Cover

3.August


Liebes Tagebuch!
...

Also, mal gleich zu Anfang. Ich bin eigentlich nicht der Typ, der Tagebuch schreibt. Aber die Psychiaterin meint das wäre gut um meine Aggressionen zu kanalisieren, oder so. Also tu ich ihr den Gefallen. Sie meint ich soll mir das vorstellen, wie einen Brieffreund, dem ich „all mein Leid“ plagen kann. Also stell ich mich erst mal vor:
Hi.
Ich bin Lilli Dain.
Ich bin fast 16 Jahre alt und Vollwaise.
Meine Mutter ist schon lange tot und mein Vater ist vor drei Monaten bei einem Autounfall gestorben. Kein Grund mich zu bedauern. Wir sind nie gut miteinander ausgekommen. Aber ich war selbst überrascht, wie wenig Trauer ich bei seinem Tod empfunden habe. Ich konnte nicht einmal weinen. Ich habe überhaupt nicht mehr geweint, seit meine Mutter vor elf Jahren gestorben ist. Vielleicht hab’ ich damals schon alle Tränen weggeweint.
Seit sie tot ist, ist sowieso alles anders. Früher waren wir glücklich. Aber ihr Tod hat meinen Vater so mitgenommen, dass ihm von da an alles egal war. Sogar ich.
Als er sich einigermaßen wieder gefangen hatte, hat er sich in die Arbeit gestürzt und ich hab ihn kaum zu Gesicht bekommen. Und jetzt ist er auch tot. Manchmal glaube ich, er hat es nicht mehr ausgehalten von Mama getrennt zu sein und ist die Böschung deshalb absichtlich runtergerast. Dann bin ich ziemlich wütend auf ihn.

Ich wohne jetzt bei der Schwester meiner Mutter. Sie hat einen kleinen Teeladen im Erdgeschoss ihres Hauses. Ihr Mann ist ihr weggelaufen. Jetzt muss sie sich alleine um den Teeladen und die kleinen Kinder kümmern, die er ihr dagelassen hat. Ziemlicher Scheiß-Job. Und dazu hat sie jetzt auch noch mich am Hals: einen Teenager, in der Krise. Ich glaub sie ist ganz nett. Aber ich versuche ihr aus dem Weg zu gehen. Erstens, weil sie immer mit mir über meine „seelischen Schmerzen“ reden will; und zweitens, weil sie immer mindestens eins von den kleinen Bälgern mit sich rumschleppt.

Mein Zimmer hier ist winzig. Es passen gerade mal das Bett, der Schrank und ein Schreibtisch rein. Ansonsten gibt es in diesem Haus gar nichts. Der einzige Internetzugang ist unten im Laden und noch nicht mal einen verflixten Fernseher im ganzen Haus.

Weil ich jetzt hier wohne, musste ich die Schule wechseln. Das heißt, ich kenne auch niemanden. Ich hab noch eine Woche Sommerferien. Eine Woche, in der ich nichts tun kann. Ich hab es mir zum Hobby gemacht, die Mülleimer im Park zu zertreten. Aber die Polizei hat mich erwischt. Jetzt muss ich n’ bisschen aufpassen...und Tagebuch schreiben; weil ich so ein böses aggressives Mädchen bin. Aber ich glaub nicht, dass das was hilft. Ich glaub’ auch nicht, dass die Psychiaterin irgendwas tun kann. Das ich durchgeknallt bin weiß ich selber. Aber das war auch schon so, bevor Papa gestorben ist.

Ich höre Stimmen. Ich höre Stimmen, wenn niemand da ist. Das geht schon etliche Jahre so. So lange, dass ich mich nicht erinnere, wann es angefangen hat. Dass das nicht normal ist, weiß ich selber. Aber man gewöhnt sich dran. Die Stimmen labern ununterbrochen, aber ich hab gelernt einfach nicht hinzuhören. Dann sind sie nur noch im Hintergrund, wie eine CD, die läuft, der man aber nicht zuhört.
Das ist irgendeine Art von Schizophrenie.
Allerdings reden die Stimmen nicht mit mir; sondern miteinander. Es ist, als würde ich die Unterhaltungen wildfremder Leute belauschen. Allerdings sind es immer die selben wildfremden Leute. Insgesamt sind es fünf. Die fünf sind alle männlich und kennen sich alle untereinander. Ich glaube die Psychologin denkt, dass seien meine verschiedenen Persönlichkeiten. Also, der eine heißt Phil. Der ist ziemlich ruhig und redet am wenigsten. Der zweite heißt Luke und der redet dafür umso mehr. Außerdem wird der ziemlich schnell wütend. Er ist etwas aufbrausend. Der dritte heißt Sam und ich glaub’ der ist ziemlich dumm. Mit dem Namen Caesar zum Beispiel assoziiert er nie Julius Caesar, sondern immer nur den Hund seiner Nachbarin. Und dann sind da noch Henry und Michael. Wenn ich es richtig verstanden hab’ sind das Brüder und Michael ist deutlich jünger, als die anderen. Grundschulalter oder so.
Das waren die Dinge, die ich der Psychiaterin erzählt hatte.

