mehrmals kräftig über die Augen. Amélie kannte die Geste. Meistens folgten darauf Kommentare, dass sie oder jemand anders ihn noch ins Grab bringen würde oder er Kopfschmerzen hätte. Dafür, dass Enzo über die Kraft eines Schwergewichtboxers verfügte, war er recht wehleidig, was seine Gesundheit betraf.
»WIE.IST.ER.ENTKOMMEN?«, brüllte Enzo.
Nicht nur Amélie zuckte erschrocken zusammen, auch Fabrice und die restlichen Männer duckten sich unwillkürlich.
»Keine weiteren Kommentare, die nichts zum Thema beizutragen haben. Entweder du sagst es mir jetzt, oder ich schüttle die Antwort aus dir heraus!«
Bevor Amélie ihm empfehlen konnte, sich zum Teufel zu scheren, packte er sie und stellte sie auf die Beine. Amélie versuchte, seine Finger aufzubiegen, die sich so fest um ihre Oberarme schlossen, dass sie nicht weit davon entfernt war, ihn zu beißen, damit er endlich losließ.
»Er hatte eine Phiole in der Hand. Frag mich nicht, was drin war, aber es löste das Metall der Fesseln auf, sodass er sich befreien und mich packen konnte«, fauchte Amélie. So fest es ging, trat sie ihm auf die große Zehe.
Seinem Blick nach zu urteilen, wünschte er ihr den Tod, aber wenigstens ließ er sie los. Was war das nur für ein Benehmen? Ein Vampir entführte sie. Er schleifte sie buchstäblich an den Haaren über Dutzende Dächer, über Abgründe, immer mit dem Gedanken spielend, er könne sie auch einfach fallen lassen – und ihr eigener Freund hatte nichts Besseres zu tun, als sie anzubrüllen.
»Fährst du mich nach Hause?«, wandte sie sich barsch an Fabrice.
Dieser schlug sich die Handkante an die Stirn, um zu salutieren, bevor er einen absolut unvollendeten Diener hinlegte. »Zu Befehl, Madame Chef.«
Die hatten doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Amélie zupfte an ihrer Bluse, bis diese wenigstens halbwegs ordentlich saß, und stopfte sich ihre störenden Haare hinten in den Kragen hinein. Nur, damit Enzo sie in den nächsten Sekunden wieder herausholte und auf ihrem Rücken glattstrich.
»Du wirst nicht mit Fabrice fahren.« Er legte seine Hände auf Amélies Taille und zog sie sanft an sich. »Ich habe uns einen Tisch im Le Meurice reserviert. Die Pinguine werden frostig, wenn wir zu spät kommen.«
Amélie tippte auf den dunklen Fleck, der Enzos Hemd zierte. »Wenn wir in zerfetzter Kleidung und blutverschmiert dort auftauchen, werden die Pinguine denken, wir haben die glutenfreie Ente aus der Küche geklaut«
»Umziehen sollten wir uns noch. Das geht doch schnell.«
Schnell? Sie wollte nicht einmal einen Blick in den Spiegel werfen. Da musste der Spiegel noch nicht einmal sprechen können, um ein vernichtendes Urteil abzugeben. Die Flucht in den Armen King Kongs, äh Jasons, hatte ihrem Teint ganz sicher nicht gutgetan. Ihre Knie fühlten sich immer noch, als wären sie in dem Zimmer zurückgeblieben.
»Ich kann nichts für die Verspätung. Ihr habt doch den Vampir entkommen lassen«, murrte sie.
Enzo ballte die Hände und krallte dabei in ihre Taille. Sicher aus Versehen.
»Au«, protestierte sie und schlug seine Hand weg.
»Also willst du nicht essen gehen?«, fragte Enzo patzig.
»Doch.« Als ob sie sich Essen entgehen lassen würde.
Enzo legte den Kopf in den Nacken und stieß die Luft mehrfach heftig durch die Nase aus. Vielleicht hatte er ja ein wenig recht (das würde sie ihm nur nicht sagen).
Wie konnte sie jemanden wie ihm böse sein, wenn er sich darüber aufregte, dass er eine Freundin wie sie hatte? Sie passte eher zu einem verpeilten Clown, der ständig seine Nase vergaß, wenn er zu einem Kindergeburtstag musste. Aber nicht zu einem harten Vampirjäger. Und trotzdem reservierte er einen Tisch in einem Lokal, das er mit Sicherheit nicht ausstehen konnte. Das war so süß.
Enzo verabscheute Protzschuppen. Und das Le Meurice sparte nicht mit Protz. Dabei lockte Amélie nicht etwas das Essen, sondern die Inneneinrichtung. Sie hatte eine Schwäche für altehrwürdige Säle.
»Es wird dir gefallen«, versprach sie ihm. Sie war im Übrigen schon mal eine bessere Lügnerin gewesen.
Es hätte alles so einfach sein können.
Ob Denaux lebte oder nicht, war irrelevant. Beides war gleichermaßen gut, solange es ihm nur die Staatsanwaltschaft vom Hals hielt. Bei der umfangreichen Auftragslage im Moment konnte er keine neugierigen und aufdringlichen Schnüffler gebrauchen.
Sollte Marc Denaux leben. Er konnte sich bei seiner Tochter dafür bedanken. Das entzückende Druckmittel sicherte ihrem Vater nicht nur sein Leben, sondern auch ihm die Garantie, dass dieser zukünftig seinen Fokus auf andere Verbrecher verlagerte. Ziel erreicht – Zeit zum Gehen. Sollte man jedenfalls meinen.
Jedoch hatte er nicht mit Amélie gerechnet. Die Verhandlungen waren beendet, und um seinen guten Willen zu zeigen, setzte er das Mädchen wieder auf dem Boden und ihren eigenen zwei Beinen ab.
Doch bevor er das Haus verlassen konnte (oder auch nur einen Muskel bewegen), umarmte die Kleine sein Bein. Ähm … das hieß wohl, er solle bleiben. Besser nicht. Die würde es fertigbringen und ihn im Keller einsperren. Sie war amüsant, keine Frage. Aber für seinen Geschmack etwas besitzergreifend.
Es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt seinen Hals losgelassen hatte. Denn auch jetzt legte sie eine beeindruckende Stärke an den Tag. Und himmelte ihn aus großen kindlichen Augen an. Oh verflucht … Wenn ihn eine Frau so ansah, ging ihr akribisch aus dem Weg und gratulierte sich dazu, sie nie mit zu sich nach Hause genommen zu haben.
Doch selbst das nützte ihm nichts. Er war nicht zu Hause. Er war bei ihr zu Hause. Und da sie nicht losließ, musste er wohl oder übel hierbleiben. Es sei denn, er legte Wert darauf, sie bis zu seinem Zuhause hinter sich her zu schleifen.
Allerdings … wenn man flüchten musste, sollte man nicht kleinlich sein, und so schleifte er sie tatsächlich bis in den Flur. Dort gab er auf und beantwortete das hämische Grinsen ihres Vaters mit dem Entblößen seiner Fangzähne.
»Willst du vielleicht mal was dagegen tun?«
»Komm, Amélie, sag au revoir. Du musst wieder ins Bett«, lockte Denaux.
Motivation klang auch anders. Zumal das auch ein wahnsinnig sinnvolles Argument war. Welches Kind ging schon freiwillig ins Bett? Kein Wunder, dass sich das winzige sture Wesen nicht um die Worte ihres Vaters scherte.
Sie krallte sich lieber an seinen Gürtel, riss ihm fast die Hose von den Hüften und machte ihm so klar, dass er sich gefälligst auf ihre Augenhöhe zu begeben hatte. Nun ja, was blieb ihm anderes übrig? Wenn er Amélie bis zu sich nach Hause schleifte, käme auch noch Kindesentführung auf die Liste seiner Sünden. Es gab Dinge, die gehörten da einfach nicht hin.
Erneut zerrte Amélie an seinem Gürtel. Gute Güte, zog sie immer Männern, die sie kaum kannte, die Hosen runter? Um mehr Kraft aufzuwenden zu können, ließ Amélie sogar ihren Teddy fallen.
Na gut. Er hockte sich zu ihr und drückte ihr den Teddy wieder in die Arme. Erneut spürte er Amélies erstaunlich energischen Griff um seinen Hals. Warum war er nicht gerannt, als er die Chance dazu hatte?
»Amélie, jetzt lass den guten Mann doch gehen. Er hat sicher noch andere Dinge zu erledigen«, versuchte der inkompetenteste Vater aller Zeiten erneut sein Glück.
»Erst wenn er verspricht, dass er am Sonntag zu meinem Geburtstag kommt. Du kommst doch, oder?«, brüllte ihm Amélie ins Ohr.
»Nicht so laut«, stöhnte er. Bloody hell. Wer gab einem Kind eine solche Stimme? Ob seine Ohren bereits bluteten? Er schielte unauffällig in den Spiegel neben der Garderobe.
»Kannst du auch Mäuse hören?«
»Nur, wenn ich gerade nicht taub bin.« Hoffentlich klang er nicht allzu jämmerlich. Welchen Eindruck hinterließ das denn bitte? Bedauerlicherweise war die Aufmerksamkeitsspanne Amélies größer als die anderer Kinder in ihrem Alter. Sie vergaß nicht ihr ursprüngliches Anliegen.
»Kommst du?«, bohrte sie beharrlich und unterstrich den Ernst ihres Wunsches, indem sie ihm die Luftröhre abschnürte.
Man stelle sich einen Vampir vor, dem ein Mädchen am Hals baumelte, die ihm wiederum den Teddy halb ins Gesicht drückte. Wer hatte da bitte Angst? Selbst Denaux vergaß seinen Kummer und konnte sich der Lächerlichkeit dieser Situation nicht entziehen. Dessen Mundwinkel zuckten belustigt und am Ende krallte er sich in seine Garderobe und brüllte vor Lachen. Eindeutige Nachwirkungen des Schocks – eine andere Erklärung konnte es dafür nicht geben.
»Oh Gott«, japste der Polizist. »Ich weiß zwar, was du alles auf dem Kerbholz hast, und vermutlich handelt es sich dabei gerade mal um dreißig Prozent deiner wirklichen Sündenliste, aber wen Amélie so abgöttisch verehrt, der kann so schlecht nicht sein.«
Hoffentlich sah der Vampir genauso angepisst aus, wie er sich fühlte.
»Danke«, knurrte er und fügte gedanklich »Arschloch« hinzu. Aus pädagogischen Gründen behielt er diese Beleidigung aber für sich. Am Ende fragte Amélie noch, was Arschloch war und beleidigte morgen ihre Erzieherinnen.
Seufzend öffnete er die Eingangstür, doch auch das imponierte Amélie nicht im Geringsten. Sie ignorierte den Wink mit dem Zaunpfahl, äh der Haustür, geflissentlich. Unbeirrt hing sie an seinem Hals. Testweise bewegte er sich auf das Gartentor zu. Denaux folgte ihm, doch Amélie startete unbeeindruckt ein Kreuzverhör.
»Hast du Kinder?«
»Nein«, erwiderte er mürrisch und scheiterte daran, sie von seinem Hals zu pflügen. Die einzige Möglichkeit wäre, ihr die Arme zu brechen.
»Warum nicht? Bist du insopent?«
»Insowas?«
»Habe ich im Fernsehen gesehen, die können keine Kinder machen«, brüllte Amélie munter über die gesamte Straße.
»Keine Ahnung, was du im Fernsehen siehst, aber daran liegt es ganz sicher nicht!«
Das Kind machte ihn fertig. Wusste der Geier, von wem sie ihre Penetranz geerbt hatte. Vielleicht war sie adoptiert, von ihren Eltern konnte sie es unmöglich haben. Oder sie war die leibhaftige Brut des Teufels.
Im Übrigen fühlte sich Denaux offenbar völlig überfordert, ihm sein Kind abzunehmen. Oder der ach so ehrenwerte Polizist war der Sadist in der Runde.
Seine Tochter kam im Übrigen gerade wieder auf den Kern des Gespräches zurück. »Sonntag? Biiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitte«
Kreuzdonnerwetter! Das Fiepen in seinem Ohr nahm mit höherer Tonlage zu und mutierte zu waschechten Bomberalarm.
»Schon gut, ich komme ja«, stöhnte er ergeben. Oh Mann, wer wurde schon mit einem Hörsturz erpresst? Doch die Angst um sein Gehör war größer als der Unwille.
»Jaaaaaa!«
Er ging merklich in die Knie. »Gott bewahre, wenn du in irgendwann Interesse an Männern entwickelst«, knirschte er mit den Zähnen und rieb sich das kaputt gebrüllte Ohr.
Amélie drückte ihren Kopf gegen seine Wange. »Ich will aber keinen insopenten.«
Nachdem sie ihrem Opfer das Versprechen für Sonntag abgenommen hatte, wirkte das Mädchen wieder so aufmüpfig wie eine Topfpflanze und derartig unschuldig, dass es einem unheimlich werden konnte. Wer eine solche Tochter im Haus hatte, brauchte definitiv keinen Schäferhund. Und keine Dienstwaffe. Ganze Kriege könnte die Kleine beenden.
Ohne jeglichen Widerstand ließ sie zu, dass er sie an ihren Vater zurückgab. Ein Moment der Freiheit, den er unverzüglich zum Gehen nutzte.
»Bis Sonntag«, brüllte ihm Amélie hinterher.
