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4.August


Liebes Tagebuch!

Die Träume sind neu. Das ich Stimmen höre haben wir schon geklärt. Aber seit Papa tot ist, habe ich auch Träume, in denen die Stimmen auftauchen. Ich höre ihnen vor dem Einschlafen häufig zu. Es ist irgendwie beruhigend, während ich darauf warte wegzudämmern. Gestern Abend haben sie sich darüber unterhalten, wo sie feiern gehen.
„Lasst mich mitkommen.“ Michael erkenne ich immer an solchen Sätzen.
„Nein, du bist noch zu klein.“ Das musste Henry sein.
Luke und Sam schlugen verschiedene Discos vor. Sam erkennt man immer an der etwas dumpfen und langsamen Stimme. Am Ende setzte sich Luke durch. Das war nicht ungewöhnlich. „Was ist mit dir, Phil? Kommst du mit?“, fragte er.
„Nein, ich kann nicht.“, Phils Stimme war ruhiger, als die der Anderen. „Ich muss morgen früher arbeiten.“
„Ach mach doch einfach blau.“ Auf diese Bemerkung von Luke folgte kurze Stille, bis er wieder ansetzte. „Ja, schon gut. Dann eben nicht.“ So als hätte Phil ihm einen scharfen Blick zugeworfen. „Aber das nächste mal bist Du dabei!“
Den restlichen Abend war von Phil nichts mehr zu hören. Michael quengelte noch eine Weile, dann war auch er still.
Blieben noch Luke, Sam und Henry, die begannen sich eingehend über ihre Frauengeschmäcker zu unterhalten. Das ging so lange, bis schließlich klar war, das Henry nicht wusste was er wollte und dass Luke „irgendwas Wildes, ein Raubtier“ wollte. Er fauchte wie eine Katze als er das sagte und die anderen lachten. Sam war eigentlich egal, wie die Frau seiner Träume aussah, solange sie nur gut kochen konnte.

Mir fielen langsam die Augen zu. Ich war es sowieso überdrüssig diesem Gespräch zu folgen. Ich war nicht mehr richtig wach, aber ganz einschlafen konnte ich auch nicht. Gefangen zwischen Wachen und Schlafen, träumte ich. Im Licht von in kurzen Abständen aufleuchtenden bunt-grellen Lampen einer Discokugel, sah ich eine Tanzfläche. Die Menschen darauf hüpften passend zum Beat wie ein einziger Körper auf und ab. Einzelne Personen waren nicht auszumachen. Doch manchmal blitzten einzelne Gesichter für Sekundenbruchteile auf. Zuerst das eines dunkelhaarigen Jungen mit Irokesenschnitt, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen. Dann das breite fast massige Gesicht eines Jungen mit kurzen braunen Haaren. Und dann ein schmaler Kopf, der schell herumflog, sodass das verhältnismäßig lange, strohblonde Haar das Gesicht verdeckte.
Heute wo ich darüber nachdenke, meine ich es müssen die drei Jungen gewesen sein, die zu meinen Stimmen gehören. Wobei klar ist, dass der mit dem Iro Luke, der Dicke Sam und der blonde Henry gewesen sein müssen. Aber wenn ich Frau Vaston erzähle, dass ich die Stimmen jetzt nicht nur höre, sondern auch sehe, weist sie mich direkt in die Anstalt ein.