Was ich ihr nicht erzählt hatte, war, dass ich über die Jungs, deren Stimmen ich hörte noch viel mehr wusste. Phil ist der älteste von ihnen. Er arbeitet in irgendeiner kleinen Friedhofsgärtnerei. Luke, Sam und Henry gehen noch zur Schule und sind in der selben Klasse. Allerdings sind Luke und Sam jeweils einmal hängen geblieben.
Das alles wusste ich nicht einfach. Ich hab es mir beim „Belauschen“ ihrer Gespräche zusammengereimt.
Außer meinen Klamotten, die ich mitgenommen habe, sind diese Stimmen das einzig vertraute in meinem neuen Leben. Ansonsten ist alles anders. Heute Abend hat meine Tante mich zum Essen gerufen. Da ist es mir wieder besonders klar geworden. Wenn ich in meinem Zimmer bin, die Augen schließe und den Stimmen zuhöre, kann ich mir fast einbilden alles sei wie immer.
Ich ging also in die Küche. Tante Sibille setzte mir einen verbrannten Nudelauflauf vor die Nase und wuselte schon wieder ins angrenzende Wohnzimmer davon, wo einer ihrer Söhne dabei war, mit ihren Stricknadeln Löcher ins Sofa zu bohren. Das jüngste Kind das sie Charly nannten und von dem ich nicht sicher wusste, ob es nun ein Junge oder ein Mädchen war, lag in einer Wiege und brüllte was die Lungen hergaben. Ich hatte nach dem Tod meines Vaters zuerst bei einer Freundin gewohnt und dann in einem Jugendheim. Ich war also erst seit einer Woche in diesem winzigen Haus. Ich hatte Tante Sibille seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr gesehen, weil mein Vater jeden Kontakt abgebrochen hatte, an Leute, die ihn an seine Frau hätten erinnern können.
In diesem Haus jedenfalls schien niemals Ruhe zu herrschen, außer ein paar Stunden in der Nacht. (So von zwei bis vier ungefähr) Und so war ich noch nicht ganz dahintergekommen, wie viele Kinder mit mir und meiner Tante das Haus teilten. Aber es mussten mindestens sechs sein. Denn da war der Junge im Wohnzimmer mit den Stricknadeln, das schreiende Baby, die beiden Kinder die sich mir gegenüber mit Essen bewarfen und ich wusste genau, dass da noch ein Zwillingspärchen sein musste, das schon zur Schule ging.
Ich fragte mich zum wohl hundertsten Mal in dieser Woche, wie man nur so viele Kinder in die Welt setzten konnte. Und ich konnte es Sibilles Mann nicht verübeln, dass er abgehauen war. Dieses Chaos konnte man nur überleben, indem man sich aus dem Staub machte, oder verrückt wurde. Da ich schon verrückt war, würde es für mich wohl nicht lebensbedrohlich werden.
Der Nudelauflauf war nicht nur verbrannt, sondern auch versalzen. Tante Sibille kochte einmal täglich eine warme Mahlzeit, aber feste Essenszeiten schien es nicht zu geben. Da dieses Essen um fünf Uhr stattfand, war ich auch nicht sicher, ob es ein Mittagessen oder ein Abendessen war. Eigentlich konnte meine Tante ganz gut kochen. Aber da sie ständig von den Kindern abgelenkt wurde, ging meistens irgendwas schief. Das war ich inzwischen gewöhnt. Zu Hause hab ich mich meistens von Pizza ernährt. Kochen ist nicht so mein Ding und mein Vater war fast den ganze Tag arbeiten.
Ich aß schweigend und verzog mich wieder in mein Zimmer. Aufgrund mangelnder Beschäftigungsmöglichkeiten, hab ich tatsächlich mal wieder angefangen zu lesen. Da sich aber nicht viele Bücher in meinem Besitz befinden, musste ich erst mal Lesestoff auftreiben. Im Flur, an dessen Ende mein Zimmer liegt, stehen mehrere Bücherregale in langer Reihe. Ich hab die Regale durchgeguckt und festgestellt, dass die meisten nicht unbedingt neu sind. Außerdem riechen sie nach Pfeifenrauch – was gar nicht so unangenehm ist, wenn man sich erst mal dran gewöhnt hat.
Ich fand einige Bücher über Tee, Kräuter und – aus irgendeinem Grund - Schifffahrt. In Ermangelung besserer Alternativen, entschied ich mich schließlich dafür „Die Schatzinsel“ von Stevenson zu lesen.
Ich legte mich aufs Bett und begann zu lesen. Aber ich kam nur ein paar Seiten weit. Als mir klar wurde, dass in absehbarer Zeit der Vater der Hauptfigur sterben würde, legte ich das Buch beiseite. Es ist furchtbar langweilig hier. So kommt es, dass ich den Rat von Frau Vaston (die Psychologin – du hast es dir gedacht) beherzige und an einen nicht existenten Brieffreund schreibe.
Aber ich glaube für heute ist es genug der Aggressionsbewältigungstherapie.
Bis dann.
Lilli

Ps: muss man eigentlich in seinem eigenen Tagebuch unterschreiben? Keine Ahnung. Ich sag’ doch ich bin nicht der Typ für Tagebücher.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /