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Flucht




Ekel lief hinter Anna her. Aber er war nicht mehr der jüngste und so eine Verfolgung würde er nicht lange durchhalten können. Anna wusste das und bald merkte sie wie das Schnauben hinter ihr sich entfernte und als sie einen schnellen Blick zurück warf, sah sie wie Ekel langsam und schweratmend den Rückweg angetreten hatte. Ein Trumpfgefühl machte sich in Anna breit. Sie hatte es geschafft. Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie nun nicht zur Sklavenfarm zurückkehren konnte. Denn wenn jemand der geflohen war gefunden wurde, wurden ihm die Hände an einen Baum genagelt und er musste dort stehen, bis er vor Schmerz oder Hunger starb. Sie setzte sich auf eine Wurzel und spürte die Verzweiflung in sich hoch steigen. Vielleicht sollte sie sich selbst umbringen. Das ging schneller als auf der Sklavenfarm. Nein, dass konnte sie auch nicht. Dafür war ihr Überlebenswille zu stark. Anna schluchzte vor sich hin als sie plötzlich Stimmen hörte. Ihr erster Gedanke war, dass auf der Insel doch noch andere Menschen lebten als die Sklaven. Doch dann sah Anna sie durch das Dickicht brechen. Zehn Sklaventreiber! Und vor ihnen gingen Ekel und der Boss.
Der Boss und Sohn des Gründers der „Sklavenfarm“ war das Schrecklichste, was sich Anna vorstellen konnte. Alle Geschichten die sie über den Boss gehört hatte kamen ihr in den Sinn. Einmal hatte er einfach eine Frau aufhängen lassen, nur so aus Spaß, dabei hatte diese nichts getan. Anna überlegte fieberhaft, was er wohl mit ihr machen würde. Denn Anna hatte etwas verbrochen. Sie war weggelaufen. Das war fast so schlimm wie wenn sie versucht hätte den Boss umzubringen. Sofort hastete sie wieder los. Bald schmerzte ihre Lunge und sie bekam kaum noch Luft.
Sie lief durch einen Teil der Insel, in dem sie noch nie gewesen war. Sie hörte das Meer rauschen. Das konnte ihre Rettung sein, denn Gerüchten zu folge verabscheute Ekel Wasser, seit er einmal fast ertrunken wäre. Er konnte nicht schwimmen. Das Anna ebenfalls nicht schwimmen konnte störte sie nicht im Geringsten. Sie sagte sich „Nur weil ich es nicht probiert habe, heißt das nicht, dass ich es nicht kann.“ Sie trat aus dem Wald auf den Strand und sah sich um.. Der Strand war schmal. Vorne war das Wasser, hinten der Wald und links und rechts ragten hohe Felsen in den Himmel empor. Da hörte sie die Schritte der Männer Sie kamen immer näher. Sie schimpften und fluchten. Aber am lautesten war der Boss. Er schrie die schlimmsten Verwünschungen, die Anna je gehört hatte. Es gab kein Entkommen. Da traten sie auch schon aus dem Schatten des Waldes.
Die Panik stand dem Mädchen ins Gesicht geschrieben und Ekel ergötzte sich daran. Doch das Gesicht des Bosses glich einem Stein. Er war riesig, mit breiten Schultern und tiefschwarzen Haaren, die er militärisch kurz hielt. Aber am Schrecklichsten waren seine Augen. Sie waren grau und ausdruckslos, als wären sie tot. Der Boss hatte eine dunkle laute Stimme aber jetzt flüsterte er bedrohlich, als er sagte:„Komm hier hin, damit ich dir das Genick brechen kann.“ Anna überlegte hastig nach einem Ausweg. Würde sie jetzt gehorchen, würde sie schnell sterben. Würde der Boss sie erst einfangen müssen, würde sie langsam sterben. Hinzu kam das ER schwimmen konnte und das mindestens doppelt so gut wie die Anderen. Sie entschied sich wenigstens einen Versuch zu starten. „Aber...aber“, stotterte sie „Wenn ich tot bin nutze ich euch doch gar nichts mehr. Dann könnt ihr doch gar nichts mit mir anfangen.“ „Doch, doch“, Ekels Grinsen wurde noch breiter. „Dann können wir deinen Leichnam irgendwo aufhängen, zur Abschreckung. Damit niemand auf die Idee kommt so töricht zu sein wie du.“
Annas Magen krampfte sich zusammen und sie spürte nur noch Panik und Angst. Mit dem Mut der Verzweiflung rannte sie los, auf die Felsen zu. „Das hat doch keinen Sinn du dummes Kind.“, die Männer liefen auf sie zu. „Es hat wohl Sinn“, schrie Anna zurück.“ Ihr rannen Tränen die Wangen hinunter. Sie fing an zu klettern. Keuchend und weinend kämpfte sie sich voran. Einer der Männer griff nach ihrem Fuß „Nein!“, kreischte Anna. Sie schüttelte die Hand wieder ab. Wenn man will schafft man alles

, sagte eine Frauenstimme in ihrem Hinterkopf.
Erschrocken hielt Anna inne. Sie hatte diese Stimme noch nie gehört, da war sie sich sicher. Doch sie klang auch irgendwie vertraut. Vielleicht wurde sie verrückt?
Da streckte Ekel seine Hand nach ihr aus. Hastig wollte sie weiter klettern. Doch sie rutschte ab und fiel . . . ins Meer. Sie sah nur noch Wasser! Überall Wasser! Sie hatte die Orientierung verloren und wusste nicht wo oben und wo unten war.
Ruhig Anna, ruhig

¾ die Frauenstimme und diesmal deutlicher.
Hab keine Angst. Das Wasser wird dich tragen. Du musst ihm nur vertrauen.


Verzweifelt kämpft sie gegen die Wassermassen an. Sie verlor für eine Sekunde die Besinnung und als sie die Augen wider aufriss atmete sie. Sie atmete kühles Wasser ein. Völlig verwirrt hörte Anna auf zu zappeln. Sofort kam sie wieder an die Oberfläche. Da merkte sie auf einmal das sie doch schwimmen konnte und das sogar ziemlich gut wenn man bedachte, dass sie das erste mal im Wasser war. Die Frauenstimme in Annas Kopf machte merkwürdig klingende Geräusche. Es dauerte eine kurze Zeit bis Anna klar wurde das sie lachte. „Was ist so komisch?“, dachte Anna.
Ach nichts, du siehst nur ein bisschen unbeholfen aus.


Das ging Anna nun wirklich zu weit. Nun konnte diese Stimme auch noch Gedanken lesen. Doch obwohl diese Stimme sehr seltsam war spürte das Mädchen keine Angst. Sie sah zum Strand. Dort standen die Männer, Ekel und der Boss. Letzterer schien sehr verärgert. Was er schrie konnte Anna nicht verstehen, doch sie sah, wie er die Männer ins Wasser scheuchte und sich dann zu Ekel wandte. Dieser schüttelte verängstigt den Kopf. Er wollte nicht ins Wasser. Dann stimmte es also doch, dass Ekel sich vor Wasser ekelte.
Da kamen die Männer auf Anna zugeschwommen.
Du brauchst nicht zu flüchten.


Anna fing trotzdem an zu schwimmen, aber die Männer holten auf. Panik! Schon wieder Panik! Wenn man in Panik ist, will nichts richtig funktionieren. Auch schwimmen nicht. Vor allem wenn man es zum Ersten mal macht. Es hatte keinen Sinn weiter zu schwimmen. „Kommt mir nicht zu nah“, drohte sie. Doch es klang nicht gerade überzeugend. Mit einem Mal verdunkelte sich der Himmel. Donner grollte. Blitze zuckten und im Wasser formten sich Wellen. Die Männer hielten inne. Sie wussten wohl nicht was sie tun sollten. Die Wellen hoben Anna auf und ab und sie trieb langsam von den Männern weg. Dann türmte sich eine gigantische Welle auf. Genau zwischen Anna und den Sklaventreibern die sie einfangen sollten. Höher und höher wurde die Welle. Sie drohte zu brechen. Die Männer nahmen Reißaus. Doch zu spät....... Das Wasser begrub die zehn unter sich. Anna bekam nicht einmal einen Tropfen ab.
Sofort beruhigte sich das Meer und die Sonne kam zwischen den Wolken hervor. Die Männer hatten überlebt. Sie wurden an Land gespült und liefen weg, so schnell sie ihre Beine trugen. „Das ist eine Hexe“, schrieen sie. Nur der Boss und Ekel blieben am Strand zurück, auch wenn Ekel sehr ängstlich aussah. „Warte nur ab du dummes Kind“, rief der Boss „Ich kriege dich noch. Aus meiner Sklavenfarm reißt niemand aus.“ Dann verschwanden die beiden Männer im Wald.
Anna jubelte innerlich. Doch ihre Freude wirkte nicht lange. Denn ihr wurde auf einmal bewusst, dass sie keine Ahnung hatte wo sie hingehen könnte. Auf der Insel war nur das Lager der Sklaven und alle Schiffe die vorbei kamen machten gemeinsame Sache mit dem Boss.
„Wo soll ich nur hin?“, fragte sie sich.
Geh doch einfach nach Hause.


