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Kapitel 1 - Seelenernterin

An einem kalten, dunklen, gefühllosen Wintertag im Jahre 1438 bin ich gestorben. Doch selbst heute wandele ich noch auf Erden. Vielleicht weil sie jemanden brauchen der die Drecksarbeit erledigt oder einfach so. Aber wieso ich? Nur weil ich die Nichte von Graf Dracula bin? Eigentlich sollte ich mich das nicht mehr fragen. Seit über 500 Jahren mache ich das nun und frage mich immer noch wie am ersten Tag: Wieso?
Nicht dass ich meinen „Job“ nicht mögen würde, aber ich habe schon immer alles hinterfragt. Mit 17 Jahren bin ich damals im Krieg gestorben und wurde vor das oberste Höllische Gericht gestellt. Ich stand vor Satan höchst persönlich, während ein Dämon meine gesammelten Vergehen verlass. Für mein Alter waren das recht viele gewesen. Mehrere 100 Tode gingen auf mich und human konnte man die wirklich nicht nennen.
Aber was sollte ich machen? Ich war damals nun mal zu Todesbotin geworden. Umentscheiden war unmöglich, da war der Chef recht hart, auch wenn er entgegen der allgemeinen Meinung recht umgänglich war. Also versuchte ich meinen Job mit viel Spaß anzugehen. Auch wenn das durch den eigentlichen Gegenstand der Arbeit erschwert wurde. Wer sich jetzt fragt wo und in welcher Situation man sich solche Gedanken macht dem beantworte ich dies gerne. Ich saß auf einem Kirchendach, mit ausgebreiteten ledrigen Dämonenflügeln und sah auf die nächtliche Stadt herab. Dieser Anblick ließ mich immer etwas traurig und nachdenklich werden. Doch nur selten dachte ich hier über meine Vergangenheit nach. Vielleicht gerade heute, weil es ein kalter Wintertag war. Genau wie mein Todestag.
Als ob ich nach Ablenkung gerufen hatte, kam auch schon Misu angeflattert. Er war ein Gargoyl und sozusagen die Brieftaube zwischen mir und der Unterwelt, auch wenn er es nicht gerne hörte. Er überbrachte mir immer die Aufträge und manchmal ein kleines Gespräch. Außerdem war er nicht nur mein ganz persönliches Brieftäubchen, sondern auch mein Freund.
„Guten Abend“, sagte er mit seiner rauen Stimme.
„Auch guten Abend, obwohl es ja eine gute Nacht ist“, erwiderte ich.
„Ja Ja Ja, aber das klingt so als würden wir gleich schlafen gehen.“
„Egal. Sag an: Was hast du für mich?“
„Zwei Städte weiter sollst du einen Mörder morden und einen Psychopathen wegen Kindsschändung auch direkt nach unten. Sonst ist es hier in der Gegend friedlich.“
„Danke ich flieg gleich los.“
Ich hatte gerade meine Flügel ausgebreitet als Misu geheimnisvoll nochmal seine Stimme erhob.
„Achja ich wollte dir noch eins gesagt haben. Man denkt darüber nach dich in eine Großstadt zu versetzten. In einer solch ländlichen Gegend könne man dein Potential nicht richtig ausschöpfen.“
Ein Grinsen breitete sich über mein Gesicht aus. Ich war schon öfters als Aushilfe in größeren Städten gewesen und es hatte mir dort gut gefallen. Es war einfach mehr los. Als Todesbotin musste ich nicht nur die Seelen der Toten einfangen, wenn diese abhauten, sondern auch die jenigen einer gerechten Strafe zuführen, die in die Hölle kommen sollten, schließlich brauchten wir die Energie ihrer Seelen, wie die zwei neuen Fälle heute. Und von beidem gab es in Großstädten genug.
„Na dann. Ich hoffe mal für dich, dass es klappt. Ich bin dann mal weg. Bis dann.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Misu und flog wieder zurück in die Nacht. Ich rief ihm ein freudiges „Bis dann“ hinter her und breitete meine Flügel aus. Dank dieser Nachricht hatte ich heute Nacht meinen besonderen Spaß.
Ich landete vor der Tür meines ersten Opfers, klopfte den Staub von meiner schwarzen Hose und klappte meine Flügel so hinten zusammen, dass man sie von Vorne betrachtet nicht mehr sah. Es war erst 22 Uhr also machte ich mir einen kleinen Spaß daraus.
Höflich klingelte ich und wartete. Nach einigen Sekunden öffnete sich die Tür und das grimmige Gesicht eines Mannes erschien. „Was willst du?“, herrschte er mich, verständlicherweise an. Wahrscheinlich hatte ich ihn aus seinem Sessel und vor dem Fernseher weg geholt. Ich lächelte ihn freundlich an und sagte dann sachlich aber zuckersüß: „Ich bin hier um Sie mit in die Hölle zu nehmen.“ Zuerst guckte er mich etwas verwirrt an und lachte dann kurz auf. „Wenn du irgendwas verkaufen möchtest kannste das gleich wieder vergessen und mit Geisteskranken will ich eh nichts zu tun haben. Also verschwinde endlich!“ Darauf fiel mir direkt der passende Kommentar ein. „Ich hab leider viel zu viel mit ihnen zu tun, denn einige werden straffällig und dann darf ich sie abholen, wenn sie genug negative Energie auf sich vereinigen.“ Wieder kam ein Lächeln auf mein Gesicht, als der Mann mehr oder weniger zu sich selbst flüsterte: „Gleich ruf ich die Irrenanstalt an.“ Bevor er diese Drohung wahr machen konnte änderte ich meine Taktik. „Werden Sie freiwillig mitkommen, oder muss ich wirklich persönlich dafür sorgen?“
„Jetzt reicht’s mir!“, rief er und kam bedrohlich auf mich zu. „Dann halt anders.“ Mein Gesicht verfinsterte sich schlagartig, meine Augen wechselten von grün auf rot und ich breitete so schnell meine Flügel aus, dass er von dem Luftstoß gebremst und leicht zurück geworfen wurde. Nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, starrte er mich mit einer Mischung aus Verwirrung, Entsetzten und purer Angst an. Er war wie erstarrt, unfähig sich zu bewegen, geschweige denn zu fliehen. Meine klauenartigen Hände wurden halb durchscheinend und ich rammte sie ihm in den Körper ohne seinem Körper Schaden zuzufügen. Das wollte ich auch nicht denn auf diese Weise konnte ich seine Seele greifen und herausziehen. Das Gefühl, dass man hatte wenn einem die Seele bei lebendigem Leib herausgerissen wurde war vor allem eins: Sehr schmerzhaft. Er schrie und wand sich in Todesangst doch ich hatte ihn fest im Griff und zog mit einem Ruck die Seele heraus. Selbst diese wand sich noch, bis sie einen Augenblick später zu der Erkenntnis gelangt war, dass es aus war. Der Körper sackte kraftlos in sich zusammen. In dem Moment, in dem die Seele entfernt wird kollabiert das gesamte System. Ärzte gehen meistens von Herzinfarkt aus, oder finden keinen Grund, womit der Fall eh zu den Akten geht.
Ich sah mich noch einmal um ob mich jemand gesehen hatte und flog los. In dem Moment, wo ich abhob änderte sich mein Aussehen für die Augen normaler Menschen, in das eines Raben. Vielleicht hatten Raben deswegen so einen schlechten Ruf.
Es dämmerte schon, als ich zu Hause ankam. Ich hatte in diesem Dorf eine eigene Wohnung. Das Praktische war, dass die Unterwelt überall ihre Finger im Spiel hatte. So auch in diversen Immobiliengeschäften, sodass ich hier einfach leben konnte, ohne dass mir immer ein Vermieter mich dauernd fragte wieso ich als Minderjährige noch alleine wohnte, oder wo meine Eltern waren. Leider war ich selbst nach fast 600 Jahren rein körperlich nicht gealtert und hatte somit das Aussehen eines 17-jährigen Mädchens, was mich oft genug nervte. Hätte ich nicht mit 18 sterben können? Nein es musste die magische 17 sein, womit ich in fast allen Ländern der Welt minderjährig war. Verdammte Osmanen! Da war man fast 600 und die Leute behandelten einen wie ein Kind. Aber ich war zu müde um mich wiedermal über dieses leidige Thema auszulassen. Zu Hause angekommen ließ ich mich ins Bett fallen. Um 16 Uhr würde wieder mein Wecker klingeln, damit ich nicht den ganzen Tag schlief. Die Leute sollten ja nicht misstrauischer werden als sie eh schon waren. Ein ganz normaler Tag in meinem momentanen Leben.

Kapitel 2 - Der Bote


Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, hatte ich keine besonders große Lust aufzustehen. Es war neblig und kalt und, obwohl mein Fenster offen stand, drangen kaum Stimmen von draußen. Das veranlasste mich dazu einfach liegen zu bleiben. Vor meinem schien sich nach ein paar Minuten dann aber doch eine Gruppe von Menschen zu versammeln und ich konnte gut ihrem Gespräch lauschen, auch wenn meine Wohnung im 1. Stock lag. Deutlich heraus zu hören, war die Bäckerin, die man sofort an ihrer lauten und fröhlichen Stimme erkannte. Im Groben ging es um das Übliche. Die Unfähigkeit des Bürgermeisters, die kaputten Straßen, die anscheinend ebenso unfähigen Eheleute und Partner der Gesprächsteilnehmer und die restlichen Dorfprobleme. Alles nicht sonderlich spannend, sodass ich schon fast wieder schlief, als es doch noch interessant wurde.
„Habt ihr schon von dem Mann gehört, der im Nachbarort umgebracht wurde?“
Nun wurde ich hellhörig. Es war, wie gesagt, ein ruhiger Ort, also konnten sie nur von meinem „Kunden“ sprechen, wobei mir nebenbei einfiel, dass ich den Psychopaten gestern wegen der Zeit vergessen hatte. Dann war der halt heute dran.
Die Bäckerin antwortete dem Fragesteller sofort: „Ja, natürlich! Die Polizei meinte er wurde erstochen.“ Eine andere Stimme schaltete sich nun ein.
„Aber eine Nachbarin meinte, sie hätte alles beobachtet. Ein Dämonenmädchen, hätte ihn umgebracht, behauptet die.“
Ich saß plötzlich kerzengerade im Bett. Es hatte mich also wirklich jemand beobachtet. Das war wirklich schlecht, denn meine, beziehungsweise die Aktivitäten der Unterwelt durften nicht öffentlich werden. Da jetzt einer der Schlimmstfälle eingetreten war, blieb mir fürs erste nur übrig zu hoffen, dass ihr niemand glauben würde. Ich war zum zerreißen angespannt und ich konzentrierte mich nur noch auf das, was unten gesagt wurde. Aber da wurde nichts gesagt. Es schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen, bis es endlich weiter ging.
„Das ist doch Schwachsinn! Wer glaubt denn heute noch an Dämonen? Meiner Meinung nach wollte die Frau sich nur wichtigmachen.“
Ein allgemeines zustimmendes Murmeln kam auf. Ich entspannte mich langsam wieder und sackte in mir zusammen. Wenn nicht mal die Leute hier das glaubten, dann auch nur die wenigsten anderen Menschen.
„Glück gehabt“, zischte eine bekannte Stimme hinter mir. Während ich so erleichtert gewesen war, hatte ich gar nicht bemerkt, wie er herein gekommen war.
„Ich weiß“, seufzte ich.
„Gut, dann erspare ich mir an dieser Stelle meine Strafpredigt und komme zum Wesentlichen.“
„Du bist also nicht gekommen, um mir stundenlang Vorwürfe zu machen und mir vom Chef zu sagen, dass ich fristlos entlassen bin?“, fragte ich sarkastisch.
„Nein, eher um dir deine Versetzungspapiere zu bringen. Du wirst in den Großraum Berlin, Deutschland, versetzt“, überging Misu meinen Kommentar sachlich.
„Echt? Nach den ganzen Jahren werde ich aus diesem Dorf wegversetzt? Na endlich! Das wird wieder eine schöne Abwechslung. Wann soll‘s los gehen?“
„Sobald deine Sachen gepackt und du dort angekommen bist. Also grob ab jetzt und…“
Mitten im Satz drückte ich Misu an mich und schnitt ihm wohl etwas die Luft ab. Meine Freude ging etwas mit mir durch. Endlich weg hier! Endlich eine Großstadt! Endlich ein anderes Land! Ich drückte immer fester, während Misu um seine Freiheit kämpfte. Nach 2 Minuten hatte er das dann auch geschafft und saß keuchend und Steinstaub hustend vor mir auf dem Bett, während ich ihn weiterhin angrinste.
„Akira, du bist schrecklich.“
„ich weiß.“
„Gut. Hier sind die Papiere. Ich bin weiterhin deine Verbindung nach unten. Mach bitte keinen Mist da, ok?“
„Ja, klar. Vertrau mir. Ich werde da glaub ich eh ausgelastet sein mit Arbeit.“
„Du findest immer Zeit, Unsinn zu machen. Das war schon immer so mit dir! Ich erinnere mich noch gut an damals als…“
„Jaja“, schnitt ich ihm das Wort ab, “die alten Geschichten kenn ich. Na gut, vielleicht habe ich hier und da in der Geschichte Mist gebaut.“
„Hier und da? Und was war das mit Spanien?“
„Das war ein Versehen! Wer konnte denn ahnen, dass die sich dann echt von den Niederländern zusammen hauen lassen?“
„Ach das warst auch du?“
„Verdammt. Ich sag hier nichts mehr.“
Ich hatte das zweifelhafte Talent, mich in solchen Situationen noch tiefer rein zu reiten. Ich zog ein beleidigtes Gesicht und drehte mich leicht zur Seite. Misu schüttelte nur den Kopf.
„Du bist echt eine Katastrophe. Ich bin jetzt weg. Falls du zu viel Mist machst, wirst du zu Innendienst verdonnert. Ist nur so eine kleine Vorwarnung. Bis dann.“
Mit diesen Worten flatterte er aus dem Fenster und verschwand im dichten Nebel. Von draußen war auch nichts mehr zu hören. Dann musste ich mich jetzt doch zum aufstehen bringen. Wenigstens konnte ich in Ruhe essen und packen. Nach dem Essen zog ich auch wieder meine Dämonenflügel ein, in die ich mich beim Schlafen öfters einwickelte. Mit einer Spannweite von knapp 3 Metern waren sie schon recht groß, aber die ließen sich zusammenfalten, sodass sie hinter meinem Rücken kaum zu sehen waren. Trotzdem mussten sie weg, wenn ich rausging. Waren sie nicht draußen legten sie sich in mein Innerstes. Wie ich das genau machte, wusste ich selbst nicht so genau. Ich wusste nur, dass sie immer wieder unter meiner Haut hervor brachen, aber es nur wie ein leichtes Zucken für mich war. Ich musste noch eben zum örtlichen Geschäft, einkaufen für die nächsten Tage. Nachdem ich mich angezogen hatte verließ ich das Haus und begab mich auf den Weg. Inzwischen war es dunkel geworden und nur noch wenige Leute waren auf den Straßen. Diese schauten mich aber so finster wie immer an. Die die immer in schwarz rumlief, ganz alleine wohnte und sich nur abends zeigte musste hier einfach auffallen und missbilligt werden. Zu Anfang und auch jetzt noch waren viele Gerüchte über mich im Umlauf, wovon einige sogar gar nicht so falsch waren. Von Ausgeburt des Leibhaftigen, über Dämonenkind, bis Geisteskranke war fast alles dabei gewesen. Wenn sie wüssten wie viel Wahrheit darin steckte. Fast hätte ich auch mal anerkennend genickt, aber das hätte wohl dazu geführt, dass hier mittelalterliche Verhältnisse ausgebrochen wären und ich mit Fackeln und Mistgabeln aus dem Dorf gejagt worden wäre. In dieser ländlichen Gegend waren solche Gedanken nicht weit hergeholt. In Berlin würde ich sicher nicht so auffallen und sich niemand an mir stören. Ja schöne Illusionen, die ich damals noch hatte.

Kapitel 3 - Alltag


Pünktlich wie immer wachte ich um 21 Uhr wieder auf. Ich war noch angezogen und sofort einsatzbereit. Der Auftrag mit dem Psychopaten stand noch aus und den wollte ich jetzt gewissenhaft erledigen. Ich schaute durch das Fenster auf die leeren Straßen. Niemand war um diese Uhrzeit noch draußen. Nur ein paar Katzen gingen noch um und schlichen durch die Straßen und in die Häuser. In manchen Häusern war noch Licht, oder es flackerten Fernseher und man hörte Musik und Soundeffekte.
Ich holte leise meine Flügel hervor und flog hinaus ins den Nachbarort. Die Nacht war still und sternenklar. Nur einmal sah ich die Lichter eines Flugzeugs über den dunklen Himmel huschen. Ich war recht schnell an meinem Ziel und landete direkt vor dem Haus meines Klienten. Dies war nur möglich, weil er in einer sehr ruhigen Gegend wohnte und niemand auf der Straße war. Heute wollte ich das genaue Gegenteil von gestern machen.
Ich trat die Tür ein und ging einfach hindurch. Völlig entsetzt stürzte jemand von der Küche aus zu mir. Dann stand er mir gegenüber. Keuchen und mit dem Ausdruck völligen Entsetzens in den Augen.
„Wer oder was bist du?!“, schrie er schrill. Man sah ihm den Wahnsinn an der in seiner Seele wohnte. Ich breitete meine Flügel aus und funkelte ihn mit blutroten Augen an. Nun war er endgültig in Panik verfallen. Er schrie, kreischte und versuchte verzweifelt zu fliehen. Dabei rief er unregelmäßig und völlig panisch „Höllenkreatur!“
Ich liebte es Menschen in Panik zu versetzten. Seine Versuche zu fliehen waren sinnlos. Alle Türen und Fenster waren verschlossen und ließen sich nicht öffnen, weil sie von Finsternis blockiert waren.
„Du kannst mir nicht entkommen! Niemand entkommt der Hölle!“, rief ich mit heller Freude in der Stimme durch das Haus. Er war schon lange aus meinem Sichtfeld verschwunden, aber ich spürte seine aufgewühlte Seele. Ich wusste alles, was gerade passierte ohne es zu sehen. Nur indem ich seine Seele las. Wieder unruhiges Gepolter. Er war ein Stockwerk über mir. Ein weiterer Aufschrei, ließ mich erahnen, dass er langsam Klarheit über seine Situation erlangte. Er war allein mit einem Monster in einem abgeriegelten Haus. Keine Hoffnung auf Flucht und Hoffnungslosigkeit macht Menschen mutig…und dumm.
Ich stand immer noch im Wohnzimmer, im Erdgeschoss. Einige Sekunden verstrichen. Dann hörte ich Schritte auf der Treppe und der Mann kam runter gerannt. Er hatte sich ein Messer als Bewaffnung gesucht und ging damit jetzt auf mich los. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde hatte ich das Messer mit einer Hand gepackt. Mein fast schwarzes Blut rann über meine Hand aber ich hielt es fest.
„Dumme Idee“, sagte ich verächtlich und brach die Klinge einfach ab und warf sie weg. Er stand nun mit dem nutzlosen Griff in der Hand da und umklammerte ihn weiterhin, als sei die vermeintlich schützende Klinge noch dran. Er wirkte zwar jetzt weniger panisch, aber nur, weil die Verwirrung auf seinem Gesicht Platz finden musste.
„Wie…?“, stammelte er.
„Ich hab dir gesagt, dass du dich besser nicht mit mir anlegen solltest“, sagte ich finster. Langsam ging mir der Typ auf die Nerven. Und das sollte nicht zu seinem Vorteil sein. Nun war ich am Zug. Ich würde mir nun seine Seele holen. Meine Hand wurde leicht durchsichtig und schimmerte schwarz-grünlich. Diese rammte ich nun in seinen Körper und krallte mich in seine Seele. Er schrie wie am Spieß. Ich hob ihn langsam hoch, sodass seine Füße nicht mehr den Boden berührten, aber er mit dem Rücken an die Wand gedrückt wurde. Immer noch schrie er und die Schmerzen steigerten sich mit jedem Augenblick den ich ihn so hoch hielt. Wenige Sekunden später ließ ich ihn wieder runter, sodass er wieder fest stand, lächelte ihn an und zog mit einem kräftigen Ruck die Seele aus dem Körper. Sein schreien erstarb sofort und er sackte zusammen. Für einen kurzen Moment saß dort eine seelenlose Hülle, die zwar noch funktionierte aber keine Willen mehr hatte. Nur kurze Zeit später versagte nun auch der Organismus und er kippte zur Seite. Seine Seele hing nun an der Klaue und zappelte noch etwas. Falls sich jetzt jemand fragen sollte wie eine Seele aussieht, kann ich das nicht beantworten. Die Menschen haben in keiner Sprache Wörter dafür. Wenn man sie materialisierte war sie farbig schimmernd und halb durchscheinend. Es gibt auch nur wenige Wesen die den Anblick von Seelen ertragen. Menschen waren nicht in der Lage diesen Anblick zu verarbeiten. Ihr Gehirn kollabierte. Manche wurden verrückt, manche starben. Dämonen und Engel konnten Seelen sehen, aber nur Seelenernter konnten darin lesen und je nach Schicht das ganze Wesen entschlüsseln. Meistens konnte man durchs reine sehen nur die äußerste Schicht lesen. Darin waren die momentanen Gedanken, Gefühle und Bilder, sozusagen das bewusste Denken. Tiefer drin waren Unterbewusstsein, Erinnerungen, Wahn und andere Eigenschaften die nicht so offen getragen werden. Eine Seele war sehr kompliziert und zugleich die mächtigste Energie auf der Welt. Deshalb brauchten wir sie ja auch. Ich schickte die Seele sofort nach unten, damit sie verwendet werden konnte.
Ich sah noch einmal auf die Leiche hinab, die so ruhig auf dem Boden lag. Die Augen waren noch offen und starrten leer vor sich hin. Sollte ich sie schließen oder so lassen? Am besten ließ ich sie so. Das hatte einen besseren Effekt. Insgesamt würde das hier der Polizei Rätsel aufgeben. Die eingetretene Tür, die verriegelten Fenster, das abgebrochene Messer, das Chaos im Haus, die Schreie, die die Nachbarn wahrscheinlich gehört hatten, und nicht zuletzt diese zombiartige Leiche die einfach dalag ohne Wunden, oder sonstige Anzeichen eines Verbrechens. Dies sollte mein Abschiedsgeschenk werden. Ich war bald weg also konnte ich mir diesen letzten Spaß erlauben. Gesehen hatte mich niemand, also mussten sie sich etwas ausdenken, was hier geschehen war.
Ich verließ das Haus durch ein Fenster, dass ich wieder gründlich verschloss. Im Schutz von ein paar Bäumen trat ich den Rückflug an. Eigentlich hatte ich noch den Rest der Nacht Zeit, aber mein Auftrag war erledigt und bis ich in Berlin war, würde ich keine neuen bekommen. Ich flog ziellos durch die Gegend und sah mir das nächtliche Treiben an. Ich sah Nachtschichtarbeiter, die mit ihrer Müdigkeit rangen, Jugendbanden, die umher streiften, angetrunkene Leute, die über die Straßen wankten und bei jedem Schritt so aussahen, als ob sie ein spontanes Schläfchen halten wollten. Dieses ganze Verhalten war mir suspekt. Ich war schon so lange tot, dass ich die Lebenden langsam nicht mehr verstand. Als ich noch lebte, waren die Zeiten ganz anders gewesen. Ich war mit dem Krieg groß geworden und mit der ständigen Gewissheit, dass ich bald schon tot sein könnte und so war es dann ja auch gekommen. Wenn man unter solchen Verhältnissen aufwächst muss man schnell lernen zu kämpfen und auch zu töten. Schon sehr jung hatte ich Waffen- und Kriegskunst beherrscht und zum Zeitpunkt meines Todes schon lange kein Mitleid mehr für meine Gegner gehabt. Diese Zeit hatte mich sehr abgestumpft, aber auch sehr vieles gelehrt. Vielleicht konnte ich gerade deshalb diese Arbeit so gut verrichten. Ich war ja schon zu Lebzeiten der Tod gewesen.
Doch dann sah ich etwas woran selbst ich nicht einfach so vorbei fliegen konnte. Ein kleines Mädchen war in die Hände einer Jugendbande geraten, die sie offensichtlich bedrohten. Sie hatten die Kleine eingekreist. Wahrscheinlich waren sie bewaffnet. In welcher Form wusste ich noch nicht. Wahrscheinlich Schusswaffen aller Art, vielleicht auch Schlagringe und sonstiges. Ich landete außerhalb ihres Sichtfeldes hinter einem größeren Busch und nahm meine normale menschliche Form an. Zuerst wollte ich es auf die friedliche Weise probieren. Ich atmete noch einmal tief durch, auch wenn ich eigentlich nicht atmen musste, aber es entspannte so. Ich trat hinter dem Busch hervor, in das Licht einer Laterne, die am Rand des Spielplatzes stand, auf dem sie das Mädchen geschnappt hatten.
„Was wird das hier?“ fragte ich laut und deutlich. Sie wirkten zuerst verwirrt, fanden jedoch schnell ihre Fassung wieder. In den Augen der Kleinen stand zwar auch ein Hauch Überraschung, aber hauptsächlich einfach nur Angst.
„Das geht dich nichts an.“
Einer der Typen, wahrscheinlich ihr Anführer, trat vor und zog eine Pistole aus seiner Jackeninnenseite und begann bedrohlich damit zu schwenken.
„Doch das geht mich etwas an. Eine solche Feigheit ertrage ich einfach nicht.“
Ganz toll, Aki! Provozier sie auch noch! Wahrscheinlich konnte ich mir eine friedliche Lösung jetzt abschminken. Warum hatte ich nur so ein großes Mundwerk? Musste in der Familie liegen, nur redete ich gerade mich und die Kleine um Kopf und Kragen.
„Feigheit?“, fragte er halb überrascht, halb drohend.
„20, fast erwachsene, bewaffnete Menschen gegen ein kleines Mädchen. Wie wollt ihr das sonst nennen?“
Wenn ich mich so ins Unglück redete, dann aber richtig.
„Das hier ist unser Gebiet. Die Kleine hat hier nichts zu suchen.“
„Zum Ersten ist sie vielleicht 8 Jahre alt und versteht wenig von Gebietsaufteilung von Jugendlichen. Und zweitens gehört euch hier Garnichts, sondern rein formell der Stadt.“
Langsam aber sicher verlor er die Geduld mit mir. Seine Leute stellten sich schon hinter ihn. Gleich würde die Situation eskalieren. Alle Muskeln meines Körpers machten sich auf einen Kampf bereit.
„Verschwinde von hier, sonst sorgen wir dafür, dass du aus dem Leben verschwindest!“
„Ich werde hier nicht einfach abhauen, aber ihr könnt gerne gehen“, sagte ich lächelnd.
„Die Kleine spinnt“, hörte ich von hinten links.
„Wir müssen wohl mal wieder ein Exempel statuieren“, stellte der Anführer wie beiläufig fest.
Schon waren etwa ein Dutzend Schusswaffen auf mich gerichtet und das Feuer auf mich eröffnet. Kugeln zerfetzten meine Haut und drangen in mein Fleisch ein. Dieses Verhalten würde ihnen noch leidtun. Die Kleine, die hinter ihnen stand, und noch immer von zwei Mitgliedern der Truppe bewacht wurde, hatte angefangen zu weinen. Nun war das Maß voll. Die Schüsse hörten auf und ich stand immer noch. Aus vielen Wunden floss das Blut, das inzwischen, nach all den Jahren so eine dichte erreicht hatte, dass es Schwarz aussah. Mein Kopf hing nach unten, als ob ich schon tot wäre.
„Wieso steht die noch?“
Ich grinste. Auf dieses Stichwort hatte ich gewartet. Ich hob langsam meinen Kopf und sah sie grinsend an. Mit Klauenartigen Fingern griff ich in eine der Wunden und holte eine der Kugeln, die an einem Knochen stecken geblieben war hervor, legte sie auf die Innenseite meines Daumens und schnippte sie mit dem Zeigefinger weg. Kopfschuss bei einem direkt neben dem Anführer. Die Gesichtszüge der anderen entgleisten, während sie auf den toten Körper ihres Kameraden sahen, der nun fast wie in Zeitlupe nach hinten umfiel. Meine anderen Wunden drückten nun von Innen die Kugeln wieder heraus und schlossen sich. Ich stellte mich wieder vernünftig hin und zupfte in Ruhe meine durchlöcherte Kleidung zu Recht. Als ich das Gefühl hatte, dass alles wieder richtig saß hob ich meinen Kopf erneut zu ihnen und funkelte sie rot glühend an.
„Wollen wir noch einmal über meinen Vorschlag des Verschwindens reden? Aber eigentlich ist es auch egal was ihr jetzt sagt. Ohne Weiteres kommt ihr nichtmehr von hier weg. Kleine? Schließ deine Augen ganz fest und halt dir bitte die Ohren zu. Ich will dir das was folgt nicht zumuten.“
Das Mädchen tat, wie ihr geheißen.
„Nun zu uns.“ Die Gang erholte sich langsam aus ihrer Schockstarre und sah mich gebannt an.
„Schießt noch mal! Tötet sie, verdammt! Das muss irgendein billiger Trick sein!“, brüllte der Anführer Befehle. Wieder wurde das Feuer auf mich eröffnet, doch dieses Mal blieb ich nicht stehen und ließ mich durchlöchern, sondern wich unter den Kugeln hindurch aus und rannte auf sie zu. Einer versuchte mich mit einem Schlagring zu bearbeiten, als ich bei ihnen ankam. Ich tauchte jedoch darunter hindurch und riss mit meiner Klaue die ich nachgezogen hatte eine tiefe Wunde in sein rechtes Bein, woraufhin er unter Schmerzensschreien zusammen klappte. Dem Nächsten brachte ich eine Fleischwunde am Arm bei. So pflügte ich mich durch die Reihen der Gang bis nur noch ihr Anführer stand. Etwa 12 hatten die Flucht ergriffen. Der Rest lag auf dem Boden und wand sich vor Schmerzen. Ich stand nun so dicht vor ihm, dass ich seinen immer schneller werdenden Atem hören konnte.
„Jetzt hör mir gut zu, denn ich werde es nicht wiederholen. Ich habe jetzt an euch mal ein Exempel statuiert. Jetzt wisst ihr wie das ist und ich glaube nicht, dass es euch gefallen hat. Siehst du den Typen der jetzt tot ist? Den, den die Kugel getroffen hat? Ich habe ihn nicht willkürlich umgebracht, sondern er hatte die größte Menge an dunklen Seelenenergien in sich. Der hatte schon mehr getan als ihr alle zusammen, also lasse ich euch noch so davon kommen.“
Ich griff mit einer Seelenklaue in ihn und berührte die Seele. Er zuckte, aber war nicht mehr fähig zu schreien.
„Das fühlt sich nicht gut an oder? Wenn du das nie wieder spüren willst, dann empfehle ich dir deinen Lebenswandel zu ändern. Sonst könnten wir uns bald wieder sehen.“
Ich drang etwas in die Seele ein. Ein heiserer Schrei entfuhr ihm.
„Ich hoffe wir haben uns verstanden“, zischte ich bedrohlich und zog die Klaue aus ihm heraus, woraufhin er endgültig zusammen brach. Hoffentlich würden er und seine Kumpel eine Lehre daraus ziehen. Es gab immer jemand Stärkeres. Das kleine Mädchen stand noch immer da, hielt sich die Ohren zu und sang ein Kinderlied um die Angst zu vertreiben. Ich ging zu ihr, kniete mich nieder und berührte sie leicht an der Schulter. Sie riss die Augen auf und sah mich groß an.
„Hey, alles in Ordnung bei dir?“
Sie nickte nur stumm und sah mich weiter an.
„Du läufst jetzt ganz schnell nach Hause. Du drehst dich nicht um und erzählst bitte niemandem was hier passiert ist. Die Männer werden dir nichts mehr tun, du bist sicher.“
„Danke“, hauchte sie unter sichtlicher Mühe, drehte sich um und rannte los.
Hoffentlich würde sie das hier nicht zu sehr zeichnen. Am besten gar nicht. Ich richtete mich wieder auf und sah an mir herunter. Ich war über und über mit Blut verschmiert und meine Kleidung war zerschossen. Als ich das so ansah schoss mir ein völlig anderer Gedanke in den Kopf. Ich musste noch Wäsche waschen! Ich konnte doch nicht schmutzige Sachen in die Koffer packen. Verdammt! Das hatte mich jetzt so aufgehalten, dass ich das völlig vergessen hatte. Dann musste ich morgen eben waschen. Mistiger Mist. Und ich sollte mal wieder neue Klamotten kaufen gehen. In letzter Zeit war so viel zerschossen, zerschnitten und zerrissen worden, dass meine Wäsche morgen doch recht spärlich ausfallen könnte. Die Seele des Toten musste ich auch mitnehmen und nach unten schicken. Das konnten sie ja als so eine Art Bonus sehen, für die Tage, die ich nun wegen dem Umzug ausfiel. Während ich zurück nach Hause flog überlegte ich mir einen Zeitplan für morgen. Egal wie ich es auch drehte und umstellte, ich musste morgen den ganzen Tag wach sein. Wieder so wenig Schlaf. War wenig Schlaf nicht schlecht für die Haut und die Gesundheit? Verdammt, ich war tot warum dachte ich über sowas nach?! Zu Hause fiel ich nur noch ins Bett und meine letzten Gedanken kreisten um Menschen mit faltiger Wäsche als Haut, weil sie zu wenig geschlafen hatten. Ganz toll, Akira.