***
Jason öffnete gerade die Tür zu seinem Büro, da schallte es ihm gewohnt liebevoll von seiner Assistentin entgegen: »Das wurde aber auch langsam mal Zeit! Du wolltest schon vor zwei Stunden im Büro sein! Ich habe auch ein Privatleben, aber nein, ich muss ständig auf dich warten.«
»Danke, Helen, dass du zu meiner Befreiung die Kavallerie gerufen hast. Ich sehe, du bist vor Sorge beinahe vergangen.« Er beugte sich nach unten, um seinen Hund zu kraulen, der so heftig mit dem Schwanz wedelte, dass er beinahe umkippte.
»Jeremy wollte den französischen Präsidenten um seine Leute bitten, aber Cecile meinte, wir bräuchten uns keine Sorgen machen. Dir würde allein von eifersüchtigen Männern deiner Bettgespielinnen Gefahr drohen. Und Baseballschlägern auszuweichen, bist du ja inzwischen gewohnt. Dein Hemd ist übrigens ruiniert«, erwiderte Helen.
Sie trat auf ihn zu und öffnete sein Hemd mit einer Geschwindigkeit, die eigentlich nur Prostituierten vorbehalten war. Dabei strich ihr Blick so desinteressiert über Jasons nackten Oberkörper, dass es an Beleidigung grenzte.
Leider erfüllte Helen nur zwei Vorurteile, die man über Assistentinnen hegte: Sie war blond und ein Hausdrachen. War sie bereits vor zwanzig Jahren ein streitbares Persönchen gewesen, so war sie nun, in ihren Vierzigern angelangt, eine Mischung aus der Mutter des Satans und einer tollwütigen Bulldogge.
Nur hübscher. Die Zeit war gnädig zu ihr gewesen und ihr regelmäßiges Boxtraining (dem sie natürlich nur nachging, um sich seinetwegen abzureagieren) hatte ihr auch nicht geschadet. Würde er nicht wissen, welche Hölle ihn erwartete, hätte er einiges getan, um aus dem Arbeitsverhältnis noch ein wenig mehr herauszuholen.
Sie drückte ihm ein Hemd in fröhlichem Schwarz in die Hand und lächelte ihn an. »Aber ich bin trotzdem erleichtert, dass dir die Flucht gelungen ist.«
Oh verflucht … Helen lächelte ihn nur dann so herzlich an, wenn sie Urlaub oder mehr Geld wollte. Oder, wenn Jasons Unglück gerade im Anrollen war.
»Cecile ist auf dem Weg?«, fragte Jason vorsichtig nach. Wenn es ein Gott gab, dann bitte nicht. Nun, was sollte er sagen? Gott konnte ihn nicht leiden. Oder dieser war schlichtweg als vergnügungssüchtiges Pack zu bezeichnen.
»Zieh nicht so ein Gesicht. Du weißt selbst, dass du mir nicht entkommst. Obwohl ich den Liebeszauber wohl wieder mal erneuern müsste. Er scheint ein wenig an Wirkung zu verlieren«, tönte Ceciles Stimme in seinem Rücken.
»Ich dachte, du spielst nur mit Glaskugeln und schaust dir die Folgen von ›Big Bang Theorie‹ an, bevor die überhaupt gedreht werden?«
»Du bist doch nur neidisch.«
Diese Frau war Pest und Cholera zugleich. Er war bis heute kein Kind einsamer Nächte. Er liebte Frauen jeglicher Art. Andere betitelten das als wahllos, aber seiner Meinung nach besaß jede Frau etwas Besonderes.
Cecile hatte ihn bei ihrer ersten Begegnung zur Weißglut getrieben und in ihm das Bedürfnis geschürt, sie entweder zu erwürgen oder mit ihr zu schlafen. Weil er bei beidem keine Zuschauer mochte und Linett an diesem Tag äußerst grantig unterwegs gewesen war, hatte er ihr eine Woche später einen erneuten Besuch abgestattet. Unschwer zu erkennen, für welche Möglichkeit er sich entschieden hatte. Der One-Night-Stand hatte sich jedoch ein wenig anders entwickelt als geplant. Wenn die Qualität stimmte, konnte die Dame eben schon mal anhänglich werden.
Jason vergrub die Hände in seinen Hosentaschen. Er spürte die Wärme ihrer Finger auf seiner nackten Haut und verkniff sich gerade so ein wohliges Seufzen. Vielleicht war ihre Anhänglichkeit doch nicht so schlimm.
Aus der Küche kicherten die Mäuse, obwohl das verdächtig nach seiner zweiten Assistentin klang. Den dicken Bauch voran schob sich Linett in der Begleitung ihres Gefährten Jeremy aus der Küche. Ihre Kleidung war weit geschnitten und trotzdem quoll praktisch alles darunter und darüber hervor. Es grenzte für Jason an ein Wunder, dass sie bei dem eindeutig überhängenden Gewicht geradestehen konnte.
»Was machst du hier?«, fragte er.
Sie legte stützend die Arme unter ihre umfangreiche Kugel. »Schauen, ob ich morgen noch einen Chef habe, oder ob sich fünfzig Prozent der Pateneltern meines Kindes in die ewigen Jagdgründe verabschiedet haben. Du hast nicht zufällig noch Schokolade da?«
»Im Lagerraum, hinter den Kopfhörern«, verriet Jason und seine Mundwinkel zuckten belustigt.
Misstrauisch kniff sie die Augenbrauen zusammen. »Warum versteckst du dort Schokolade?«
»Damit ich im richtigen Moment welche dahabe und du mich nicht auffrisst.«
Mit einem zufriedenen Lächeln lagerte Linett ihren Babybauch in Richtung Ausgang um und stapfte hinaus. Sie stand nur ein, maximal zwei Wochen vor der Entbindung, aber sie legte noch immer die Fresssucht einer zuckersüchtigen Raupe an den Tag.
»Gut, dass du entkommen bist«, kam auch Jeremy endlich zu Wort. Jeremy war eigentlich einer seiner Mitarbeiter. Die Bezeichnung »eigentlich« trug Jeremy, weil er seit Linetts fortschreitender Schwangerschaft kaum noch zu Aufträgen zu gebrauchen war. Hatte Jason geglaubt, in seinen mehr als zweihundert Jahren Lebenszeit alles gesehen zu haben, so wurde er eines Tages gründlich eines Besseren belehrt. Einen (normalerweise) kaltblütigen Auftragskiller vor Linett knien zu sehen, der mit einem grenzdebilen Grinsen sein Ohr an die Babykugel seiner Liebsten legte, war so absonderlich wie faszinierend.
Ob Jeremy allerdings so unfassbar froh war, weil sein bester Freund nicht gestorben war oder weil Jason ihm zehn Minuten Stressaufschub gab, bis Linett die Schokolade vertilgt hatte und ihre nächste Fressattacke bekam, sagte er nicht. Was für ihre Freundschaft wohl auch besser war.
»Danke, ihr hättet mir wirklich gefehlt, wenn ich gestorben und in die Hölle gekommen wäre«, spottete Jason, während er sich das Hemd vergebens zuknöpfte.
Denn Cecile schob den Stoff immer wieder auseinander, um ihre Finger genüsslich über seinen Bauch gleiten zu lassen. Sie legte den Kopf schief und leckte sich über die Lippen. Ihre Haare streichelten angenehm über seine Haut, als sie sich gegen ihn lehnte. Ihr Raunen bescherte ihm ein angenehmes Prickeln auf der Haut.
»Wir freuen uns alle. Was wären wir ohne dich. Ohne Lohn, und ich müsste mir dann auch noch einen neuen Mann suchen.«
»Das könntest du dir auch so.«
Er würde gewiss kein Hindernis sein. Im Gegenteil, er würde Cecile auf der Suche nach dem Richtigen oder Falschen behilflich sein, solange er sie nur loswurde.
Spielerisch verhakte Cecile ihre Finger in dem Bund seiner Hose. »Das Eisenkraut, das man dir gegeben hat, vernebelt dir anscheinend noch immer die Sinne.«
Sie versuchte ernsthaft, seine Erwiderung mit einem Kuss zu ersticken. Erfolglos im Übrigen. Würde sie ihn besser kennen, wüsste sie, dass man ihm schon den Mund zunähen müsste, um ihn am Reden zu hindern.
»Ich war vernebelt, als ich ein zweites Mal deinen Laden aufsuchte. Das erste Mal …«, widersprach Jason und verlor prompt den Faden. So wie immer, wenn sich sein Blut vorfreudig in tiefere Regionen begab. In die, die Cecile gerade durch den Stoff seiner Hose mit sanften Druck massierte.
»Der Küchentisch ist noch frei«, unterbrach Helen unbekümmert diesen anregenden Teil der Unterhaltung. »Wir warten, bis ihr fertig seid. Denn wir wollen immer noch wissen, wer die Kerle waren, die dich entführt haben.«
Linett kehrte gerade rechtzeitig von ihrem Ausflug zurück, um Helens Worte zu vernehmen. »Oh ja, daf intereffiert miff fon die ganfe Feit.«
»Du hast Schokolade am Kinn«, erwiderte Jason.
Helen warf Linett eine Packung Taschentücher zu, bevor sie die Arme vor der Brust verschränkte und das Kinn hob. Noch ein Rohrstock dazu, und sie könnte sie schärfste Lehrerin aller Zeiten abgeben. »Lenk nicht vom Thema ab. Und du, Cecile, lässt für fünf Minuten die Finger von ihm, solange Hoffnung besteht, dass seine Gehirnzellen noch nicht in der Pornopause sind.«
Um sicherzugehen, dass Cecile auch ihrer Aufforderung Folge leistete, stieß Helen die Hexe mit dem Bürostuhl zur Seite. Den sie natürlich nur durch den Raum rollte, damit sich die hochschwangere Linett setzen konnte und nicht zwei Schritte bis zu ihrem Schreibtisch gehen musste. Helens Besorgnis war rührend, vor allem, wenn sie diese dazu nutzen konnte, ihren Willen durchzusetzen.
Jason fuhr über die Stoppeln in seinem Gesicht und ignorierte Ceciles begehrliches Lächeln. »Gut, erinnert ihr euch an Joseph Bériault und Dominic Landry?«
»Wie könnte man die vergessen?«, schnaubte Jeremy.
»Feifkerle«, sagte Linett, mit einem Stück Schokolade im Mund und riss ratschend die Verpackung der letzten Schokoladentafel auf.
»Du kanntest die beiden?«, fragte Jeremy seine Gefährtin irritiert.
»Nein, aber alle bei der Mafia sind Mistkerle«, antwortete Linett und betrachtete betrübt die leeren Verpackungen auf ihrem Schoß.
»Danke schön«, erwiderte Jason mit einem Grinsen. »Sie erlangten traurige Berühmtheit, weil man sie innerhalb einer Woche tot aufgefunden hatte. Mit einem Pflock in der Brust.«
»Ach ja!«, rief Linett aus und hob den Finger wie eine Schülerin. »Das stand in der Zeitung. Dank der bildhaften Beschreibungen dieser Journalistin ist mir immer noch schlecht. Ob sie sich den Tatort angesehen hat, um so detailliert schreiben zu können?«
»Es würde mich nicht wundern«, erwiderte Jason. »Vielleicht war sie sogar dabei, als man diesen beiden verdienten Männern der Pariser Mafia –«,
»Schwachsinn«, schnaubte Helen.
»… Herzpiercings verpasst hat«, redete Jason lauter weiter, um weitere unnötige Unterbrechungen zu übertönen.
Helen hatte Recht. Weder Bériault noch Landry waren beeindruckende Figuren der kriminellen Unterwelt in der Stadt der Liebe gewesen. Trotz ihres vampirischen Wesens.
Linett leckte ihren Finger an, um auch die letzten schokoladenen Krümel aus den Verpackungen zu wischen. »Woher willst du das wissen?«
»Weil sie mir vorhin einige idiotische Fragen gestellt hat«, erwiderte Jason.
Cecile lachte vergnügt auf und zog spielerisch an einem Zipfel seines Hemdes. »Ah, ich verstehe. Sie beleidigte damit deine überragende Intelligenz und hielt dich von der Flucht ab. Schau nicht so grimmig. Du musst selbst zugeben, dass niemand die Befreiungsarmee mehr ruft, nur weil du mal wieder deinen Spaß haben wolltest und dich entführen ließest. Nicht, wenn du bei deren Einrücken fröhlich kiffend auf den Leichen deiner Entführer sitzt.«
»Das war einmal!«, protestierte Jason und riss das Hemd aus ihren Fingern. Im Übrigen ein guter Hinweis. Es zog langsam an seinem unbedeckten Bauch.
»Zwei Mal in den letzten drei Wochen«, korrigierte Helen. »Von den unzähligen Malen zuvor gar nicht zu sprechen. Du sagst doch selbst, dass es eine gute Methode ist, sich entführen zu lassen, wenn man irgendwo unkompliziert rein will.«
»Dann teile ich es euch aber vorher mit!«
»Wie viele sind diesmal tot?«, fragte Jeremy.
»Keiner.«
»Schlechten Tag gehabt, was?«
Es war allein der Tatsache zu verdanken, dass ihm Jeremy im gleichen Atemzug ein Glas Scotch reichte, dass sich Linetts Beziehungsstatus nicht innerhalb weniger Sekunden von »vergeben und schwanger« in »alleinerziehend, da Freund leider verstorben« wandelte.
»Bei diesen Leuten handelt es sich um Vampirjäger und nicht um unwissende Sterbliche«, wandte Jason ein. Er schloss den untersten Knopf eines Hemdes, doch als er den zweiten schließen wollte, saß Cecile bereits auf ihm und öffnete wieder den ersten.
Linett schüttelte ihre Schokoladenpackung noch ein letztes Mal und warf diese in den Mülleimer. »Sag bloß, Vampirjäger sind eine Nummer zu groß für dich.«
»Natürlich nicht!«
»Sind die wie dieser Van Helsing?«, fragte Helen neugierig.
»Nein, eher wie … auf Speed«, gab er zurück. »Sie haben genau gewusst, wie mein Plan für heute Abend aussah. Gut möglich, dass mich jemand verpfiffen hat.«
Jeremy zuckte gelassen mit den Schultern. »Wird doch nicht so schwer sein, ihre Namen und Adressen herauszufinden. Den Rest kann man mit einem Zielfernrohr erledigen.«
»Kennst du denn einen Namen?«, fragte Linett neugierig. Ihr Blick wanderte sehnsüchtig durch den Raum und blieb schließlich an Jeremy hängen. Dieser wurde unter den hungrigen Blicken der werdenden Mutter sichtlich nervös.
»Ich kenne nur den Namen der Journalistin«, sagte Jason und setzte sich in einen der Besucherstühle. Vielleicht hörte ja Cecile endlich auf zu fummeln.
»Na, dann ist es einfach. Leg sie flach und vergiss nicht, zwischendurch nach den Namen zu fragen«, schlug Jeremy mit einem unschuldigen Grinsen vor.
Hey, keine schlechte Strategie. Nur, warum sollte er sich opfern, um diese kleine Furie auszuhorchen?
»Mir fällt gerade auf: Als Chef kann ich auch delegieren. Diesen Auftrag delegiere ich an dich. Du wirst es machen!« Jason prostete Jeremy gut gelaunt zu.
»Nix da«, mischte sich Linett mit blitzenden Augen ein.
»Ich kann sie ja umbringen, bevor es zum Äußersten kommt«, wandte Jeremy ein und ignorierte die mordlustigen Blicke seiner Gefährtin.
Jason grinste breit. Sicher, Jeremy war in letzter Zeit nur noch für schnelle Aufträge zu gebrauchen, die maximal einen Tag dauerten. Aber die Beziehung zwischen ihm und Linett hatte nicht nur Nachteile. Sie sicherte ihm nicht nur Linetts bedingungslose Loyalität, sondern auch eine Menge Spaß.
»Das Mädchen rührt vorerst niemand an«, warf Jason so nebensächlich wie möglich ein. Vergebliche Liebesmüh.
»Und warum nicht?«, fragten sämtliche Anwesenden im Chor.
Warum wusste er es nicht besser? Niemand, absolut niemand der hier Anwesenden besaß den Anstand, seine Anweisungen hinzunehmen, ohne sie in Frage zu stellen.
»Also warum nicht?«, hakte Cecile nach, als er keine Anstalten machte, eine Antwort zu geben.
»Willst du wirklich darüber diskutieren? Dann mach ich lieber mein Hemd zu, damit du mir nicht die Bauchmuskeln wegstarrst«, erwiderte Jason patzig.
Und wieder einmal bestätigte sich die Annahme, dass Frauen ebenso die Sklaven ihrer Gelüste waren wie Männer. Allein Ceciles seliger, erwartungsfroher Blick ließ alle anderen die Flucht ergreifen. Linett beteuerte, dass sie ihrem ungeborenen Kind diesen Anblick nicht zumuten konnte. Ein Trauma wäre nicht zu seinem Wohle. Jeremy schien hin und her gerissen, bis ihm Linett gegen das Knie trat. Aus Versehen natürlich, gefolgt von einem höchst unglaubwürdigen »Oh, das tut mir aber leid!«.
Helen räumte gelassen auf, bis ihr Cecile drohte, sie würde ihr einen Liebeszauber aufbürden, der sie an einen altägyptischen, längst verstorbenen, dafür höchst agilen Pharao band.
»Gibt es tatsächlich lebende Mumien?«, fragte Jason interessiert.
Eine Antwort erhielt er nicht, dafür genügend Gründe, seine Frage zu vergessen. Sein Hund betrachtete das Geschehen für eine Weile desinteressiert, bevor er gähnte und einschlief. Und auch Jason war einige Stunden später drauf und dran, auf Helens Bürostuhl einzuschlafen, als sich Cecile nackt und sichtlich zufrieden auf seinen Schoß setzte. Feiner Fältchen bildeten sich um ihre Augen, als sie ihn verschmitzt die Frage stellte, die er am wenigsten hören wollte: »Also, was hat es mit Amélie Denaux auf sich?«
Hatte er schon erwähnt, dass er weitsichtige Hexen hasste?
Endlich war es so weit! Heute war ihr sechster Geburtstag. Ja, sie war schon richtig erwachsen. Und was noch wichtiger war: Heute kam ihr Vampir wieder. Er hatte es versprochen.
Unruhig zappelte Amélie auf ihrem Stuhl. »Wann ist er endlich da?«, fragte sie zum hundertsten Mal.
»Sei nicht enttäuscht, wenn ihm etwas Wichtigeres dazwischenkommt«, erwiderte ihre Mama und steckte eine Haarklemme und eine Schleife in ihre Haare.
»Das geht gar nicht. Er ist lieb!«
Ihre Mama seufzte. »Es ist gibt nicht nur nette Männer auf dieser Welt.« Sie drehte Amélie herum, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Papa beobachtet diesen Mann seit sehr lange Zeit. Weil er viele böse Dinge getan hat.«
»Hat er Kindern wehgetan?«, fragte sie zweifelnd. Davon hatte Mama oft gesprochen. Von Männern, die Kinder mit Süßigkeiten und Freundlichkeit lockten, um ihnen dann wehzutun. Ihr Weltbild wäre arg erschüttert, würde das auf den freundlichen Besucher mit den lustigen Eckzähnen zutreffen. Doch sie war sich sicher, das würde der nicht tun.
»Nein«, gab ihre Mutter zu, worauf Amélie ein triumphierendes Leuchten im Gesicht zeigte.
»Dafür hat er viele andere, schlimme Dinge getan«, fügte ihre Mama jedoch hinzu.
»Das glaube ich nicht«, widersprach Amélie vehement.
Ihre Mutter seufzte erneut.
Warum eigentlich? Mama hatte es doch gar nicht so schwer. Ihr Vampir würde kommen. Und sie würden Spaß haben. Und mit ihm und Teddy Tee trinken. Mochten Vampire eigentlich Tee?
Amélie zog die Nase hoch. »Warum magst du ihn nicht? Du hast ihn ja nicht mal gesehen!«
»Ich habe eben nichts Gutes von ihm gehört. Er ist kein guter Mann«, erklärte ihre Mama sanft und wischte ihre eine trotzige Träne von der Wange.
»Aber du hast gesagt, man soll sich einen eigenen …«, krähte Amélie selbstsicher, bevor sie stockte. Was war noch einmal das richtige Wort? »… Ausdruck binden!«
»Du meinst, Eindruck bilden. Und ja, du hast Recht, das habe ich gesagt«, erwiderte ihre Mutter. Sie seufzte noch einmal tief. Aber warum? Es war schließlich ihre Mama gewesen, die ihr immer wieder sagte, man solle anderen gegenüber offen sein. Gut, ihre Eingangstür war meistens zu, aber sonst würde es auch immer kalt ziehen.
Viele Jahre später würde ihr diese Diskussion ein wenig peinlich sein. Ihre Mutter hatte an diesem Tag wahrlich keinen leichten Job. Sie musste Amélie nicht nur darauf vorbereiten, dass ihr ersehnter Geburtstagsgast mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht kommen würde, sondern auch noch erklären, dass sie sich wegen ihres kindlichen Leichtsinn in der Idee verrannte, der Berufsverbrecher wäre ein lieber Kerl. Dass man ihm ausgerechnet in Sachen Pädophilie nichts anhängen konnte, musste ihre Mutter in diesem Moment sehr frustriert haben. Denn von allem anderen ließ sich Amélie nicht überzeugen. Vermutlich, weil ihr nicht klar war, was unter Entführung, Erpressung und Körperverletzung zu verstehen war. Nicht, dass sie ihre Eltern damals der Lüge bezichtigen wollte, Amélie hielt lediglich an einer Meinung fest, von der sich kein Mensch erklären konnte, wie sie überhaupt zu dieser gekommen war.
***
Ein besonders stürmischer Windzug bauschte ihren Rock und zerrte an ihrem Haar, aber davon ließ sie sich nicht die Laune verderben. Im Gegenteil. Es war zwar windig, aber für Februar ein ungewöhnlich milder Abend. Aus den Restaurants zogen köstliche Gerüche und ihr eigener Magen knurrte voller Vorfreude. Entspannt hakte sie sich bei Enzo unter und genoss es, in der Menge unterzutauchen und sich von der Lebenslust der anderen anstecken zu lassen.
Paris war unvergleichlich. Besonders eilige Passanten drängelten sich an den staunenden Touristen vorbei. Ein kleines struppiges Fellbündel schnupperte an Amélies Schuh, bevor es kläffend davonjagte und zwischen den Beinen eines Kindes hindurchtauchte, das erschrocken aufkreischte und dann hell lachte.
»Es ist ein herrlicher Abend«, seufzte Amélie zufrieden.
»Hm«, brummte Enzo und fuhr mit dem Finger am Kragen seines weißen Hemdes entlang. Er fühlte sich in seinem Anzug sichtlich unwohl. Der langsame Schritt Amélies schien ihn zu stören. Immer wieder zog er an ihrem Arm und schnaufte genervt, wenn wieder mal ein Urlauber abrupt stehen blieb, um irgendwo hinzugaffen. »Können wir nicht auf der Straße gehen?«, fragte er, während sie einem frisch verliebten Pärchen auswichen.
»Nein«, erwiderte Amélie mit einem frechen Lächeln. Touristen machten nicht alles falsch. Sie genossen den Anblick der Straßen, die Architektur der Häuser, die alten Springbrunnen und unter den Arkaden der Gebäude entlang zugehen und hin und wieder einen verstohlenen Blick in die Schaufenster der unverschämt teuren Boutiquen zu werfen. Je weniger Stoff verwendet wurde, umso teurer war das gute Stück. Aber die Rue de Rivoli war nicht nur für Touristen ein schöner Ort. Auch Amélie liebte diese Straße mit ihrem historischen Flair.
Und erst der Tulieriengarten! Ein grünes Fleckchen inmitten einer lauten, überfüllten Stadt. Liebevoll gehegt, gepflegt und mit exotischen Pflanzen ausgestattet. Obwohl er nicht so überfüllt wie der Garten von Versailles war, fanden sich hier trotzdem immer wieder Touristen in lustigen und völlig unpassenden Klamotten, die einander ständig vor dem gleichen Motiv fotografierten. Zu schade, dass Enzos Maß an Kultur mit dem Dinner im Le Meurice wohl bereits überschritten war. Ein Spaziergang im Park würde seine Geduld und Gefühl für Romantik eindeutig überfordern. Dabei nutzte sie jede Gelegenheit, ihn zu besuchen. Sie war als kleines Kind beinahe jeden Tag dort gewesen. Im Winter baute sie Schneemänner, manchmal steckte sie ihnen kleine Zweige wie spitze Zähne an die Mundwinkel. Im Sommer jagte sie den Tauben nach. Wann immer sie ihn betrat, hörte sie entweder ihren Vater, der die Touristen verfluchte, oder Jason, der sich über die gleichen Leute lustig machte. Schon wieder dieser Vampir!
Leise seufzte Amélie. Wie konnte es sein, dass ein Mann, den sie gerade einmal ein Jahr lang regelmäßig gesehen hatte, noch heute ihre Gedanken so sehr für sich in Anspruch nahm? Und warum hatte sie ihn nicht einfach gefragt, ob er sich an sie erinnerte? Vielleicht war er gar nicht der Vampir ihrer Kindheit. Amélie drückte sich ein wenig enger an Enzos Arm. Enzo mochte zwar mürrisch sein, aber er war auch ein unerschütterlicher Fels in der Brandung.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Enzo und hielt ihr die Tür zum Le Meurice auf.
Der Anblick des Restaurants entschädigte für jeden verschwendeten Gedanken an Vampire, die eine verblüffende und unselige Ähnlichkeit zu dem Traumprinzen ihrer Kindheit besaßen. Das war wie in Versailles! Hohe Fenster buhlten mit den riesigen goldenen Kronleuchtern um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Kunstvolle Stuckverzierungen luden dazu ein, das Essen zu vergessen und einfach nur die Wände anzustarren.
»Doch, doch«, widersprach Amélie abwesend und konnte kaum den Blick losreißen. »Ich habe nur daran gedacht, dass ich nie damit gerechnet habe, dass ich mich mal in den Nachbarsjungen verliebe … Du hast mich nie beachtet«, fügte sie hinzu, um das Misstrauen aus Enzos Blick zu vertreiben.
»Als du fünf warst, war ich in der Pubertät«, gab ihr Freund trocken zurück. »Und als du in der Pubertät warst, warst du mir zu anstrengend.«
Skeptisch betrachtete Enzo den livrierten Kellner, der mit hochmütigem Blick die Seiten des kleinen Buches umblätterte und es kaum zu fassen schien, dass tatsächlich eine Bestellung auf Enzo Brubier lautete.
Mit ausgesuchter Höflichkeit, die Enzo zunehmend auf die Nerven zu gehen schien, begleitete er sie an ihren Tisch. Die Arme vor der Brust verschränkt sah er zu, wie der Kellner Amélie den Stuhl zurechtrückte, da ihr eigener Begleiter eindeutig nicht über die erforderlichen Manieren verfügte.
»Ich bin Patrice, Ihr Kellner am heutigen Abend«, verkündete besagter Ober, lächelte aufmunternd und reichte ihnen die Weinkarte.
Enzo brummte etwas. Vermutlich war es besser, dass es niemand verstand. Am Ende setzte man sie noch vor der Vorspeise wieder vor die Tür. Mit einem innerlichen Seufzen betrachtete sie ihren Freund, der die Karte ohne einen einzigen Blick weglegte.
»Erinnerst du dich an den Mann, der mich und meinen Vater mehrmals die Woche besuchen kam?«, fragte Amélie und tippte mit einem Finger blind auf die Weinkarte, um eine Auswahl zu treffen und sie dem Kellner zu zeigen.
»Ein Bier«, diktierte Enzo im gleichen Moment, bevor er ihn mit einer Handbewegung fortscheuchte. »Du hast ein Jahr lang regelmäßig seinen Namen über die Straße gebrüllt.«
»Und kannst du dich auch daran erinnern, wie er aussah?«, hakte Amélie neugierig nach. Ein Jugendlicher sollte doch hoffentlich ein besseres Gedächtnis haben als eine Fünfjährige.
»Nein«, gab Enzo für Amélies Geschmack viel zu schnell zurück.
»Sicher nicht?«, fragte sie leise. Erinnerte er sich tatsächlich nicht oder wollte er sich nicht erinnern?
»Nein«, sagte Enzo erneut und nun passte sich sein Tonfall seiner Mimik an. Kalt und abweisend.
»Er war auch ein Vampir«, versuchte es Amélie erneut.
»Umso besser, dass er anscheinend getötet wurde, bevor er dich noch länger beeinflussen konnte. Vermutlich hat er nur darauf gewartet, dass du eine hübsche junge Frau wirst, deren Blut sicherlich köstlich ist.«
Getroffen zuckte Amélie zusammen. »Das glaube ich nicht!« Dass ihr damals heißgeliebter Vampir sie nicht mehr besucht hatte, weil er schlichtweg nicht in der Lage war, darauf war auch Amélie gekommen. Doch im Herzen gab sie die Hoffnung, er könnte doch noch leben, nie auf. Und mit Jason hatte sie einen Vampir gefunden, der sich zum Hauptverdächtigten qualifizierte.
»Was? Dass er tot ist oder dass er dich nur als zukünftige Nahrung betrachtet hat?«, zischte Enzo. Als ob der Kellner ihn nicht trotzdem hören würde.
»Den zweiten Teil.«
»Sicher. Er hat sich bestimmt nur von Tieren und Blutkonserven ernährt«, knurrte Enzo.
Amélie nahm dem Kellner die Flasche Wein ab, die er ihr so beharrlich unter die Nase hielt.
»Wollen Sie ihn nicht probieren?«, fragte der Kellner pikiert.
»Nein!« Sie wollte keinen Zeugen, wenn sie die Flasche auf Enzos unsensiblen Schädel zertrümmerte!
Immerhin war der Kellner gut erzogen. Er enthielt sich jeglichen Protests und flüchtete gemessenen Schrittes, um keine zwei Sekunden später mit Enzos Bier wieder vor ihnen zu stehen. Mann, der hatte aber Sorgen, dass er kein Wort des Gespräches verpasste.
Enzo nahm ihm das Glas aus der Hand und trank genüsslich einen großen Schluck, bevor er sich wieder Amélie zuwandte. Seine Lippen kräuselten sich spöttisch. »Warum ist er denn nachts in euer Haus eingebrochen?«
»Weil er mit meinem Vater reden wollte.«
»Nachts? Und dafür bricht er die Hintertür auf?«
Sie waren sicherlich die einzigen Gäste, die so verdammt schnell ihr Essen bekamen. Patrice stürzte regelrecht mit den Tellern an ihren Tisch zurück. Fliegender Service im wahrsten Sinne. Der Salat rutschte zur Hälfte von ihrem Teller, was Patrice außerordentlich gelegen kam. Er sortierte ihn umständlich wieder zurück und blieb zur Sicherheit gleich neben ihr stehen. Mochte ja sein, dass der Salat sonst über den Tisch davonkroch.
»Er hat die Hintertür nicht aufgebrochen«, widersprach Amélie. Sollte der Kellner eben zuhören. Ihr doch egal.
»Dein Vater hat seinetwegen die teuerste Alarmanlage eingebaut, die er finden konnte. Einzig und allein die Selbstschussanlage fehlte noch«, höhnte Enzo. »Verflucht noch eins, gibt es hier kein normales Essen?«
Der Taschenkrebs in Zitronensauce, der ihm soeben serviert worden war, hatte offenkundig wenig Interesse an der Diskussion, dafür vielmehr an der Flucht. Obwohl tot und zerstückelt, flutschte eines der Stücke doch höchst lebhaft über den Tisch, als Enzo ihm mit der Gabel zu Leibe rückte. Immerhin schien Enzo bei der Reservierung nicht vergessen zu haben, zu erwähnen, dass Amélie Vegetarierin war. Vor ihr stand eine ausgezeichnete, wenn auch leicht derangierte Auswahl verschiedener Gemüse. Vorteile: Für ihr Essen waren keine Tiere gestorben, die selbst im Tode noch widerspenstig über die Tischdecke hüpften.
Enzo rammte seine Gabel in ein Stück Krebs, sodass das Metall über den Porzellanteller quietschte. »Sieh es endlich ein! Er war nicht besser als jeder andere dieser verfluchten Rasse. Das Gefasel von Nahrungskette. Der Mensch steht am obersten Ende.«
»Und isst tote Krebse«, hielt Amélie dagegen.
»Besser als lebendige.«
»Oder Entenleber«, fügte sie nach einem Blick auf die Menükarte hinzu. »Er isst Tiere, die er vorher noch zwangsgemästet und in winzigen Käfigen gehalten hat. Inwiefern macht ihn das besser?«
Patrice schnappte entsetzt nach Luft. »Mit Verlaub, Madame, alle hier servierten Speisen werden von Tieren erzeugt, die sämtliche Annehmlichkeiten genossen. Freilaufgehege, intensive Pflege …«
»Ach, hören Sie doch auf!«, blafften ihn Amélie und Enzo gleichzeitig an.
Sofort huschte der Oberkellner mit wehender Schürze heran. Der sorgfältig gestutzte Schnurrbart erzitterte empört. »Schmeckt es Ihnen nicht?«
»Könnten Sie uns bitte ungestört weiterstreiten lassen?«, fragte Amélie mit einem säuerlichen Lächeln und schnitt der starrenden Madame vom Nachbartisch eine Grimasse.
»Könnten Sie endlich den nächsten Gang servieren?«, bellte Enzo.
»Könnten Sie bitte die Stimmen ein wenig senken?«, fauchte der Oberkellner, dem der freundlich geduldige Gesichtsausdruck zunehmend abhandenkam.
»Könnten Sie bitte die Polizei rufen?«, mischte sich ein zartes Stimmchen ein, bevor Enzo oder vielmehr Amélie dazu übergehen konnten, die fehlenden Manieren und die unangebrachte, offen zur Schau gestellte Neugier der anderen Gäste zu rügen.
Vier Augenpaare richteten sich auf die zierliche Brünette mit den hochgezogenen Schultern.
»Pauline! Was machst du denn hier?«, fragte Amélie ihre beste Freundin.
Der Oberkellner zog seine Hemdsärmel aufgebracht gerade. »Madame, verzeihen Sie, was sagten Sie?«
»Ob Sie die Polizei rufen könnten? Ich werde verfolgt!«, erklärte Pauline mit fester Stimme, die jedoch zunehmend höher und hysterischer wurde.
»Schon wieder?« Enzo schnaubte abfällig.
Pauline krallte sich einen Whiskey, den eine Kellnerin gerade unvorsichtigerweise auf einem Tablett an ihr vorbeitrug, und kippte sich die Flüssigkeit in einem Zug hinunter.
»Diesmal wirklich!«, beschwor sie.
»Ich möchte nicht unhöflich sein, aber könnten Sie bitte davon absehen, unsere anderen Gäste zu belästigen?«, mischte sich der Oberkellner ein.
»Seien Sie doch froh, dass wir hier sind. Schließlich sind wir gerade das Unterhaltungsprogramm«, gab Amélie zurück. »Und bringen Sie uns bitte noch einen Stuhl.«
Welch ein Affront! In einer normalen Kneipe wäre es ein Leichtes gewesen, einen Stuhl zu organisieren. In einem hoffnungslos ausgebuchten Edel-Restaurant war das offenkundig zu viel verlangt. Vermutlich war es nicht an der Tagesordnung, dass sich Gäste danebenbenahmen.
»Sollen wir die Polizei rufen?«, wagte es Patrice zu fragen, der Pauline schlussendlich doch einen Stuhl hinschob.
»Ja«, rief Pauline.
»Nein«, blafften Enzo und der Oberkellner im Chor.
Amélie enthielt sich der Stimme.
»Noch einen Whiskey und eine Beruhigungstablette«, flüsterte sie Patrice zu. Dieser lächelte verschmitzt. Der junge Mann schien seinen Spaß an den desaströsen, nichtsdestotrotz unterhaltsamen Gästen zu haben.
»Wer verfolgt dich diesmal?« Ohne Hektik reichte Amélie Pauline eine Gabel.
»Man könnte meinen, ihr nehmt mich und meine Ängste nicht ernst!« Pauline spießte den in der Mitte des Tisches liegenden Teil des Taschenkrebses auf. Amélie trat Enzo kräftig gegen das Schienbein, als der gerade den Mund öffnen wollte.
»Na ja, du hast dich hin und wieder geirrt«, versuchte es Amélie diplomatisch.
Das war schlichtweg untertrieben. Pauline fühlte sich des Öfteren verfolgt. Einmal von einem Verkäufer, der sich darüber gewundert hatte, warum sie es nicht zu schätzen wusste, dass er ihr das im Laden verlorene Handy inklusive einem Strauß Blumen nachtrug. Ein anderer beging den Fehler, sich in der vollen Straßenbahn versehentlich auf ihren Schoß zu setzen. Der letzte von Paulines angeblichen Stalkern war ein Mann gewesen, bei dem selbst Amélie zuerst ins Grübeln gekommen war. Dieser war Pauline, die bis in den späten Abend zu arbeiten pflegte, sehr oft den kurzen Weg von der Firma bis zu ihrer Wohnung gefolgt. Letztendlich stellte sich jedoch heraus, dass dieser Mann keineswegs ein psychopatisches Interesse (oder überhaupt Interesse irgendeiner Art) an Pauline hegte, sondern der neue Leiter der Buchhaltung im fünften Stock war und zufälligerweise im gleichen Haus wohnte. Wen wunderte es, dass der arme Kerl nach einer hysterischen Konfrontation freiwillig umzog, nachdem man ihn nur knapp davon abbringen konnte, Pauline auf Ersatz der Kosten für den Umzug und den erlittenen Hörschaden zu verklagen.
»Mich verfolgt ein Mann«, verkündete Pauline.
»Was du nicht sagst«, knurrte Enzo.
»Eigentlich ein hübscher Mann«, fügte Pauline hinzu und Enzo verdrehte die Augen. Paulines Stalker waren alle hübsch.
»Ich schätze, er ist ein wenig kleiner als Enzo und hat schwarze Haare. Ein wenig overdressed gekleidet für meinen Geschmack. Er trägt Anzug, Weste und Krawatte, sogar einen Zylinder. Er ist mir bis hierher gefolgt! Ich bin so froh, dass du mir vorhin geschrieben hast, wo ihr hingeht.«
Geflissentlich wich Amélie dem finsteren Blick ihres Freundes aus, bevor ihr noch die Muffe ging.
»Keine Minute hätte ich es länger allein ausgehalten! Nach Hause wollte ich nicht!«, schnatterte Pauline unentwegt weiter und riss dem Kellner einen zweiten Whiskey aus der Hand, bevor dieser ihn auf die Tischdecke stellen konnte.
»Da wirst du dann aber hinmüssen«, stellte Enzo fest. Die Knöchel traten weiß an seiner Hand hervor, mit der er seine Gabel umklammerte.
»Kann ich nicht bei dir schlafen?«, wandte sich Pauline mit flehenden Rehaugen an Amélie, während Enzos Blick hingegen eine Warnung aussprach.
»Ja, kannst du«, erwiderte Amélie. »Es tut mir leid, Enzo, aber ich lasse meine Freundin nicht im Stich. Lass uns zusammen essen und den Rest des Abends vertagen wir auf morgen«, schlug sie vor und strich über Enzos Hand, die sich nicht im Mindesten von seinem Bierglas löste.
»Dann kann ich auch gleich gehen.« Enzo setzte das Glas an und trank aus, um sich von seinem Stuhl zu erheben. »Viel Spaß beim Frauenabend«, fügte er in einem Tonfall hinzu, der ihnen alles wünschte, nur keinen Spaß. Auf seinem Weg zwischen den anderen Tischen hindurch stieß er einen knienden Mann beiseite, sodass dieser seiner Verlobten den Ring nicht an den Finger steckte, sondern versehentlich in den Ausschnitt warf.
»Ich weiß nicht, was du an ihm findest«, stellte Pauline fest, die nach Patrice winkte, um sich einen Weißwein zu bestellen.
»Mit ihm ist es nicht langweilig«, gab Amélie zurück.
»Mit mir auch nicht«, erwiderte Pauline trocken.
»Aber du bist kein Mann!«
»Du willst mich doch jetzt nicht diskriminieren, oder? Ich hab sogar mehr Eier als fünf Männer zusammen. Nur eben im Eierstock«, sprach Pauline, bevor sie sich zu Patrice umdrehte und ihm mit einem strahlenden Lächeln Glas abnahm.
Dieser hatte sichtlich Mühe damit, seine Professionalität zu wahren. Er grinste breit und zwinkerte Pauline übertrieben schalkhaft zu. Na super. Amélie hatte einen bockenden Freund und Pauline lachte sich ein Date an.