„Da würden sie mich totprügeln.“, antwortete Anna. Sie hielt die Stimme für eine Art Unterbewusstsein, das durch die Angst und die Panik jetzt in ihrem Kopf zu hören war. Die Stimme machte wieder diese klingenden Geräusche als wolle sie lachen.
Ich meine dein richtiges zu Hause. Da wo du hingehörst. Ins Wasser. Ach ja entschuldige, wie unhöflich von mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin ein Wassergeist. Der letzte Wassergeist. Man nennt mich Zauberin. Ich bin so zu sagen das Wasser, denn ich habe keine andere Gestallt. Ich bin deine Vertretung gewesen, in der Zeit in der du nicht da warst.

„Moment mal. Du lebst doch im Wasser?“
Ja.
Anna verstand überhaupt nichts mehr.
„ Ich bin im Wasser vertreten worden? Das ist doch völliger Unsinn.“
Aber nein! Du bist eine Meerjungfrau, bloß ohne Schwanz. Du bist im Meer geboren und hast die ersten zwei Jahre auch dort verbrach. Doch dann als du eines Tages aus dem Wasser heraus gegangen bist um an diesem Strand zu spielen, ist dieser Mann gekommen den du Ekel nennst und hat dich verschleppt. Ich habe versucht das zu verhindern und hab ihm einen Sturm hinterher geschickt, so das die halbe Insel überschwemmt war und fast wäre er ertrunken , ist dann aber doch mit dir geflohen.


„Ich lebe also eigentlich Unterwasser?“
So ist es.


Anna war inzwischen fast überzeugt verrückt geworden zu sein. Aber wenn sie Unter- und Überwasser atmen konnte, warum sollte es dann nicht auch Wassergeister geben, wie in den Geschichten, die die alten Frauen im Lager erzählten, die nicht ihr ganzes Leben Sklaven gewesen waren.
„Warum wurde ausgerechnet ich ausgesucht?“, fragte sie die Zauberin.
Kind! Hast du es noch immer nicht verstanden? Du bist nicht ausgesucht worden. Deine Eltern lebten unter Wasser. Also gehörst auch du ins Wasser. Leider sind deine Eltern schon tot. Sonst hätte ich dich ja auch nicht vertreten müssen.


„Warum hast du gerade mich vertreten. Ich dachte da unten sind noch andere Meerjungfrauen und Meermänner. Die hättest du doch vertreten können.“
Ich vertrete doch keine gewöhnlichen Meeresbewohner.


Anna war das alles etwas zu hoch. Sie war gerade dem Tod entronnen, konnte ganz plötzlich schwimmen und eine Stimme in ihrem Kopf erzählte ihr sie wäre eine Meerjungfrau. Hinzu kam, dass ihre zerrissene Kleidung an ihr klebte wie eine zweite Haut. Das war alles andere als bequem.
„Aber ich bin doch auch gewöhnlich. Außerdem bin ich noch nicht mal eine Meeresbewohnherrin.“
Unterbrich mich nicht andauernd. Hast du dich noch nie gefragt, warum du stärker bist als die meisten anderen? Weil du ins Wasser gehörst. Weil du dort leben kannst und sollst. Dort braucht man so viel Kraft wie du um sich vom Fleck bewegen zu können. Du bist auch sonst nichts gewöhnliches. Denn du bist:




ANNA, KÖNIGIN DER WASSER


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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2011

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