Kapitel 4 - Ein Traum von vergangenen Tagen


Die Nacht war zwar kurz, jedoch nicht traumlos. Die Geister meiner Vergangenheit jagten mich immer noch und sie würden keine Ruhe geben, solange ich auf Erden wandelte. Man sagt zwar, dass man nie das Gesicht seines ersten Toten vergisst, aber das stimmte nicht. Es waren die Augen. Jene blau-grauen Augen, die mich zuvor noch so überlegen gemustert hatten. Wie alt war ich damals gewesen? 12? Schwer zu sagen nach der langen Zeit. Es war einer von Sultan Murats Leuten gewesen. Onkel Vlad hatte ihn gefangen genommen, nachdem dieser ein Attentat auf ihn versucht hatte. Eine sehr dumme Idee. Egal wie friedlich und arglos er auch beim Schlafen aussah, so waren seine Sinne doch aktiv und er misstraute selbst seinem eigenen Teppich. Er hatte ihn dann uns gegeben. Uns, seiner persönlichen, kleinen Truppe, die er von klein auf, auf sich geprägt hatte. Wir waren alle noch Kinder. Keins älter als 14 und doch waren wir schon seit 3 Jahren in der Ausbildung. Eigentlich sollte ich gar nicht bei ihnen sein. Ich war ein Mädchen. Zu dieser Zeit gehörten Mädchen in die Küche und Jungen auf den Übungsplatz. Doch hier war alles anders und auch wir waren anders. Einige von uns waren Waisen, einige wurden von ihren Eltern und Familien hier her geschickt und wieder andere waren von zu Hause geflohen und versuchten nun hier ihr eigenes Glück zu finden. Doch in einem waren wir alle gleich. Das hier, diese Burg und ihre Menschen waren das einzige was wir gerade hatten. Wir waren eine kleine Sondereinheit, die der Graf selbst ausgesucht hatte. Die Meisten hatten sich eigentlich als Küchenjungen, Stalljungen oder die wenigen Mädchen als Mägde hier gemeldet. Ich war schon immer hier gewesen. Seit ich denken konnte war ich in dieser Burg gewesen und hatte hier gelebt und überall geholfen. Erzogen hatten mich die Diener des Grafen und zu mancher Zeit auch er selbst. Zu dieser Zeit war ich der festen Überzeugung gewesen, eine Waise zu sein. Man hatte mir gesagt, dass ich als Baby vor der Burg gefunden worden war. Der Graf hatte mich dann aufgenommen und ich durfte hier leben. Zum Dank hatte ich mich schnell behilflich gemacht und überall dort geholfen, wo Arbeit anfiel. Eigentlich war ich inzwischen fest in der Küche angestellt, doch die meiste Zeit über war ich draußen auf dem Platz und übte mich im Kampf. Innerhalb der Burg war es inzwischen ein offenes Geheimnis, dass auch ich als Mädchen an diesem Training teil nahm. Die ersten Jahre war es noch recht einfach mich als Jungen auszugeben. Der Name Akira war hauptsächlich männlich besetzt, was der Graf wohl auch beabsichtigt hatte. Aber mit den Jahren musste ich mich immer mehr verkleiden um zum Training zu können. Meistens half mir eine der Köchinnen, oder Küchenhilfen meine Figur mit einem Korsett so abzuschnüren, dass sie jungenhaft genug aussah. Das musste allerdings auch nur sein, wenn Fremde in der Burg waren. Insgesamt hatte ich wohl einen recht untypischen Lebenswandel. Selbst für die damalige Zeit. Selbst meine Träume schweiften ab. Zurück zu den blau-grauen Augen, die mich überlegen ansahen. Eigentlich sollten wir an ihm üben, damit er hier noch einen Zweck hatte. Der Graf stand am Arenarand undüberwachte die Situation akribisch. Rund herum waren auch noch einige Soldaten postiert, die wohl im Notfall auch eingreifen sollten. Unter so realen Bedingungen hatten wir noch nie geübt. Vor mir waren zwei andere dran. Sie taten sich recht schwer mit ihm und die Soldaten mussten gelegentlich eingreifen um die Situation zu entschärfen.
Nun war ich dran. Ich trug nur ein leichtes Lederwams und eine schlichte Hose. Kaum ein wirklicher Schutz gegen seine Klinge und meine Bewaffnung bestand aus einem Schwert in meiner Hand. Ich schluckte. Kaum stand ich in der Arena kam er auf mich zu gerannt. Halb stolpernd konnte ich seinem ersten Schlag entgehen, doch der nächste folgte sofort und bescherte mir einen kleinen Schnitt am Oberarm, da ich noch schnell genug zur Seite kam. Ich lebte noch, aber nun kam ich gewaltig ins Stolpern und konnte nur noch dadurch dem nächsten Schlag ausweichen, dass ich mich nach hinten fallen ließ. Warum griffen die Soldaten nicht ein? War ich nicht gefährdet genug? Ich sah schnell zum Grafen, der nur regungslos da stand, die Arme vor der Brust verschränkt und mich fixierte. Etwas war anders als vorhin. Die Anfeuerungsrufe der anderen waren verstummt und auch sonst schien es mir totenstill. Grinsend kam der Mann auf mich zu und seine Augen durchbohrten mich förmlich. Ich musste hier weg. Schnell weg von hier und von ihm. Nein! Keine Flucht. Ich rollte mich zur Seite ab um seinem starken Hieb zu entkommen und sprang geduckt wieder auf die Beine, während er seine Bewegung zu Ende führte und das Schwert unsanft auf dem staubigen Boden aufschlug. Ich stand nun zusammen gekauert, seitlich neben ihm. Er war nach vorne gebückt und wollte gerade wieder sein Schwert hoch reißen, als mir etwas ins Auge sprang. Der Dolch an seinem Gürtel! Schnell zog ich ihn aus dem Gürtel und ließ mich flach zu Boden fallen. Die Klinge zerschnitt die Luft knapp über mir, wo vor wenigen Augenblicken noch mein Hals gewesen war. Dies war wirklich ein Kampf auf Leben und Tod. Nachdem die Klinge aus der Kraft der Bewegung weiter schwang, kam ich wieder etwas hoch und sah schnell nach rechts, wo sich nun die Rückseite seiner Beine befand. Eine ruckartige Bewegung später steckte der Dolch bist zur Hälfte in seiner Kniekehle und er ging unter einem Aufschrei zu Boden. Genau in diesem Moment ließ er reflexartig sein Schwert los. Das Meinige hatte ich irgendwo zwischen dem 2. Stolpern und dem Hinfallen lassen verloren. Ich fing seins in der Luft ab, was eleganter klang, als es wirklich aussah. In derselben Bewegung machte ich auf dem Absatz eine Drehung und traf ihn mit voller Wucht in die Seite. Blut spritze aus der Wunde und er ging völlig zu Boden. Ich kam durch den Aufprall des Schwertes mit seinem Körper auch so ins Wanken, dass ich mich erst mal in den Staub setzte. Er lebte noch, ganz knapp. Seine Augen funkelten mich an. Immer noch waren sie eiskalt und spießten mich förmlich mit ihren Blicken auf. Dies hielt er so lange durch, bis er seinem Blutverlust erlag. Ich saß nur da, während die anderen zu mir stürmten und mich fragten, ob ich in Ordnung sei. Der Graf nickte anerkennend und lächelte. War dies sein Ziel gewesen? Sollte ich ihn töten? Beweisen, dass ich es konnte? Warum hatte er nur mich wirklich kämpfen lassen? Und warum hatte er mir nicht damals schon die Wahrheit gesagt?!
Ich erwachte. Die Träume meiner Vergangenheit waren immer so real, dass ich wieder so was wie damals. Klein, schwach und unwissend. Ich sollte anfangen meine Abreise vorzubereiten und nicht in der der Vergangenheit hängen bleiben.

Kapitel 5 - Reise ins Ungewisse


Der Tag meiner Abreise war gekommen. In den letzten Tagen hatte ich einen Bericht im Fernsehen gesehen in dem es um meine Spielplatzbekanntschaften ging. Drei von ihnen waren wirklich zur Polizei gegangen. Das mochte zuerst recht bedenklich gewesen sein, doch der Rest der Gang leugnete die Vorkommnisse und erklärte ihre Wunden als Unfall. Natürlich hatte man den drein unter diesen Umständen keinen Glauben geschenkt und sie unter Androhung einer Zwangsjacke davon gejagt. In einem anschließenden Interview zeigten sie sich dann auch sehr kleinlaut und stammelten etwas von Alkohol, man hätte ihnen etwas ins Glas getan und sonstige Ausflüchte, die gerne zu solchen Anlässen herunter gebetet wurden. Mir sollte es ganz Recht sein, denn ich legte es nicht drauf an mich um sie intensiv zu kümmern.
Ich stand am Bahnhof der nächst größeren Stadt. Wind kam auf und zog unangenehm über meine Haut und natürlich hatte ich keine Jacke dabei. Ich war wohl das untote Beispiel dafür, dass Alter nicht weise machte.
„Der Zug 95 über Prag nach Berlin hat 10 Minuten Verspätung. Vielen Dank für ihr Verständnis“, knisterte es aus den Lautsprechern. Na toll. Noch 10 Minuten länger hier draußen in der Kälte. Um mich herum erhoben sich immer mehr Stimmen, die ihre Gesprächspartner, oder einfach irgendwen fragten, was gesagt wurde. Natürlich war das Genuschel nur mit übermenschlichen Sinnen zu verstehen gewesen.
„10 Minuten Verspätung“, sagte ich zu niemand bestimmtem, aber die Nachricht verbreitete sich schnell. Falls Vampire bei den Menschen jemals gesellschaftliche Akzeptanz genossen, wäre das doch keine schlechte Idee. Man stellte an jeden Bahnsteig einen Vampir, damit zumindest einer es verstand. Das landete auch wieder in „Die Utopie der Akira Feralia“, weil dieser Zustand wohl nie erreicht würde.
Und schon kam die nächste Durchsage, die sich für die Fehlinformation entschuldigte, der Zug käme doch pünktlich. Ich spürte zig Blicke auf mir.
„Fehlinfo. Kommt doch rechtzeitig“, seufzte ich, was mit einem allgemeinen „Ahhhhhh“ kommentiert wurde.
Der Zug fuhr ein und ich suchte mir schnell einen Platz in einem leeren Viererabteil. Ich legte den Kopf an die Scheibe und versuchte zu schlafen. Musik hören und die vorbeirasende Landschaft beobachten. Es gab nichts Beruhigenderes. Ich war schon ziemlich weg gedämmert, als ich plötzlich laute Geräusche von draußen vernahm, die meinen Ruhe störten. Türen wurden kraftvoll aufgezogen. Es folgten Stimmen, die sich nach Protest anhörten. Gleich darauf wurde die Tür wieder genauso geräuschvoll zugeschlagen. Dieser Prozess wiederholte ich einige Male und kam immer näher. Dazwischen höre man immer Schritte von schweren Stiefeln, die den Gang entlang kamen. Irgendwas stimmte hier nicht und die Geräusche kamen immer näher. Irgendwo in mir keimte die unbegründete Hoffnung, dass es sich nur um einen sehr unfreundlichen Kontrolleur handelte, der einfach einen schlechten Tag hatte. Erneute Aufschreie. Diesmal aus dem Abteil genau neben meinem. Deutlich war eine Männerstimme zu vernehmen.
„Was wollen Sie von uns?!“
Hoffnung gestorben. Die nächste Tür knallte zu. Gleich würde meine Tür aufgehen und ich würde sehen, was hier vor sich ging. Meine Fingernägel gruben sich in das Polster des Sitzes und mein Atem ging schneller. Das war eigentlich eine rein menschliche Angewohnheit, aber sowas legte man wahrscheinlich nie ab.
Die Abteiltür wurde aufgerissen und im Rahmen stand ein hoch gewachsener Mann in einem braunen Mantel und einem grimmigen Gesicht. Zwei braune Augen starrten mich an und verengten sich zu schmalen Schlitzen.
„Feralia“, sagte der Mann dröhnend und sah mich direkt an.
„Hä? Was?“, versuchte ich die Unwissende zu spielen, wobei meine Überraschung doch sehr echt war. Woher sollte dieser Typ meinen Dämonennamen kennen? Er konnte und durfte es nicht wissen!
„Versuch gar nicht erst mich zu täuschen, Monster! Ich weiß Bescheid, wer und was du bist. Zum Wohle der Menschheit werde ich dich nun deiner gerechten Strafe für deine unheilige Existenz zuführe, um die Welt vor euch zu retten.“
Noch klischeehafter hatte wohl selbst er es nicht formulieren können. Wie konnte man so etwas nur glauben? Er trat einen Schritt auf mich zu. Sein Mantel klirrte und all meine schlechten Ahnungen schienen sich zu bestätigen. Das Innenleben dieses, fast bodenlangen, Mantels schien metallisch und aus Einzelteilen zu sein. Genau diese metallischen Einzelteile machten mir Sorgen. Wahrscheinlich war dieser Mann ein Jäger, ein Vampirjäger um genau zu sein und so, wie er sich benahm, war er ein wahrer Veteran und schleppte sein Waffenarsenal mit sich herum. Bei meinem Glück wusste er zudem damit umzugehen. Meine Situation war denkbar schlecht. In meinem derzeitigen Zustand konnte ich mich unmöglich in einem offenen Kampf mit ihm anlegen.
„Wollen Sie sich das nicht noch einmal überlegen? Wir könnten uns doch zusammen setzten, etwas reden und eine Pro-Kontra-Liste erstellen.“
Ja ich war verzweifelt. Verdammt verzweifelt! Die Vorstellung, dass dieser Typ mit mir eine vernünftige Debatte darüber führte, ob er mich töten sollte, kam an Unmöglichkeit dem Wiederauftauchen von Atlantis gleich. Samt Bewohnern! Er hielt lediglich kurz inne und sah mich etwas entrückt an. Vielleicht überlegte er sich gerade, ob er die Richtige vor sich hatte und wenn ja ob ich wirklich so dumm war, oder es nur spielte.
„Du kannst mich nicht überlisten, Feralia. Ich kenne dich und deine Brut und wie ihr die Menschen in euren Bann zieht, um sie dann ins Verderben zu stürzen.“
„Um blind ins Verderben zu rennen braucht ihr uns ja nicht einmal“, gab ich verächtlich zurück. Er nervte mich gewaltig, mit dieser überheblichen Art. Er redete, als sei ich für jeden umgefallenen Sack Reis persönlich verantwortlich.
„Möchtest du deine Seele von der Schuld befreien, bevor du vor deinen Schöpfer trittst? Wenn dem so ist beichte und bereue deine Sünden!“
„Hm“, machte ich und tat so, als würde ich wirklich darüber nachdenken. In Wirklichkeit sah ich mich unauffällig um, wie ich mich aus dieser, doch recht ungünstigen, Lage befreien konnte. Ich war inzwischen aufgestanden und stand mit dem Rücken zum großen Zugfenster. Der Jäger versperrte die Tür. An ihm vorbei laufen ging also nicht, zudem ich nicht unbedingt seine Reaktionsfähigkeit testen wollte. Demzufolge bleib mir nur noch das Fenster. Augen zu und durch. Ich drückte meinen Oberkörper mit aller Kraft gegen die Scheibe und erhob langsam die Arme, die zu einer großen, Gnade erbittenden Geste.
„Es tut mir sehr leid…dass ich dich nun schon wieder verlassen muss!“
Mit diesen Worten winkelte ich meine Armen an und lieb meine Ellenbogen mit voller Wucht in die Scheibe rasen, die daraufhin sofort zerbrach. Im gleichen Moment riss ich meine Beine hoch und kippte durch den Druck, den ich mit meinem Oberkörper ausgeübt hatte, rückwärts aus dem Loch, wo sich gerade noch Glas befunden hatte. Nur knapp verfehlte mich die Hand, die nach mir zu greifen versuchte. Im Fall nach hinten sah ich wie seine Gesichtszüge entgleisten und ihm ein wütender Aufschrei entfuhr.
Alles um mich herum schien in Zeitlupe abzulaufen. Die Splitter, die um mich herum flogen, funkelten wie kleine Sterne. Der Jäger griff in seinen Mantel. Nun verlor ich die Kontrolle über meine Mimik. Er holte ein Gewehr hervor und zielte auf mich, während ich auf dem Boden aufkam und einen kleinen Abhang hinunter rollte. Der erste Schoss fiel. Knapp über mir zerbrach eine größere Scherbe und ich kam zusammen mit ihren Überresten zu liegen. Sofort drehte ich mich zum Zug um, der weiter raste und sah den Jäger erneut zielen. Wenn er jetzt traf, war es vorbei. Vampirjäger benutzen keine normalen Kugeln, sondern solche, die selbst Unsterblichen erheblichen Schaden zufügten und uns auch über längere Zeit außer Gefecht setzen konnten.
Es gelang ihm zu meinem Glück nicht, noch einen Schuss abzugeben. Dies hatte ich wohl vor allem der Geschwindigkeit und dem ständigen Wackeln des Zuges zu verdanken. Nach wenigen Sekunden war der Zug, samt dem Jäger um eine Kurve gebogen und aus meinem Sichtfeld verschwunden. Fürs erste war ich sicher. Die nächste Station war noch weit weg und er konnte nicht, wie ich, einfach aus dem fahrenden Zug springen. Meine Knochenbrüche und sonstigen Verletzungen waren schon wieder verheilt.
Ich stand auf und klopfte den Dreck und die Glassplitter von meiner Kleidung. Es war kalt, arschkalt und mein Mantel war, wie der Rest meiner Sachen noch im Zug. Ich musste hier so schnell wie möglich weg. Nicht nur weil ich die Sorge hatte, dass er seine Kollegen schickte um mich zu finden und doch noch zu töten, sondern auch, weil ich zurzeit nicht ganz frostsicher war. Am besten war es, wenn ich die nächste Stadt suchen würde, um von dort aus weiter nach Berlin zu kommen. Nur wie? Ich stand hier irgendwo im nirgendwo und hatte absolut keine Ahnung wo ich hin musste, geschweigenden wo ich war. Zudem würde, wenn ich jetzt laufen würde, eher das Blut in meinen Adern gefrieren, bevor ich eine Stadt fand. Fliegen wäre natürlich noch eine Option, aber sehr gefährlich. Es würde viel Kraft kosten und ich musste auch irgendwo wieder ungesehen landen.
Einfrieren, oder vom Himmel fallen. Eine tolle Auswahl hatte ich da ja mal wieder. Verdammte Vampirjäger! Nur Ärger hatte man mit denen und sie hielten sich für die Größten. Nicht mal nützlich waren sie, sondern funkten immer dazwischen. Der ganze Vampirrat war schon mal lahmgelegt worden, nur wegen denen und ihren albernen Aktionen. Leise so vor mich hin fluchend flog ich in die ungefähre Richtung, in die mein Zug entschwunden war. Die Wahrscheinlichkeit vor meinem Absturz ein Dorf zu finde, war verhältnismäßig groß. Falls das jedoch nicht der Fall sein sollte, hätte ich ein doch recht bedenkliches Problem. Elende Vampirjäger!
Zum Glück fand ich doch noch einen kleinen Ort, in dem ich auf einer Kuhweide ungesehen landen konnte. Eine Herberge für die Nacht war auch schnell gefunden, sodass ich doch nicht elendig erfrieren musste. Sowas nannte man dann wohl Glück im Unglück, auch wenn mir nur Glück lieber gewesen wäre. Morgen könnte ich dann auch weiter nach Berlin fahren, um endlich meinen neuen Posten einzunehmen. Das zwar mit einem Tag Verspätung, aber immerhin. Jedoch bereitete mir etwas völlig anderes Sorgen. Woher hatte der Jäger gewusst wann ich wohin fahren würde und wie ich aussah? Waren ihre Methoden inzwischen wirklich so gut? Im Schlimmstfalle, hatte ihnen jemand diese Informationen zugespielt, aber warum, wer und wie? Das konnte sich zu einem wirklichen Problem auswachsen, wenn es in der Unterwelt, oder der Vampirgesellschaft eine undichte Stelle gab, die unseren Feinden solche Dinge verriet. Ich sollte meinem Onkel in der Zentrale des Paktes Bescheid geben, dass wir vielleicht ein internes Problem hatten. Der würde sich sicher wieder riesig freuen, wenn ich ihm schon wieder schlechte Nachrichten überbrachte. Irgendwann würde ich diese schlechte Laune zu spüren bekommen. Mir grauste wirklich vor diesem Tag.

Kapitel 6 - Unerwarteter Wiederstand


Nun stand ich also hier. Mitten in dieser Großstadt und ich hatte wohl meinen ersten Kulturschock. Wenn man Jahre in einem kleinen Dorf irgendwo im Nirgendwo zugebracht hatte war so eine Stadt wirklich erschlagend. Alles bewegte sich. Alle Menschen rannten umher nur um irgendwelchen Terminen und Aktivitäten nachzugehen. Überall war es laut und von oben hätte man es bestimmt für ein Chaos gehalten…und das war es auch. Diese Menschenmassen waren nicht organisiert, sondern jedes Individuum kümmerte sich um sich selbst und sein Umfeld, nicht jedoch um das was um ihn herum geschah. Einfach faszinierend. Doch während ich diese Menschen betrachtete wurde mir etwas schmerzlich klar. Jeder von ihnen konnte einer dieser Vampirjäger sein. Ein Killer der dazu lebte, mich und meinesgleichen zu jagen bis sie uns zur Strecke gebracht hatten. Ich schüttelte kurz den Kopf und wand mich von all dem ab. Ich musste mein neues zu Hause suchen und das könnte eventuell zu einem Problem werden, allein schon weil ich mich hier nicht auskannte.
Irgendwie kam ich mir schrecklich dumm vor. Hier stand ich nun in der Großstadt und hatte ganz ehrlich gesagt keine Ahnung, wo ich hingehen sollte. Wie ging das denn man neu war? Was musste ich tun, um bemerken zu lassen, dass ich da war? Was musste ich als nächstes tun? Alles war wirr in meinem Kopf. Sah es in meinem Kopf aus wie in dieser Stadt? Chaos über Chaos und niemand weiß, was der andere tut?
Ein Geistesblitz! Ich könnte ja erst mal zum Einwohnermeldeamt mal „Hallo“ sagen, vielleicht wussten die ja was. Sie sollten es zumindest. Wo könnte es sein? Ich sprach eine junge Frau an, die sich gerade ein Schaufenster ansah: „Entschuldigen Sie bitte?“ Ich lächelte kurz. „Wo ist denn hier das Einwohnermeldeamt?“ Sie sah mich verwirrt an. War ich etwas noch in meiner Vampirform? Ich sah an mir herab doch alles sah menschlich aus. Auch Reißzähne konnte ich keine spüren
„Ähm...äh…das Einwohnermeldeamt…hmm...lass mich überlegen. Ah ja natürlich. Dort“, sie zeige mit dem Finger in der Gegend rum, „ja dort müsste es sein. Mozartstraße auf jeden Fall.“ Ihr Finger hatte eine Richtung gefunden und wies nun in eine kleinere Straße. „Wenn du dort entlang gehst kommst du direkt auf die Mozartstraße. Ich hoffe es jedenfalls…“ Naja es war besser als nichts und den Versuch immerhin wert. „Vielen Dank.“ Ich verneigte mich leicht. Alte Angewohnheit aus meiner Zeit in Japan. Ich wand mich ab und ging los. Zuerst musste ich mich durch eine Menschenmasse drängen, bis ich zu der Straße durchkam. Durch diese hindurch und schon sah ich wieder Menschenmassen und musste seufzen. Mein erster Tag und alles ging schief. Wieder stand ich auf einer belebten Straße, doch entdeckte ich zu meiner großen Freude das Schild mit der Aufschrift „Mozartstraße“. Diese verflog jedoch augenblicklich als ich nach rechts und links sah. In beide Richtungen ging die Straße ein paar 100 Meter weiter. Klasse. Dann wieder durchfragen. Wieder dasselbe Prozedere, aber es gelang mir doch am Ende vor einem verglasten Gebäude zu stehen, an dem ein kleines Schild mit „Einwohnermeldeamt“ angebracht war. Stolz das geschafft zu haben, trat ich ein. Es war sowohl angenehm kühl, als auch ruhig. Eine Frau kam auf mich zu und fragte mich, was ich wollen würde.
„Ich würde mich gerne anmelden.“
„Zu was?“
„Hier zu wohnen. Ich bin gerade hergekommen und, naja um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was zu tun ist. Ich dachte, man könnte mir hier helfen.“
„Wo sind denn deine Eltern? Ich glaube, ich bespreche das lieber mit denen.“
„Das ist leider nicht möglich.“
„Warum? Sind sie gerade noch woanders? Solltest du hier auf sie warten?“
„Ich habe keine Eltern, deshalb müssen sie leider mit mir Vorlieb nehmen.“
Schweigen. Die Frau sah mich entgeistert an. Vielleicht war der kalte objektive Tonfall für so etwas falsch gewählt, schließlich musste sie davon ausgehen, dass meine Eltern gestorben seien. Ja das waren sie aber das ist wohl zu lange her, um deswegen einen Heulanfall zu bekommen, nicht? Langsam schien sie wieder zu sich zu kommen.
„Was ist denn mit deinem Vormund?“
„Hab keinen.“
„Verwandte?“
„Keine mehr vorhanden, tut mir leid.“
„Aber zu irgendwem musst du doch gehören!“
„Ja zu mir selbst und könnt ich jetzt bitte den ganzen Papierkram haben, um endlich in dieser verdammten Stadt einziehen zu können?!“
Langsam aber sicher war meine Geduld zu Ende. Sah ich zu dumm aus, um auf mich selbst aufzupassen?
Wieder nur schweigen. Doch dann sah ich etwas in ihren Augen, das mir ganz und gar nicht gefiel und es sollte sich bewahrheiten.
„Das geht leider nicht.“
„Wieso?“
„Bist du 18?“
Verdammt. Wegen meines Aussehenes galt ich seit fast 600 Jahren als 17. Ich musste das dringend ändern lassen, langsam wurde es zum Störfaktor. Wenigstens auf dem Papier wollte ich 18 sein.
„Nein ich bin 17…“
„Dann muss ich das dem Jugendamt melden. Entweder du kommst zu Verwandten, oder in eine Pflegefamilie“
„Nein!“
„So will es das Gesetzt. Ich rufe sofort dort an, warte hier bitte.“
Ich ließ mich in einen Stuhl fallen und richtete meinen Blick an die Decke. Das durfte jetzt bitte nicht wahr sein…Ich? Ich in eine Pflegefamilie?! Jetzt war es wirklich im wörtlichen Sinne amtlich: Der Tag und Beginn meines neuen Lebens war ein Reinfall!

Kapitel 7 - Planänderung!


Ich schlug die Augen auf. Bitte lass es einen Traum gewesen sein. Natürlich nicht. Ich war lediglich in dem Stuhl im Einwohnermeldeamt weggedöst. Konnte es schlimmer kommen? Welch Frage. Natürlich konnte es!
„So hier bin ich wieder.“
„Und was nu?“
„Du kommst gleich für eine Nacht in ein Heim. Das Jugendamt war entsetzt wie wenig man doch auf dem Land tut. Es hat sich nun aber eine nette Familie gemeldet. Sie holen dich morgen früh am Heim ab. Du armes Ding bekommst nun endlich wieder eine Familie. Ist das nicht schön?“
„Ich könnte mir außer Sterben nichts Schöneres vorstellen“, antwortete ich sarkastisch. Für freundliche Diplomatie war ich gerade nicht in der Stimmung. Von der Frau erntete ich ungläubige Blicke.
„Folge mir bitte ich bringe dich zum Heim.“
Ich folgte ihr langsam. Zu müde für Protest und zu geschafft zum Fliehen. Vielleicht war es ja sogar interessant. Wir gingen vors Haus zu einem Kleinwagen, der anscheinend der Mitarbeiterin gehörte.
„Auf meinem Nachhauseweg bring ich dich kurz vorbei. Es wird dir sicherlich gefallen.“
Ich nicke nur trübe. Alles was ich wollte, war ein Bett und ein bisschen Blut, aber aus letzterem wurde wohl nichts.
Vor einem Neubau hielten wir an. Viel Glas. Große Fenster. Alles hell und freundlich. Ich hatte mir ein Heim schlimmer vorgestellt. Die Frau begleitete mich bis zum Empfang und übergab mich dort der Nächsten.
„Ich bring dich auf dein Zimmer. Hast du irgendwelche Sachen die man dir bringen müsste?“
„Am Bahnhof lagert ein Teil meines Gepäcks…“ Ich biss mir auf die Zunge. Beinahe hätte ich gesagt, dass meine Möbel auf dem Weg in meine eigentliche Wohnung waren.
„Ein Teil?“
„Der Rest ist verloren gegangen.“
„Hier wären wir auch schon. Dein Zimmer für eine Nacht. Morgen holen wir deine Sachen und bringen dich zu deiner neuen Familie.“
„Geht hier sowas immer so schnell?“
„Nein, du hattest Glück, andere warten wochenlang auf ihre Familie.“
„Aha.“ Glück. Pah! Von wegen. Pech passte wohl eher.
„Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid. Ich komm morgen wieder, um dich zu wecken. Bis morgen.“ Sie schloss die Tür.
Ich ließ mich aufs Bett fallen. Es war ein wenig zu weich, aber für die eine Nacht würde es gehen. So lag ich ein paar Minuten und dachte darüber nach was gewesen war. Da hörte ich ein mir wohl bekannte Geräusch. Ein Flattern. Kleine Flügel die die Luft zerschnitten, sich geschickt durch die Stadt mogelten, um hier vor der Scheibe zu warten, bis man ihnen öffnete.
„Misu!“
„Ja, eben jener. Ich habe Nachricht für dich.“
„Sag an, mein Tag kann eh nichtmehr schlimmer werden.“
„Ich weiß. Man hat deine Möbel und all jenes was nicht für Menschenaugen bestimmt ist in deine neue Wohnung gebracht. Leider sind und die Behörden dazwischen gegangen. Es wird aber schon daran gearbeitet.“
„Heißt?“
„Es ist in Arbeit. Außerdem bist du doch wohl fähig, auch mit diesen Sterblichen zu arbeiten oder?“
„Ja, schon, aber leicht ist es nicht und sie werden stören.“
„Ich hoffe wir haben bald alles durch. Deine „Eltern“ werden sich dann melden. Wir feilen noch an der Erklärung.“
„Die größte weltumspannende Organisation muss sich für ein paar Menschlein eine Erklärung überlegen?“
„Ja. Es gab ein paar Zwischenfälle und man darf nur so viel dazu sagen, dass im Moment keine unnötigen Manipulationen durch geführt werden dürfen. Tut mir leid.“
„Also im Klartext: Ich sitz hier solange fest, bis die Formalitäten da unten durch sind und ich hier raus geholt werde?“
„Korrekt.“
Ich verbarg mein Gesicht in einem Kissen. Das durfte nicht wahr sein. Das konnte nicht wahr sein.
„Ich muss dann auch wieder los. Hier sind deine Aufträge. Viel Erfolg. Ich melde mich wie gewohnt.“
Und schon flatterte mein Hoffnungsschimmer aus dem Fenster, in die Nacht hinein. Sollte ich heute Nacht noch los? Nein. Der Tag hatte viel Kraft gekostet und ohne Blut ist es zu anstrengend loszufliegen. Ich brauchte meinen Schlaf. Ich zog mich aus und suchte ein Nachtgewand aus dem Schrank heraus. Alles hatte schon bereit gelegen. So legte ich mich hin. Seit Ewigkeiten zum ersten Mal bei Nacht.
Der nächste morgen war vor allem eins: Hell. Murrig drehte ich mich vom Fenster weg. Ich wollte weiterschlafen. doch hörte ich schon dieses durchdringende Geklacker von Stöckelschuhen. Aus der Traum von der eigenen Wohnung. Wieder störte die Realität. Diesmal in Form einer viel zu gut gelaunten Heimarbeiterin, die mir in heiter flötender Stimmlage vermittelte, dass ich aufstehen sollte, das Frühstück fertig sei und in einer Stunde meine Familie kam, die dabei war meine Sachen abzuholen.
„Danke“, grummelte ich in die Bettdecke. Ich hasste aufstehen und insbesondere, wenn es zu früh war. 5 Minuten lag ich noch da, dann schwang ich kraftvoll meine Beine aus dem Bett und setzte mich erst mal. Die Mitarbeiterin hatte mir frische Sachen heraus gelegt. Ein violettes Hemd und ein schlichter schwarzer Rock. Sie schien gemerkt zu haben dass man mir schlecht pink oder so etwas andrehen konnte. Schnell schnürte ich meine schwarzen, schweren Stiefel und ging die Treppe hinunter zum Speisesaal. Alle anderen schienen schon weg zu sein. Nur vereinzelt saßen noch Kinder und Jugendliche an den Tischen und redeten. Schnell holte ich mir ein paar Brötchen, setzte mich und aß gemütlich. Ich merkte, dass sie mich musterten. Sie alle beobachteten mich. Sie suchten das Neue und Unbekannte und nun hatten sie es gefunden. Ich wusste genau, wer mich ansah und was er ungefähr dachte. Da entdeckte ich in dem Gedankenmeer einen Gedanken, der so übermächtig war, dass er wichtig sein musste. Hatte jemand entdeckt was ich war? Ich konzentrierte mich. Da stand er und banaler hätte er kaum sein können. Ich blickte auf und sah genau das was ich erwartet hatte. Ein Modepüppchen, nach dem neusten Trend gekleidet. Die würde sich noch wundern.
„Achja und die Stiefel passen sehr wohl zu Kleid und Bluse meine Liebe, oder willst du mir deine pinken Plüschpöms geben?“
Genau das fragte ich über zwei Tische hinweg das Modepüppchen. Die Geräuschkulisse erstarb augenblicklich. Ich lächelte sie freundlich an und widmete mich wieder dem Brötchen vor mir.
„Wie war das gerade?“ Ah sie hatte mich also doch gehört.
„Das hast du genau verstanden, also frag nicht. Wenn du denkst, dass ich durch diese dumme Frage Angst bekomme, liegst du leider falsch“, sagte ich, noch immer essend.
„Wer bist du überhaupt und woher wusstest du, dass ich das gesagt habe?“ Angebissen.
„Wer ich bin? Das tut nichts zur Sache, ich werde auch gleich wieder weg sein und, dass du das gedacht hast hab ich an deinem Blick gemerkt. Nicht schwer zu erraten.“
„Und wieso musstest du es so blöd kommentieren?“
„Wieso musst du mich so blöd kommentieren?“ Ich war aufgestanden und hatte meinen Teller weg gebracht und stand nun genau vor ihr.
„Dein Outfit schreit ja geradezu danach, verbessert zu werden!“
„Dann lass es schreien und kauf dir Oropax. Mir gefällt es, das reicht vollkommen. Außerdem“, ich lächelte und schob dabei meine Reißzähne, die wieder vampirisch waren, leicht über die Unterlippe, „solltest du vorsichtig mit deinen Gedanken und Kommentaren sein. Es könnte dein Letzter sein.“
Verschreckt sah sie mich an. Angst kroch in ihre, eben noch so freche Mimik und verzerrte sie zum reinen Entsetzten. Ich lachte.
„Nimm es dir zu Herzen, meine Liebe, solange du noch eins hast. Ich bin dann mal weg.“ Ich drehte mich um und ging. Hinter meinem Rücken hörte ich einen unterdrückten Schrei. Ja Menschlein schrei solange du willst. Vielleicht hatte ich für solch eine Lappalie etwas dick aufgetragen, aber das war es wert gewesen. Frisch gestärkt holte ich meine Sachen aus dem Zimmer und wartete vor dem Heimgebäude.
Lange musste ich nicht auf den Familienwagen warten, der gemächlich die Straße entlang kam. Ein altes Auto, aber gut erhalten und genau richtig für eine Familie. Es schienen alle mitgekommen zu sein, denn 4 Leute drängen sich im Inneren. Sie parken und stiegen aus. Die zwei Elternteile und zwei Kinder, ungefähr mein offizielles Alter, stiegen aus. Der Vater kam auf mich zu und reichte mir die Hand. Kurzes Begrüßungsprozedere und dann stellte man sich mir vor.
Die Mutter hieß Katrin. Sie sah für ihr Alter noch sehr jung aus und hatte lebhafte blaugraue Augen, die mich voller Interesse musterten. Sie war schlank und auch recht groß, sodass sie knapp über mich ragte und ich war nun wirklich nicht klein. Ihre braunen langen Haare waren in einem lockeren Zopf gebunden der sehr danach aussah, dass es schnell gehen musste.
Ihr Mann Juan sah bis auf seine schon ergrauenden Haare sehr südländisch aus. Feste, braune Augen, freundlicher aufgeschlossener Gesichtsausdruck. Der Tein was gut gebräunt und auch er war für sein Alter gut in Schuss.
Die beiden Kinder hatten andere Blicke übrig für mich als ihre Eltern. Während diese freundlich auf mich zugekommen waren, hielten sich die zwei im Hintergrund und sahen mich skeptisch an.
„Melanie? Zero? Würdet ihr bitte auch unser neues Familienmitglied begrüßen?“, sagte die Mutter freundlich, aber bestimmt. Die zwei kamen her und schauten mich mit diesem verachtenden Blick an. Melanie hatte die Augen ihres Vaters, sonst aber wenig von ihm. Zeros Augen dagegen faszinierten mich. Sie waren vollkommen grau und so kalt, wie ich es selten sah. Mit ihm würde ich Spaß haben, das war gewiss, denn er würde mich nicht so einfach akzeptieren. Auch sonst sah er keinem seiner Eltern wirklich ähnlich. Seine kurzen Haare waren stahlgrau, wirkten aber nicht gefärbt. Auch seine Gesichtszüge fielen aus dem Rahmen dieser Familie. Sie waren sehr fein und sahen edel aus. Er wirkte zwischen ihnen so fehl am Platz wie ich mich fühlte, aber doch irgendwie zugehörig. Irgendwas war mit ihm. Ich würde es noch früh genug herausfinden, schließlich konnte es bis zu meiner Befreiung dauern.
So stiegen wir wieder ein und fuhren los.
„Wir haben deine Sachen schon in den Kofferraum geladen und fahren nun direkt nach Hause. Da kannst du dich in Ruhe umsehen. Wir hoffen es wird dir gefallen und du wirst dich bald soweit eingewöhnte haben, dass du zu Schule gehen kannst.“ Damit hatte Juan die nächste schlechte Nachricht. Schule? Ich war noch nie wirklich in einer Schule gewesen. Klar kannte ich das Prinzip vom sehen und hören her, oder aus dem Fernsehen, aber selbst besucht hatte ich solch eine Einrichtung noch nie. Wozu brauchte jemand, der seit 500 Jahren an sich lernte noch eine Schule? Ich war bei den meisten großen Entdeckungen dabei gewesen.
„Ähm natürlich. Nun ja aber.“
„Was ist denn?“
„Bei uns war der Schulunterricht etwas anders. Ich habe zwar immer viel gelernt und hoffe, dass ich hier ganz normal zur Schule gehen kann, aber das System ist mir natürlich noch nicht vertraut.“
„Man hat uns schon gesagt dass du unter anderen Umständen groß geworden bist, aber keine Angst wir werden dir helfen dich hier zu Recht zu finden und Melanie und Roberto werden dich in der Schule auch begleiten.“
Ein Seitenblick auf Zero genügte um festzustellen, dass er es tun würde, aber es ihm vollkommen wiederstrebte.
„Danke sehr. Ich hoffe wirklich, ihnen nicht zur Last zu fallen und dass ich schnell lerne hier zu leben“, sagte ich lächelnd. Wir bogen in eine kleine Einfahrt ein und kamen zum Stillstand. Meine Pflegefamilie machte sich sofort daran meine Sachen aus dem Wagen zu laden und Misu hatte nicht gelogen. Sowohl meine Waffen, als auch der Koffer mit Blutkonserven und ein paar Kleinigkeiten waren weg.
„Du wirst im alten Gästezimmer wohnen. Wir haben es bereits hergerichtet.“
Eine Treppe hoch und einen kleinen Gang entlang und schon standen wir in meinem Zimmer. Es war relativ groß. Darin befanden sich bereits ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch samt bequemem Stuhl und ein Sessel. Alle Sachen wurden auf den Boden gestellt. Melanie und Zero verschwanden sofort.
„Wir gehen nun das Mittagessen vorbereiten. Richtige dich doch hier erst mal ein und wenn du Lust hast, kannst du auch gerne herunterkommen und uns deinen Namen verraten“, sagte Katrin sanft lächelnd und ich wurde rot. In dem ganzen Vorstellungswirwar und meiner Überraschung über die Schulpläne hatte ich völlig vergessen mich mit Namen vorzustellen. Meinen wahren Namen sollte hier keiner kennen. In den Akten hieß ich aber sehr ähnlich, damit ich auch darauf hörte.
„Akio“, sagte ich leise „Mein Name ist Akio Feralan.“ Ich verneigte mich. Ich müsste mich wohl gleich komplett vorstellen. Aber zuerst wollte ich mich umziehen und alles einräumen. Vielleicht fand ich irgendwo noch eine Blutkonserve.
„Gut Akio, wir gehen dann schon mal runter. Bis gleich.“
Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, stürmte ich zu meinen Sachen. Und fand was ich suchte. Ganz unten in einer Reisetasche, die mit Klamotten gepackt war, fand ich eine Blutkonserve. Danke Misu. Schnell riss ich sie auf und trank hastig das rote Lebenselixier. Ich spüre wie wieder Kraft durch mich hindurch floss und mein schlaffer Körper spannte sich.
„Viel besser.“ Ich fand noch zwei andere Blutkonserven, die ich schnell in zwei leere Flaschen füllte. Tomatensaft versteht sich. Ich musste zu einer Zweigstelle und mir neue holen diese zwei würden nicht lange reichen. Ich packte alles, was da war in den Schrank und zog mich um. Ein schwarzes Top mit vielen kleinen Totenköpfen darauf und eine auch schwarze Hose mit unzählbar vielen Reisverschlüssen und Taschen schienen mir angemessen. Ich band meine langen schwarzen Haare zusammen legte meine Kette und meine Armbänder an. Ich sah mich im Spiegel an. Entgegen den Gerüchten, hatten Vampire sehr wohl ein Spiegelbild. Wie sollte man auch ohne so eitel sein, wie wir es nun mal waren? Das Gerücht kam sogar von uns selbst, damit man so Vampire testen konnte, ohne dass auch nur ein Vampir so enttarnt werden würde. Nur meine strahlenden grünen Augen waren ein Farbklecks im Spiegelbild. Perfekt. Ich ging nach unten und folgte dem Essensgeruch ins Esszimmer.
„Oh hallo, Akio“, begrüße mich Katrin. Die beiden Sprösslinge schienen es nicht für nötig zu halten mich zu begrüßen, nur Zero sah mich kurz mit seinem stechenden Blick an. Diese grauen Augen. Woher kannte ich sie? Und dieser Name. Sehr außergewöhnlich. Irgendwoher kannte ich diesen so seltenen Namen.
„Hallo zusammen. Was gibt es denn Leckeres? Duften tut es schon mal köstlich.“
„Danke Akio, aber lobe das Essen besser erst, wenn es in deinem Magen ist“, kommentierte Juan. Ich musste lächeln. So hatte unsere Köchin im Schloss auch immer gesprochen. Egal wie hoch wir sie lobten, sie kritisierte sich weiter. Ich setzte mich auf einen freien Stuhl und betrachtete Melanie und Zero bei ihrem angeregten Gespräch, als auch Katrin, die zu servieren angefangen hatte. So nahe war ich Menschen schon lange nicht mehr gewesen, zumindest nicht so friedlich.
„So heute gibt es zwar nur Nudeln mit Soße, aber ich hoffe es schmeckt trotzdem. Entschuldige Akio, dass es an deinem ersten Tag bei uns nur Nudel gibt.“
„Nein, nein, es ist vollkommen in Ordnung. Es sieht lecker aus. Ich habe lange nichts selbst gekochtes mehr gegessen.“
„Dann wird dir das bestimmt zusagen.“ So setzte sich auch Juan an den Tisch.
„Guten Hunger“, sagte Katrin und alle begannen stillschweigend zu essen. Ich sah mich unentschlossen um. Diese Situation war mir so fremd, als hätte ich noch nie mit anderen an einem Tisch gesessen. Aber der Hunger siegte über die Unsicherheit. Ich hatte mich nicht geirrt, sie waren sehr lecker. Ganz anderes als Blut und eine willkommene Abwechslung. Nächste Portion. Viel besser als Blut! Nachdem alle fertig gegessen hatten, fingen Zero und Melanie an den Tisch abzuräumen. Ich half ihnen, so gut es ging, mit.
„Was habt ihr nun vor?“, fragte Katrin, worauf ich erst gar keine Antwort wusste. Was machten Sterbliche so den ganzen Tag?
„Wir zeigen ihr etwas die Stadt!“, sagte Melanie fröhlich und zum ersten Mal sah ich sie in meiner Gegenwart lächeln. Auch Zero konnte sich einen freundlichen Gesichtsausdruck abgewinnen.
„Gut, tut das. Bis später.“
Melanie nahm mich bei der Hand und zerrte mich in den Flur. Ich zog mir schnell meine Stiefel an und wir gingen hinaus. Roberto war uns stillschweigend gefolgt. So liefen wir ein paar 100 Meter die Straße entlang. Wir waren in einem ruhigeren Vorort und ich hatte noch keine Ahnung was dieses merkwürdige Verhalten zu bedeuten hatte.
„So wir sind nun weit genug weg“, stellte Melanie fest, „Nun Akio, du scheinst ja ganz in Ordnung zu sein.“
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich ruhig.
„Das ist recht schwer zu erklären. Wir wollten dich erst einmal einschätzen. Wir waren sehr misstrauisch, als unsere Eltern und gesagt haben, dass sie spontan wieder ein Pflegekind nehmen. Sie sind einfach viel zu gutherzig und würden selbst ein Miststück behalten, nur weil es ihnen leid tun würde. Wärst du ein solches gewesen, hätten wir dich irgendwie vergrault. Klingt bestimmt völlig verrückt und du hältst uns für grausam“, erklärte Melanie.
„Nein das tue ich nicht. Es überrascht mich viel mehr, dass ihr so vorausschauend handelt. Grausam ist da wohl das falsche Wort. Viel eher zweckmäßig. Ist also jetzt Frieden oder sind diese eisigen Blicke Standard?“
Beide schauten sich verwundert an. Dann brach Zero die Stille.
„Von Melly wirst du keine bösen Blicke mehr bekommen. Das liegt ihr nicht. Bei mir musst du dich aber daran gewöhnen. Das ist nichts gegen dich. Viele sagen mir, ich hätte kalte Augen. Wie lange warst du eigentlich in dem Heim?“
„Ich war eine Nacht dort um ehrlich zu sein. Ich habe gestern erst erfahren, dass ich zu einer Pflegefamilie muss. Ich dachte eigentlich ich könne wieder alleine wohnen wie bisher.“
„Ja, Mutter und Vater erwähnten da etwas. Du hast wirklich ganz allein gelebt bisher? Sind deine Eltern gestorben, oder warum war das so?“
„Früher habe ich bei meinem Onkel gewohnt, aber er ist gestorben“, log ich mir Film reif etwas zusammen, “Von seinem Nachlass habe ich mir dann eine Wohnung genommen. Dort wo wir lebten wurde da nicht so sehr drauf geachtet. Nun bin ich hier und muss mit den Regeln hier leben lernen.“
„Du hörst dich nicht an wie 17, Akio“, sagte Zero leise.
„Vielleicht macht einen alleine leben innerlich älter. Ich freue mich aber, dass ihr mich doch nicht so verachtet wie ich befürchtet hatte.“ Und das war mein Ernst. Ich mochte die beiden irgendwie. Auch sie hatten ein kleines Geheimnis, dass anderen diente. Ich freute mich auch in einer Familie zu sein. Diese Menschen waren so ganz anders, als die hochoffiziellen Wächterdämonen, der gehetzte Misu oder die geisteskranken Menschen die ich jagte. Ganz abgesehen von den Vampiren, die eh alle sehr speziell waren.
So fingen sie an mir die Stadt zu zeigen. Alles war riesig geworden. Der Größenwahn der Menschen manifestierte sich in ihren Prachtbauten, die nur dazu dienten sich gegenseitig zu überragen. In den Häuserschluchten drängten sich wieder viele Menschen doch nun gehörte ich dazu. Ich ließ mich einfach von Melly ziehen und von Zero schieben, die sich so geschickt durch die Massen schlängelten, dass es sogar mir Respekt einflößte. Wir besuchten Einkaufszentren, Märkte, Parks und alles, was es sonst auf die Schnelle zu sehen gab. Erst als die Sonne die Stadt in blutiges Rot tauchte, begaben wir uns auf den Heimweg. Ich hatte an diesem Tag mehr geredet und gelacht als in den letzten 10 Jahren zusammen und dafür allein war ich den beiden dankbar. Zu Hause angekommen gab es schon Abendbrot. Diesmal kein betretenes Schweigen, sondern ausgelassenes Reden, an dem auch ich mich beteiligte. Nach dem Essen sahen wir uns noch einen Film an und gingen dann schlafen bzw. die Familie ging schlafen und ich wartete. Als ich keine Geräusche mehr hörte, schwang ich mich aus dem Bett, zog mich an und holte die Aufträge aus meiner Nachtischschublade. Drei waren es an der Zahl. Recht wenig für eine solche Stadt, oder Schonzeit. Mir egal, ich musste alles fertig bekommen morgen stand Schule an. Ich öffnete mein großes Fenster und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

Kapitel 8 - Über Schüler und Mörder


Die Aufträge befreiten mich in einer gewissen Form. Es war etwas Gewohntes, Etwas, dass sich immer wiederholte und nie wirklich anders wurde. Anklopfen, jagen und dann die Seele entnehmen. Immer der gleiche Trott, aber immer machte es mir Spaß. „Warum?“ könnte man sich fragen. Wegen meiner Freude am töten? Wegen der Angst, die meine Opfer empfanden, wenn ich sie holen kam? Wegen dem Gefühl etwas für diese Welt getan zu haben? Nützlich zu sein? Nein, nützlich fühlte ich mich nicht. Ich tat, wozu ich geschaffen wurde, mehr nicht. Doch in dieser Nacht war es irgendwie anders. Ich kämpfte nicht mehr nur wegen dem Befehl, nein diesmal wusste ich für wen ich arbeitete. In Wirklichkeit tötete ich die wahnsinnigen Menschen um solche wie meine Pflegefamilie zu schützen und um die Hölle am Laufen zu halten. Diese Menschen würden niemandem mehr schaden, denn ihre Seelen nährten die ewigen Flammen der Hölle in der Ihresgleichen brannte. Welch‘ Ironie.
Nur noch einer auf der Liste, dann konnte auch ich mich zur Ruhe legen. Eine Frau die ihr Kind ermordet hatte, weil sie nichtmehr wusste was sie machen sollte. Solche armen Menschen. Töten ihre eigenen Kinder aus Verzweiflung. Ich landete auf ihrem Balkon im 5. Stock. Er führte direkt in ihr Schlafzimmer und ich sah sie in ihrem Bett liegen, dass sie wieder mit einem neuen Mann teilte. Der Blick des Seelenernters sah alles. Ihre Vergangenheit erschloss sich mir binnen Sekunden. Seit Wochen hurte sie nun so herum, ohne Ziel und wissend, dass ihr Kind verscharrt in einem Wald lag. Ich öffnete die Balkontür und trat ein. Der Mann erwachte als erster, doch ich versetzte ihn mit einer Berührung seiner Stirn in tiefsten Schlaf. Nun erwachte die Frau. Sie drehte sich um und sah mich erst schockiert an. Ich machte mich bereit mich zu verteidigen, doch plötzlich wurde ihr Blick ganz ruhig.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte sie sanft und stand auf.
„Auf mich gewartet?“
„Ja gewartet. Ich wusste, dass es unmöglich sein muss, so etwas zu tun ohne gestraft zu werden und ich erkenne dies an. Ich weiß, dass ich mein Kind nicht hätte töten sollen… es war eine Sünde.“ Langsam kam sie auf mich zu und berührte mit beiden Händen mein Gesicht und hielt es.
„Du bist so schön. Schön wie diese Nacht. Ob meine Kleine auch so ausgesehen hätte in deinem Alter?“ Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Danke, dass du gekommen bist um mich zu erlösen. So lange versuche ich mich an solchen Männern zu erfreuen, mich abzulenken, doch sie geben mir nichts mehr. Man kann keine Freude mehr empfinden, wenn man so gesündigt hat oder?“
„Das hängt von den Menschen ab, denke ich.“
„Vielleicht hat man mir dies als letzten Funken Menschlichkeit gelassen. Nun tu dein Werk Todesengel. Ich danke dir für dein Kommen, doch habe ich eine Bitte.“
„Sprich und ich werde sehen was ich tun kann.“
„Bitte, schaff diesen Mann hier heraus. Er soll nicht mit einer Leiche im Zimmer erwachen und auch nicht für den Mörder gehalten werden. Ich möchte nicht, dass sein Leben durch mich zerstört wird.“
„So sei es. Ich bringe ihn nach deinem Ende nach Hause und lösche seine Erinnerung an dich. Ich hoffe es war nur diese Nacht.“
„Niemand hat länger in diesem Bett geweilt, seit ich meine Freude verlor.“
„Gut dies ist dein Ende. Ich werde dich töten und deine Seele nehmen.“
„Tu es.“
Ganz ruhig stand sie da. Die Augen geschlossen und bereit ihr Schicksal anzunehmen. Ich trat vor sie und versenkte langsam die Seelenklaue in sie, woraufhin ihr ein verzerrter Schrei entfuhr. Ihr schlaffer Körper glitt zu Boden und ich hielt ihre Seele. Schnell packte ich sie ein und hievte den toten Körper hoch und trug ihn über den Balkon. Dann schmiss ich ihn einfach nach unten. Als ich mich abwendete, hörte ich den dumpfen Aufprall. Wenig später versammelten sich schon Leute um sie herum. Meine Arbeit war getan. Nein, halt. Ein Versprechen musste ich erfüllen. Ich nahm den jungen Mann aus dem Bett. Mit meinen Vampirkräften war es einfach ihn zu tragen. Schnell breitete ich meine Flügel aus und flog los. Wo der Mann wohnte, hatte ich schnell in seinen Gedanken gelesen. Langsam flog ich durch die Nacht, passte immer auf den Menschen nicht zu verletzten und so landete ich wenig später vor seiner Tür. Ich schaute aufs Klingelschild. Er schien mit seiner Schwester zusammen zu wohnen. Ich klingelte. Einige Sekunden später stand eine junge Frau in der Tür die mich überrascht ansah. Ihren Bruder hatte ich an die Hauswand gelehnt und legte nun meine Hand auf ihre Stirn.
„Du hast ein Geräusch von draußen gehört und dann deinen völlig angetrunkenen Bruder hier gefunden und ihn ins Bett gebracht. Danach bist du selbst schlafen gegangen.“
„Ja…“ Nun fiel auch sie um. Ich nahm mit jedem Arm einen hoch und legte beide ins Bett. So viel Arbeit wegen der letzten Bitte einer Kindsmörderin. Ich war heute wirklich zu nett. Und ich hatte die Manipulation nutzen müssen, die wir im Moment so sparsam nutzen mussten. Die Sonne ging fast schon auf und ich hatte noch keinen Moment geschlafen. Um den morgigen Tag zu überleben brauchte ich wohl meinen „Tomatensaft“ auch in der Schule. Prost!
Ich schlurfte aus dem Haus. Zu müde, um richtig zu gehen. Ich breitete meine Flügel aus und flog nach Hause. Schnell ins schöne Bett und noch ein paar Stunden wertvollen Schlaf genießen. Kaum lag ich im Bett, war ich auch schon eingeschlafen. Tiefer fester Schlaf. Herrlich!
„Aufstehen Akio!!!“, flötete eine Stimme, direkt neben meinem Ohr.
„Melly!!! Meine armen Ohren, wieso musste das so laut sein?!“ Vampire hatten viel schärfere Sinne als Menschen und ich hatte völlig vergessen diese zu drosseln. Schmerzverzerrt hielt ich meine Ohren.
„Stell dich nicht so an Akio, so laut wars auch nicht“, sagte Melly beleidigt. Zero kam ins Zimmer.
„Aber recht hat sie Schwesterlein. Deine Stimme ist wirklich unverschämt laut, besonders in völliger Stille. Guten Morgen, Aki.“ Er lächelte. Die beiden sahen sich wirklich überhaupt nicht ähnlich. Sie hatte eine gesunde, bräunliche Hautfarbe, wahrscheinlich von Juan und die Augen ihrer Mutter, doch Zero hatte so nichts von seinen Eltern. Er passte nicht in diese warme Umgebung. Irgendetwas Düsteres ging von ihm aus, wie er so dastand, mit diesen kalten Augen, dem blassen Gesicht und den fast schwarzen Haaren. Selbst wenn sein Lächeln ehrlich wirkte.
„Hey, was ist denn so interessant, Aki?“, erkundigte sich Zero. Ich hatte ihn wohl in Gedanken versunken zu lange angestarrt.
„Oh Entschuldigung. Ich hab gerade über was nachgedacht.“ Ich wand mich ab. Melly meldete sich wieder zu Wort.
„Wir gehen schon mal runter. Deine Sachen liegen auf dem Sessel. Zieh dich bitte schnell an, das Frühstück steht schon bereit. Bis gleich.“ Zero hob nur kurz die Hand und schloss die Tür hinter sich. Ich stand auf und sah mir die Sachen an. Es waren meine ganz normalen Sachen, alles in schwarz und frisch gewaschen. Hose, Shirt und eine Strickjacke mit einem anatomischen Herzen, aus dem zwei schwarz-weiße Flügel kamen. Meine Stiefel standen daneben. Schnell schnappte ich mir das sonstige Drumrum, ging zum Essen und schon waren wir auf dem Schulweg.
„Da wären wir. Das hier wird ab jetzt der Ort sein wo du die Hälfte deines Tages verschwenden wirst“, scherzte Melly. So sah also eine Schule aus und die vielen Menschen. Alle noch so jung, das Blut pulsierte in ihren Adern ich konnte es sehen, richten, hören. All meine Sinne konzentrierten sich nur auf das Blut in ihnen. Deutlich konnte ich die Adern und Gefäße unter ihrer Haut erkennen, um einen präzisen Schlag in die Hauptschlagader zu setzten, um sie dann in ein paar Zügen zu leeren. Ich konnte spüren wie meine Augen rot wurden und meine Reiszähne hervortraten.
„Hey Akio was ist los?“ Zeros Stimme riss mich aus meinen Blutgelüsten. Schnell hatte ich mich wieder unter Kontrolle.
„Nein, alles in Ordnung, ich war nur so erschlagen von diesen Menschenmassen.“ Ich musste an das Blut in meinem Rucksack kommen. Ich war schon ausgehungert von den letzten Tagen, von der Arbeit und vor allem dem Kontakt mit dem Jäger. Zu ausgehungert, um dem Verlangen zu wiederstehen. Ich musste mir heute Nacht wohl oder übel ein Opfer suchen, denn die eine Blutkonserve die noch in meinem Koffer lag würde nicht reichen und unter der Überwachung von Melly und Zero konnte ich zu keiner Zweigstelle gehen. In der Klasse angekommen setzten sich Melly und Zero an ihre wohl angestammten Plätze und sagten mir, dass ich doch vor der Klasse warten sollte. Schon bald kam eine Lehrerin, die sich meiner annahm.
„Hallo du musst Akio Feralan sein. Schön, dass du ab jetzt meinem Unterricht beiwohnst. Ich hoffe, der Rest der Klasse wird dich gut aufnehmen.“ Sie ging herein und ich folgte ihr. Viele Menschenaugen musterten mich skeptisch. Obwohl ich meine vampirisch Ausstrahlung größtenteils unterdrückte, so war es unter Durst nur schwer machbar, sodass sie sowohl Respekt vor mir empfanden, aber auch Angst, die gemischt wurde mit einer Anziehung und Sehnsucht wie man kaum etwas begehrte. Alle schienen es zu spüren nur einer war völlig unbeeindruckt: Zero. Mit letzter Kraft zähmte ich die Aura, welche die Sterblichen so sehr beeinflusste.
„Stell dich doch bitte der Klasse vor.“
„Mein Name lautet Akio Feralan. Ich bin 17 Jahre alt und komme aus Rumänien. Ich bin seit 3 Tagen hier in Berlin. Ich habe vorher lange alleine gelebt. Ich hoffe, hier trotzdem aufgenommen zu werden.“ Ich verneigte mich. Ich hatte all das ganz ruhig runter gebetet, als ob es mich nichts anging. Es konnte mir ja egal sein, was diese Sterblichen von mir dachten. Zero und Melly lachten leise über das Entsetzten ihrer Mitschüler, über diese teilnahmslose Darbietung an Kälte. Ich lächelte ihnen kurz zu und Zero deutete auf deinen leeren Platz neben ihm, auf den ich mich wohl setzten sollte. Ich folgte diesem stummen Befehl und sofort ging der Unterricht los. Geschichte. Zero flüsterte mir zu: „Akio. Ich glaube die halten dich alle für ein bisschen blöd, weil du so lange auf keiner Schule mehr warst. Ich hab zwar dich deine Allgemeinbildung nicht abgefragt, aber blöd kommst du mir wirklich nicht vor aber wie steht es eigentlich damit?“
„Mach dir darüber keine Sorgen. Ich mach das schon und denen werde ich das Maul gleich stopfen.“ Verwirrt schaute er mich an.
„Wie willst du das denn machen?“
„Lass mich mal machen.“ Ich lächelte in mich rein und wartete die nächste Frage der Lehrerin ab. Niemand sollte mich, eine Seelenernterin und eine der ältesten Vampire einfach für blöd halten. Und schon kam eine Frage. Irgendwas über den 1. Weltkrieg, eine bestimmte Front. Glückstreffer. Genau durch diese Stellung musste ich mich für einen Auftrag damals schlagen. Blitzschnell zeigte ich auf.
„Ja, Akio?!“ Alle Blicke gingen auf mich. Alle erwarteten wohl eine völlig dumme Antwort doch ich erzählte ihnen die genauen Umstände wie es zu dieser Front kam, wozu sie diente und was dort vorfiel und das in solch penibler Präzision, dass selbst ein Historiker wohl den Hut gezogen hätte. Es war fast schon ein bisschen zu auffällig wie genau ich alles schilderte, doch das war es mir wert. Den Menschen erst ein falsches Bild vermitteln und sie dann aus ihrer Sicherheit zu reißen war eine der besonderen Freuden der Vampire. Zero und Melly neben mir klappte die Kinnlade nach unten. Von Zero vernahm man ein leises „Aber, aber, aber…“ und von Melly nur ein „Wow…“
So ihr Kleingläubigen wer ist hier jetzt dumm? Ein Schlag ins Gesicht. Vollkommene Stille. Selbst die Lehrerin wage es nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben. Ich musste anfangen zu lachen.
„Dachtet ihr wirklich nur weil ich lange auf keine Schule gegangen bin, hätte ich nichts mitbekommen? Ich habe viel gelesen in der Zeit und das gerade sprach wohl für sich oder?“
Betretenes Schweigen.
„Ja, da haben sich die Schüler und, ich muss gestehen, ich auch, ein zu schnelles Urteil gebildet. Entschuldige. Die Antwort war präzise und korrekt.“
„Danke, das wollte ich erreichen. Fahren Sie bitte fort“, sagte ich und machte eine wegwerfende Handbewegung. Sofort merkte ich, dass ich mich wohl im Tonfall vergriffen hatte. Da sich mein sozialer Umgang zumeist auf einen missmutigen Gargoyl und einige Unterweltwesen beschränkt hatte, wusste ich nichtmehr wirklich, wie man sich in solchen Situationen verhielt. Der Rest der Stunde verlief normal und langsam fand ich die Balance, damit mein Wissen nicht zu sehr auffiel. Doch schnell machte sich mein Blut- und Schlafmangel bemerkbar. Ich wurde immer müder. Dem Unterricht folgte ich schon lange nicht mehr. Immer wieder musste ich mich zusammenreißen, um nicht vollends zu schlafen.
„Hey was ist los mit dir? Müde?“, hörte ich Zero Stimme neben mir.
„Ja, das auch, aber hauptsächlich wohl der Flüssigkeitsmangel. Wann endet die Stunde?“
„Es sind nur noch 10 Minuten, dann kannst du was trinken und dich ausruhen. Hat mich schon gewundert, dass du so schnell in die Schule gehen wolltest nach allem was passiert ist.“
„Ja, da habe ich mich wohl reichlich überschätzt.“ Es war komisch. Alles, was ich ihm sagte, entsprach doch irgendwie der Wahrheit. Klar es waren auch für Menschen normale Gründe und Geständnisse, aber wieso erzählte ich ihm das alles? Irgendwie konnte ich ihn nicht vernünftig anlügen und dicht machen. Nach hoffentlich verplapperte ich mich nicht ihm gegenüber.
„Akio! Auch wenn du neu bist wäre es freundlich, wenn du mir doch deine Aufmerksamkeit schenken würdest.“ Na toll. Ich war wirklich eingeschlafen und die Lehrerin stand wutentbrannt vor mir und erzählte mir was von aufpassen. Wie sollte man sich auf moderne Genetik konzentrieren, wenn man das Blut in ihren Adern sah und man all seine Kraft darauf verwendete die Kontrolle über die eigenen tödlichen Instinkte zu bewahren? Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und sah zur Seite. Es war Zero.
„Entschuldigen Sie, aber die letzten zwei Tage haben Akio wohl doch mehr mitgenommen, als sie dachte. Dürfte ich mit ihr kurz an die frische Luft?“
„Ok, geht. Bald habt ihr eh Pause. Sorg dafür, dass es ihr bald besser geht.“ Zero schnappte sich seine Tasche, wies mich an meine auch mitzunehmen und zerrte mich mehr oder weniger mit da mir selbst die Kraft zum Laufen langsam ausging. Auf dem Schulhof setzte er mich in den Schatten auf eine Bank.
„Hast du irgendwas zu Trinken dabei Akio?“
„Ja den Tomatensaft ganz unten in der Tasche.“
„Tomatensaft? Ist das dein Ernst? So wie du aussiehst hast du immer noch die Nerven mich zu verarschen?“
„Ja, das ist mein Ernst. Es war das einzige, was ich noch hatte und gib mir mal eben die Tasche.“
Er gab sie mir ungläubig und sah mich an, mit diesem Blick, den Psychologen bei ihren hoffnungslosen Fällen hatten. Gierig trank ich die ganze Flasche leer bis auch der letzte Tropfen Blut meine Kehle hinunter rann. Meine Sicht klärte sich und als ich Zero ansah sah ich sein Gesicht und keine Adern. Gut vorerst war alles gut. Dies würde für den Rest des Tages reichen.
„Das Zeug scheint gut zu sein, wenn man davon so schnell wieder fit wird.“ In Zeros Stimme lag zum einen Erleichterung, aber darunter ein Hauch von Skepsis. Er wirkte seltsam angespannt.
„Ja, sehr nahrhaft, deshalb nehme ich es auch immer mit.“ Ich lächelte. Sein ernster Gesichtsausdruck lichtete sich. Jedenfalls oberflächlich. Irgendetwas war mit ihm. Diese Augen, dieses Gesicht. Woher kannte ich es?
Die Pause begann und zig Schüler kamen auf den Hof. So viele Menschen. Es war unglaublich.
„Hey Zero!“, hörte ich da plötzlich eine Stimme rufen und sah auch bald deren Urheber. Ein Junge, etwa in Zeros Alter um die 19 mit dunklen, im Schatten farblich nicht zu bestimmenden Haaren, aber dafür strahlend blauen Augen kam auf uns zu.
„Hallo Craig. Auch mal wieder in der Schule? Wo warst du die ersten 2 Stunden?“
„Ähm ja, das ist eine lustige Geschichte, Zero. Also, äh, wie soll ichs sagen. Ich hab halt verschlafen ok? Ich habe bis spät in die Nacht gearbeitet und dann war auch noch mein Wecker im Streik und ach nichts hat geklappt heute Morgen.“ Er ließ sich seufzend neben mir auf die Bank sinken, während Zero weiterhin stand. Jetzt erst schien er zu bemerken, dass ich überhaupt da war.
„Hey wer bist du denn? Dich hab ich hier ja noch nie gesehen. Bist du neu, oder ich einfach blind?“
Hatte der mich doch wirklich übersehen! Mich! Die Prinzessin der Finsternis! Eine der Vampirhoheiten! Ich sollte das lassen. Ich hörte mich schon an wie mein Onkel! Gerade war ich ein normaler Mensch. Augenscheinlich. Ich wollte dazu ansetzen mich vernünftig vorzustellen, aber ich bekam keinen Ton heraus. Meine Stimme versagte auf ganzer Linie und es kam nur ein leises „Akio.“ Dabei heraus. Zero rettete mich vor Schlimmerem, indem er die Vorstellung einfach übernahm, während ich beschämt zu Boden sah. So etwas war mir noch nie passiert. Mir! Naja den Rest hatten wir ja gerade schon.
„Dies ist die Adoptivtochter meiner Eltern und damit meine Schwester. Ihr Name ist Akio. Man hat sie gefunden, als sie alleine hier nach Berlin kam, ohne Eltern oder irgendjemanden. Früher hat sie alleine gewohnt. Sie war lange nicht auf einer Schule, ich glaube deshalb, machen sie so viele Menschen auf einmal ein bisschen nervös. Sie muss nur auftauen.“
Plötzlich war meine Stimme zurück.
„Was heißt hier auftauen? Seh ich aus wie ein Tiefkühlgericht?! Ich warne dich, Zero, wenn du versuchst mich in eine Mikrowelle zu stecken dann…“
„Stimme wiedergefunden Akio?“, fragte mich Zero und hatte die Dreistigkeit dabei übers ganze Gesicht zu grinsen. Da wusste ich was los war. Zero hatte wirklich eine gute Menschenkenntnis. Irgendwie hatte er gemerkt, dass nervös war und indem ich mich über ihn aufregte war ich aus der passiven Stellung die ich eben noch hatte heraus gekommen. Danke, Zero. Ich fragte mich langsam wirklich, wie ich ihn einschätzen sollte. Zu allen anderen war er kühl und distanziert, nur zu Melly, mir und anscheinend diesem Typen nicht.
Craig fing an zu lachen und es steckte irgendwie an. Das Eis war gebrochen und irgendwie war er mir sympathisch. Diese offene Art und Humor gefielen mir. Die Menschen waren nicht so reserviert, wie die Vampire es normalerweise zu mir waren. So saßen wir da und unterhielten uns über alles Mögliche. Craig schien eng mit Zero befreundet zu sein, der zwar immer noch kühl war aber wenigstens nicht mehr schockgefrostet wie an meinem ersten Tag. Dann kam ein Thema zur Sprache, dass ich eigentlich heute nichtmehr hätte hören wollen.
„Sag mal, Zero, hast du das von dieser Frau gehört die sich wohl heute Nacht zu Tode gestürzt hat?“
„Ja, traurige Geschichte. Habs heute Morgen in der Zeitung gelesen. Soll wohl mitten in der Nacht aus dem 5. Stock gesprungen sein. Sofort tot und wie ich gehört habe, meinten die Ärzte sie hätte gelächelt.“ Craigs Miene verfinsterte sich.
„Ja traurig, das stimmt schon. Sie soll vorher ihre Tochter verloren haben, was ein harter Schlag wohl gewesen war.“
Ich schaute zu Boden und sprach mit leiser Stimme: „Sie hat ihre Tochter umgebracht.“
„Was?“, Zero und Craig sahen mich erstaunt an.
Ruhig fuhr ich fort: „Sie war völlig überfordert mit dem Kind und hat es irgendwann in ihrer Verzweiflung getötet. Danach versuchte sie einfach weiterzuleben, doch es ging nicht, denn das Wissen um die im Wald verscharrte Schuld quälte sie zu sehr und in jener Nacht wollte sie sich von ihrem Leid erlösen. Vielleicht hat der Tod sie auch von selbst geholt.“
„Hör auf das zu sagen!“ Craig war aufgestanden und stand nun direkt vor mir. Ich wagte nicht aufzusehen wenn ich wusste genau um die Wirkung dieser Worte doch irgendwie hatte ich das Gefühl es der Frau schuldig zu sein, dass wenigstens sie die Wahrheit erfuhren.
„Wieso sagst du so etwas?! Der Tod ist keine Erlösung und sollte nicht so dargestellt werden! Die Menschen sollen leben hörst du Akio?! Verdammt hör mir zu!“, schrie Craig mich an. Ich atmete tief durch denn das kostete mich mehr Kraft als ich gedacht hätte.
„Craig ich habe dich gehört und verstehe dich voll und ganz, glaube mir das bitte. Doch hast du dir nie den Tod gewünscht oder? Weißt du wie es ist alles verloren zu haben? Keine Freude mehr empfinden zu können und nur noch vor sich hin zu leben und sich so langsam selbst zu verlieren bis man nichts mehr ist? Außerdem habe ich nur ihren Zustand resümiert und damit ihren Lösungsansatz nicht gut geheißen.“
Nun hatte ich den Mut ihm ins Gesicht zu sehen und seine Wut war daraus gewichen und er schaute mich ruhig, aber traurig an. Irgendwie ein Gesichtsausdruck den ich noch nie so gesehen hatte.
„Es tut mir leid, Akio.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Jeder hat Themen wo man die Kontrolle verliert. Mir tun meine Worte leid, die dich wohl sehr verletzt haben.“
„Nicht nur das meinte ich damit. Mir tut leid, was dir wiederfahren sein muss, dass du von dieser Frau sprechen kannst als ob du selbst gesprungen wärst. Für das was du dafür erleben musstest, tut es mir leid. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mensch nach so etwas noch zu lachen vermag.“
Das hatte ich nicht erwartet. Wie konnte jemand den ich erst seit einigen Minuten kannte so in mich hinein sehen. Hatte ich so viel von mir offenbart? Anscheinend nicht denn Zero stand relativ ratlos daneben und hatte wohl gerade erstens den Faden verloren und zweitens war er völlig überrascht welche Wendung dieses Gespräch genommen hatte. Irgendwie begegnete ich immer mehr außergewöhnlichen Menschen, die ich mich nicht im Stande sah einzuschätzen.
„Schon gut. Es ist nicht weiter tragisch. Lassen wir das Thema so auf sich beruhen. Es ist zu schade diesen schönen Tag und eure Gesellschaft an solch traurige Dinge zu verschwenden.“
Ich stand auf. Zupfte meine Sachen zu Recht und sah beide an. Zero schüttelte den Kopf und hielt ihn sich mit einer Hand was wohl übersetzt bedeutete „Was habe ich mir da für eine Schwester angelacht. Die ist doch verrückt und durch geknallt.“ Craig hingegen lächelte freundlich und etwas verlegen. Man hörte eine Glocke und langsam begannen sich die Schüler wieder ins Gebäude zu verziehen.
„Pause zu Ende. Beehrst du uns diesmal mit deiner Anwesenheit, Craig?“, stellte Zero gelassen fest.
„Ja, ich denke ich lasse mich dazu herab und lasse euch am Glanze meiner Gegenwart teilhaben.“
„Bibel verschluckt mein Bester?“
„Nö, mir war danach. Folget mir meine Untertanen.“
So stolzierte er mit gespielt würdevollen Schritten zu Schule Er erinnerte mich stark an diese hochgestochenen adligen Vampire, die dieses Gehabe jedoch ernst meinte. Ich musste einfach lachen woraufhin „seine Majestät“ auch anfing zu kichern und wieder ganz normal lief. So hatte ich recht behalten. Man konnte viel Spaß mit den Menschen haben, doch anders als ich anfangs vermutet hatte. Nicht hatte ich an ihnen Spaß, sondern mit ihnen. Es war ein komisches Gefühl, dass sich nun in mir regte. Vielleicht war es mir ja wieder vergönnt, sowas wie Freunde zu finden und etwas Freude an meinem Leben nach dem Tod zu haben. Ich gähnte herzhaft. Verdammte Aufträge. Nächstes Mal schlag ich Misu das Fenster vor der Nase zu, dachte ich und erfreute mich an dem Bild in meinen Gedanken.

Kapitel 9 - Freude für den Tod?


Den Rest des Schultages saßen wir in irgendwelchen Klassenräumen, in denen ich mir Dinge anhören durfte, die ich schon seit Jahren wusste und sogar besser wusste. Ich beteiligte mich solide, aber nicht zu viel, nicht nur um meine Tarnung bei zu behalten, sondern um mit Zero und Craig zu quatschen, die mich flankierten. So hatten die Stunden einen angenehmen Beigeschmack und waren nicht so langweilig. In der 2. Pause versuche Melly mich ihren Freundinnen und ihrer Clique vorzustellen doch sie reagierten wie ich es erwartet hatte. Unverständnis, Angst, Verachtung und Unsicherheit prägten ihre Blicke. Sie spürten die Aura, die ich doch so gut versuchte zurück zu halten, aber auch fürchteten sie sich vor meiner düsteren Art und die verschwundene Wintersonne trug nicht gerade dazu bei mich freundlicher erscheinen zu lassen. Ich stand ein wenig bei ihnen und hörte so gut es ging zu, bis ich jemanden neben mir wahrnahm, dessen Anwesenheit so anders war als die der Clique. Craig stand neben mir und fragte mich leise: „Und wie geht’s Akio? Nicht so dein Fall diese Leute, oder? Zero und ich wollten kurz was Essbares holen, hast du Lust mit zu kommen?“
„Sehr gerne. War nett euch kennen gelernt zu haben ich hab Hunger und geh dann mal. Auf Wiedersehen.“ Die meisten sahen nicht mal in meine Richtung, nur Melly verabschiedete mich vernünftig und flüsterte mir ein „Sorry“ zu.
„Keine Sorge, du hast es versucht“, flüsterte ich zurück. Craig ging voraus ich folgte leise. Sobald wir außer hörreichweite waren sagte ich: „Danke du warst meine Rettung. Melly ist ja ganz nett, aber ihre Freunde sind nichts für mich.“
„Ja, du standest auch sehr verloren da herum. Zero hatte schon gemeint, dass du entweder so dabei stehen würdest oder es dir irgendwann reicht und du einfach gehst.“
„Letzteres wollte ich Melly nicht antun. Einfach gehen gehört sich einfach nicht. Man muss begründet gehen, oder geholt werden.“
„Du klingst ja wie so eine Benimmdame von früher“, lachte Craig. Ich sah zur Seite. Von früher ja. Benimmdame nein.
„Entschuldige, eine alte Angewohnheit. Ich kannte mal jemanden der nur so sprach und mich sehr auf Höflichkeit und gutes Benehmen erzog.“
„Schon gut. Ein bisschen Höflichkeit kann nicht schaden, doch sollte man sie nicht den falschen Menschen entgegen bringen.“
„Stimmt schon, aber man kann es ja wenigstens versuchen. Und eine richtig gesetzte Höflichkeit, kann schlimmer sein, als ein Messerstich in den Rücken.“
„Das stimmt schon. Und manche machen sich nicht die Mühe jemanden kennen zu lernen. An meinem ersten Tag hier, lernte ich Zero kennen. Ich stieß erst später zur Klasse so ca. vor 4 Jahren. Damals schon war Zero nicht der Beliebteste. Nur Melly saß direkt neben ihm und ich merkte irgendwie, dass der Rest der Klasse ihn zwar duldete, aber nicht wirklich aufnahm. Also setzte ich mich auf gut Glück neben ihn und versuchte mich mit ihm zu unterhalten. Zuerst war er zu mir auch so eisig. Doch seine Taten sprachen für sich. Einige versuchen mich zu ärgern und auch wenn es mir nicht viel ausmacht warf Zero ihnen immer böse Blicke zu vor denen sie komischerweise eine ziemlich Angst hatten. Zeros Stimme ist ja auch nicht gerade ohne. Schon damals war sie fast so wie heute.“
Ja, Zeros Stimme war schon praktisch. Sie war recht tief und Autoritär. Jeder schien sofort darauf zu hören wenn er etwas sagte. Erinnerte mich schonwieder an Onkel Vlad. Was der wohl gerade so machte? Auch wenn Zero kaum einer mochte. Respekt hatten sie alle. Doch diese Stimme bei einem 15-Jährirgen. Ich musste kichern.
„Bei dir allerdings weiß ich noch nicht genau wie ich dich einschätzen soll.“ Ich sah auf. Er lächelte nur.
„Nun ja, die meisten zeigen schon in den ersten Minuten wie sie sind oder jedenfalls wie sie sich nach außen hin geben möchten, aber du… Du bist im einen Moment noch am lachen, nett und freundlich als ob es keine Probleme auf der Welt gäbe und im nächsten redest du über den Tod als hättest du ihn schon lange hinter dir.“
„Tja so ist das eben. Wirst mich schon kennen lernen, keine Sorge, aber an den ersten Tagen wohl nicht ganz.“
„Gut, ich übe mich in Geduld. Hoffentlich muss ich meinen guten ersten Eindruck nicht zu sehr korrigieren. Aber ich denke, dass du wirklich so bist.“ Ich war überrascht. Er war gut, denn er hatte erkannt, dass ich kaum von meinem wahren Wesen abweichte. Ich war insoweit ehrlich, nur verschwieg natürlich was ich war, wieso ich hier war und was meine Vergangenheit ist. Mich dauerhaft anders zu verhalten war mir auf Dauer zu anstrengend und barg zu viele Risiken.
„Du wirst es bestimmt sehen. Wir haben wohl in nächster Zeit mehr mit einander zu tun und ich glaube ich bin nicht sehr schwer zu verstehen.“
„Wir werden sehen, aber lass uns bitte das Thema wechseln dahinten steht Zero und der würde sich bei sowas wieder schrecklich aufregen, der Hitzkopf.“ Er lachte. „Nun wie war denn dein erster Tag so?“
„Ich würde sagen zwischen langweilig und interessant, wobei das langweilige nur vom Stoff kam.“
„Freut mich. Zero! Ich hab sie mitgebracht. Als ihr strahlender Ritter kam ich herbeigeeilt um sie aus den Fängen von Mellys Freunden zu retten.“ Mit gespieltem Stolz stellte er sich vor Zero, als erwarte er eine Belobigung, oder sofort den Schlag zum Ritter.
„Gut. Danke Craig, dass du das schnell übernommen hast. Mein Auftreten wäre wieder auf Melly zurück gefallen und auf diese Heulerei von ihr, dass ich ihre Freunde verschrecken würde hab ich wenig Lust.“
„Andersherum würde eher zutreffen!“, gab ich zu bedenken was mir die Zustimmung der beiden einbrachte.
„Essen“, sagte Craig schlicht um damit wohl weniger unsere Gehirne als unsere Mägen ansprechen wollte. Zero nickte und ich folgte einfach. Ich musste ja nicht Essen, aber lecker war es trotzdem und zögerte den Blutdurst etwas heraus. Außerdem knurrte sonst mein Magen, weil mein Körper ja aktiv war. Als ich noch ein Mensch war, gab es noch nicht so viel. Nicht diese Auswahl und diese Mischung aus so vielen Kulturen, deren Geschmäcker sich alle unterschieden. Es gab Pizza. Inzwischen wohl eines der Grundnahrungsmittel der normalen Mittelschicht. Klar hatte ich sie schon probiert, nur während einer Italienreise, in der ich Zeitweise in Rom war und ich zur Tarnung sogar essen gehen musste, weil der Vatikan mich im Blick hatte, aber dies gehört nicht hier her. Zero und Craig hatten angefangen über Mellys Freunde herzuziehen, was sie damit ein wenig entschärften wollten, indem sie sie mir „erklären“ wollten. Craig fing irgendwann sich mit Herzblut über diese, nach ihm, oberflächlichen, eitlen, dummen, charakterlosen und genormten Egoisten herzuziehen. Zero saß dabei und aß gemütlich seine Pizza und sagte höchstens einige ruhige bestätigende Worte, während man Craig wohl auf eine Tribüne hätte stellen können, damit er die Revolution ausrief und auch gleich anführte. Nachdem er endlich im Geiste die gekrönten Häupter, der Genormten und Beliebten mit der Guillotine bearbeitet hatte, sah er sich zufrieden um. Zu seinem Erstaunen und Ärger sah er, dass Zero und ich bereits völlig fertig waren mit essen und ihn hämisch angrinsten, während seine Pizza kalt und unangerührt vor ihm lag.
„Ach verdammt. Zero ich hab dir doch gesagt du sollst mich unterbrechen, wenn ich wieder so anfange beim Essen.“
„Sorry Craig aber du warst so mit dem Herz bei der Sache und voller Elan, da konnte ich dich nicht unterbrechen. Wir waren so gefesselt von deiner Rede. Fehlten nur die Leute mit den Fackeln und den Mistgabeln. Ehrlich.“ Ebenso sarkastisch, wie ruhig hatte Zero Craig allen Wind aus den Segeln genommen. Dieser stocherte, gespielt beleidigt, in seiner Pizza rum und murmelte leise etwas vor sich hin, dass sich für mich anhörte wie „Ja ja ja immer auf mich“. Nachdem er den Rest Essbares verschlungen hatte, wirkte er wieder ganz normal.
„Achja Akio, ich glaube Mellys Freunde werden dich kaum heute irgendwo hin verschleppen. Lust mit mir und Zero bisschen in die Stadt zu gehen nach der Schule, vielleicht Kino, oder so? Ich persönlich hab wenig Lust, einen so schönen Wintertag mit Hausaufgaben oder Stress zu verbringen. Zero was sagst du dazu?“
„Lässt sich einrichten, Hausaufgaben liegen mir auch heute irgendwie nicht. Akio wie steht’s mit dir?“
„Gerne. Wann denn?“
„Sagen wir so eine Stunde nach Schulende, dann kann man sich noch umziehen und schnell alles erledigen. Ich komm dann einfach zu euch rüber ok?“
„Geht klar. Ich glaube die nächste Stunde fängt gleich an“, sagte Zero.
„Korrektur: Sie hat seit 5 Minuten begonnen“, wendete ich völlig unbeteiligt ein.
„Was?! Verdammt wir kommen zu spät. Los! Hop! Die killt uns wenn wir zu spät sind!“, rief Craig panisch.
„Wie tragisch können 5 Minuten denn schon sein?“, fragte ich und verstand nicht warum man so eine Aufstand wegen 5 Minuten machte, wo 5 Minuten doch eine so erschreckend geringe Zeitspanne im Vergleich zu 600 Jahren waren. Craig schlief mich mit sich, indem er mich beim Arm packte und mitzog, während Zero zwar schnell, aber nicht so panisch neben uns her hastete. So ließ ich mich bis vor die Tür ziehen. Zero klopfte an die Tür und trat ein. Craig und ich folgten ihm, als wollten wir uns hinter ihm verstecken, was uns in keinster Weise gelang.
„Zero Cortez! Craig Shal! Akio Feralan! Was denkt ihr wie spät es ist?!“, setzte die Lehrerin ihre Strafpredigt an.
„Genau 8 Minuten nach Unterrichtsbeging und damit im Bereich der Akzeptanz. 8 Minuten sind ja wohl eine zu kurze Zeit um nun weitere 10 daran zu verschwenden, uns wegen dieser 8 zu ermahnen ,da in diesen 10 Minuten auch der Rest der Klasse nichts lernt, was ohne uns während dieser 8 Minuten gut möglich war. Also kein Schaden für die Allgemeinheit durch uns. Sind sie sicher, dass sie diese 10 Minuten verwenden wollen, um uns Dinge zu erzählen die wir schon wissen, statt uns neues zu vermitteln?“
Völlig verdattert sah mich die Lehrerin an. Aller Zorn war aus ihrem Gesicht gewichen, um einem Ausdruck von Überraschung zu weichen. Das hatte sie nicht von einer Schülerin erwartet die seit einem Tag hier war. Man konnte an ihrem Gesicht sehen, dass sie meine Aussage überdachte und zum einzigen logischen Schluss kam, den ich beabsichtigt hatte.
„Setzten, wir machen weiter.“ Die Klasse war sprachlos. So einfach hatten sie nie gedacht, oder es sich einfach nicht getraut zu sagen.
„1:0 für dich Akio. Das war super. Wann ist dir dass den eingefallen“, flüsterte mir Craig zu.
„Spontane logische Schlussfolgerung. Ich musste mir nur überlegen, worin der Schwachpunkt einer so engagierten Lehrerin liegt und dann mir ein Argument überlegen, welches nur diesen einen Schluss zulässt.“
„Das alles innerhalb dieser Sekunden die zwischen ihrer Frage und deiner Antwort? Respekt, Akio. Ich muss zugeben ich bin beeindruckt. Danke für diese Rettung.“
„Sieh es als Ausgleich für den Auftritt meines „strahlenden Ritters“ von vorhin“, sagte ich lächelnd.
„Stehts zu Diensten, Mylady“, antwortet er ebenfalls lächelnd. Mit ihm konnte man wenigstens ein freundliches Gespräch führen. Ganz anders als mit Misu. Oh nein. Kaum dachte ich an Misu, dachte ich an Aufträge und an eine weitere Nacht ohne Schlaf. Wenn ich Pech hatte musste ich mir sogar noch ein Opfer suchen. Verdammter Misu! Selbst wenn er nicht da war überbrachte er schlechte Nachrichten.

Kapitel 10 - Ein Vampir unter Menschen


Schulschuss! Die Schülermassen ergossen sich auf die Straße. Der erste Tag war schon halb überlebt und war doch eigentlich ganz gut verlaufen. Zero, Craig und ich warteten am Tor auf Melly. Die wollte noch eben ihre Freunde verabschieden und dann mit uns nach Hause gehen. Ihre Freunde hielten ziemlichen Abstand zu uns und während Melly alle verabschiedete, als würden sie sich Monate nicht mehr sehen, ernteten wir nur verächtliche Blicke und man konnte überdeutlich hören, wie einer sagte „Und du willst wirklich mit denen nach Hause gehen? Nix gegen deinen Bruder für den kannst du ja nix aber die beiden anderen?“. Es war eindeutig für unsere Ohren bestimmt gewesen, doch nachdem Zero sie mit blitzenden Augen ansah, drehten sich alle weg.
„Meine Güte, kann die sich mal beeilen? Ich hab nicht gerade Zeit übrig, sonst geht der Terror von meinem Vater nachher wieder los“, nörgelte Craig wie ein kleines Kind.
„Übe dich in Geduld und stell bei deinem Vater auf Durchzug, wie du es immer machst“, versuchte Zero die Situation wenig gekonnt zu retten. Endlich kam Melly angelaufen und winkte uns fröhlich zu.
„Sind jetzt all deine Freunde in den Krieg gezogen? An welche unserer nicht existierenden Fronten müssen sie denn?“, stocherte Craig sarkastisch nach. Melly sah ihn nur verwirrt an.
„Ich glaube, er möchte damit deine überschwängliche Verabschiedung kritisieren“, erklärte ich kurz.
„Achso. Dann sag das doch gleich Craig! Ich versteh eure komische Art sowas zu sagen nicht. Ich hab zwar Tag täglich Zero um mich, aber trotzdem. Sag mal Akio bist du auch so schlimm wie die? Sag bitte nein.“
„Ich glaube, ich muss dich enttäuschen. Ich neige auch zum gepflegten Sarkasmus und bin auch fähig diesen zu verstehen wie gerade. Du musst dich wohl der Mehrheit ergeben.“
„Och nö. Am Ende red ich noch genauso wie ihr und dann versteht mich auch keiner!“
Wir drei warfen uns vielsagende Blicke zu und dann meinte Zero: „Melly, du bist auch gar nicht für den Sarkasmus geschaffen. Du hast ein viel zu schlichtes Gemüt für derlei und dir fehlt die Bösartigkeit dazu. Ich hoffe, du kannst damit leben.“
„Das war jetzt auch sarkastisch oder…?“
„Du hast es erfasst. Hey, vielleicht bist du doch kein so verlorener Fall, oder was meint ihr?“ Craig und ich sahen uns an und antworteten synchrone: „Doch definitiv.“ Und fingen an zu lachen.
Melly schüttelte nur den Kopf und murmelte die nächsten drei Minuten diverse Verwünschungen vor sich hin, von denen ich die meisten einem Menschen nie zugetraut hätte. Der Rest des Weges verlief friedlich. Zero, Craig und ich hatten uns irgendwie im Stillen darauf geeinigt uns Melly anzupassen und ließen sie einfach erzählen. Während ich Melly so zuhörte, wie sie das Wer-mit-wem-und-wieso der Schule erklärte und noch diverses anderes Zeug fiel mir auf, dass ich für einen Moment völlig vergessen hatte, was ich war. Ich hatte mich gefühlt wie ein ganz normales Mädchen von 17 Jahren, dass mit ihren Freunden nach der Schule nach Hause ging. Eigentlich gar nicht schlecht. Ich wurde eh schon viel zu oft an meine Absonderlichkeit erinnert.
Wir kamen bei Craigs Haus an.
„So, ich verabschiede mich dann mal. Ich komm später zu euch rüber, wenn ich meinen Vater besänftigt bekomme. Bis dann.“ Craig schloss die Tür auf und verschwand im Inneren. Sekunden später hörte man eine männliche Stimme: „Craig, wo warst du so lange?! Du brauchst doch nie und nimmer so lange von der Schule bis hier, oder hat deine Kondition so nachgelassen?! Du weißt wie gefährlich es hier ist…“ Ect. ect. und so weiter. Zero schüttelte den Kopf.
„Armer Craig. Sein Vater spinnt echt gewaltig. Der denkt echt hinter jeder Ecke säße hier ein Massenmörder, so sowas.“
Unrecht hatte der Vater ja nicht wenn man bedachte, dass ich ja mal rein objektiv eine Massenmörderin war und Craig sogar mit mir beinahe den ganzen Tag verbracht hatte. Dennoch war ich für ihn nicht gefährlich. Einige Straßen weiter war auch schon unser Haus. Nachdem wir schnell etwas zu Mittag gegessen hatten, zogen Zero und ich uns schnell um. Ich holte eine schwarze Strickjacke aus einem Koffer hervor und eine bequeme aber schöne Hose mit vielen Ketten, Reisverschlüssen und Taschen, die bei jedem Schrott klimperte. Während ich meine Haare noch schnell kämmte, klopfte Melly bei mir an. Ich ließ sie herein.
„Hey Akio. Na wie gefiel dir dein erster Tag? Scheinst dich ja super mit Zero und Craig zu verstehen und hey was ist das denn da?“ Beim kämmen hatte ich meine Haare zurück gestrichen, die schon den ganzen Tag wild um einen Kopf gehangen hatten und gerade mal mein Gesicht frei gelassen hatten und selbst das nicht dauerhaft. Nun waren sie glatte und man konnte meinen Hals auch von der Seite sehen. Etwas rechts befand ich ein Tatoo auf meinem Hals. Eine große zackige Sense, auf der ein Falke saß. Ich bedeckte es sofort mit meiner Hand.
„Lass es mich doch mal bitte sehen, es sah cool aus.“ Sie kam zu mir, nahm meine Hand weg du strich die letzten Harre zur Seite und sah interessiert das Tatoo an.
„Wunderschön“, strahlte sie. „Zwar sehr gruselig, aber es passt irgendwie zu dir, glaub ich.“
„Ich mag es sehr, weil es mich immer an etwas erinnert.“ Ja es erinnerte mich an meinen ersten Auftrag. Es war irgendwann im 18. Jahrhundert gewesen als ich zum ersten Mal als Seelenernterin arbeitete. Es war ein Wahnsinniger der sich an junge Frauen vergriffen hatte. Als ich mit meinen voll ausgebreiteten Flügeln vor ihm gestanden hatte er mit ruhiger Stimme gesagt: „Jetzt ist der Tod selbst also wirklich gekommen, um mich zu holen. Und das auf deiner Schulter ist ein Falke oder?“
„Ja, er wird Ihre Seele mitnehmen. Ich bin nur für die Drecksarbeit hier.“
„Das ist schön. Die Vorstellung ist schön, mit so einem edlen Wesen meine letzte Reise anzutreten.“
Den Falken hatte ich zuvor selbst aus der Finsternis geschaffen. Es war die erste Form gewesen, die ich für angebracht hielt und dieser Mann wollte es sogar. Mich hatte diese Vorstellung so beeindruckt, dass ich es nie vergessen wollte. Auch wenn die Menschen zu dieser Zeit nicht tätowieren konnten waren wir schon weiter. Die Sense war meine eigene, die aus Schatten und meiner Seele geschmiedet worden war. Dunkelschnitter. Dieses Tatoo stand also für meine Aufgabe und für das, was ich vertrat. So kam dieses Motiv zustande, doch das erzählte ich Melly nicht und lächelte nur still in mich hinein.
„Bist schon eine komische Zeitgenossin, Akio. Entweder voll bei der Sache, oder du schaust verträumt in der Gegend rum und scheinst über irgendwas nachzudenken.“
Ich klemmte mir noch schnell eine Haarspange mit einer kleinen Sense auf die rechte Seite, damit man das Tatoo gut sehen konnte und sagte dann: „So wenn Zero fertig ist bin ich auch bereit. Passt das so, Melly?“
„Auch wenn ichs nie tragen würde steht es dir hervorragend.“
„Danke. ZERO! Bist du langsam mal fertig?“
„Ja, schon seit 10 Minuten.“
„Oh. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht warten lassen.“
„Wieso haben Menschen nur immer gute Vorsätze, aus denen nichts wird?“
„Scheint unser Schicksal zu sein.“
„Hat dasselbe Schicksal dich auch mir aufs Auge gedrückt?“
„Jop kommt hin.“
„Dann mag ich es nicht.“
„Ich auch nicht.“
„Dann sind wir uns ja einig.“
„Scheint so.“
Melly hatte die ganze Zeit zwischen uns hin und her geguckt ,während wir beide so gesprochen hatten und uns gleichzeitig, ohne aufzusehen, die Schuhe angezogen hatten.
„Zero, seit Aki hier ist bist du mir noch unheimlicher geworden.“
„Danke, Akio.“
„Bitte gerne, Zero.“
„Ihr seid beide gemein.“
„Ärgern dich die zwei etwa, Melly?“
Der letzte Satz stammte von Craig der umgezogen und startklar in der Tür stand.
„Ja, Craig hilf mir, die sind beide so schlimm.“
„Na dann bin ich doch mal so freundlich und nehme mich der beiden an. Kommt ihr?“
„Danke Craig und euch viel Spaß.“
Wir verabschiedeten uns kurz und gingen dann nach draußen. Die niedrige Wintersonne war zum Großteil schon hinten den Häusern verschwunden und nur noch schwaches Licht fiel auf die Straßen. Teils waren schon die Laternen an um die Straßen zu beleuchten. Viele Leute, denen wir begegneten sahen uns und insbesondere mich recht komisch an. Ich hatte mich früher nie getraut das Tatoo so zu zeigen aber irgendwie war ich hier in Begleitung der zwei mutig genug es zu wagen und ich badete förmlich in den ungläubigen und erstaunten Blicken.
„Aki. Sag mal dieses Tatoo an deinem Hals. Tat das nicht sehr weh? Ich meine so ein doch recht großes und detailliertes Motiv an so einer Stelle?“, fragte Craig und wand sich zu mir.
„Schon, aber es hat sich gelohnt. Es sind einmalige Schmerzen, also nichts Schlimmes.“
„Na du hast Nerven. Warum ausgerechnet seine Sense und ein Falke?“
„Mein verstorbener Onkel liebte Falken sehr und die Sense steht für den Tod.“
Gut gerettet und nicht mal gelogen.
„Wirklich hübsch.“
Ich strich mein Haar kurz zurück damit man es vollständig sehen konnte.
„Sag mal Akio, diese Sense sieht nicht aus, wie eine die man zur Ernte benutzt oder dem Sensenmann in die Hand geben würde“, bemerkte Zero kühl.
„Künstlerische Freiheit. Und nun genug davon welchen Film gucken wir eigentlich gleich?“
„Gute Frage. Zero du weißt das doch bestimmt, oder?“
„Was? Es war doch dein Vorschlag, ich dachte du hättest schon einen Plan.“
„Ehrlich gesagt hab ich den nicht“, sagte er und versuchte es zu retten, indem er doch sehr schief lächelte.
„Craig, du machst mich arm. Ehrlich.“
„Wir können doch einfach im Kino nachsehen, was gerade läuft und uns dann entscheiden oder?“, schlug ich einfach vor um zu verhindern, dass Zero weiter meckerte.
„Stimmt wieso bin ich darauf nicht gekommen?“
„Craig, dazu enthalte ich mich lieber, ich weiß nicht ob ich mich sonst zurück halten könnte.“
Ich seufzte.
„Ganz ruhig Zero, er macht das ja nicht absichtlich.“
„Da wär ich mir nicht zu sicher.“
Ich sah Craig an der nur glücklich in sich hinein grinste. Komische Typen die beiden. Im Kino angekommen, entschieden wir uns für einen Psycho-Horror-Thriller. Im Saal setzten sich Craig und Zero jeweils an eine Seite von mir.
„Sagt mal, hat es einen bestimmten Grund, dass ihr mich flankiert?“
„Falls du Angst bekommst, können wir auf dich aufpassen“, erklärte mir Craig liebenswürdig.
„Und du kannst nicht abhauen“, ergänze Zero. Es sollte schwer genug sein jemanden zu schocken der selbst einem solchen Film entsprungen sein könnte. Immerhin arbeitete ich als Seelenernterin und war ein Vampir.
Der Film fing an. Nach einer recht laschen Einführungssequenz wurde es dann“ gruselig“. Alle Zuschauer krallten sich in ihre Sitze, den Oberarm ihres Sitznachbarn oder das Erstbeste, was sie zu packen bekamen. Nur drei Leute waren von all dem ausgeschlossen. Zero, Craig und ich. Die Spannung stieg. Alles war da: die unheimliche, unidentifizierbare Bedrohung, das einsame Mädchen und der Moment des Aufeinandertreffens der beiden. In einem Augenblick entlud sich alle Spannung im entsetzten Aufschrei des Mädchens welcher direkt auf das Publikum überging und alle schreien ließ. Nur wir konnten nicht mehr schreien. Wieso? Weil wir uns vor Lachen in unseren Stühlen krümmten. Im selben Moment hatten wir angefangen los zu geiern als das Mädchen aufgeschrien hatte. Ein wenig makaber war es schon. Alle Leute im Saal drehten sich zu uns um. Einige noch mit entsetzten Mienen und wir hatten nichts Besseres zu tun als zu lachen.
„Tut uns leid. Es überkam uns so wir wollten wirklich nicht stören“, versuchte Craig noch immer halb lachend unser Benehmen zu rechtfertigen. Wir beruhigten uns schnell wieder und sahen den Film weiter. Statt großen Lachanfällen kicherten wir nur noch leise, sodass wir äußerst erheitert aus dem Kino kamen. Irgendwie hatten wir es geschafft, uns während des Films zurück zu halten doch nun hielt uns nichts mehr. Wir setzten uns in die Lobby und fingen an den Film zu kritisieren, wieso er denn so unrealistisch und albern war. Wir fanden immer neue Stellen um es zu zeigen und mussten uns erneut darüber amüsieren. So kamen wir von diesem Film zu Filmen allgemein, dann wieder aufs nächste Thema und wieder das nächste und immer so weiter. Wahrscheinlich hätten wir die ganze Nacht so verbracht doch irgendwann kam ein Mitarbeiter des Kinos zu uns und sagte, dass sie bald schließen würden und wir doch bitte gehen sollten.
„So spät schon?! Verdammt Aki, Mutter bringt uns um. Wir müssen morgen in die Schule. Wieso hat keiner auf die Zeit geachtet?“
„Da waren wir wohl zu vertieft ins Gespräch“, sagte Craig ruhig. „Die 2-3 Stunden werden keinen töten. Ich fand es war ein gelungener Abend und ihr?“
„Da hast du wohl recht“, stimmte Zero ihm nun doch zu. „Und Aki ist ja richtig aufgetaut. Wie fandest du es denn?“
„Sehr interessant.“ Ich lächelte. Ja, es hatte viel Spaß gemacht und das half mir auch es nicht so schrecklich zu finden die ganze Nacht wieder zu arbeiten. Als wir so aus dem Kino und in die Dunkelheit gingen fühlte ich wie gut mir die Nacht tat. Die Sonne und der Tag hatten mich ausgelaugt, doch nun hier in der Stille der Nacht war alles vergessen. Ich atmete die klare Luft ein und sah zum Himmel. Nur einzelne Sterne waren zu sehen und der Mond verbarg sich hinter den Wolken. Craig sah sich immer wieder heimlich um, als ob er nach etwas suchen würde. Doch er schien nichts zu finden und sah aufgrund dessen sehr erleichtert aus. Hatte sein Vater vielleicht doch etwas Einfluss auf ihn genommen und hatte ihn vorsichtig gemacht in solchen Nächten. Vampire oder andere Dämonen waren nicht in der Nähe, sonst hätte ich trotz meiner Versiegelung ihre Aura wahr genommen. Vor denen mussten wir uns also nicht fürchten. Das einzig gefährliche hier war ich und ich würde die beiden nie verletzten.
Wir lieferten Craig zu Hause ab und von drinnen hörte man wieder diese laute männliche Stimme die wohl sein Vater war.
„Wieso kommst du erst jetzt?! Du weißt genau, dass wir gleich noch weg müssen. Denkst du eigentlich jemals nach? Das hier ist wichtig. Wichtiger als deine kleinen Freunde ja, Craig.“
Diese Worte stimmten mich irgendwie traurig. Ich strenge mein Gehör an und konnte ganz leise Craig hören, der mit leiser und trauriger Stimme sprach, wie ich ihn den ganzen Tag noch nicht gehört hatte.
„Du hast keine Ahnung, Vater. Ich nehme das hier sehr ernst, aber bitte stell es nicht über meine Freunde. Ich habe wenige, daher bedeuten sie mir sehr viel.“
„Noch hälst du sie für wichtig, aber irgendwann werden sie verschwinden. Das hier wird dich ewig begleiten, mein Sohn.“
„Nein Vater, aber lassen wir es gut sein…“
Weiter wollte ich nicht zuhören. Es fühlte sich schändlich an so zu lauschen und mir tat Craig leid.
„Hey Aki? Ist was?“, riss mich Zeros Stimme aus meinen Gedanken.
„Nein, es ist nichts. Lass uns nach Hause gehen sonst wird’s noch schlimmer.“
Zu Hause angekommen setzte es die erwartete Standpauke, deren Fokus sich jedoch eher auf Zero richtete, der alles nickend annahm, Besserung gelobte und sich bestimmt im Inneren dacht: „Jaja ich halt mich eh nicht dran.“ Danach gingen wir beide nach oben, wünschten uns eine gute Nacht und verschwanden auf unsere Zimmer. Es war inzwischen fast 1 Uhr nachts. Auf meinem Bett fand ich die Aufträge vor. Misu war wohl schon hier gewesen. Sehr leichtsinnig von ihm, sie einfach aufs Bett zu legen. Jeder hätte herein kommen können. Zwei normale Aufträge lagen dabei und ein spezieller der mit Blut geschireben war, was bei uns als sehr wichtig eingestuft war. Ich las mir den Brief aufmerksam durch und meine Augen wurden immer größer, weil ich es nicht fassen konnte. Im groben stand darin, dass sich einige Dämonen, darunter auch Vampire, von der Hölle abgewandt hatten und anstrebten sich wieder ins allgemeine Denken der Menschen zu verankern, indem sie sie wieder frei jagten. Sie wollten zeigen, dass es sie wirklich gab. Federführend schien eine Gruppe Vampire zu sein. Sie hatten es satt in die Welt der Sagen abgeschoben zu werden. Doch wollten sie es wohl nicht zu offensichtlich und plump machen sondern planten einzelne Aktionen. Es war nicht auszudenken, was passieren würde wenn in der heutigen Zeit klar würde, dass es uns wirklich gab. Früher war das nicht schlimm gewesen, da die Menschen zum einen sehr abergläubig waren, aber auch weil alles für sich existierte. Wenn ein Vampir in Amerika einen Menschen tötete war es den Menschen in Europa egal bzw. sie wussten nichts davon, aber heute? Heute würde es um die Welt gehen. Massenpaniken, Hetzjagden und Schlimmeres konnten folgen. Das gesamte System würde brechen. Das durfte nicht passieren. Meine Aufgabe als Seelenernterin und Vampirovere war es nun jeden dieser Dämonen und Vampire zu jagen und zu töten. Doch heute Nacht würde ich mich erst mal um die zwei Aufträge und meinen Durst kümmern. Außerdem stand noch offen, ob ich es zurzeit mit Höherrangigen aufnehmen konnte.

Kapitel 11 - Durst und sonstige Pflichten


Die Nacht begann und damit meine Arbeit. Mein erster „Kunde“ wohnte unglücklicherweise genau am anderen Ende der Stadt. So flog ich über das nächtliche Berlin. Betrachtete die Menschen, die noch zu diversen Discos, Partys und Bars wankten und jene, welche auf sie aufpassten. Keiner wendete seinen Blick gen Himmel. Niemand beachtete den Raben, der langsam weiterflog. Nur keine Eile. Kräftige Schwingenschläge brachten mich voran. Die Nacht war kalt und ich zog meinen Pullover so hoch, dass man nur noch meine Augen sehen konnte. Endlich war ich angekommen und landete vor einem kleinen Haus eines Vorortes. Verbrechen: Mord an der Frau und Körperverletzung an der Tochter. Kurzum ein Familiendrama und dieser Vorort war wirklich eine perfekte Kulisse dafür. Ich entschied mich, diesmal durch die Hintertür hinein zu gehen. Nur im Wohnzimmer brannte noch Licht und alleine saß ein Mann vor dem Fernseher und sah sich in aller Seelenruhe eine Show an. Ich stand in menschlicher Gestalt in der Tür und beobachtete ihn ein paar Minuten. Seine Frau hatte er erstochen und seine Tochter schwer verletzt und sie nur ins Krankenhaus gebracht um sein Alibi zu stärken. Sie schwebte wohl noch immer in Lebensgefahr. Wie konnte so jemand nur so ruhig fern sehen.
„Wie kann er das?“, sagte ich laut. Der Mann fuhr geschockt herum. Kein Wahnsinn sprach aus seinen Augen, aber deutlich die Schuld.
„Wer bist du? Wie bist du hier rein gekommen?“
„Wie können sie nur mit sich selbst noch in einem Zimmer sein? Wie können Sie sich noch im Spiegel betrachten?“
„Was meinst du damit?“ Unsicherheit lag in seiner Stimme, ja er stotterte fast.
„Sie wissen was ich meine. Ihre Frau tot und ihre Tochter wegen Ihnen im Krankenhaus und Sie sitzen hier? Ich begreife die Menschen nicht mehr.“
„Was? Woher weißt du das? Wer hat es dir erzählt?“
„Mein Auftrag hat es mir erzählt. Der Auftrag Sie zu töten. Ich bin eine Seelenernterin und hole all jene, die ihre Seele verderben.“
„Schöner Spruch, Kleine. Aber wenn das wirklich so wäre, hättest du wohl mehr zu tun und außerdem gibt’s genug Leute da draußen, die gemordet haben und fröhlich weiterleben. Dir wird keiner glauben also hau ab. Ich weiß nicht, wer du bist und wie du hier rein gekommen bist, aber ich rate dir zu verschwinden, sonst nimmst du deine Erkenntnisse gleich mit ins Grab.“ Seine Stimme und Körperhaltung hatten sich entspannt. Er war aufgestanden und vor mich getreten.
„Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgt. Ja, es stimmt, dass wir viele überleben lassen und ich weiß nicht, wieso aber so wird es bestimmt und ich folge dem nur. Ich frage nicht warum wir die anderen nicht auch töten. Es wird schon seine Gründe haben. Sind Sie bereit, den Tod anzunehmen?“
„Ganz bestimmt nicht. Jetzt, da meine Frau tot ist und ihre einzige Erbin im Sterben liegt, werde ich alleiniger Erbe. All das hier gehört dann mir. Wieso sollte ich jetzt sterben, wo es mir gut geht?“
Ich seufzte. „Menschen.“ Und rammte ihm die Seelenklaue in den Körper. Seine Augen waren überrascht aufgerissen und verzerrten sich nun wie all die anderen zur Maske des Grauens, während man ihnen die Seele entnahm. Ich hielt sie kurz in Händen. Wieso war gerade sie so kraftvoll, dass sie die Höllenflammen nähren sollte? So vieles im System war mir schleierhaft und wie genau alles zusammen hing, wussten wohl nur die beiden Spieler. Ich packte die Seele weg. Langsam wurden es zu viele, die ich in mir trug. Aus den Schatten erschuf ich also einen neuen Falken. Wunderschön entstieg er der Finsternis, flatterte zu mir und ich gab ihm die Seelen, auf dass er sie sicher dahin brachte wohin sie gehörten. Ich schaltete den Fernseher aus, nahm eine Flasche vom Tisch, zerbrach diese und schnitt ihm die Pulsader auf. Man könnte sich nun sicherlich fragen, wieso ich nicht einfach sein Blut trank doch dies war schnell erklärt. Vampire ernähren sich nicht nur vom Blut ihrer Opfer sondern auch von deren Seele die darin auch fließt. Seelenlose waren also für einen Vampir völlig nutzlos. Es war als hätte ein Mensch Durst und man gab ihm Meerwasser.
Mein zweiter Auftrag war von ähnlicher Beschaffenheit. Nichts tiefgründiges, was einem in Erinnerung geblieben wäre. Auch dies war schnell erledigt. Einige geschickte Hiebe eines Küchenmessers hatten ihn zu Fall gebracht und ein letzter gab die Todesursache. Bei ihm schien es mir sogar Verschwendung meine Kräfte einzusetzen, da er selbst als Mensch für mich kein Gegner war.
Als ich aus dem Haus, auf die Straße ging spürte ich wieder die Kälte. Ich musste schnell jemanden finden, sonst würde ich noch buchstäblich auskühlen. Vampire hatten im Normalfall keine eigene Körperwärme da sie ja eigentlich tot waren, doch erzeugten die meisten eine gewisse Wärme durch Energie, um wie Menschen zu scheinen. Es war nicht notwendig, aber aus Tarnungsgründen unerlässlich. Ich hatte auch bis jetzt Wärme produziert, doch jetzt war mein Körper zu erschöpft um es weiter aufrecht zu erhalten. Würde ich zu lange hier bleiben würde ich wirklich zu einer Leiche werden. Äußerst ungünstig
Ich musste jagen gehen, ob es mir gefiel oder nicht. Zur Zweigstelle kam ich nichtmehr, bevor der Durst mich überwältigte und da ich nicht mit einem so schnellen Aufkommen des Durstes gerechnet hatte, lag die andere Flasche noch zu Hause.
Ich schleppte mich noch ein paar Straßen weiter. In jedem Menschen sah ich schon nur noch das Blut pulsieren. Verdammt. Nicht einmal meinen Durst hatte ich noch unter Kontrolle. Ich wankte gefährlich. Mist. Bei jedem Schritt könnte mein Körper zusammenbrechen. Plötzlich rempelte mich jemand an.
„Ey, was soll das?! Pass mal biss’n auf, Kleine! Wenn du dich umbringen gehen willst, dann tu das und nerv hier. Abhängige Idioten.“
Meine Augen waren blutrot, mein Körper hing nur noch schwach auf den Knochen und ich konnte keinen Ton mehr sagen. Mein Blick war auf den Boden gerichtet. Kaum hob ich meinen Kopf unter Anstrengung hoch sah ich die Adern. So viele. So schön. So voll mit rotem Lebenssaft. Und sein hämisches Grinsen, als ob ihn mein elender Anblick freuen würde. In diesem Moment übernahmen endgültig meine Instinkte mein Handeln. Blitzschnell fuhr mein Kopf hoch und einen Augenblick später steckten meine Zähne bis zum Ansatz in seinem Hals. Ein kurzer Aufschrei, dann Stille. Langsam und in großen Zügen bediente ich mich an seinem Blut. Die vorbeigingen Passanten nahmen keinerlei Notiz von uns. Wahrscheinlich dachten sie sich ihren Teil. Kaum war ich wieder einigermaßen bei Besinnung, schaffte ich ihn unauffällig in eine dunkle Seitengasse und zog meine Reißzähne heraus. Nur noch ein dünnes Rinnsal floss aus den beiden Löchern an seinem Hals. Es war kein Druck mehr dahinter, so viel hatte er schon an mich verloren. Was sollte ich jetzt machen? Ich konnte ihn schlecht mit diesen Bissspuren hier liegen lassen. Schnell durchsuchte ich seine Sachen. Das übliche Zeug. Und ein Messer. Perfekt. Ich setzte an den Bissspuren an und begann seinen Kopf abzutrennen. Bei diesen zerfetzten Schnittstellen, würde niemand mehr die Mahle erkennen. Ich warf den Kopf irgendwo weiter in die Gasse hinein. Den enormen Blutverlust sollten sie sich selbst irgendwie erklären.
Ich wollte mich nur noch schlafen legen, als ich durch das Fenster meines Zimmers gilt. Schnell war ich umgezogen und wenigen Minuten später schlief ich ruhig.
Doch die ganze Nacht plagten mich Träume von mächtigen Vampiren, die mich jagten und umbrachten. Ich war zu schwach. Ich war viel zu schwach so etwas zu tun. Ich war doch nur eine kleine Seelenernterin, die auf ihre Minimalkräfte herunter gestuft war.
Als mich Zero am nächsten Morgen weckte, ging es mir nicht viel besser. Immer noch schwebten die Gedanken an die Vampire und Dämonen in meinem Kopf.
„Aki? Was hast du denn gemacht? Du siehst ja aus wie eine Leiche. So schlecht geschlafen?“
„Schlecht ist kein Ausdruck dafür, Zero.“
„Trotzdem musst du nun aus dem Bett. Das Frühstück steht unten und alles wartet auf dich.“
„Nein“, sagte ich trotzig und verbarg mein Gesicht in einer weichen Bettdecke.
„Akio, komm schon. Alle warten mit dem Essen auf dich, also setzt dich in Bewegung. Ich geh jetzt nach unten und wenn du in 10 Minuten nicht fertig unten stehst, zieh ich andere Saiten auf.“
„Ja Meister Zero“, grummelte ich in die Decke. Ich war es nicht gewöhnt, dass man wegen mir wartete, doch anscheinend war es hier so üblich. Da ich sie nichtmehr warten lassen wollte, kroch ich geplagt aus dem Bett. Die letzte Flasche Blut schnell eingepackt für den Notfall und ab ins Bad. Langsam wurde ich wach. Mein Kopf schwirrte. Vielleicht war es doch zu viel gewesen. Nachdem ich mich gewaschen hatte, ging ich langsam nach unten.
„Ah Akio, beehrst du uns doch noch mit deiner Anwesenheit?“, fragte Zero zynisch.
„Ja, ich bin so freundlich also sei mal nicht so unfreundlich.“
„Scheinst ja wach genug für blöde Sprüche zu sein, also kann es nicht so schlimm gewesen sein.“
„Ja ja.“ Ich machte mir ein kleines Frühstück fertig von dem, was auf dem Tisch stand. Als alle fertig waren gingen wir los.
Vor seinem Haus wartete Craig schon ungeduldig.
„Hey Akio dein Leichenclub hat Zuwachs“, kommentierte Zero Craigs Aussehen. Es stimmte. Craig sah fast noch schlimmer aus als ich. Eingefallene Augen, darunter breite Ringe und er war noch blasser geworden als so schon.
„Keine Kommentare Zero, ich bin völlig übermüdet. Mein Vater hat mich die ganze Zeit wach gehalten.“ Er gähnte herzhaft.
„Kannst dich mit Aki zusammentun. Die sieht ja heute aus fast den gleichen Gründen so aus.“ Craig lächelte nur matt. Er sah wirklich schrecklich aus. Während Melly und Zero wie jeden Morgen munter redeten, liefen Craig und ich stillschweigend nebeneinander her. Beide zu müde ein Gespräch anzufangen und so hören wir den beiden vor uns zu. In der Schule lagen wir beide auf den Tischen und schliefen, bis sich Zero zwischen uns setzte um jedem mit jeweils einer Hand eins über den Schädel ziehen zu können, wenn wir auch nur eine Minute versuchten zu schlafen. Nach der Stunde lagen wir noch immer auf dem Tisch. Diesmal jedoch nicht nur wegen der Müdigkeit, sondern auch wegen dem Schmerz.
„Zero ist gemein“, flüsterte ich als Zero als letzter den Klassenraum zur Pause verlassen hatten und nur noch Craig und ich da waren.
„Das ist er immer, aber im Grunde meint er es gut. Glaub ich zumindest.“
„Dein Glaube in Ehren, aber Schlaf wäre mir lieber.“
„Dann müsstest du schon Zero los werden und das ist unmöglich.“
„Sag das nicht er könnte ja einen Unfall haben“, sagte ich bösartig und lächelte verstohlen in mich rein, in die Vorstellungen über diese „Unfälle“ vertieft. Craig drehte sein gerade noch zum Tisch gewandtes Gesicht zu mir und musste kichern.
„Was ist denn so lustig?“
„Dein Gesicht. Man sieht daran genau was du denkst.“
„Ich versuche es auch nicht zu verbergen und die Vorstellung gefällt mir eben zu gut.“
Craig schaute verträumt aus dem Fenster hinter mir, schloss die Augen und fing an zu schlafen. Ich tat es ihm nach wenigen Augenblicken nach.
Geweckt wurden wir von vielen tuschelnden Stimmen und einer sehr deutlichen die alles andere als erfreut klang.
„Nichts als Ärger hat man mit euch beiden. Craig! Akio! Verdammt wacht auf. So übermüdet kann man doch gar nicht sein!“
„Nur noch ganz kurz, Zero“, flüsterte ich verschlafen, ohne wirklich wahrzunehmen was los war. Craig gab nur ein paar zustimmende Laute von sich und kuschelte sich weiter in seinen, als Kopfkissen umfunktionierten, Mantel.
„Jetzt reicht’s.“ Diese Ansage seitens Zero gefiel mir ganz und gar nicht. Man hörte ihn kurz weg gehen und nach ca. einer halben Minute wiederkommen. Sein Wiederkommen wurde mit erstauntem Raunen der Klasse begleitet.
„Oh oh!“, hörte ich nur noch neben mir und dann traf uns das kalte Wasser genau ins Gesicht. Wir schreckten beide so auf, dass wir nach hinten mit den Stühlen umkippten doch nun geschah etwas Ungewöhnliches. Statt, dass wir beide schmerzhaft aufschlugen fingen wir uns mitten im Sturz ab, rollten zur jeweils anderen Seite ab und stellten uns durch diese Bewegung auf, noch bevor unsere Stühle geräuschvoll zu Boden gingen. Zero sah uns ungläubig an. In seinen Händen hielt er noch den Eimer, dessen Inhalt er auf uns entleert hatte. Wieder angeregtes Tuscheln. Craig und ich sahen uns genauso verwirrt an. Mich hatten meine Vampirreflexe gerettet, wodurch ich schon unterbewusst den Sturz abgefangen hatte. Craig hatte es auch perfekt überstanden, nur fragte ich mich wie. Trotz unserer kleinen Showeinlage sahen wir aus wie frisch geweckt. Craigs Augen waren halb geschlossen. Ich rieb mir die Augen, um die letzte Müdigkeit abzuschütteln und wollte gerade meine Haare auswringen als ich noch etwas feststellte. Ich war nicht nass. Ich hatte nur gedacht, dass mich das Wasser getroffen hatte. Selbst hier arbeitete mein Unterbewusstsein wie im Kampf. Durch einen Reflex war ich dem Wasser ausgewichen und nur ein wenig Wasser war auf mir gelandet. Craig war auch nur an einer Schulter völlig durchnässt und am äußeren Rand seines linken Ärmels. Er war also fast genauso schnell ausgewichen wie ich. Erstaunlich.
„Nun Zero, was ist? Wie du siehst sind wir beide vollkommen wach“, sagte ich mit amüsiertem Unterton.
„Ihr schafft mich. Wie könnt ich nur im Klassenraum einschlafen? Wie ihr es geschafft habt dem Wasser auszuweichen frag ich erst gar nicht, wahrscheinlich habe ich sehr schlecht gezielt. Hebt eure Stühle auf und seit am besten still, sonst erreich ich heute meine Belastungsgrenze.“ Dem Rest der Klasse schien für einen Augenblick der Atem zu stocken. Schnell verstreuten sich alle auf ihre Plätze, nachdem sich Zero demonstrativ hingesetzt hatte. Craig und ich hoben die Stühle hoch und fingen wortlos an das Wasser aufzuwischen, um Zero nicht noch mehr zu belasten. Der Unterricht nahm dann seinen normalen Lauf. Ich war hellwach und konnte allem hervorragend folgen, auch wenn ich es stark unterdrücken musste unseren Geschichtslehrer bei einigen Daten zu korrigieren.
In der 3. Stunde kam unsere Klassenlehrerin herein. Ihr folgte ein Mädchen, was ich zuvor noch nie gesehen hatte.
„Dies hier ist Helena. Sie ist eine Austauschschülerin aus Rumänien und wird für zwei Wochen bei uns bleiben. Sie spricht fließend Deutsch, also macht euch um die Verständigung keine Sorge.“
Das übliche Gemurmel fing an, welches schnell verebbte. Helena sah schüchtern zu Boden. Sie war kleiner als ich und recht zierlich. Ihre braunen Haare fielen lockig über ihre Schultern.
„Setzt dich doch bitte nach dort hinten neben Melly“, sagte unsere Lehrerin und deutete auf den freien Platz neben Melly.
„Hallo“, strahlte Melly sie an, sobald sie sich gesetzt hatte. Das Mädchen sah Melly an und lächelte, doch dann ging ihr Blick zu Zero, Craig und mir und ihr Lächeln erstarb augenblicklich. Pure Angst und Entsetzten zeichneten sich in ihren Augen ab, doch schnell hatte sie sich wieder unter Kontrolle und sah Melly an.
„Stimmt irgendetwas nicht?“, fragte ich besorgt.
„Nein, nein, es ist Nichts. Ich bin zum ersten Mal in Deutschland und habe etwas Angst. Freut mich, euch kennen zu lernen“, sagte sie verlegen, aber immerhin lächelte sie wieder etwas. Irgendwas stimmte hier nicht. Während der folgenden Stunden warf sie mir immer wieder angsterfüllte Blicke zu. In den Pausen jedoch kam sie zu uns und trotz ihrer Anspannung, konnte man gut mit ihr reden.
Komisches Mädchen. Aber ich würde bald andere Probleme haben, als Helena.

Kapitel 12 - Der Übelfall


Die nächste Zeit war es verhältnismäßig ruhig. Standartaufträge, Standartschule, ein recht normales Leben war eingetreten. Helena hing meistens mit Zero, Craig und mir rum. Die angekündigten zwei Wochen hatten sich auf „bis auf weiteres“ ausgedehnt, was niemanden störte. Am wenigsten sie selbst.
Eines Abends jedoch, bekam ich einen Anruf aus der Zweigstelle. Es gäbe Meldungen von einem Vorfall bei einem der Häuser, der Bruderschaft, im Umland von Berlin. Die Bruderschaft war die den Menschen positiv geneigte Vereinigung der Vampirgesellschaft. Es wurde unterteilt zwischen Bruderschaft, Pakt und Clan. Die Bruderschaft setzte sich für den Konsens zwischen Vampiren und Menschen ein. Ein Angehöriger würde eher selbst sterben, statt einem Menschen grundlos Schaden zuzufügen. Sie waren auch für die Versorgung der Gesellschaft mit Blutkonserven zuständig. Überall auf der Welt unterhielten sie Niederlassungen zur Blutspende. Natürlich auf freiwilliger Basis, gegen Geld. Die Menschen wussten zwar nicht, wofür sie es spendeten, aber das tat ja nichts zur Sache.
Im Pakt galten da schon erheblich weniger Regeln. Der größte Zusammenschluss hatte eigentlich nur die Regel, dass man der Gesellschaft nicht schaden sollte und sich nicht gerade im Blutrausch durch eine Menschenmenge schlagen sollte. Dem Pakt gehörten auch die 3 Overen, also die Urvampire, an. Diese nannte man, den Grafen, die Baronesse und die Prinzessin. Letztere war ich. Clanvampire verließen sich mehr auf ihre Instinkte. Sie waren recht selten und hielten sich in entlegenen Gegenden auf. Im Gegensatz zur Bruderschaft und dem Pakt bevorzugten sie lebende Beute und tranken aus Prinzip keine Konserven. Und dann war da natürlich noch die neuste Problempartei. Die Rebellen.
Ich sollte nun überprüfen, was dort los war. Eigentlich eine reine Sicherheitsüberprüfung, aber man konnte ja nie wissen. Was genau das für ein Vorfall sein sollte, war auch keiner im Stande mir zu sagen. Also musste ich vorbei schauen.
Das Haus der Bruderschaft lag etwas außerhalb von Berlin, in einer sehr ländlichen Gegend. Die nächsten Nachbarn waren kilometerweit weg und die Straße sah auch nicht danach aus, dass hier oft Verkehr war. Es war von einem Eisenzaun umgeben und das verschnörkelte Tor stand leicht offen. Allein dieser Umstand machte mich stutzig. Vampire ließen das Tor nicht halb offen. Keiner von uns. Besonders nicht die vorsichtigen Leute der Bruderschaft. Ich ging hindurch und vor mir ersteckte sich der Vorgarten, den wohl viele als ausladende Rasenfläche bezeichnet hätten. Es dauerte ein wenig, bis ich das eigentliche Haus erreichte, aber ich merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. Das normalerweise hell erleuchtete Haus lag im Dunklen und auf der Wiese davor sah es aus, als hätte ein Kampf stattgefunden. Ich rannte schnell hinein, von wo ich noch leise Geräusche vernahm. Drinnen sah es auch nicht besser aus. Vieles war kaputt. Eigentlich alles, was irgendwie durch Krafteinwirkung zerstört werden konnte. Zwischen den Trümmern eines schweren Tisches hörte ich ein Röcheln.
„Thomas!“
Ich stürmte zu der Gestalt und beseitigte die massiven Holzteile. Er selbst war blutüberströmt und sein linker Arm fehlte. Die Regeneration setzte nur schleppend ein und er hatte große Schmerzen.
„Was ist hier geschehen?“, stammelte ich. Diese ganze Situation war mir unbegreiflich. Das hier war eins der Häuser der Vampirgesellschaft. Geschützt durch fast hundert Untote, darunter auch sehr alte und mächtige.
„Sie kamen so schnell. Es waren viele, die plötzlich von überall her kamen.“
Er spuckte wieder Blut. Sein Zustand war kritisch, aber nicht hoffnungslos.
„Wer sind sie?“
„Die Rebellen. Sie haben alle getötet. Einfach so! Sie fragten uns, ob wir uns der Revolution anschließen würden. Wir lehnten ab, weil ihre Einstellungen nicht mit unseren Überzeugungen zu vereinbaren waren. Daraufhin ging das Schlachten los. Wir haben wirklich versucht sie zu vertreiben, Prinzessin. Aber es waren zu viele und sie waren stark. Einige von uns versuchten noch Euch zu verständigen, aber sie schafften es nicht. Sie hielten mich wohl für tot. Schon zu Asche geworden, unter diesem Tisch.“
Er sah sich verstört um. Er war einer der Verwalter gewesen und einer meiner Abkömmlinge. Sein zu Hause lag in Trümmern und seine Kollegen wurden gerade mit dem Wind verstreut. Ich biss mir auf die Unterlippe. Wäre ich doch nur früher hergekommen. Hätte ich bloß meine Kraft. All diese Konjunktiv-Szenarien. Ich tastete die Umgebung auf Auren ab. Keine mehr. Weder von unseren Leuten, noch von ihnen. Irgendwo fiel etwas herunter und zerbrach geräuschvoll. Man sollte sich eigentlich wundern, dass es bis gerade noch etwas gegeben hatte, was noch zerbrechen konnte. Thomas versuchte sich wacklig aufzustellen. Nur mir meiner Unterstützung schaffte er es zu stehen. Überall war Blut und es roch schrecklich nach Tod. Wie hatten sie das nur tun können? Die Bruderschaft! Die friedlichste Vereinigung der Vampire! In mir brodelte es. Wenn ich meine Kraft zurück bekam, würde ich jedem von ihnen die Haut abziehen und zwar ganz langsam. Verdammtes Pack.
Ich hievte Thomas aus der Villa, um dem Todesgeruch zu entkommen. Draußen war es auch nicht unbedingt schöner. Der Rasen war zertrampelt, teilweise aufgerissen, als hätten Stangen und Klingen darin gesteckt und auch hier war überall Blut. Alle waren Tod. Einfach so. Unverzeihlich. Sie würden büßen dafür. Schmerzhaft und grausam. Nachdem ich den Verletzten auf der Wiese abgelegt hatte, suchte ich die Überreste seines Arms, damit er sie nicht von allzu weit weg zu sich befehligen musste. Ich fand ihn schließlich in einer Ecke neben einem umgestoßenen Sessel. Zu meiner Erleichterung hatten sich die meisten seiner Wunden schon fast vollständig geschlossen, als ich wieder heraus kam. Immer noch stöhnte er bei jeder Bewegung, aber der Blutfluss war gestoppt und sein Arm verband sich langsam wieder mit dem Rest.
„Was tun wir jetzt, Prinzessin?“
„Wir tun gar nichts. Ich werde die Zweigstelle anrufen, damit die dich abholen. Ich werde sofort dem Grafen Bericht erstatten. Sie haben es gewagt uns offen anzugreifen. Das war eine Kriegserklärung.“
„Aber Prinzessin. Ich möchte Euch helfen!“
„Du solltest dich zuerst vollständig wiederherstellen. So bringt das nichts. Wir müssen unser weiteres Vorgehen abklären und dein Platz ist bei der Bruderschaft. Wir schaffen dich bald zum nächsten Außenposten. Dort wirst du nützlicher sein.“
„Ja, Herrin.“
Er wirkte zerknirscht, weil er momentan nutzlos war, aber andere Optionen gab es nicht. Dieser Angriff war eine Herausforderung, die wir nicht so stehen lassen konnten. Ich zückte mein Handy. Mein erster Anruf galt der Zweigstelle in Berlin, die jemanden für Thomas‘ Abtransport schicken sollten. So konnte ich nicht mit ihm fliegen. Der nächste galt meinem Onkel, dem Grafen. Es klingelte und klingelte und klingelte. Nach 3 Minuten legte ich auf. Sehr merkwürdig. Ich versuchte es bei der eigentlichen Nummer des Hauptquartiers, des Paktes. Wieder nichts. Nochmal. Keine Rückmeldung. Wieder hackte ich die Privatnummer meines Onkels ein. Stille. Ich wurde langsam nervös. Eigentlich war Onkel Vlad unter dieser Nummer immer erreichbar und normalweise saß er fast den ganzen Tag in seinem Büro beim Pakt und verwaltete. Nicht erreichbar zu sein passte nicht zu ihm. Besonders nicht jetzt. Mit zittrigen Fingern tippte ich seine Ersatznummer ein, die nur der Rat, die Baronesse und ich hatten. Erneut das monotone Geräusch des wartenden Anrufs. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten. Verdammt geht ran! Vier Minuten. Fünf Minuten. Das Tuten war in meinem Kopf zu einer schrecklichen Symphonie geworden, die sich wie das Klagelied der Verstorbenen anhörte. Sechs Minuten. Tut. Ich legte auf. Ich zitterte. Thomas sah mich besorgt an.
„Ist etwas, Herrin?“
„Nein, es ist nichts. Hoffentlich. Beim Pakt geht niemand ran. Gerade jetzt.“
Er sah noch besorgter aus und seine Stirn legte sich in tiefe Falten. Ich ergriff meinen letzten Strohhalm. Ich hämmerte die Nummer geradezu ein. Wieder das Wartegeräusch. Eine Minute. Knacken.
„Hallo?“
„Hallo, Natalia. Ich bin‘s Akira. Endlich erreiche ich jemanden.“
„Akira, Schätzchen! Was beehrt mich denn damit, dass du mich mal anrufst? Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen! Seit meinem Italiendreh nichtmehr, oder? Ich bin gerade am Set meines neuen Films in Amerika. Komm doch mal vorbei, dann können wir wieder was zusammen machen. Nimm dir endlich mal Urlaub von diesem elenden Seelengesammel. Ist doch total langweilig! Wann wär’s dir denn recht?“
„Natalia. Ich rufe nicht ohne Grund an und ich hab gerade andere Probleme als Entspannung. Viel mehr haben wir Probleme. Du bist auch eine Overe also verhalte dich gelegentlich auch so!“
„Jaja“, sagte sie etwas eingeschnappt, aber nun wurde sie ernster, „Was ist denn passiert? Deine Stimme zittert so?“
„Die Revolutionäre haben die Berliner Abteilung der Bruderschaft überfallen und beinahe komplett ausgelöscht. Das Haus ist zerstört, die Leute tot. Ich konnte nur noch Thomas bergen und sitze jetzt auf dem Schlachtfeld vor der Villa. Beim Pakt geht keiner dran. Selbst Vlad nicht.“
Bluttränen stiegen mir in die Augen. Wenn sie diese Schäden anrichten konnten, wäre auch der Pakt in Gefahr. Alle Vampire waren das. In meinem Kopf erschienen wieder Ausschnitte aus dem Krieg. Meine Kameraden tot neben mir. Schlachtfelder und überall nur Leid und Tod. So durfte es nicht werden.
„Das kann nicht sein!“, riss mich Natalia aus meinen düsteren Gedanken.
„Die Revolutionäre sind doch nur eine kleine Gruppe von Spinnern! Idioten, die sich abgewandt haben. Die sind doch nicht in der Lage eine ganze Außenstelle zunichte zu machen.“
„Ich fürchte doch. Wir haben sie zu lange auf die leichte Schulter genommen. Das rächt sich jetzt. Es sind viel mehr geworden und inzwischen haben sich auch viele mächtige Vampire ihnen angeschlossen. Ich muss zum Pakt.“
„Aber sie könnten da sein! Du kannst da doch nicht einfach hin! Du rennst in dein Verderben!“
„Ich muss, Natalia. Ich muss wissen, was da los ist. Ich kann hier nicht einfach rumsitzen und abwarten, bis noch Schlimmeres passiert.“
„Na gut. Aber ich komme mit! Mein Dreh beginnt zum Glück erst in ein paar Tagen. Du wartest in Berlin. Ich hol dich ab. Verstanden? Du gehst nicht alleine!“
„Beeil dich, Natalia. Ich weiß nicht was da los ist und wie lange es dauert.“
„Ich nehme den ersten Flieger. Warte am Flughafen auf mich, wir reisen dann sofort weiter. Diese verdammten Rebellen!“
Damit legte sie auf. Mir ging es erheblich besser, mit dem Wissen, dass Natalia mitkam. Sie verfügte derzeit über mehr Macht als ich. Nach einiger Zeit kam auch ein Wagen der Höllenzweigstelle und holte uns ab. Ich ließ mich in unserer Gegend herauslassen und lief schnell nach Hause. Alle schliefen natürlich noch. Was sollte ich ihnen sagen? Wie sollte ich erklären, dass ich für einige Tage weg musste, nach Rumänien? Dann kam mir eine Idee, die nur vom Verstand einer 17-Jähigen stammen konnte. So dreist und so bescheuert, dass es authentisch wirken musste. Ich schlich in mein Zimmer und schrieb auf einen Block:
„Lieber Juan, liebe Katrin,
Gestern Abend hat sich eine alte, gute Freundin meines verstorbenen Onkels mit mir in Verbindung gesetzt. Sie möchte mit mir das Grab besuchen. Ich vermisse ihn so sehr. Sie kommt heute mit dem ersten Flieger aus Amerika und wir reisen sofort weiter. Es tut mir Leid und ich werde jede Strafe akzeptieren! Grüßt mir Zero und Melly. Ich bin so in 3 Tagen wieder da.“
Es war dumm, ja auf jeden Fall, aber was sollte sonst mein plötzliches Verschwinden erklären? Das hier war die logischste, weil fast wahrste Möglichkeit. Es war immer am besten, eine Lüge so nahe an die Wirklichkeit, wie möglich zu legen. So hatte sie weniger Angriffsfläche. Außerdem war es so dämlich, dass wohl kaum einer eine Ausrede dahinter vermuten würde. Ausreden waren bei Menschen dazu da Strafen zu entgehen. Wenn man also bewusst eine Strafe mit einer Handlung auf sich zieht, wirkt sie legitimer. Einfach und effektiv. Mir waren die Strafen menschlicher Eltern egal, solange ich wusste, was beim Pakt geschah. Zwar war Onkel Vlad dort, aber selbst er hatte seine Grenzen und diese könnten zu unser aller Leidwesen erreich werden, wenn ein solch großflächiger Angriff stattfand.

Kapitel 13 - Auf dem Weg zum Pakt


Morgen um 5 Uhr kam Natalias Flieger in Berlin an. Ich erkannte sie sofort. Ihre roten Haare flatterten im Wind und wurden nur dürftig von ein paar Spangen gezähmt. Sie kam schnellen Schrittes angelaufen und ihre hohen Schuhe schienen ihre Geschwindigkeit nicht im Geringsten zu beeinträchtigen. Sie war schneeweiß gekleidet und leuchtete zwischen all den Anzügen und winterlich-dunklen Anderen so sehr, dass ich auch gerne eine solche Sonnenbrille gehabt hätte, wie jene, die fast ihr halbes Gesicht einnahm. Wenn es einen Anti-Stereotyp für einen Vampir gab, dann verkörperte Natalia ihn perfekt. Mit ihrer immer fröhlichen Art und ihrem kaum zu zügelnden Redefluss bildete sie einen doch so krassen Kontrast zu Vlad und mir. Früher war sie eine französische Adlige gewesen. Irgendwann war sie in das, gerade aufkommende, Amerika ausgewandert und hatte dort ein erhebliches Landgut unter ihrer Verwaltung gehabt. Warum sie so viel negative Energie auf sich vereint hatte, um ein Vampir durch einen Vertrag mit der Unterwelt zu werden, wusste ich nicht. Immer wenn ich sie danach fragte kam: „Ich war ein böses Mädchen.“ Dabei lächelte sie schelmisch und zwinkerte einem zu. Sie war zwei Jahrhunderte nach Onkel Vlad und mir zur Overen geworden und damit eigentlich jünger als ich. Das störte sie jedoch herzlich wenig.
Sie kam direkt auf mich zu und umarmte mich stürmisch.
„In 15 Minuten kommt der Flieger nach Rumänien. Wir sollten und beeilen“, sagte ich trocken. Mir war nicht nach dem Austausch von Herzlichkeiten.
„Du wirst dich nie ändern. Immer auf Praktische ausgelegt. Wie Vlad. Na gut, dann beeilen wir uns“, seufzte sie.
Wir eilten zu unserem Flugzeug und erreichten es gerade noch pünktlich. Die Flugzeit war relativ kurz, was mir nur recht war. Während des Flugs schlug Natalia dann ein Thema an, dass mir immer etwas unangenehm war.
„Sag mal, Kleines, sind deine Kräfte immer noch so zusammen gestaucht?“
„Ja, noch“, sagte ich kleinlaut.
„Wie kam‘s eigentlich dazu? Ich habe es ja nur über einige Ecken gehört. Wir reden ja so wenig miteinander und ich bin ständig woanders. Das war doch vor 30 Jahren mit diesem Vorfall, oder?“
„Ja“, ich seufzte. Ich sollte es einfach sagen, ohne einen großen Aufstand zu machen. Sie würde mich eh so lange fragen, bis ich es ihr sagte.
„Vor 30 Jahren bin ich, auch hier in Deutschland, mit einigen Vampirjägern aneinander geraten. Ich hab immer versucht, mich versteckt zu halten, aber irgendwann konnte mich einer von ihnen in die Enge treiben. Martin hieß er. Er war ein sehr talentierter Jäger, aber er hatte seinen Partner abgehangen, während der Verfolgung. Es kam zum Kampf und ich wurde sehr schwer verletzt, aber ich konnte noch den tödlichen Treffer landen. Er hatte mich jedoch so stark getroffen, dass ich kaum laufen konnte und meine Regeneration stagnierte. Es waren diese speziellen Waffen der Jäger gewesen, die selbst uns dauerhaft schaden können. Ich schaffte es noch zur nächsten Zweigstelle, aber dort wurde klar, dass meine Kräfte meinen Körper zerstören würden, weil dieser so stark lädiert war. Ich war also zu diesem Zeitpunkt kein passendes Gefäß mehr für meine Macht. Also wurde sie tief in mir versiegelt, um meinem Körper die Zeit zur Erholung zu geben. Bis heute habe ich es nicht geschafft, diese Siegel zu lösen. Wahrscheinlich sind es noch die Nachwirkungen des ganzen Vorfalls.“
„Es ist schon irgendwie beängstigend, dass wir nun zwei solch strake Gegner haben und du nicht voll einsatzbereit bist. Ich hoffe, den anderen geht es gut.“
„Ich hoffe auch. Wenn es wirklich einen Angriff gegeben hat, dann werden sie diesmal kein solch leichtes Spiel haben, wie bei der Bruderschaft. Paktvampire sind kampferprobter.“
Um ehrlich zu sein, versuchte ich mir gerade nur selbst gut zuzureden. Es stimmte zwar, aber das mulmige Gefühl blieb trotzdem. Wir waren es einfach nichtmehr gewöhnt, ernsthaft gefährdet zu sein. Vor den Jägern versteckten wir uns, andere Menschen konnten uns nicht viel tun und Dämonen waren meistens auf unserer Seite. Niemand würde da mit einer Offensive dieses Ausmaßes rechnen. Während des Fluges versuchte Natalia noch drei Mal beim Pakt anzurufen. Jedes Mal erfolglos. Es hätte mich auch gewundert, wenn jetzt auf einmal jemand antwortete. Tief in mir keimte eine schreckliche Vorstellung. Diese Ahnung, dass irgendwann jemand abnahm und es ein Rebell war, der uns in den Hörer hauchte, dass sie dort nun auch fertig waren und durch Vlad Vernichtung all seine Abkömmlinge, also jene, die durch ihn, oder andere Abkömmlinge zu Vampiren geworden waren, gestorben waren. Tötete man einen Overen, verlor auch seine Abstammungsline ihre Kraft. Das war eine der Katastrophen, die nicht eintreten durften. Auf keinen Fall!

Kapitel 14 - Der Pakt der Vampire


Landen. Auschecken. Orientieren. Dann mit Bus und Bahn raus aus Bukarest. Das Hauptquartier lag außerhalb der Hauptstadt, in einem riesigen, alten Herrenhaus, dass man auch gut für ein Schloss halten konnte. Umgeben war es von mehreren Hektar Wald und Feld. Ein idealer Ort eben, um das Hauptquartier der Vampirgesellschaft zu unterhalten. Darin befanden sich sowohl die Verwaltungsorgane, als auch die Halle des Rates, in der der Vampirrat, samt Overen und Geladenen, tagte. Ein Angriff darauf, wäre ein Angriff auf das Herz der Gesellschaft.
Mit einem Taxi ließen wir uns zur Grenze des Privatbesitzes, des Paktes bringen und traten unseren Marsch zur Zentrale an. Natalia hatte inzwischen glücklicherweise ihr Schuhwerk gewechselt, sonst hätten wir Tage gebraucht. Nun stapften wir doch recht zügig durch den Wald, während Natalia beinahe die ganze Zeit leise über den Waldboden, oder diverse Äste fluchte.
Je näher wir dem Anwesen kamen, desto Stärker wurde Blutgeruch. Irgendetwas war auf jeden Fall hier passiert. Ich beschleunigte meine Schritte, sodass Natalia kaum folgen konnte. Langsam lichtete sich der Wald vor uns und gab den Blick aus das Haupthaus frei, sodass ich abrupt stehen blieb. Das Haus zeigte einige Schäden. Je näher wir kamen, desto deutlicher wurde das Ausmaß der Schäden. Einer der angrenzenden Bäume war umgefallen und hatte das höchste Stockwerk zum Teil eingerissen. Mehrere Paktvampire versuchten ihn irgendwie aus dem Haus zu bekommen. Sie lebten also noch! Ich wurde wieder schneller und rannte nun fast auf die Leute zu, die immer noch mit dem Baum beschäftigt waren. Diese bemerkten mich erst spät und sahen sehr glücklich über meine Anwesenheit aus.
„Prinzessin, endlich! Der Graf erwartet Euch bereits. Oh und die Baronesse ist auch bei euch? Umso besser.“
Wir gingen um das Haus herum zum Haupteingang. Auf der kleinen Treppe davor saßen zwei weitere Paktvampire die wohl gerade keine kleine Pause machten. Sie waren über und über mit Staub bedeckt und hatten viele kleine Wunden, die sich langsam schlossen. Wahrscheinlich waren diese vor kurzem noch wesentlich tiefer gewesen. Sie hoben kurz zur Begrüßung die Hände und folgten uns dann nach drinnen. Das Büro meines Onkels war ein großer Raum, mit einer riesigen Fensterfronst, die jedoch ordentlich gelitten hatte. Einige der alten Möbel waren zerstört und die meisten der Fenster nur notdürftig mit Brettern vernagelt. Das fehlende Licht ließ den Raum noch düsterer wirken. Vlad saß auf einem zweigeteilten Stuhl, der nur durch Schatten zusammen gehalten wurde. Seine Kraft war es, Schatten Materie zu geben. Nun wirkten sie wohl als Ersatz für zwei, die den Stuhl zusammen drückten. Er selbst stand seinem Büro in nichts nach. Düster, mürrisch, leicht beschädigt, völlig übermüdet, aber noch gebrauchbar. Neben ihm an dem ¾-Schreibtisch standen seine Telefone. In einem steckte noch ein Messer, das andere war nur noch in Stücken vorhanden und das letzte konnte ich nicht sehen, bis ich von dem Klebebandhaufen Notiz nahm. Nach allen Regeln der Kunst hatten sie es wohl geschafft eins noch zu retten.
„Einer von ihnen hat es gegen die Wand geschossen“, flüsterte die junge Vampirin hinter mir, die mir, zusammen mit ihrem Freund, von der Treppe, bis hierher gefolgt waren.
Onkel Vlad knurrte leise, als er von seinem zerwühlten Papierstapel aufsah. Anscheinend hatten die Revolutionäre auch seine Papiere durcheinander gebracht. Für ihn war das ein Kapitalverbrechen. Die beiden jungen Vampire hatten sich links und rechts von der Tür positioniert und schienen zu warten.
„Akira, Natalia, setzt euch. Wir haben einiges zu bereden.“
„Das kannst du laut sagen! Was ist hier passiert? Wurdet ihr auch angegriffen? Ich bin so froh, dass ihr noch lebt“, brach es aus mir heraus. Sie sahen zwar alle nichtmehr ganz frisch aus, aber immerhin lebendig.
„Auch? Nun, dein noch passt wohl sehr gut. Es war ein harter Kampf, über die ganze Nacht. Die Revolution scheint aufzukommen. Was mich aber auch wundert, ist wie ihr so schnell herkommen konntet. Ich habe die Nachricht doch erst heute Morgen an die Zweigstellen raus gegeben und, Akira, du arbeitest doch gerade in Deutschland und du in Amerika, oder?“
„Nachricht? Wir sind nicht wegen irgendwelcher Nachrichten hier. Der Außenposten der Bruderschaft in Berlin wurde vollständig zerstört! Nur Thomas hat schwer verletzt überlebt. Sonst ist dort nur noch Asche.“
„Was? Sie haben ein ganzes Haus der Gesellschaft vernichtet?“
„Ja. Ich sollte eigentlich nur zur Sicherheit nachsehen, aber da war der Angriff schon vorbei. Es ist schrecklich.“
„Das ist es wirklich. Dass sie eine Kampfkraft haben, die es ihnen erlaubt, sowohl einen Posten der Bruderschaft, als auch uns anzugreifen, ist wirklich ein Grund zu erheblicher Sorge. Wir müssen unsere Leute zusammen ziehen. Dringend. Diese Situation ist nicht nach meinem Geschmack.“
„Aber was wollen diese Rebellen überhaupt? Bisher waren es doch nur Aufrührer, die nicht mit der Ordnung der Gesellschaft einverstanden sind. Was bringt sie nun soweit?“
„Genau das war auch uns ein Rätsel, aber wir haben nun einige Informationen dazu. Anna, Kai, erstattet ihnen denselben Bericht wie mir.“
Die jungen Vampire traten nun vor und das Mädchen ergriff das Wort. Sie musste zu ihrer Todeszeit ca. in meinem Alter gewesen sein. Ihre braunen Haare fielen locker über ihre Schultern und sah, bis auf die roten Augen völlig normal aus. Während Onkel Vlad einen alten, schwarzen Anzug trug, lief sie in einem leicht zerfetzten T-Shirt und einer Jeans herum und wollte irgendwie nicht zu den zerstörten, dunklen Eichenmöbeln des Raumes passen.
„Also, wir haben einen der Rebellen soweit festsetzten können, dass wir einige Informationen aus ihm heraus bekommen konnten. Eigentlich haben wir ihn nur gefunden, weil unser unglaublich großartiger Herrscher über alle Dinge, hier, sich hinter einem umgefallenen Tisch versteckt hat.“
Dabei deutete sie auf Kai, der sich nun dazu verpflichtet sah, seine Ehre wiederherzustellen.
„Ich habe die Situation umsichtig koordiniert! Außerdem musste ich mein linkes Bein suchen. Und sei froh, dass ich da war, sonst hätten wir ihn nie vor seinem Ableben gefunden.“
„Na gut, du durftest da sein. Was zählt ist, dass dieser Typ also auch hinterm Tisch landete und noch lebte. Während unsere Leute die restlichen Revoluzzer hinaus trieben, haben wir ihn etwas ausgequetscht. Er war erstaunlich ergiebig. Ich glaube auch, dass er stolz darauf war, was er da von sich gegeben hat.“
„Er hat uns dann erzählt, was die wahren Absichten hinter diesem ganzen Aufstand sind. Sie wollen die Vampirgesellschaft, so wie sie jetzt ist, auflösen. Sie wollen, dass sich alle von den Overen lösen, so wie sie, sodass sie euch umbringen können, ohne dabei sich selbst zu vernichten. Sobald das geschafft ist wollen sie den ihnen, nach ihren eigenen Ansichten, zustehenden Platz in der Welt einnehmen. Sie wollen sich die Menschen zu Untertan machen und sie nur noch wie Vieh zur Blutversorgung halten“, beendete Kai den Bericht. Natalia und ich schwiegen betreten. Mit so etwas hatten wir nicht gerechnet.
„Das ist doch verrückt“, sagte Natalia dann und schüttelte ihren Kopf.
„Wir wollten doch nicht die Fehler der Menschen wiederholen, die sie schon mit den Tieren gemacht haben! Das verstößt doch gegen alle Prinzipien. Schon, weil dann unsere Existenz auffliegen würde. Was denken die sich dabei?“, fügte ich entgeistert hinzu. Onkel Vlad sah noch finsterer aus. Das war wirklich ein erhebliches Problem. Kai und Anna waren wieder zur Tür getreten und warteten weiter. Nun erhob wieder der Graf seine Stimme.
„Ich habe Josef zur Bruderschaft und zum Clan geschickt. Er soll sie zu einer Generalversammlung bewegen. Als einer meiner Berater sollte er die Autorität dazu haben. Kai und Anna sind zwei der besten Mitarbeiter des Paktes inzwischen und übernehmen Josefs Aufgaben, während seiner Abwesenheit. Außerdem haben wir eine Versammlung des Paktes einberufen. Notfallsitzung.“
„Wann?“
„Jetzt. Wir gehen sofort hin. Der Saal ist schon voll und alles wartet auf uns. Kai, Anna, ihr kommt mit und dürft nochmal euren Bericht zum Besten geben. Diesmal bitte ohne sarkastische Kommentare.“
Er stand auf und ging voraus. Natalia und ich folgten ihm etwas perplex, während die beiden Jungvampire die Tür schlossen und uns folgten. Kais lange, schlaksige Gestalt ragte fast an die Decke der langen, dunklen Gänge. Er war fast so groß wie Onkel Vlad, was selbst heutzutage selten war. So bahnten wir uns den Weg durch das riesige Anwesen, hin zum Saal. Ich hasste Versammlungen mit dem Rat. Es würde eh wieder ein heilloses Chaos werden. Doch vor der Generalversammlung grauste es mir am meisten. Das hier nahm Gestalten an, die ich wirklich nicht befürworten konnte. Die letzte Generalversammlung war vor 250 Jahren gewesen und da stand die Vampirgesellschaft am Abgrund. Falls das wieder der Fall sein sollte war das nicht nur einfach schlecht, sondern katastrophal!

Kapitel 15 - Paktversammlung


Pakt-Versammlungen liefen eigentlich immer nach demselben Schema ab. Zuerst warf irgendwer, meistens ein Overer, fast immer Vlad, irgendetwas in den Raum. Das sollte dann gesittet und ruhig vom Plenum diskutiert werden und am Ende sollte per Abstimmung und Ratsbeschluss etwas zu diesem Thema entschieden. Soweit zur Theorie. Die Realität sah da schon ganz anders aus. Mein Onkel erklärte ruhig einen Sachverhalt und versuchte zunächst mal die diversen Zwischenrufe zu ignorieren. Anschließend stellte er die Diskussionsfrage. Nun brach ein Krieg los. Jeder tat seine Meinung kund, schnell bilden sich kleine Gruppen, in denen das Thema, oder auch andere, diskutiert wurden. Meistens gerieten verschiedene Gruppen dann aneinander, oder auch nur Einzelpersonen, die sich über den gesamten Saal hinweg anschrien. Währenddessen fing Onkel Vlad an sich aufzuregen und versuchte das Geschehen wieder in kontrollierte Bahnen zu lenken. Natalia tippte indessen meistens SMS an ihre sterblichen Freunde, in denen sie schilderte, dass sie irgendwo festhing und es schrecklich langweilig war. Ich fiel den Großteil der Zeit der Verzweiflung anheim. Onkel Vlad tobte dann schon lange nicht mehr, sondern wurde langsam zur Finsternis selbst, die aus ihm heraus waberten. Neben ihm hing dann Josef zumeist in seinem Stuhl und erzählte seelenruhig, dass man im Krieg keine Zeit für solche Diskussionen gehabt hatte. Natalia und ich spielten zu diesem Zeitpunkt Karten. Spätestens, wenn kleine Kämpfe zwischen den Plenumsteilnehmern los brachen, wurde es Vlad zu viel. Dann schossen schwarze Höllenflammen aus ihm heraus, die beinahe bis zur Decke der riesigen Halle reichten und seine Stimme übertönte das gesamte Geschehen. Dann beschloss er flammend, wabernd und tobend irgendetwas und löste die Versammlung auf.
Diesmal war es anders. Statt dem lauten Stimmengewirr von sonst, empfing und betretene Stille. In dem riesigen Saal gab es eine feste Ordnung. Er war kreisrund und hatte unten ein Podium wo Zeugen, Verständige oder Vorträger standen. Die Sitzplätze stiegen nach hinten immer höher an, damit jeder gut sehen konnte. Der Rat saß genau gegenüber dem Eingang und belegte etwa die ersten 5 Reihen dort. Knapp darüber saßen wir Overen und unsere direkten Vertrauten und Berater. Der Rest saß und stand wo es ihm gerade passte. In der Stille hörte man sogar das Klirren des großen Kronleuchters, der bedrohlich über der Mitte des Saales hing. Wir ließen Kai und Anna in der Mitte zurück und gingen zu unseren Plätzen. Der Rat sah uns finster an, während wir an ihnen vorbei gingen. Nicht mal Natalia wagte zu lächeln, oder auch nur einen falschen Schritt zu tun. Wir setzten uns an unsere vorbestimmten Plätze und Onkel Vlad ließ seinen geteilten Stuhl aus den Schatten erscheinen. Der Stuhl war sehr groß, die Lehne überragte Vlad um etwa einen Kopf und er war mit dunkelrotem Samt überzogen. Es war schon zu seinen Lebzeiten sein liebstes Möbelstück gewesen und jetzt hielt es nur noch durch Schatten. Dafür würde er die Rebellen extra büßen lassen. Es knarrte, als er sich langsam in seinen Stuhl sinken ließ. Die Spannung im Raum ließ sich fast greifen, als der Graf endlich die Sitzung eröffnete.
„Aus gegebenem Anlass haben wir uns hier eingefunden, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen. In einigen Tagen wird eine Generalversammlung abgehalten, aber ich wollte jetzt schon Instruktionen dafür geben. Josef ist beim Clan und der Bruderschaft, um sie zu uns zu holen. Anna und Kai werden gleich alles vortragen, was ihr zu wissen habt. Ich dulde keine Zwischenrufe, Kommentare oder sonstige Störungen. Wer es dennoch tun sollte, den werde ich in Höllenflammen garen und später als Häppchen zum Tee reichen. Gut, fangt an!“

Kapitel 16 - Ausuferung der Problemlage


Nachdem Kai und Anna ihre Geschichte erneut erzählt hatten und sich, so schnell es ging, an Vlads Seite verzogen hatten, kam die Frage nach der Planung. Im Groben sollten alle Vampire so gut es ging zusammengezogen werden, um eine bessere Schlagkraft im Angriffsfall zu haben. Das wurde allgemein angenommen. Sonst konnte man noch wenig tun. Eigentlich wusste ja niemand womit wir es genau zu tun hatten. Natürlich mit den Revolutionären, die uns vernichten wollten, aber wer war es genau. Keiner wusste welche Vampire beteiligt waren. Außerdem mussten sie sich der Blutschuld entziehen können. Eigentlich konnte jeder Overe durch die Blutschuld einen seiner Abkömmlinge zu absolutem Gehorsam bringen, also fast schon fremdsteuern. Onkel Vlad hatte bei den Angreifern einige seiner Abkömmlinge erkannt, natürlich waren ihm die Namen entfallen, aber es war ihm zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen auch nur einen zu kontrollieren. Je mehr man darüber nachdachte, desto merkwürdiger wurde es.
Nach der Sitzung führte mich Onkel Vlad nochmal in sein Büro. Diesmal ohne jegliche Begleitung.
„Ich hoffe, dass wir dieses Problem schnell aus der Welt schaffen können“, fing er das Gespräch an.
„Bestimmt. Es sind nur Revolutionäre, die sich gegen die gesamte Vampirgesellschaft stellen. Das gab es doch immer wieder.“
„Das schon, aber diesmal ist es anders. Dieses Mal sind sie organisierter. Und stärker. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um das Wohlergehen der Gesellschaft. Wir müssen schauen, was die Generalversammlung bringt und ob alle sich einig werden. Da es um einen gemeinsamen Feind geht, wird das wohl kein allzu großes Problem darstellen.“
„Wunderbar. Dann kann ich ja wieder nach Deutschland. Die Generalversammlung überstehst du ja auch ohne mich und ich bin schon viel zu lange weg“, sagte ich einfach hin, doch nun wurde er hellhörig.
„Ich hatte da andere Vorstellungen, Akira. Du wirst hier bleiben und nicht wieder nach Berlin fahren. Alleine ist es für dich, besonders als Overe viel zu gefährlich dort. Hier können wir vernünftig auf dich aufpassen und gehen kein unnötiges Risiko ein.“
„Da habe ich aber auch noch ein Wörtchen mitzureden! Ich fahre wieder zurück. Bisher haben sie mich dort nicht gefunden und werden es auch nicht. Mein genauer Aufenthaltsort ist geheim und so schwach, wie meine Aura gerade ist finden die mich nicht mal, wenn sie an dem Haus vorbei gehen. Außerdem hast du mir nicht zu sagen, ob-„
Die Tür flog auf und krachte geräuschvoll gegen die Wand. Im Türrahmen stand keuchend und nach Haltung ringend Kai. Vlad sah ihn böse an und spießte ihn mit seinen Blicken auf. Eigentlich wagte es niemand, diesen Raum ohne Klopfen oder Ankündigung zu betreten, geschweige denn auf diese Art.
„Kai“, knurrte mein Onkel böse und erhob sich langsam aus seinem Stuhl.
„Graf“, keuchte Kai, der wohl noch zu kurz Vampir war, um das Atmen völlig unter Kontrolle zu haben.
„Cornelius, aus dem Posten in der Nähe von Dortmund ist eingetroffen!“
„Na und? Das rechtfertigt noch lange nicht dieses Auftreten!“, sagte Vlad und gab sich alle Mühe ihn nicht anzuschreien, was jedoch nur halb gelang.
„Sie wurden nicht von den Rebellen angegriffen…“
„Das ist doch gut. Wieso dann dieser Aufstand“, mischte ich mich nun ein.
„So lasst mich doch ausreden, Herrin.“
Er wirkte ziemlich verzweifelt und gehetzt.
„Dann sprich endlich.“ Vlad war um den großen Schreibtisch herum gegangen und stand nun in kleiner Entfernung vor Kai. Würde er nicht schnell antworten, würde er ihn gewaltsam heraus befördern.
„Sie wurden von Vampirjägern angegriffen! Sie kamen so schnell und es waren so viele, dass sich unsere Leute kaum wehren konnten. Es gab viele Verluste, bis man sie zurück schlagen konnte.“
Jetzt waren wir wirklich geschockt. Wie war das möglich? Die Vampirjäger kannten unsere Aufenthaltsorte nicht. Jedenfalls hatten sie sie nicht gekannt. Verdammt. Und dann auch noch ein Angriff in derselben Nacht. Das war wirklich ein harter Schlag. Moment! Jetzt wo ich den Gedanken ausformuliert hatte, kam mir eine unschöne Erkenntnis.
„Das kann kein Zufall sein“, sagte ich langsam, als müsste ich die Tragweite dieser Feststellung selbst noch begreifen. Kai schien halbwegs glücklich, doch nicht in Stücke gerissen zu werden. Vlads Gesicht hatte sich endgültig verfinstert. Erst nach einigen Augenblicken fand er seine Stimme wieder.
„Hol Anna und Natalia, samt ihrer Vertrauten und schaff mir Josef per Videoschaltung hier her. Sofort!“, schrie er in Kais Richtung, der sofort entschwand. Sehr ungünstig das alles. Er ließ sich wieder in den Stuhl fallen und legte den Kopf in den Nacken. Das tat er nur, wenn er wirklich intensiv nachdachte. Die Nachricht hatte alles Bisherige über den Haufen geworfen und verschlimmert. Er atmete hörbar aus. Ein reines Entspannungsritual.
Nach einigen Minuten kamen auch Kai und die anderen in das Büro und Anna schloss die Tür hinter ihnen. Onkel Vlad kam direkt zum Punkt.
„Wie es scheint nutzen die Rebellen die Vampirjäger, um uns zusätzlich zu Schaden. Wahrscheinlich spielen sie ihnen vertrauliche Informationen zu, oder arbeiten sogar mit ihnen zusammen. Im Schlimmstfalle haben sie sich verbündet. Hoffen wir einfach, dass das wegen der Ideologie der beiden nicht so ist. Trotzdem ist es bedenklich.“
„Irgendwie werden wir mit Problemen überschüttet, oder?“, kommentierte Natalia trocken. Anna verzog das Gesicht. An sich hatte sie ja leider recht. Josef erschien auf der Videowand links.
„Hallo! Was macht ihr denn für Gesichter? Es ist zwar schlimm, aber noch lange nicht ernst. Außerdem hab ich die Bruderschaft und den Clan auf unsere Seite gezogen, also hört auf so finster rein zu schauen und entspannt euch“, erzählte er fröhlich und fläzte sich schon wieder in den Stuhl.
„Die Rebellen benutzen die Jäger und schaden uns zusammen systematisch“, schleuderte ihm Vlad die Tatsachen entgegen. Nun verschwand auch das Lächeln aus seinem Gesicht und er sah uns ernst an.
„Das ist schlecht“, fasste er die Situation mit einer unglaublichen Präzision zusammen.
„Was machen wir jetzt?“, warf ich in den Raum. Schweigen. Kai, Anna und Natalias Begleitung, Evelyn, sahen sich unsicher im Raum um und wagten nicht zu sprechen. Dann ergriff Natalia das Wort, mit einer solchen Ernsthaftigkeit, wie man sie nur selten von ihr hörte.
„Wir werden diese Information fürs erste unter Verschluss halten. Wir dürfen unsere Leute nicht weiter verunsichern. Evelyn, du sagst Cornelius, dass die Rebellen sich als Jäger verkleidet haben müssen. Erklär es ihm, falls nötig, nur halb. Das hier darf nicht publik werden. Wir müssen das als Schachzug der Rebellen darstellen. Der Rest bemüht sich auch, diese Information zu zerschlagen. Jegliche Verunsicherung und Panik muss im Keim erstickt werden. Haben das alle verstanden?“
Wir nickten. Sie hatte recht. Es durfte keine Panik entstehen, das würde uns nur noch mehr schwächen. Außerdem…
„Ich habe auch noch etwas zu erzählen“, schlug ich einen anderen Punkt an, der mir auf einmal wieder im Gedächtnis aufflammte.
„Dann sag es. Sehr viel schlimmer kannst du es jetzt auch nichtmehr machen“, sagte Onkel Vlad niedergeschlagen. Na der würde sich wundern.
„Auf der Fahrt nach Berlin wurde ich von einem Jäger angegriffen. Er hat gezielt nach mir gesucht und wusste, welchen Zug ich nehmen musste. Nur ein paar Leute hier wussten darüber Bescheid und natürlich welche aus der Unterwelt. Erst dachte ich, dass die Methoden der Jäger einfach nur besser geworden sind, aber langsam drängt sich mir die Vermutung auf, dass wir eine undichte Stelle haben. Irgendwer innerhalb der Gesellschaft verrät uns.“
„Verdammt!“ Vlads Faust schlug auf dem Tisch auf, der bedrohlich knarrte.
„Erst Rebellen, dann die Jäger und jetzt auch noch Verräter. Es reicht so langsam mit den schlechten Nachrichten.“ Gegen Verräter hatte Onkel Vlad eine tiefe Abneigung. Diese resultierte daraus, dass wir damals von seinem eigenen Bruder, Radu, überrannt und getötet worden waren. Er hatte sogar Vlads Kopf in Honig einlegen lassen, nach seiner Köpfung, um ihn als Trophäe zu präsentieren. Dabei war ihm der Sieg nur durch die Übermacht der osmanischen Armee zuteil geworden. Ich sah die Chance um meine Argumente vorzubringen.
„Onkel, ich werde wieder nach Berlin fahren. Sie wissen anscheinend nicht, wo ich mich dort befinde, jedenfalls sind sie nicht zu mir gekommen. Außerdem wagen sie es noch nicht sich vor die Menschen zu trauen, dafür sind sie noch nicht mächtig genug. Es gibt kaum einen sichereren Ort als dort für mich. Zum anderen würd ich hier nur stören. Ich wäre ein Risikofaktor und irgendwer müsste ständig auf mich aufpassen. So wäre die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass ich getötet würde. Sie wissen zwar, dass ich in Berlin bin, aber nicht genau wo, durch die Komplikationen. Bitte.“
„Na gut“, gab er sich geschlagen, „du hast mich überzeugt, aber sobald sie dich aufgespürt haben sollten, hole ich dich persönlich ab und sperre dich hier in das unterste Verließ, samt Privatwache.“
„Ja, Graf“, antwortet ich zufrieden. Ich konnte meine Tätigkeit als Seelenernterin nicht so einfach fallen lassen. Außerdem machte ich mir schon Sorgen, dass sie dort irgendwelche Probleme bereiteten. Ich musste die Siegel lösen. Schnellst möglich.
Die Sitzung wurde an dieser Stelle auch beendet. Wir verblieben so, dass sämtliche, wichtige Informationen vorerst zurückgehalten werden sollten. Ich hatte eine böse Ahnung, was die Ereignisse der Zukunft betraf. Etwas tief in mir sagte, dass das hier nur der Anfang sein sollte.