»Eine Unverschämtheit ist das«, hörte Amélie eine Dame im Hintergrund laut flüstern. »Das man solche überhaupt hier reinlässt.«
»Verkneif es dir«, wandte sich Amélie an Pauline, die bereits den Mund öffnete. Denn diese tat es sicher nicht, um sich bei der empörten Dame zu entschuldigen.
Der Kellner brachte den zweiten Gang, was wohl der dezente Wink mit dem Zaunpfahl sein sollte, dass sie hier nicht mehr erwünscht waren.
»Also, was findest du an Enzo?«, kam Pauline auf ihre ursprüngliche Frage zurück.
»Er ist ein lieber Kerl«, gab Amélie lustlos zurück. Sie mochte Enzo wirklich, aber die große Liebe war es nicht. Weder bei ihr, noch bei ihm. Und Pauline, die es ebenfalls wusste, empfand es als ihre Pflicht, Amélie so oft wie möglich die Beziehungsprobleme unter die Nase zu reiben, bis Amélie den einzig richtigen Schritt tat: Die Trennung. Leider würde ihr dann nicht nur ein Mann im Leben fehlen, sondern auch eine Top-Story über Vampire. Mit Beweisen. Ja, sie war egoistisch, aber Enzo würde daran nicht zugrunde gehen.
»Er ist ein Idiot, überheblich und zu nichts zu gebrauchen. Am Anfang war er ganz süß, wenn auch für meinen Geschmack zu kriecherisch und anhänglich. Du hast jemand Besseren verdient. Bei Tinder kann man super neue Jungs kennenlernen«, dozierte Pauline.
»Tinder?«, fragte Amélie irritiert. Klang nach einer neumodischen App, mit der die Mütter ihre Kinder verkuppelten.
»Ja, Tinder.« Pauline kramte ihr Handy aus ihrer Handtasche und drückte emsig darauf herum. »Du lädst ein Foto von dir hoch, guckst dir die Kerle an, und wenn ihr euch gegenseitig gefallt, könnt ihr chatten.«
Aha … Fleischbeschau auf der Couch mit Chips, Cola und Schokolade und Popcorn. Während der Mann sich am Sack kratzend das nächste Flittchen aussuchte, quietschte die Frau gedanklich bei jedem scharfen Typen und malte sich aus, wie es wäre, diesem Kerl Kinder und regelmäßige Abendessen zu servieren.
»Nimm’s mir nicht übel, aber darauf hab ich keinen Bock.«
Pauline legte den Kopf schief und blinzelte sie durch die Strähnen ihres Ponys hinweg an. »Tja, Pech für dich Schätzchen. Ich habe dein Bild vor einer Woche hochgeladen und einen Typen für dich gefunden.«
Ihr Kiefer knirschte, als ihr tatsächlich die Kinnlade aus dem Gesicht fiel. »Du hast was?«
»Ich habe dir einen Typen besorgt«, wiederholte Pauline und stützte ihr Kinn auf der Hand ab. »Und er ist hübsch. Schau her.«
Amélie zuckte gerade rechtzeitig zurück, sonst hätte ihr Pauline das Telefon gegen das Nasenbein gedonnert. Auf dem Display sah ihr ein Mann entgegen, der (verdammt aber auch) wirklich ein hübscher Bursche war. Er sah aus wie eines dieser Models auf den hunderten Buchcovern, die sich lediglich in der Pose des Mannes und der Buchstabenanzahl des Titels unterschied. Aber wer brauchte schon ein Model?
Amélie schüttelte den Kopf. »Nein danke.«
»Oh, warum nicht?«, schmollte Pauline. »Er ist hübsch.«
»Dann geh du doch mit ihm aus! Ich habe einen Freund.«
»Enzo zählt nicht.«
»Natürlich zählt der!« Und da war auch noch ein gewisser Vampir. Verflucht.
»Und ich sage, er zählt nicht. Er ist nicht durch meinen TÜV gekommen. Er kann mich nicht leiden, und ich kann ihn nicht leiden. Und das schließt leider eine Hochzeit aus. Was mich zum nächsten Punkt bringt: Du willst Enzo überhaupt nicht heiraten. Obwohl du als Kind nur vom Heiraten gesprochen hast. Du hast öfter ›geheiratet‹ als Elisabeth Taylor«, erklärte Pauline gewichtig.
Seufzend ließ Amélie den Vortrag ihrer Freundin über sich ergehen und konnte nicht verhindern, dass sich gerade bei dem letzten Satz erneut das Bild von Jason vor ihr inneres Auge schob. Sie musste herausfinden, ob er und der Vampir aus ihrer Kindheit die gleiche Person war. Koste es, was es wolle.
»Und du bist ein Miststück, weil du ihn nicht ehrlich zu ihm bist und ihn abschießt«, beendete Pauline ihren Monolog. Gut, vielleicht musste Amélie vorher noch ihre Freundin umbringen, aber dann war Jason dran!
Er stieg aus dem Wagen und schloss ihn ab. Am Haus der Familie Denaux waren dermaßen viele Luftballons angebracht, dass man befürchten musste, es würde gleich abheben. War das wirklich die beste seiner Entscheidungen?
Ihn trieben berechnende Gründe auf eine so alberne Veranstaltung wie einen Kindergeburtstag. Natürlich. Was auch sonst sollte ihn dazu veranlassen, sich Gedanken darüber zu machen, ob sich Amélie über einen Malkasten freuen würde? Die Sympathie für ein Kind, das nicht sein eigenes war? Geradezu lächerlich.
Denaux im Auge zu behalten, konnte nicht schaden. Je näher der Vampir Denaux‘ Tochter blieb, umso schneller konnte er Amélie für die Dummheiten ihres Vaters büßen lassen. Es blieb nur zu hoffen, dass keiner dahinterkam, dass er Amélie niemals ein Haar krümmen würde. Wer wollte sich schon den Ruf von einer tyrannischen, aber süßen Fünfjährigen (pardon, sie war ja jetzt sechs) ruinieren lassen? Passte zwar zu seinem durchgeknallten Wesen, aber Amélie machte ihm hierbei eindeutig Konkurrenz. Er hatte noch nie ein Kind wie sie getroffen. Penetrant und doch zugleich zuckersüß.
Er hörte im Haus das Getrampel eines Kindes und einen Aufschrei.
»Jaaaaaa!«
Bitte, nicht schon wieder dieses Gebrüll. Sein Ohr fiepte immer noch vom letzten Mal.
»Oh, oh«, murmelte er leise.
Amélie rannte ihm in einem geblümten Kleid entgegen. Die dunkelblonden welligen Haare wehten wie eine Fahne hinter ihr her, ebenso der arme Teddy. Und offenbar zählte die Kleine darauf, dass ihr Besucher sie auffing. Sonst würde sie bei dem Tempo volle Kanne mit ihm zusammenstoßen.
Also ging er in die Hocke und halb auf die Knie (wie einfach es war, ihn zu einer solchen Geste zu bewegen), damit sich Amélie in seine Arme werfen konnte. Und das tat sie auch im vollen Tempo.
»Uff.«
Sie legte die Arme um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Er erlebte gerade ein Déjà-vu. Und kein schönes.
»Ich wusste, dass du kommst«, krähte Amélie.
»Dein Optimismus ist erschreckend.« Er war sich schließlich bis gestern selbst noch nicht sicher gewesen war, ob er kommen sollte.
Auch ihr Vater trat aus dem Haus, gefolgt von Amélies Mutter. Monsieur Denaux gab sich nicht die geringste Mühe, sein schadenfrohes Grinsen zu verbergen.
»Ich habe nicht daran geglaubt, dass du kommst«, outete er sich als Realist, während Amélie dem Blutsauger erneut einen hörbaren Schmatzer auf die Wange verpasste und offenbar beschlossen hatte, niemals wieder von ihm hinunterzusteigen.
»Aber komm doch ins Haus. Die Nachbarn mögen zwar die Sitcoms, die sich in unserem Garten abspielen, aber sie sind knausrig mit der Entlohnung«, fügte Denaux spöttisch hinzu und deutete einladend auf die offen stehende Vordertür seines Hauses.
Es blieb nur zu hoffen, dass nicht alle anwesenden Kinder einen Vampir für einen Kletterbaum hielten. Sonst würde er diese Familie letzten Endes doch auslöschen müssen. Aus Notwehr versteht sich.
»Dein Teddy fühlt sich vernachlässigt«, sagte er und erhoffte sich, damit Amélie abschütteln zu können. Das Plüschtier war heruntergefallen und lag einsam auf dem Boden. Vielleicht war es aber auch nur froh, ein paar Minuten Amélies Würgegriff zu entkommen.
»Nein! Guck, der freut sich auch, dass du da bist«, gab die Kleine altklug zurück, ohne ihren Gast loszulassen, und zeigte ihm den Teddy, der aus seiner Sicht eher gequält als fröhlich aussah.
So bückte er sich, um das Spielzeug an Amélie zurück zu geben. Leider kam kein Austausch zustande. Es wurde lediglich ein Gefangener mehr gemacht. Aber wer konnte von ihr genervt sein, wenn sie so lächelte?
»Amélie, wenn du dein Geschenk aufmachen willst, dann solltest du ihn loslassen.« Nun versuchte ihre Mutter die kleine Klette ihm zu bewegen, hatte jedoch die Rechnung ohne die Hartnäckigkeit ihrer Tochter gemacht, die sich an ihrem Platz sauwohl fühlte.
»Gar nicht!«, protestierte das Mädchen und gab erst unter dem strengen Blick ihrer Mutter nach.
»Amélie, er ist dein Gast und er möchte sicher auch etwas trinken und essen. Benimm dich jetzt. Er ist keine Hollywoodschaukel!« Es war kein Wunder, dass Madame Denaux den unerwarteten (und unerwünschten) Besuch mit Skepsis musterte. Sollte sie von ihrem Gatten wissen, wer dieser Besuch war, dann sah sie ihre Tochter nicht gern in den Armen eines solchen Mannes. Und wusste sie es nicht, so wunderte sie sich bestimmt, wo Amélie diesen Wildfremden aufgegabelt hatte.
Die zweite Variante wäre eine gute Chance, sich an weitere Jahre mit Amélie zu gewöhnen. Wenn Amélie in zehn bis fünfzehn Jahren noch genauso gut wusste, wen sie haben wollte, dann würde sie auch vor Entführungen nicht zurückschrecken.
»Du gehst doch nicht gleich wieder?«, fragte Amélie.
»Nein«, schwor er möglichst glaubhaft. Obwohl … Vielleicht sollte er doch lieber abhauen.
Amélie ließ sich wieder auf ihren eigenen Beinen abstellen, doch sie griff sofort nach seiner Hand, als traute sie dem Braten nicht. Die Kleine wusste, wie man Männer festsetzte.
***
Surrend schob sich das Garagentor nach oben. Jason hatte noch einen Auftrag offen. Den gestrigen Versuch hatte er ja gründlich vergeigt. Da ging man auf die Straße, um eine Frau zu entführen, und wurde selbst weggefangen. Es gab Tage, an denen lohnte sich das Aufstehen nicht. Dieser hier würde hoffentlich besser werden.
Peppi, ein weißes Fellbüschel mit braunen Ohren, sprang kläffend in den Wagen, als Jason ihm die Tür aufhielt und rollte sich zufrieden im Fußraum zusammen. Jason setzte sich hinter das Lenkrad und steuerte das Stadtviertel Marais an. Dort gab es eine Boutique an der anderen, nur hin und wieder drängte sich ein Café oder ein Restaurant dazwischen. Er wusste, dass Lucia Fabris, Ehefrau von Basìlio Fabris, einem leicht reizbaren sizilianischen Mafioso, dort liebend gern ihren Kleiderschrank um mehrere Etagen erweiterte. Dafür ließ sie meist den gesamten Laden schließen und die Schaufenster verhängen.
Einen sizilianischen Mafioso konnte man niemals besser treffen, als wenn man sich an seiner Familie vergriff. Die Familie war heilig, und dazu zählte auch die Ehefrau – unabhängig davon, ob man sie regelmäßig betrog oder nicht. Die Mutter seiner Kinder war wie Mutter Teresa. Ein schützenswertes Gut, gleichgültig wie unausstehlich sie war oder wie gern der Ehemann sie selbst umnieten wollte.
Lucias Mann hatte sich in Frankreich eindeutig zu viele Feinde geschaffen, und genau einer dieser wollte den Sizilianer zum Stillhalten erpressen. Nur solange bis ein Geschäft abgeschlossen war, welches ohne Fabris’ Einmischung auskommen sollte. Und da die Geschäftspartner ein Haufen feiger Hunde (entschuldige, Peppi) waren, wollte keiner von ihnen den Zorn von Basìlio Fabris auf sich ziehen. Das überließ man lieber Jason.
Der hatte eine Gefahrenzulage einkalkuliert, die allein ausreichte, um sein gutgelauntes Pfeifen zu erklären, das Peppi hin und wieder mit einem unmusikalischen Jaulen ergänzte.
Jason parkte seinen Smart zwischen den Luxuskarossen im Hof hinter dem Geschäft. »Lass dir nicht den Wagen klauen«, schärfte er seinem Hund ein und erhielt als Antwort ein Gähnen, das natürlich »Jawohl, Chef!« bedeutete. Dann stieg er aus, schloss die Autotür ab und Peppi bettete den Kopf auf den Pfoten, um ein Nickerchen zu halten. Was für ein Hundeleben.
Jason umrundete das Gebäude und überquerte die Straße, um im Schatten einer Häusernische verborgen das abendliche Treiben der Passanten und die Eingangstür des Ladens zu beobachten. Wer nicht berühmt genug war, um zu einer Modenschau geladen zu werden, brauchte nur hierherzufahren. Hier gab es immer Individuen, die glaubten, die neuesten modischen Kreationen würden sie hervorheben. Dabei fiel vor allem deren Hässlichkeit auf. Dazu gesellten sich noch Juden, die je nach Glaubensrichtung mitunter ebenfalls einen wunderlichen Kleidungsstil an den Tag legten.
Gerade schritt eine Frau in einem roten Kleid und einem transparenten Regenmantel vorbei. Der Himmel war zwar grau, aber ein Regenmantel schien ihm übertrieben. In dem Stoff des Kleides fehlten große Teile an Hüften, Bauch und Rücken. Manche nannten das Mode. Er vermutete eher, dass der Designer ein paar neue Topflappen benötigt und diese einfach aus diesem Kleid herausgeschnitten hatte. Dieser Frau folgte ein Mann mit Kippa und dahinter …
Jason traute seinen Augen nicht. Auf der anderen Straßenseite stand diese unsägliche Journalistin und sah auf ihre Armbanduhr. Sie wippte unruhig auf ihren Füßen und ließ ihren Blick über die Straße schweifen. Sie wartete also auf jemanden. Doch hoffentlich nicht auf ihn.
Blöder Mist. Er konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen. Wenn sie herausgefunden hatte, wo er sich heute Abend aufhielt, musste er sich ernsthaft darüber Gedanken machen, in den Ruhestand zu gehen. Seit wann war er so leicht aufzuspüren?
Sie sah sich noch einmal um und ging schließlich zu einem Café, um den Aushang zu studieren. Wahnsinnig unauffällig.
Womöglich war sie auch noch der Köder ihres Freundes. Hol’s der Henker, Jason hatte wahrlich andere Probleme, als sich auch noch um Vampirjäger zu kümmern. Aber wenn man schon genügend Feinde am Hintern hatte, dann setzten sich meistens noch ein paar dazu.
Seit zwei Jahrzehnten teilten sich sechs Männer und eine Frau die Stadt Paris. Der eine dealte lieber mit Drogen, der andere scheffelte sein Geld, indem er afrikanische Menschen ausbeutete. Eine friedliche Organisation. Bis vor ein paar Wochen. Nicht nur, dass plötzlich übereifrige Vampirjäger eine Schneise der Vernichtung durch Paris schlugen, plötzlich waren sich die sieben Paten spinnefeind.
Na gut, eigentlich waren sich die anderen spinnefeind. Jason hatte noch nie etwas von Machtspielchen gehalten. Solange ihm niemand in Sachen Wirtschaftskriminalität und Kunstdiebstähle ins Handwerk pfuschte, war er der beste Freund eines jeden. Und doch waren die Machtkämpfe, die sich urplötzlich auftaten, um Reviere und Wirkungsbereiche unter sich aufzuteilen, nicht mehr feierlich.
Zwar ging es noch gesitteter zu als in manchem Hollywoodstreifen, und die wenigsten wurden auf offener Straße erschossen, doch tauchten seit Wochen täglich neue Leichen auf. Informanten, Drogendealer, meist kleine Fische. Manchmal eben auch jemand, der ein wenig mehr zu sagen hatte. Leichen, die sogar nicht einmal der Polizei leidtaten; denn wenn sich Verbrecher gegenseitig erledigten, warum sollten sie eingreifen?
Entwicklungen, die Jason nicht gerade erfreuten. Er war zwar ein Vampir, aber er war nicht unfehlbar, und erst recht nicht wollte er auch nur einen einzigen seiner Mitarbeiter bei diesen blödsinnigen Machtkämpfen verlieren. Nur weil alle den Hals nicht voll genug bekamen.
Eine schwarze Limousine (er wusste wirklich nicht, warum niemand einen schnuckligen Smart bevorzugte) fuhr vor und lenkte seine Aufmerksamkeit von der wartenden Journalistin ab. Heraus stieg Lucia. Mit einer riesigen Sonnenbrille, die offensichtlich ihre empfindlichen Augen vor der grellen Beleuchtung der Straßenlaternen schützen sollte, überwand sie die Strecke von ganzen drei Metern Bürgersteig. Ihr folgten zwei Männer, die aufmerksam die Umgebung prüften und ihr die Tür zur Boutique aufhielten.
Jetzt musste er nur noch hinterher, ohne gleich diese verdammte Journalistin und ihren übereifrigen Freund am Hacken zu haben. Und das Glück war gnädig mit ihm. Die Reporterin redete heftig auf einen hochgewachsenen Mann ein und schüttelte immer wieder den Kopf. Ha, sie brauchte ihr volle Aufmerksamkeit.
Eilig hechtete Jason über die Straße in das Geschäft. Die Ladenglocke bimmelte, und Lucias Bodyguards erwachten ruckartig aus ihrer gelangweilten Starre. Jason wandte sich sichtlich überfordert und mit hängenden Schultern an den Verkäufer und erläuterte ihm sein Problem: Er suchte eine Handtasche für seine Freundin. Gott sei Dank tat er das nicht wirklich.
Er betrachtete über ein Dutzend Handtaschen und brauchte sein Entsetzen nicht einmal vorspielen. Diese Dinger stellten preislich sogar einen Kleinwagen in den Schatten stellten und sahen im Übrigen alle irgendwie gleich aus. Je länger er zweifelnd Handtaschen begutachteten, umso mehr entspannten sich die Aufpasser. Ruhten ihre Hände anfangs noch immer auf den Waffen unter dem Sakko, verschränkten sie die Arme vor der Brust und verfolgten grinsend Jasons Dilemma. Dass sein Opfer in der Umkleidekabine rumorte, interessierte scheinbar keinen mehr.
Jetzt war der ideale Zeitpunkt. Jason schoss auf die beiden Männer zu, packte sie am Hinterkopf und stieß ihre Stirnen zusammen, sodass sie stöhnend zu Boden sanken. Er könnte sie eine dieser überdimensionalen Handtaschen stecken, da passten locker fünf solcher Kerle hinein. Aber Jason stellte lieber ein paar der Handtaschen vor die bewusstlosen Männer, damit Lucia nicht den Braten bereits roch, bevor er verkokelte.
Im gleichen Moment klingelte es erneut. Niemand Geringeres als Amélie, gefolgt von ihrem Date, stolperte in den Laden und erstarrte. Gut möglich, dass er den gleichen dämlichen Gesichtsausdruck zur Schau trug. Sie konnte ihn auf der Straße unmöglich gesehen haben! Sie hatte auf diesen Kerl eingeredet. Was war sie? Auch eine hellsehende Hexe? Das durfte doch nicht wahr sein!
Ihr Date, dem er zu gern die Nase zertrümmern würde, stemmte die Hände in die Hüften. »Du kannst mich nicht einfach mit runter gelassener Hose stehen lassen! Seit Tagen belästigst du mich mit Nachrichten, wie spitz und geil du auf mich bist. Verbietest mir sogar, mir den Frust von der Seele zu wedeln, bis wir uns endlich sehen. Und jetzt stellst du dich wie eine frigide jungfräuliche Gouvernante an, die übers Händchen halten noch nicht hinausgekommen ist.«
»Du hast ihm verboten, es sich selbst zu machen?«, fragte Jason. So ein Idiot, wer hielt sich denn an so etwas?
Amélie ballte die Hände zu Fäusten und knirschte so laut mit den Zähnen, dass sie wohl bald einen Zahnarzt brauchte. »Ich habe es ihm nicht verboten.«
»Hast du wohl«, warf der Kerl ein.
»Habe ich nicht«, fauchte Amélie. »Das war ich nicht. Das war …. Ach vergiss es doch. Mach doch, was du willst. Von mir aus gleich im Geschäft.«
Die Einladung verstand der Narr eindeutig falsch. Er fuhr sich erst durch die dunklen Haare und strich Amélie über die Wange. »Sag doch gleich, dass es das ist, was du willst, Babe.«
»W-was?«, stotterte Amélie verdutzt, während sich der Kerl gegen sie drängte.
Also wirklich, es war unhöflich, einen Gesprächspartner auszuschließen. Dermaßen nötig konnte man es gar nicht haben. Jason tippte dem notgeilen Drängler freundlich auf die Schulter. Doch dieser legte seine Arme lieber um Amélie und ignorierte ihre Gegenwehr. Hätte er es nur besser gelassen.
Jason packte ihn am Oberarm, riss ihn herum und ja, es war die Erfüllung pur, als seine untervögelte Nase unter Jasons Faust brach. Der nächste Hieb landete auf seinem Kinn, und jetzt hörte der Waschlappen wenigstens auf zu jammern.
»Ich wollte das gerade selbst lösen«, verkündete Amélie und schob sich die Haare aus dem Gesicht, doch ihre Stimme klang zittrig.
»Natürlich«, erwiderte Jason. Man nehme einer Frau niemals ihre Illusionen. »Was zum Teufel machst du hier?«
»Ich? Was machst du hier?« Sie ging an ihm vorbei und erstarrte, als sie die beiden bewusstlosen Männer sah. »Okay, andere Frage.« Amélie zeigte hinter ihn. »Was ist mit dem da?«
Weiß wie die Wand stand der Verkäufer hinter seinem Tresen. Seine Finger krampften sich um den Henkel einer Damenhandtasche. »Ich … ich hab nichts gesehen. W-wirklich nicht.«
»Das ist sehr löblich«, erwiderte Jason und umrundete den Tresen. Der Mann roch ausgezeichnet, und Jason hatte Hunger.
Basílio würde sich ohnehin für die Entführung seiner Frau an dem Verkäufer rächen. Er würde ihm nicht nur die Finger, sondern ganz andere Körperteile abhacken. Ganz einfach, weil immer jemand dran glauben musste. Als die Mahlzeit eines Vampirs würde ihn der Tod zwar schmerzhaft, aber zumindest schnell ereilen.
Jason streckte gerade die Hand nach dem zitternden Verkäufer aus, da trat ihn das verfluchte Weibsstück doch tatsächlich in die Kniekehle.
»Du wirst ihn nicht beißen!«
Ach, jetzt wurde sie wehrhaft. Jason drehte sich herum. Er wusste, dass der Hunger, der Appetit auf diesen Mann und die leichte Wut, die sie langsam aber beharrlich in ihm schürte, seine Augen scharlachrot färbten. Nur juckte das Amélie herzlich wenig. Sie starrte ihn unbeirrt an.
»Du. Wirst. Ihn. Nicht. Beißen.« Mit jedem Wort stach sie ihren Zeigefinger in seine Brust.
»Doch.«
Sie presste die Lippen zusammen. »Nein!«
»Was willst du dagegen machen?«
Ha, die Frage brachte sie ins Schleudern. Ihr Blick huschte unruhig über die Ladeneinrichtung. Doch bevor sie ihm noch die Kasse um die Ohren schlug, trat Lucia aus dem Nebenraum.
Das Abendkleid umschmeichelte den Knackpopo dieser sizilianischen Schönheit. Basílio besaß eindeutig Geschmack in der Auswahl seiner Frauen. Wie zufällig strich sie mit der Hand über ihre Taille, und ihr Blick glitt über die leblosen Männer.
Entsetzen sah anders aus. Sicherlich war sie an der Seite ihres Mannes einiges gewohnt. Sie bewies auch Nervenstärke, als Jason dem Verkäufer die Luft abdrückte, bis dieser bewusstlos zusammensackte. Sie zuckte nicht. Sie begutachtete lediglich die Lage.
»Sie kenne ich«, sagte Lucia und deutete auf Jason. »Aber wer ist sie?«
»Mein Azubi. Sie hat heute ihren ersten Tag.«
Amélie verdrehte die Augen. »Das hättest du wohl gern. Was soll ich bei dir schon lernen?«
»Wie man sich gegen aufdringliche Männer verteidigt.«
»Pah!« Amélie schnaubte genervt. »Ich habe noch überlegt, wo ich hinziele. Aber du warst ja zu voreilig. Was ist? Bist du eifersüchtig?«
Eifersüchtig? Er? Wovon träumte sie nachts?
»Sie ist noch schlecht erzogen«, wandte sich Jason an Lucia.
Diese neigte den Kopf und strich über den dünnen Träger ihres Kleides. »Und nun wollen Sie mich töten?«
»Sie entführen«, erwiderte Jason lächelnd. Schließlich war eine geplante Entführung kein Grund, unfreundlich zu werden. Erst recht nicht, wenn sie die Hand auf ihr Dekolleté legte, um seine Aufmerksamkeit genau darauf zu lenken.
Lucia sah kurz zu Amélie, die immer noch ihre Hände zusammenpresste, als würde sie sich vorstellen, wie sie jemand erwürgte, um sich dann wieder Jason zuzuwenden.
Langsam ging Lucia auf ihn zu. Ihr Blick wanderte prüfend über ihn. Einen Gefallen, den er nicht minder gründlich erwiderte. Ja, sie war eine schöne Frau. Erst recht in diesem Kleid. Erst recht in diesen Schuhen. Und erst recht mit diesen wiegenden Hüften. »Und warum, wenn ich fragen darf?«, hauchte sie.
»Weil ich dafür bezahlt werde.«
»Nun ja, ich nehme an, es gibt Schlimmeres. Welche Frau träumt nicht davon, von Ihnen entführt zu werden, Jason Harris? Ich habe gehört, dass von Ihnen entführt zu werden, weniger schrecklich als vielmehr befriedigend sein soll«, folgten ihre Worte gepaart mit einem koketten Augenaufschlag.
Jasons Grinsen wurde merklich breiter und amüsierter.