Heute ist Freitag und zum Glück ist der kindergarten trotz Schulferien geöffnet. Wenn Tante Sibille zum Kindergarten geht nimmt sie alle Kinder mit. Sie hat nie gefragt, ob ich auf die aufpassen würde, die zu jung oder zu alt für den Kindergarten sind. Aber sie denkt, ich sei zerrissen vor Trauer. Oder vielleicht will sie mir den Stress nicht antun.
So konnte ich heute morgen in aller Ruhe durch mein Fenster zusehen wie Tante Sibille mit den Kindern loszog. Ein guter Augenblick um sie zu zählen. Es sind acht! Drei von ihnen gehen zur Schule, drei in den Kindergarten und zwei sind noch zu klein.
Ich frühstückte in der ruhigen Küche aber eine halbe Stunde später war Tante Sibille mit fünf Kindern wieder zu Hause. Das Charly-Baby heulte schon wieder und die drei Schulkinder begannen abwechselnd auf ein Tor zu schießen, dass sie sich zwischen einer Stehlampe und der Glasvitrine mit dem guten Porzellan vorstellten.
Das letzte der noch anwesenden Kinder –ein kleines Mädchen, ich glaube sie heißt Summer- saß friedlich auf einer Decke und stapelte Bauklötzchen. Geduldig baute es den Turm immer wieder auf, egal wie oft er umfiel oder durch den Fußball der Älteren umgestoßen wurde.
Wenigstens eins der Kinder war also umgänglich. Tante Sibille stillte das Baby und nahm es zusammen mit dem kleinen Mädchen nach unten in den Laden, nachdem sie die drei älteren Jungen mehrfach erfolglos aufgefordert hatte in den Garten zu gehen. Sie schossen weiter nach Herzenslust den Ball im Wohnzimmer herum und mir wurde plötzlich klar, warum es in Tante Sibilles Laden fast ausschließlich Beruhigungstee gab.

Ich verbrachte einen Großteil des Tages in meinem Zimmer. Ich legte „Tom Sawyers Abenteuer“ beiseite als mir klar wurde, dass Huckleberry Finn ein Waise war und versuchte mich schließlich an „Winnetou“. Das ging besser als ich dachte, sobald ich herausgefunden hatte, dass man die endlosen Landschaftsbeschreibungen einfach überspringen konnte.

Dann war ich noch bei Frau Vaston, wie jeden Freitag und Montag und Mittwoch. Ich behauptete ich hätte geträumt ich sei von einem Bären gefressen worden. Von dem Disco-Traum erzählte ich nicht.

Wieder zu Hause waren auch alle Kinder wieder da. Der Lärm erreichte einen neuen Höhepunkt, als gleichzeitig der Fußball die Lampe zerbersten ließ, der Bauklötzchenturm einstürzte, ein kleines Kind mithilfe der herunterhängenden Tischdecke eine Vase zu Fall brachte, das Baby anfing zu schreien und der Feuermelder darauf hinwies, dass das Essen mal wieder angebrannt war.
Es ist wirklich schwierig sich damit abzufinden, dass das nun mein Leben sein soll.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich mir dringend ein Hobby zulegen sollte, dass es mir erlaubte möglichst viel Zeit außerhalb des Hauses zu verbringen.
Mein Vater hatte mir sein Geld hinterlassen und bis zu meinem 18 Geburtstag bekam ich monatlich eine kleine Summe davon als Taschengeld. Etwas ging auch an meine Tante. Auf jeden Fall reichte das Geld für irgendwelche Vereinsgebühren.

Ich entschied mich für eine Kampfsportart. (Bestimmt auch hilfreich gegen die Aggressionen die meine Psychiaterin mir nachsagt.) Zwei Straßen weiter gibst es eine kleine Kampfschule, die eine asiatische Kampfsportart lehrt, die ich nicht aussprechen kann. Da bin ich also hin und hab’ mich angemeldet. Jetzt hab’ ich zumindest eine Beschäftigung für Dienstags und Donnerstags. Was genau man bei diesem Kampfsport macht weiß ich noch nicht so genau. Allerdings kenn ich nicht mal den Unterschied zwischen Karate, Judo und Teakwondo. Ist auch ziemlich egal. Hauptsache ich bin beschäftigt. Durch ein Fenster konnte ich zwar einige Leute sehen, welche diese Sportart zu praktizieren schienen, aber da sah es nicht sonderlich eindrucksvoll aus. Werd’ ja Dienstag sehen, ob es was hermacht.
Ich werd’ jetzt schlafen gehen. Hoffentlich träume ich nicht von Discos. Lieber von Menschenfressenden Bären.
Tschüss...oder so.
Mach dich auf weitere solcher Abschlussworte gefasst „liebes Tagebuch“ denn Briefe schreib ich auch keine.

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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2011

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