»Darf ich mich noch umziehen?«, fragte Lucia, worauf Jasons ihre bezaubernde Figur musterte.
»Ich finde, das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet.«
Nackt würde sie noch besser aussehen.
»Pah«, gab Amélie einen unqualifizierten Ton ab. Nur, dass sich niemand von ihnen darum scherte.
Lucia war eine Frau, zu der man(n) ungern Nein sagte, wenn es um Verführung statt Entführung ging. Sie war auch gerissen, stolz und gab sich nicht ohne Weiteres geschlagen.
Lediglich der Ausdruck ihrer braunen Augen verriet sie. Kurz flammte Verschlagenheit in ihrem Blick auf, und einen Moment später fing Jason ihre zarte Hand ein, die eine Klinge hielt, die genau auf sein Herz zielte.
»Wie unartig«, spottete Jason.
Sein Griff wurde fester, und er hörte Lucias Handknochen knacken, als sie leise stöhnte und das Messer fallen ließ. Eine schmale rote Linie zog sich über ihre Finger, da wo sich die scharfe Schneide in ihre Haut eingegraben hatte. Ihr das Messer abzunehmen, diente allein ihrem eigenen Schutz. Am Ende brachte sie sich noch selbst um. Das wäre ausgesprochen bedauerlich.
»Hast du noch mehr solche Überraschungen?«, fragte Jason.
Eisiges Schweigen war der Lohn auf seine Frage.
»Gut, dann sehe ich eben selbst nach.«
Er zog Lucia an sich, und seine Hand glitt recht unzüchtig über ihre Kurven. Empörte Beschimpfungen begleiteten sein Tun, die zunehmend unflätiger wurden, als er den Stoff anhob und anschließend über ihre Schenkel strich.
»Dachte ich es mir doch.« Jason nahm ihr selbstzufrieden den winzigen Revolver ab, der jedoch trotz seiner Winzigkeit einen ordentlichen Bums an den Tag legen könnte.
Amélie grinste schadenfroh. Doch als sie merkte, dass er sie beobachtete, zog sie sofort die Mundwinkel nach unten.
»Sag bloß, du hast an meinem Verhalten nichts zu meckern«, stellte Jason erstaunt fest.
Gleichgültig zuckte Amélie die Schultern. »Ich setze auf das Karma.«
Jason steckte die Pistole weg und entließ Lucia aus seinem schraubstockartigen Griff. Diese wandte sich blitzschnell um und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige. Gerade holte sie mit der anderen Hand auch noch aus, da wich Jason ihr aus.
»Nicht gierig werden«, ermahnte er sie.
»Ich sagte doch: Karma!«, warf Amélie spöttisch ein.
Jason packte Lucia am Arm und zog sie hinter sich her.
»Ich will mitkommen«, sagte Amélie plötzlich.
Abrupt blieb er stehen und Lucia taumelte gegen ihn.
»Du willst was?«
»Mitkommen«
»Du willst auch entführt werden?«
»Was? Natürlich nicht. Auch wenn es für eine Frau Schlimmeres gibt, als von Jason Harris entführt zu werden. Ich habe gehört, dass von Ihnen entführt zu werden, weniger schrecklich als vielmehr befriedigend sein soll«, äffte Amélie Lucia nach. »Was soll das überhaupt heißen? Vögelst du jede Frau, damit sie nicht davonläuft? Oder kriegst du nur bei denen einen Stich, die nicht weglaufen können?«
Okay, das war schon ein wenig unverschämt.
»Jetzt bist du eifersüchtig.«
»Ich? Niemals? Ich will dir eine Frage stellen. Und ich will eine Antwort. Und wenn ich die Antwort habe, siehst du mich nie wieder.«
»Es ist unfair, etwas zu versprechen, was du ohnehin nicht halten willst.«
»Oh, ich werde es halten. Versuch’s doch. Oder willst du mich gar nicht loswerden? Soll ich auch so auf dich zugehen?« Sie strich sich übertrieben über die Taille, dann über ihren Ausschnitt und leckte sich die Lippen. Das war nicht antörnend. Das war gruslig.
»Lass das!«
»Lass das!«, äffte sie ihn nach.
»Hör auf damit. Du klingst wie ein Papagei!«
»Leck mich!«
»Wie ein unartiger Papagei.«
»Und du wie ein unbefriedigter. Lange keine mehr entführt, was?«
Es war erstaunlich. Ihm fehlten die Worte. Zum ersten Mal in seinem Leben fiel ihm kein dümmerer Kommentar ein. Das Niveau war dermaßen gesunken, dass er Gefahr lief, arbeitslos zu werden.
»Du fährst nicht mit«, donnerte Jason. Himmel noch eins. Wie sollte man auf die Art jemanden anständig entführen? Zu allem Überfluss trat ihm Lucia auch noch auf den Zeh. Aber wenigstens zuckte sie respektvoll zusammen, als er nicht nur vor Wut zu schnauben begann, sondern seine Augen wieder einmal rot glühten.
»Was bist du?«, fragte sie entsetzt.
Doch bevor er etwas sagen konnte, beantwortete Amélie die Frage. »Jemand, der nicht damit umgehen kann, wenn man ihm widerspricht.«
»Ich kann sehr wohl damit umgehen.«
»Kannst du nicht.«
»Wann hast du vergessen, erwachsen zu werden?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen!«, fauchte Amélie. »Womit wir beim Thema wären: Ich will dir Fragen stellen. Und entweder du nimmst mich mit, oder ich rufe die Polizei!«
»Ich habe keine Lust, dermaßen sinnlose Fragen zu beantworten. ›Wie ist es, so viele Menschen getötet zu haben?‹ Kannst du dir die Antwort nicht selbst ausrechnen? Manchmal macht es Spaß, vor allem wenn man einen arroganten Idioten vor sich hat, und manchmal ist es eben, als würde man sich ein Stück Seele herausreißen, und es verfolgt einen jahrelang bis in die Träume.«
Halt, Moment mal, hatte er das wirklich gesagt? Amélie starrte ihn verblüfft an und hielt zur Abwechslung endlich mal den Mund. Sehr gut. Jason zog Lucia mit sich. Schnell weg, bevor die Journalistin wieder aus ihrer Starre erwachte.
Ohne auf Lucias heftiges Sträuben einzugehen, schaffte Jason sie nach draußen. Als sie den Eindruck machte, schreien zu wollen, legte er die Hand auf ihren Mund und zerrte sie zum Hinterhof. Er schob sie in den Wagen und schlug die Tür hinter ihr zu. Kaum wandte er sich um, um zur Fahrerseite zu gehen, versuchte das verfluchte Weib wieder auszusteigen.
»Du fährst gleich im Kofferraum mit«, drohte er ihr. Misstrauisch drehte er sich noch einmal um, doch welch Überraschung, sie blieb drin. Tja, dafür kam der Vampir nicht mehr in seinen Wagen, denn sie hatte die Verriegelung betätigt. Sobald er mit seinem Schlüssel den Wagen entsperrte, drückte sie erneut den Knopf für die Zentralverriegelung.
Jason strich sich übers Gesicht, um sein Grinsen zu verstecken. Frauen … Was wäre die Welt nur ohne sie? Es gäbe nur Bier, Fußball, keinen Zoff. Jeder würde an seinem Computer hängen oder den Wagen waschen. Aber das wäre viel zu langweilig. Jason riss die Tür auf und setzte sich in den Wagen.
Sein Hintern war noch nicht einmal auf dem Polster des Fahrersitzes gelandet, da schoss seine Hand vor, um Lucia zurückzureißen, die wieder aussteigen wollte. Dass diese Hand um ihren Hals lag, schuf jedoch Eindruck.
»Ich habe kein Problem, dich zu töten. Also übertreib nicht«, erklärte ihr Jason mit breitem Grinsen. Zugegeben, nicht jeder verstand Drohungen, wenn der Drohende dabei aussah, als würde er sich innerlich scheckig lachen. Jedoch konnte man auch lachend töten.
»Dann tu’s doch«, zischte ihm die Wildkatze entgegen, während sie ausholte, um ihre Nägel durch sein Gesicht zu ziehen. Erfolglos im Übrigen.
Jason drückte zu. Lucias Augen weiteten sich entsetzt, während sie sein Handgelenk umklammerte. Immer kraftloser versuchte sie sich aus seinem Griff zu reißen. Erst als sie Gefahr lief, das Bewusstsein zu verlieren, wahlweise ihr Leben, ließ Jason sie los. Keuchend rang sie um Luft und hielt sich die schmerzende Kehle, die spätestens morgen einige blaue Flecken aufweisen würde. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, startete Jason den Wagen.
Sein Smart rollte gerade ein wenig nach vorn, da stellte sich ihm Amélie in den Weg. Kreuzdonnerwetter, was sollte das schon wieder werden? Sie umrundete seinen Wagen und klopfte gegen das Seitenfenster. „Mach die Tür auf!“
In einem Anflug geistiger Umnachtung (eine andere Erklärung gab es nicht) drückte er den Knopf, der Zentralverriegelung löste. Amélie riss die Tür auf und warf sich hinter ihm auf die Rückbank.
Natürlich ließ es sein Hund nicht auf sich sitzen. Peppi knurrte, fletschte die Zähne und verstummte urplötzlich, als Amélie die Finger an seinen Kopf legte und ihn zu kraulen begann. Die Wachhunde von heute waren auch nicht mehr das, was sie mal waren.
»Steig aus!«
»Nein.«
Gut, dann kam sie eben mit. Aber nur weil er das so beschloss. Wenn sie so wahnsinnig war, mit einem Vampir und einer entführten Frau in eine abgeschiedene Gegend zu fahren, dann bitte schön.
»Dann halt aber die Klappe.«
»Wir wissen beide, dass ich dir den Gefallen nicht tun werde«, erwiderte Amélie zuckersüß.
»Schnall dich an«, forderte er Lucia auf.
Amélie wurde hart in ihren Sitz gedrückt, als Jason abrupt Gas gab und der Wagen aus dem Hinterhofschoss und in den spärlichen Verkehr rutschte. Er sah im Rückspiegel, wie sie sich an den Sitz klammerte und Peppi schützend im Schoß hielt. Der Hund kläffte begeistert. Wann immer Amélie versuchte, etwas zu sagen, trat Jason noch fester aufs Gas. Lucia schrumpfte in ihrem Sitz und klammerte sich an den Haltegriff der Tür.
Um diese Zeit waren so wenige unterwegs, dass er ohne Rücksicht auf Verluste mit quietschenden Reifen um die Ecken pesen konnte. Jason fuhr bei Rot über eine Kreuzung, was die anderen Verkehrsteilnehmer natürlich nicht so nett fanden. Aus diesem Grund wichen auch manche zu spät aus und nötigten den Vampir zu dem einen oder anderen Schlenker. Polizei blieb seltsamerweise aus. Eine Verfolgungsjagd wäre doch was Nettes gewesen. Zu schade, dass sie auf das Vergnügen verzichten mussten, denn die Adresse war recht schnell gefunden.
In neuer Rekordgeschwindigkeit erreichten sie das Haus, das Jason eigens für Lucia hergerichtet hatte. Weit entfernt von Paris würde man sie, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht schreien hören.
Der Kies knirschte unter den Rädern als er abrupt vor dem Haus stoppte. Amélie warf sich gegen die Tür und rollte kopfüber aus dem Wagen.
»Ist mir schlecht«, stöhnte sie und stützte sich an seinem Auto ab, um wieder auf die Beine zu kommen. Lucia stieg so brav und kleinlaut aus, dass man sich schon Sorgen machen musste. Sie hatte doch kein Trauma?
»Glaub ja nicht, dass du mir so davonkommst«, stöhnte Amélie. Peppi rieb sich auffordernd an ihrem Bein, ging aber lieber auf Abstand, als Amélie zu würgen begann.
Jason führte Lucia ins Haus, bevor Amélie tatsächlich noch ihr Abendessen vor ihnen ausbreitete. Grund zur Beschwerde gab es für Lucia wenig. Jeder andere Entführer hätte sie in ein ungemütliches Kellerloch gesteckt und nach ihrem Widerstand auch noch so verschnürt, dass sie keinen Finger mehr rühren konnte. Stattdessen durfte sie sich die nächsten Tage mehr oder weniger freiwillig in einem geräumigen Zimmer aufhalten, das nicht nur über ein eigenes Badezimmer verfügte, sondern auch über die grundlegenden Hygieneartikel. Es gab größere Übel, als von Jason Harris entführt zu werden. Sofern man davon absah, ihn zu provozieren – wie die roten Male an ihrem Hals bewiesen.
Lautstark polterte auch Amélie ins Haus. Er überließ es Lucia, sich in dem Raum umzusehen oder nach einer Waffe zu suchen, die sie ihm hinterrücks über den Schädel ziehen könnte, und wanderte ins Wohnzimmer.
Zitternd und mit bebendem Brustkorb baute sich Amélie vor ihm auf. »Du …« Heftig schnappte sie nach Luft.
Ein Klingeln seines Telefons weckte Jasons Aufmerksamkeit. Während Amélie sich kraftlos auf das Sofa fallen ließ, nahm Jason den Anruf an.
»Hier spricht der automatische Kühlschrank von Jason Harris. Im Moment ist er nicht zu erreichen. Eine hübsche Amerikanerin übt gerade an ihm französisch und danach will er erst eine Zigarre genießen. Versuchen Sie es bitte später noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht. Nicht wundern, der Pfeifton kommt vom Wasserkessel«, sprach Jason monoton. Für einen wunderbaren Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung.
»Das ist recht unwahrscheinlich«, hörte Jason eine männliche Stimme sprechen. »Denn das hübsche Ding ist gerade hier und übt an mir. «
Jason konnte sich des Lachens nicht erwehren. Ebenso wenig wie sein Gesprächspartner. Héctor Berthier verfügte über einen Humor, der in mehr als einer Hinsicht mit dem von Jason kompatibel war. Da nützte auch nichts, dass sich Amélie mit dem Finger an die Stirn tippte.
»Du hast schon viel zu lange nichts mehr von dir hören lassen, alter Junge«, sagte Héctor. »Ich brauche unbedingt deine Hilfe.«
»Soll ich wieder mit einer deiner anhänglichen Freundinnen ausgehen, damit die dich reichen Kerl für einen Hallodri wie mich verlassen?«
»Bild dir nichts drauf an. Hättest du nicht mindestens genauso viel Geld wie ich, würde dir auch dein gutes Aussehen nichts nutzen.«
Auf Frauen, wie Hectór sie sich aussuchte, war diese Behauptung durchaus zutreffend. Die wenigstens langbeinigen Schönheiten gingen mit Hectór aufgrund seines attraktiven übergewichtigen Aussehens aus und ignorierten gleichzeitig den beachtlichen Altersunterschied von mindestens dreißig Jahren. Seine Stellung als Inhaber einer internationalen Modekette ließ seine körperlichen Makel in den Hintergrund treten. Denn bei Hectór bekam man nicht nur Geld, die Chance auf ein Foto in der Presse, sondern auch im besten Falle einen Modelvertrag oder zumindest einen Haufen Klamotten.
»Ich brauche deine Hilfe bezüglich meiner Tochter«, sprach dieser weiter. »Und nein, du sollst sie nicht verführen! Obwohl, im schlimmsten Falle wäre ich nicht einmal dieser Idee abgeneigt.«
»Deine Tochter ist gerade mal siebzehn Jahre alt. Mir kann man viel ankreiden, aber nicht, dass ich mich an Teenagern vergreife«, erwiderte Jason.
»Zu schade, dass man das von anderen nicht behaupten kann«, brummte Hectór. »Meine Sophia hat sich in den Kopf gesetzt, das Fest morgen Abend zu nutzen, um mit ihrem Freund durchzubrennen.«
»Hectór …« Jason seufzte tief. »Es gehört nicht zu meinem üblichen Aufgabenspektrum, entflohene Pubertierende einzufangen. Schick sie auf Urlaub in der Schweiz, dann verliert sich diese Teenagerliebe schnell wieder.«
»Glaub nicht, ich wäre nicht bereits auf diese Idee gekommen. Aber ich kenne meine Tochter und ihr Temperament. Sie wird einen Weg finden.«
»Dann lass sie doch weglaufen. Das Mädchen kommt von selbst wieder.« Jason stieß gelangweilt die Luft aus. Teenager waren ein Thema für sich. Allerdings kein spannendes. Da interessierte ihn Amélie gerade mehr. Diese streckte sich auf dem Sofa und kraulte Peppi so ausführlich, dass er neidisch wurde.
»Da kennst du meine Tochter schlecht. Jason, ich flehe dich an. Ein wenig Schrecken wird ihr guttun. Und wer kann das besser als du?«
»Ich weiß nicht, ob ich wegen diesem Kommentar beleidigt sein soll.« Jason lachte. »Aber gut. Ich werde mich bemühen, ihr Durchbrennen zu verhindern und sie dabei zu Tode zu erschrecken.« Eine Erziehungsmethode auf die er anscheinend bei Lucia verzichten konnte. Anstatt sich mit der nächsten Dummheit tiefer in seine Ungnade zu stürzen, sammelte die sizilianische Schönheit Pluspunkte, indem sie um die Bar herumschlich, um schließlich Amélie und Jason ein mit Scotch gefülltes Glas zu reichen.
»Dann bis morgen«, gab Hector erfreut zurück und legte auf.
Jason steckte das Telefon in die Hosentasche und gönnte sich einen Schluck. Noch immer sagte Lucia kein Wort und wich sogar seinem Blick aus. Ihre Schweigsamkeit beruhte mit Sicherheit nicht auf Schüchternheit. In der Hinsicht machte er sich besser keine Illusionen. Frauen hielten nur den Mund, wenn man ihnen vorher empfindlich den Kehlkopf quetschte. Aber das hielt sie offenbar nicht von Dummheiten ab. Sie hatte seinen Scotch versaut. Das sonst so edle Getränk mit dem vollmundigen Aroma schmeckte schlichtweg bitter.
Eisenkraut konnte er aber schon einmal ausschließen. Hätte sie ihm seinen Drink damit versetzt, könnte er schon nicht mehr stehen. Was auch immer sie ihm gegeben hatte, es wirkte nicht. Aber hey, er war ein Gentleman und kein Spielverderber. Lucia durfte gern ihr letztes Aufbäumen haben. Spielen konnte er auch …
Jason setzte sich zu Amélie auf das Sofa, die ebenfalls von ihrem Scotch trank und Gesicht verzog. Aber offenbar hielt sie die Bitterkeit für normal.
Noch immer grün um die Nase kraulte sie Peppi. Sein Fell stand in alle Richtungen ab. Jason spürte wie sich Amélie neben ihm entspannte.
»Ich muss dir noch Fragen stellen«, murmelte sie.
»Später«, versprach er und ließ zu, dass sie ihren Kopf auf seine Schulter legte. Er hörte wie ihr Herzschlag gleichmäßiger wurde. Den Kopf zurückgelegt sah er zu, wie sich Lucia ein Buch aus dem Regal suchte und zu lesen begann. Er schloss die Augen und lehnte seinen Kopf gegen den von Amélie. Wohlige Wärme ging von ihr aus. Ruhig hob und senkte sich sein Brustkorb und ein wenig später ließ er seine Augen ein wenig unter den geschlossenen Lidern zucken. Es war verführerisch, wegzunicken. Er fühlte sich zunehmend schwerer. Der zarte Duft von Amélies Parfum stieg ihm in die Nase. Ihre Nähe lullte ihn ein und erst ein leises Rascheln zog ihn im letzten Moment aus dem Dämmer zurück in die Realität.
Er sollte sich abgewöhnen, zu jeder sich bietenden Gelegenheit ein Nickerchen einzulegen. Am Ende liefen einem noch die Frauen erfolgreich davon.
Die Augen noch immer geschlossen, konzentrierte er sich auf seine anderen Sinne, um nicht erneut einzuschlafen.
Er roch Lucia als sie sich über ihn beugte. Dass sie ihn zwickte, sprach für ihre Gründlichkeit. Da er nicht reagierte, durchwühlte sie mit flinken Fingern seine Taschen nach dem Wagenschlüssel. Tja, zu schade, er saß drauf. Aber das wusste sie nicht. Lucia nahm wohl an, er hätte den Schlüssel im Auto stecken lassen, denn sie lief aus dem Haus.
Jason ließ Lucia ein wenig Vorsprung, bevor er sich erhob und die Tür öffnete. Sie war nicht sonderlich begabt darin, sich leise wegzuschleichen. Das Getöse würde die Nachbarschaft zutiefst empören, wenn es denn eine gäbe.
Sein Hund trappelte ihm emsig hinterher.
»Leise«, ermahnte ihn Jason und folgte ihr auf Zehenspitzen. Nur eine Sekunde brauchte er, um hinter Lucia aufzutauchen. »Was glaubst du, wie weit du kommst?«
Mit dieser Frage erschreckte er Lucia zu Tode. Sie schrie auf und stolperte vor ihm zurück. Vielleicht war Lucia doch nicht so klug, wie er gedacht hatte. Anstatt mit Vernunft reagierte sie mit Weglaufen. Peppi fand das natürlich genial. Begeistert jagte die kleine Töle Lucia hinterher und kläffte unentwegt. Seine Beinchen wirbelten in der Luft und versuchte mit der übermenschlichen Geschwindigkeit des Vampirs mitzuhalten, der zwei Meter vor Lucia wie aus dem Nichts auftauchte. Sie bremste so abrupt in ihrem Lauf, dass sie stolperte und zu Boden stürzte.
»Du bist nicht normal«, keuchte sie.
»Das sagen viele.« Die meisten hielten ihn verrückt.
»Nein!«
Oh, sie hielt ihn nicht für verrückt. Das war wiederum eine nette Abwechslung.
»Kein Mensch kann so schnell laufen!«
Ein Hund im Übrigen auch nicht. Peppi legte sich schwer atmend auf den Boden, vergaß aber nicht, erfreut mit dem Schwanz zu wedeln. Jason packte Lucia und warf sie über die Schulter. Fluchend trommelte sie mit den Fäusten auf seinen Rücken. Wie angenehm, fast schon eine Massage. Ein Grund mehr, nicht eilig zum Haus zurückzugehen, sondern das Schlendern unter dem Sternenhimmel zu genießen.
In ihrem Zimmer angekommen ließ er sie auf ihr Bett fallen. Die Verblüffung in ihrem Gesicht wandelte sich in Ablehnung. Was denn? Fand sie ihn doch nicht so anziehend?
Grob drehte er sie auf den Bauch und drückte sie auf die Matratze, während seine Hand suchend unter ihr Kleid glitt. Sollte Lucia ruhig seine Vorliebe für Ziegen in blumigen Worten beschreiben, schon bald ertastete er ihren Slip. Ein kräftiger Ruck ließ den dünnen Stoff reißen, und Lucia begann über sein Verhältnis zu seiner Mutter zu diskutieren.
»Stell dich nicht so an, ich brauche lediglich ein Geschenk für deinen Mann«, erklärte Jason und ließ Lucia los.
»Meinen Slip?«, fragte die entsetzt.
»Ich will ihn doch an deine Vorzüge erinnern, nicht an dein Genörgel. Sonst sagt er noch, ich solle dich behalten.«
Er steckte die Beute in seine Hosentasche, und nachdem er hinausgegangen war, schloss er vorsorglich die Tür ab. Sie brauchte nicht denken, dass sie das Zimmer die nächsten Tage wieder verlassen könnte. Das Privileg hatte sie verspielt.
Er kehrte zu Amélie zurück. Die Haare verdeckten ihr Gesicht und bewegten sich leicht bei jedem Atemzug. Mit Betäubungsmittel in Lucias Slip hatte er natürlich nicht gerechnet. Aber vielleicht sollte er ihr dankbar sein. Im wachen Zustand würde Amélie Fragen stellen. Fragen, die er nicht beantworten wollte. Und womöglich würde sie damit etwas in ihm berühren, was er sich nicht leisten konnte.
Jason wartete bis sein Mitarbeiter eintraf, der die nächsten Tage Lucia bewachen würde. Dann hob er Amélie hoch, trug sie in seinen Wagen und fuhr wesentlich gesitteterer den Weg zurück in die Stadt. Amélie schlummerte auf dem Beifahrersitz, während Peppi ihre Füße wärmte.
Er fuhr zu der Adresse ihrer besten Freundin, hob sie aus dem Wagen und klingelte. Wo sollte er Amélie sonst abliefern? Ihr Freund würde sich weniger um sie als darum kümmern, ihn zu töten. Sie allein in ihrer Wohnung liegen zu lassen, widerstrebte ihm zutiefst. Also blieb nur Pauline. Dass er von ihr wusste und ihre Adresse kannte, verstand Amélie im besten Fall als Drohung. Man sollte sich mit niemanden anlegen, der innerhalb kürzester Zeit herausfand, wo ihre Freundin wohnte. Aber warum machte er sich Hoffnungen? Es würde sie keineswegs davon abhalten, ihm nachzulaufen.
Jason vernahm Schritte im Inneren der Wohnung, und schließlich öffnete die Pauline die Tür einen Spalt breit. Ein grauer Pullover hing wie ein Sack an ihr herunter. Die braunen Haare bildeten eine wilde Mähne, die ihr gut stand. Amélies Freundin war eine hübsche, junge Frau. Pauline fröstelte als die Kälte des Treppenhauses ihre nackten Füße erreichte. Sie warf einen Blick auf ihn und Amélie und riss die Tür vollständig auf. »Was ist passiert?«
»Sie hat zu viel getrunken«, behauptete Jason.
Ihre Freundin beugte sich über Amélie und sog die Luft ein. »Sie riecht kaum nach Alkohol.«
»Sie verträgt offenbar nicht viel«, erwiderte Jason, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich bin ihr in der Bar begegnet. Ihr Blind Date lief nicht sonderlich gut, danach hat sie sich volllaufen lassen.«
Die Augen der Freundin wurden immer größer und blinzelte sie verwirrt. »Okay …«, sagte sie gedehnt, und leichte Röte schoss ihr in die Wangen. Sie betrachtete Jason genauer und lächelte. »Na ja, sie hatte jedenfalls einen guten Griff beim Trösten. Können Sie sie im Bett ablegen?« Sie trat beiseite und wies ihm den Weg zu ihrem Schlafzimmer.
Jason legte Amélie auf dem Bett ab und strich ihr sanft über die Wange. Warum eigentlich? Sie würde in ein paar Stunden wieder aufwachen. Im schlimmsten Falle würde ihr übel. Aber nichts, was eine Kopfschmerztablette nicht wieder richten konnte. Und hier war sie in guten Händen. Niemand, dem sie misstrauen musste. Ihre Freundin würde gewiss gut auf sie aufpassen.
Diese deckte Amélie sorgfältig zu. »Hey, hat Sie Ihre Nummer? Sie wissen schon. Falls Sie sie anrufen will?«
»Nein«, erwiderte Jason und wandte sich zum Gehen. Doch an der Tür drehte er sich noch einmal kurz um. »Aber ich bezweifle, dass es sie davon abhalten wird, mich trotzdem zu finden.«
Cover: T. K. Alice
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2018
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