Kapitel 17 - Die Wahrheit hinter den Augen des lieben Mädchens

Wieder in Berlin angekommen warfen meine Vorahnungen dunkle Schatten. Repräsentiert wurden diese durch vier Menschen, die mich mit ihren Blicken aufspießten. Der Holzstuhl unter mir fühlte sich immer mehr wie ein elektrischer an und ich verlor zunehmend an aufrechter Sitzhaltung. Natalia und ich saßen in der Küche meiner Pflegefamilie, beide einen unangerührten Kaffee vor uns und ließen diverse Vorträge über Verantwortung und Nachdenken über uns ergehen. Zero starrte mich nur die ganze Zeit böse an. Blinzelte er überhaupt? Dass er bisher noch kein Wort gesagt hatte, konnte nur bedeuten, dass seine Predigt mich erst später erwartete. Ich warf einen verstohlenen Blick zur Seite. Selbst Natalia wirkte angespannt und wagte es nicht irgendwen zu unterbrechen.
„Und Sie sind also eine Freundin von Akios verstorbenem Onkel?“, fragte Juan barsch.
„Ja. Es tut mir furchtbar leid, dass es jetzt so unangenehm ist. Ich wollte der Kleinen wirklich nur einen Gefallen tun. Sie hat doch keine lebende Verwandtschaft mehr und durch meine Arbeit in den USA habe ich leider immer nur spontan Zeit. Ich entschuldige mich für mein unüberlegtes Handeln.“
„Das nächste Mal sollten Sie uns wirklich über solche Ausflüge in Kenntnis setzten. Wir sind ja schließlich ihre Vormünder und machen uns natürlich auch Sorgen.“
Katharina wirkte immer noch angespannt. Sie hatte sich wirklich Sorgen um mich gemacht, das konnte man ihr ansehen. Aber es ging nicht anders. Juan sah finster drein, aber schien keinen weiteren Schauer an Vorwürfen zu haben. Melly und Katharina sahen einfach erleichtert aus und wollten anscheinend nicht böse sein. Allerdings hatte ich vor Zero wirklich Angst. Wie tausend kleine Nadeln bohrte sich sein Blick in meine Haut.
Natalia rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Sie mochte solche Situationen nicht. Sie war es gewohnt, dass jeder auf ihren Befehl hörte und sie eh jeden beeinflussen konnte, wie es ihr gerade passte.
„Also, ich muss dann auch los. Mein Flieger kommt bald und meine Arbeit wartet nicht auf mich. Es war schön Sie mal kennen zu lernen. Aki ist hier wirklich gut aufgehoben, ihr Onkel wäre glücklich darüber. Wir sehen uns bestimmt nochmal wieder. Bis dann“, zog sich Natalia geschickt aus der Affäre. Sie zwinkerte mir noch kurz zu, als Juan sie nach draußen führte. Hinterhältiges Biest. Ließ mich hier einfach alleine. Die Haustür fiel zu und Juan kam zurück in die Küche.
„Akio. Du hast uns wirklich Sorgen bereitet. Einfach nur einen Zettel da zu lassen reicht nicht für so etwas. Tu das bitte nie wieder, verstanden?“
„Ja“, sagte ich kleinlaut. Sie hatten ja Recht. Das war alles blöd gelaufen.
„Gut, dann ist das an dieser Stelle abgehackt. Ich möchte dazu auch nichts mehr hören. Und Akio, du hast zwei Wochen Hausarrest.“
„Wie bitte?“, fragte ich entgeistert. Hausarrest?! War das jetzt wirklich sein Ernst?
„Hausarrest. Das bedeutet, dass du das Haus nur dafür verlässt um zur Schule zu gehen und das übrigens sowohl hin und zurück auf direktem Weg. Zero, du sorgst dafür.“
Zero nickte nur stumm. Prima. Mein erster Hausarrest seit über 600 Jahren und das wegen des Paktes.
„Darf ich denn wenigstens Besuch haben? Kommt schon selbst Schwerverbrecher bekommen Besuchszeit.“
„Von mir aus. Ich kann dein Handeln ja auch verstehen. Besuch ist gestattet, aber es wird sich nicht draußen herum getrieben oder ähnliches.“
„Natürlich.“
Wenigstens das. Der Grund für diese Frage war nicht nur Craig, da Zero ja eh hier wohnte, sondern viel mehr 1,65 groß, hatte braune lange Haare und war extrem schüchtern. Die Rede ist von unserer neuen Schülerin Helena. Zero, Craig und ich hatten uns mit ihr angefreundet. Sie hatte so verloren herum gestanden, da hatten wir sie aufgesammelt. Es hatte eine geschlagene Woche gedauert, bis das Eis gebrochen war, aber dann konnten wir feststellen, dass sie wirklich nett war. Helena war eins jener stillen Mäuschen, die sich fast unsichtbar machen konnten. Sie redete nicht gerne mit Fremden und hatte auch in der Klasse Probleme vor allen anderen zu sprechen. Irgendwie förderte sie meinen Beschützerinstinkt zutage. Es waren inzwischen anderthalb Monate seit ihrer Einschulung vergangen und es gab keine Anzeichen dafür, dass sie bald wieder abreisen würde, also wollte ich sie näher kennen lernen. Zudem brauchte sie Hilfe in Spanisch, welches ich-Kolonialzeit sei Dank- fließend beherrschte. Sie schien auch froh darüber zu sein, die Nachmittage nicht im Wohnheim verbringen zu müssen und bei uns ihre Ruhe zu haben. Die erwartete Standpauke von Zero war übrigens aus geblieben. Nachdem er mich noch eine Stunde mit seinen Nadelblicken terrorisiert hatte, hatte er sich entspannt und nur ein „Mach das nie wieder“ verlauten lassen. Er wusste wohl, dass solche Blicke schlimmer waren, als alle Worte, die mir Juan und Katharina entgegen geschleudert hatten.
Helena saß im Schneidersitz auf dem Bett, hatte das Spanischbuch auf ihren Knien und ihre Aufzeichnungen um sich verteilt. Ich saß in einigem Abstand zum Bett und zum Schreibtisch auf meinem Drehstuhl und kreiste um mich selbst, während ich überlegte, wie ich ihr die Vergangenheitsform nur beibringen sollte. Es war inzwischen der dritte Anlauf, aber irgendwie klappte es nicht wie gewollt. Helena war ehrlich bemüht, aber diese Sprache lag ihr einfach nicht. Nachdem sie wenigstens zehn korrekte Spanische Sätze in der Vergangenheit zu Papier gebracht hatte, legte sie ihre Sachen beiseite und ich rollte zum Bett.
„Fertig mit Unterricht für heute. Ich glaube es reicht, wenn ich dich volle 90 Minuten damit nerve.“
Sie lächelte schwach.
„Danke, dass du mir so hilfst. Also nicht nur du und nicht nur hier, sondern ihr drei und überall.“
„Das machen wir doch gerne. Wir sind halt alle irgendwie Außenseiter. Sag mal, Helena, was ist mit deinen Eltern. Die schicken dich einfach so in ein fremdes Land und dann hört und sieht man nichts von denen.“
Helena sah traurig aus. Anscheinend hatte ich da einen schwachen Nervt getroffen. Ihre Augen wurden trübe und sie sah einige Zeit betreten nach unten.
„Ist auch nicht so wichtig. Du musst mir ja nichts erzählen, wenn du nicht willst. Soll ich eben wegen dem Abendessen fragen gehen? Du bleibst doch wieder bis dahin oder?“, versuchte ich das Gespräch schnell umzulenken.
„Ja, ich bleibe noch, aber du musst nicht fragen gehen. Und es macht nichts, dass du dich nach meinen Eltern erkundigt hast. Im Nachhinein ist es fast schon witzig.“ Sie lachte gequält und sah auf. Ihre Augen waren immer noch trübe, als müssten sie von weit her zu mir schauen.
„Weißt du, es macht nichts, wenn du es erfährst. Irgendwann holt es mich eh wieder ein. Wie jedes Mal. Ich frage mich nur, wo sie mich als nächstes hinschicken. Vielleicht nach Übersee.“
„Wie hinschicken? Und wen meinst du? Deine Eltern? Haben die dich einfach weg geschickt?“
„Ja. Meine Eltern wollen mich nicht haben. Sie haben Angst davor, dass ich ihren Ruf zerstöre. Du musst wissen, dass ich, seit ich klein bin Dinge sehe, die niemand sonst sieht. Gewissermaßen bin ich verrückt. Ich wurde von einer Anstalt in die nächste überwiesen. Aber immer blieb es erfolglos. Manchmal versuchte ich so zu tun, also würde ich es nicht mehr sehen, aber dann sah ich es und konnte nur noch schreien und dann merken wieder alle, dass etwas mit mir nicht stimmt. Ja, Helena, die Verrückte, das bin ich.“
Ich war etwas geschockt. Die arme Helena hatte schon einiges durchmachen müssen, aber so wirklich verrückt sah sie nicht aus.
„Und was siehst du dann?“, fragte ich langsam, während ich meine Gedanken ordnete.
„Ich sehe Wesen oder Menschen neben anderen Menschen. Sie sehen meistens genauso oder ähnlich aus, wie die Person, neben denen sie stehen aber sie wirken, wie nicht von dieser Welt. Ihre Gesichter verziehen sich dauernd, oder es sind Monster, mit Fangzähnen und Schuppen. Ganz selten, sind es riesige Wesen, an die drei Mann hoch und völlig in Flammen gehüllt, die dann neben irgendwem her laufen. Zum Glück sind es meistens nur Doppelgänger von Menschen. Aber es macht einem wirklich Angst. Jetzt willst du bestimmt auch nichts mehr mit mir zu tun haben, oder?“
Tränen stiegen ihr in die Augen und sie schluckte schwer. Sie war wirklich ein Häufchen Elend. Aber viel mehr erschrak mich ihre Beschreibung, was sie sah.
„Helena? Wer oder was steht neben mir?“
„Was?“, fragte sie erstaunt. Sie hatte wohl mit allem gerechnet, nur nicht damit.
„Wenn du mich veralbern willst, kann ich auch gehen“, sagte sie dann traurig.
„Nein, ich meine es ernst, sehr ernst sogar. Was steht neben mir?“ Ich sah sie durchdringend an. Bitte lass sie nicht aufstehen und gehen. Sie soll mir sagen, was sie sieht, damit ich mir sicher sein kann. Sie seufzte und sah mich an. Dann direkt neben mich.
„Eine menschenähnliche Gestalt. Sie sieht fast so aus wie du, nur hat sie schwarze Flügel, wie eine Fledermaus und Krallen an den Händen. Außerdem sind ihre Augen ganz rot und sie hat Fangzähne, die aufblitzen, wenn sie den Mund leicht öffnet. Sie wirkt angespannt und sieht sich dauernd in alle Richtungen um. Sie guckt nicht böse, sondern irgendwie verwirrt. Reicht das?“
„Ja, das reicht völlig“, brachte ich nur noch völlig entrückt hervor. Sie konnte sie also wirklich sehen. Die Wahrheiten hinter den Masken und Tarnungen.
„Helena, hast du jemals darüber nachgedacht, dass du nicht verrückt bist?“
„Nein. Wieso auch? Das ist doch völlig verrückt. Du bist ein ganz normales Mädchen und neben dir steht ein dämonenartiges Wesen. Völlig absurd.“
Ich hatte jetzt zwei Optionen. Entweder sagte ich ihr die Wahrheit, nämlich, dass sie keinesfalls verrückt war und das auch keine Hirngespinste waren und eröffnete ihr so eines der größten Geheimnisse der Welt, oder ich ließ sie in diesem Glauben. Würde ich mich für Letzteres entscheiden würde sie irgendwann wohl wirklich verrückt, unter dem Druck dessen, was sie sah. Außerdem konnte es sein, dass die Vampirjäger irgendwie Wind von ihr bekamen und dann hätten sie eine mächtige Waffe gegen uns, denn dann konnten wir einpacken, dann würde keine Tarnung dieser Welt uns mehr schützen. Mit dieser Pro/Contra-Liste kam ich zu dem eindeutigen Schluss, dass bei der Wahrheit das kleinere Risiko bestand. Im Schlimmstfalle musste ich für eine Gedächnislöschung sorgen. Das war dann zwar ein Papierkrieg und musste bewilligt werden, aber bei dieser Faktenlage würde es sicher durchkommen. Ungewöhnliche Umstände forderten ungewöhnliches Vorgehen.
„So absurd ist das gar nicht. In gewisser Weise hast du nämlich recht, mit dem, was du da siehst.“
Sie sah mich nur verständnislos an. Ich war nicht gut darin Menschen solche Dinge zu eröffnen.
„Das was du siehst, also diese anderen Menschen und Wesen. Das sind die wahren Gesichter, Emotionen und Erscheinungsformen der Leute.“
Sie lachte wieder auf.
„Klar. Akira, bei aller Freude darüber, dass du mir gut zureden willst, bist du doch ganz sicher kein geflügelter Dämon. Und es marschieren auch keine Flammenmonster durch die Straßen der Städte.“
„Doch. Es gibt Dinge, die normalen Menschen verborgen bleiben. Wenn du Menschen neben den Leuten siehst zeigen diese ihre wahren Gefühle, wie Verachtung, oder Missgunst, die sie sonst nicht zeigen. Und diese Wesen sind wirklich da. Sie sind nur Verhüllt und zu einer menschlichen Gestalt verwandelt. Es ist schwer zu beschreiben, aber du bist nicht verrückt. Du hast eine sehr seltene Gabe.“
„Also laufen überall Monster in Menschengestalt herum, die nur ich sehe…?“
„Genau! Das sind meistens die Wesen der Unterwelt, die oben etwas zu tun haben.“
„Unterwelt? Als nächstes willst du mir noch erzählen, dass es die Hölle wirklich gibt“, sagte sie skeptisch. Sie glaubte mir noch immer nicht. Verdammt.
„Die Dämonin neben dir schlägt sich die Hand gegen die Stirn, Aki.“
„Ja, weil ich verzweifle. Hm. Helena, schau mein reales Gesicht an. Nur dieses hier, ok?“
„Tue ich, und jetzt?“
Ich hob die oberflächlichste Verwandlungsschicht auf. Fangzähne machten sich in meinem Mund breit und meine Augen wurden wieder blutrot. Ihre Augen wurden immer größer und ein unterdrückter Schrei entfuhr ihr.
„Unmöglich“, stammelte sie, „dein reales Gesicht, es hat Zähne, also scharfe, lange Zähne und deine Augen, sie schimmern rot. Das kann nicht sein! Wieso wirst du deinem Abbild ähnlicher?“
„Es ist so, wie ich es gesagt habe. Du siehst, was ich bin, wie ich wirklich und ohne Verwandlung aussehe. Ich bin eins dieser Monster, dass du immer siehst, ein Vampir um genau zu sein.“
„Aber, aber… Es gibt doch keine Vampire und Dämonen! Oder etwa doch? Heißt das wirklich, dass ich nie verrückt war, sondern es das alles wirklich gibt?!“
Sie zitterte und konnte sich nicht wirklich fangen. In ihrem Kopf schossen die Gedanken wahrscheinlich alle durcheinander. Ich saß derweilen einfach da und legte meine Verwandlung wieder über mich, für den Fall, dass meine Adoptiveltern oder Zero herein kamen.
„Ich bin also nicht verrückt?“
„Nein.“
„Und du bist ein echter Vampir?“
„Ja.“
„Und was bedeutet das jetzt für mich oder uns?“
„Eine gute Frage. Zum einen sehe ich mich verpflichtet, dir die wahren Umstände der Welt zu erklären. Zum anderen wäre es die Frage, ob du es verantworten kannst, dich ein Stück weit mit der Unterwelt einzulassen. Schließlich werden wir vom Großteil der Menschen gefürchtet.“
„Ja, da hast du wohl recht, aber ich lebe noch und dein sonstiges Umfeld lebt auch noch. Außerdem, wenn ich wirklich die wahre Natur der Wesen erkennen kann, muss ich doch nur die Dämonin neben dir ansehen und die erscheint mir nicht mordlüsternd oder bösartig. Ich habe nichts zu verlieren, also ja, ich lasse mich darauf ein, dass du mir alles erklärst.“
„Das ging jetzt einfacher, als ich dachte. Aber du hast recht, durch die Kereskila-Augen musst du dich nicht vor Verrat und Sonstigem fürchten. Es ist schon extremes Glück, dass du ausgerechnet in unsere Klasse gekommen bist, sonst hättest du das wohl nie erfahren.“
„Ja, das stimmt wohl.“
Langsam entspannte sie sich wieder und auch ich wurde wieder ruhiger. Ich war froh, dass es so glatt gelaufen war. Sie ließ sich mit dem Rücken auf das Bett fallen und atmete hörbar aus.
„Sag mal, Helena? Würdest du mir im Gegenzug für die ganzen Erklärungen und Unterwelteinführungen wohl bei einer Kleinigkeit zur Hand gehen?“
„Wobei denn genau?“
„Die genaueren Umstände erkläre ich dir später, aber es gibt Leute, die mir schaden wollen. Das Problem ist nur, dass ich eben nicht deine Augen habe und genauso wie jeder andere auf die Verwandlungen herein falle. Es wäre enorm hilfreich, wenn jemand mit Kereskila-Augen, vorzugsweise du, etwas mit mir durch die Stadt gehen würde, um aus zu machen ob welche von denen hier sind.“
„Ich sage vorerst zu, aber du erklärst mir ganz genau wer, warum und überhaupt.“
„Natürlich“, sagte ich lächelnd. So erklärte ich ihr noch eine Stunde lang, was es mit der Vampirgesellschaft und den Rebellen auf sich hatte. Dann kam Katharina rein und nahm Helena mit nach unten, weil es schon spät geworden war. Ich hatte endlich eine Perspektive, mich auch ohne meine vollständige Macht gegen die Revolutionäre zu wappnen. Andere sehen zu können, ohne dabei selbst gesehen zu werden war im Krieg ein enormer Vorteil.

Kapitel 18 - Die Normalität des Außergewöhnlichen


Nachdem ich den zweiwöchigen Hausarrest mehr schlecht als recht hinter mich gebracht hatte, wollte ich sofort ausprobieren, ob meine theoretisch geniale Idee auch in der Wirklichkeit funktionierte. Dafür musste ich mit Helena durch Berlin, vorzugsweise nachts. Eine Übernachtung Helenas wäre dafür natürlich ideal.
So erzählte ich am Nachmittag meiner Familie, dass Helena hier übernachten würde. Sie gingen dann auch abends pünktlich schlafen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand uns bemerken würde, öffnete ich das Fenster.
„Sag mal, Aki, wie soll ich eigentlich mitkommen? Du kannst fliegen, schön und gut, aber was ist mit mir?“
„Dich werde ich tragen. Wir müssen nur hoch genug fliegen, damit uns keiner sieht.“
Ich griff ihr von hinten unter die Arme und hielt sie fest.
„Vertraust du mir, Helena?“
„Wenn du mich hättest töten wollen, hättest du das schon getan, also ja.“
„Gut zu wissen“, sagte ich und sprang aus dem Fenster, entfaltete kurz nach Verlassen des Fensters die Flügel und riss uns so vor Bodenkontakt hoch. Hoch genug, damit wir vom Boden aus nur ein schwarzer Fleck mehr in der Nacht waren.
„Na, wie ist Fliegen so?“
„Das sag ich dir, wenn ich mich getraut habe, die Augen zu öffnen.“
„Los mach sie auf, es ist herrlich. Man kann die ganze Stadt sehen!“ Sie krallte sich fest in meine Arme und öffnete wohl nun die Augen. Ein Schrei entglitt ihrem Mund und ihr Körper verkrampfte sich.
„Ganz ruhig, ich halte dich fest, dir kann nichts passieren. Vampire haben viel größere Kräfte als Menschen, ich halte dich problemlos.“
„Trotzdem habe ich schreckliche Angst! Alles ist so klein. Was wenn wir fallen?“
„So darfst du nicht denken.“ Ich machte einen Schlenker um ein Hochhaus, das mir im Sinkflug im Weg stand.
„Aki, bist du dir ganz sicher?“
„Helena ich mach‘ das hier schon seit ein paar hundert Jahren, also darf ich wohl behaupten, dass ich weiß was ich tue oder?“
„Ja“, gab sie kleinlaut zu und entspannte sich langsam, während ich immer tiefer ging und landete in einer Nebenstraße der Innenstadt.
„Wir gehen einfach etwas durch die Stadt und du sagst mir jeden Vampir oder Dämon, den du siehst, ok?“
„Alles klar.“
Wir bogen auf eine Hauptstraße ab und gingen wie ganz normale Leute die Straße entlang, blieben an einigen Schaufenstern stehen und unterhielten uns. Nach ca. 100 Metern schon senkte Helena die Stimme und sagte: „Die Frau dort drüben in der dunkelgrünen Jacke, Jeans und Schwarzer Handtasche und der Herr neben ihr haben Vampirzähne.“
„Gut, die kenn ich. Angehörige des Paktes. Sie stehen noch in Verbindung mit der Gesellschaft, sind also keine Rebellen. Aber gut zu wissen, dass sie sich hier aufhalten.“
„Was würde eigentlich passieren, wenn dich bei deinem Job einer von denen erkennt?“
Inzwischen hatte ich ihr auch erzählt, dass ich eigentlich als Seelenernterin hier arbeitete.
„Er würde mich oder uns angreifen und versuchen zu töten.“
„Hört sich nach einem guten Arbeitsklima an“, sagte Helena müde. Sie ahnte wohl schon worauf sie sich eingelassen hatte. Den restlichen Abend gingen wir herum, in die verschiedensten Viertel und Straßen hielten wir nach Vampiren Ausschau. Helena vermeldete brav jeden „Nichtmenschen“, wobei auch viele Dämonen darunter waren. Mehr, als hier normalerweise herum liefen. Irgendetwas war im Gange. Dann bemerkte Helena einen weiteren Vampir, doch diesen hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Mit Mantel und einem tief ins Gesicht gezogenem Hut schlich er durch eine der Einkaufsstraßen. Ohne Helenas genaue Beschreibung hätte ich ihn nicht erkannt. Tim war noch recht neu in der Gesellschaft gewesen und man hatte lange nichts von ihm gehört. An sich war das nichts Verdächtiges, da wir ja nicht jeden beobachten und überwachen konnten, aber dass er nun gerade hier auftauchte und so auffällig unauffällig tat.
„Helena, wie ist sein Gesichtsausdruck, also sein Wahrer?“
„Er schaut sich dauernd um und er grinst. Außerdem glaub ich, dass sein Mund mit Blut verschmiert ist.“
„Verdammt.“
„Was bedeutet das jetzt?“
„Das bedeutet, dass er wahrscheinlich zu diesen Revolutionären gehört und vor kurzem Blut getrunken hat und damit meine ich keine Konserve, sondern frisch gezapft.“
Helena wurde blass. Wir standen nicht einmal ein duzend Meter von jemandem entfernt, den es nicht scheute Menschen einfach so zu töten. Nicht etwa aus Hunger, sondern aus Vergnügen, sonst hätte sein wahres Gesicht nicht gegrinst, sondern hätte ausgehungert ausgesehen. Zum Glück erkannte er mich nicht und wir konnten schnell in einer vorbeigehenden Touristengruppe untertauchen und uns in einem Hauseingang in Sichtschutz begeben. Helena warf einen schnellen Blick um die Ecke und zog sich so schnell wieder zurück, als hätte sie dort den Eingang zur Hölle gesehen.
„Da ist noch einer. Auch blutverschmiert und grinsend, aber ein anderer. Aki, ich hab Angst.“
Sie hatte einen panischen Unterton und stotterte leicht. Man konnte es ihr nicht verübeln, immerhin war sie keineswegs an solche Situationen gewöhnt.
„Du musst keine Angst haben. Für die sind wir ganz normale Menschen, wie alle anderen und die trauen sich nicht, in dieser Masse jemanden so öffentlich anzugreifen.“ Hoffe ich, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich schaute nun auch um die Ecke und sah noch, wie Tim und eine andere Gestalt in einem Häusereingang in einer Nebenstraße verschwanden. Wir trauten uns wieder hervor. Helena sah sich immer noch panisch um und mir war auch nicht ganz wohl bei dieser Sache.
„Sag mal, Aki? Du meinest doch, du seist eine Overe. Warum hast du dann auch Angst vor denen? Könntest du die nicht einfach umbringen, wenn sie uns bemerken? Also jedenfalls in so einer leeren Nebenstraße ohne Zeugen?“
„Das ist eine berechtigte Frage. Zum einen sind die bestimmt nicht alleine und zum anderen bin ich zurzeit nicht im Besitz all meiner Macht. Genau genommen bin ich ein Mensch mit Zusatzfunktion. Ich hab gerade genug Kraft Seelen einzusammeln. Vor 30 Jahren wurde ich so schwer verletzt, dass meine Kräfte meinen Körper fast zerstört haben, also wurden sie versiegelt. Angeblich nur so lange, bis ich wieder völlig erholt bin, aber das ist bis heute nicht der Fall.“
„Also sind wir im Ernstfall beinahe wehrlos?“
„So sieht‘s aus.“
„Na wunderbar.“
„Wir machen das auch nicht lange, Helena. Ich brauche nur einen groben Überblick, mehr nicht.“
„Das ist einfach zu viel in so kurzer Zeit. Vor einer Woche war ich noch die Verrückte und jetzt bin ich mit einer Vampirprinzessin auf der Suche nach untoten Rebellen.“
„So kann’s gehen. Ich war bis vor Kurzem eine ganz normale Seelenernterin irgendwo im nirgendwo und meine größte Sorge war, dass durch den Dorfklatsch meine Identität auffliegt. Jetzt ist die ganze Gesellschaft in Gefahr, mein Onkel brodelt vor sich hin und Menschen haben mir Hausarrest gegeben! Sterbliche! Irgendwas läuft hier einfach gewaltig schief. Aber um diese Schieflage zu korrigieren sind wir ja gerade unterwegs.“
„Warum beruhigt mich das jetzt nicht?“
„Helena! Wirst du etwa sarkastisch? Schon nach zu kurzer Zeit mit mir? Morgen koch ich dir auch Kaffee, als Entschädigung.“
„Kaffee gegen Lebensgefahr. Klingt fair.“
„Da! Schon wieder!“
Wir fielen noch vor Sonnenaufgang in unsere Betten. Morgen noch so eine Nacht. Herrliche Sache.
Am nächsten Morgen sahen wir nicht wirklich besser aus. Zerknautscht und müde schlichen wir in die Küche um festzustellen, dass bereits alle weg waren, man uns Frühstück hingestellt hatte und es bereits ein Uhr mittags war. Beim Frühstück fragte mich dann Helena aus und ich antwortete geduldig. Wie es denn wäre tot zu sein, wodurch ist starb, wie es mir gefiel und all sowas.
„Sag mal, Helena, willst du die Unterwelt zur Wissenschaft machen, oder bist du einfach neugierig?“
„Ich möchte gerne die Vorurteile und den Aberglauben bei mir zu Hause beseitigen weißt du. Ich habe Unterweltler nie als Feinde wahrgenommen, schon weil ich sie ja für ein Hirngespinst hielt, aber bei uns werden sie so verteufelt.“
„Du weißt was dich erwartet, wenn du dich auf unsere Seite stellst?“
„Ja, ich bin mir dessen bewusst, aber man denkt eh ich sei krank aufgrund meiner Augen und bisher lebe ich noch.“
„Es freut mich auch einmal jemanden so reden zu hören. Vielleicht kannst du einige davon überzeugen, dass wir doch nicht so übel sind, aber letztendlich darf eh niemand von uns erfahren. Es reicht fürs erste schon, wenn du uns nicht verdammst.“
Nachdem wir ausgiebig gegessen hatten gingen wir raus. Das Licht der Sonne blendete mich. Es war unangenehm. Ich brauchte neues Blut und musste dringend zur Zweigstelle.
„Hör mal, würdest du mit mir wohl zu einer Unterwelt-Zweigstelle gehen? Ich brauche neues Blut und du bist ja eingeweiht und da wird dir schneller klar, wie alles läuft, als nur durch meine Erklärungen. Es wäre günstig, aber wenn du nicht willst, versteh ich das.“
„Nicht wollen? Natürlich will ich mit. Ich möchte alles wissen und mich interessiert wie es dort aussieht.“
So quälten wir uns bis in die Innenstadt. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Zweigstelle gerade wieder geöffnet haben müsste. Auch Dämonen brauchen Mittagspause. Nach einem weiteren kleinen Marsch erreichten wir die Zweigstelle. Es war ein Bürogebäude wie jedes Andere in dieser Straße. Doch eins war anders. Man gelangte nur durch eine Tür hinein die von 2 Hünen bewacht wurde, die kaum einen rein ließen. Es waren ein paar Papiere nötig um sich Zugang zu verschaffen, die ich natürlich bei mir hatte.
„Guten Tag meine Lieben. Na alles klar bei euch? Ja schaut nicht so böse, hier sind meine Papiere. Ihr werdet euch noch an mich gewöhnen, keine Sorge.“
„Ja, ich glaube auch, dass du uns im Gedächtnis bleiben wirst“, erwiderte der linke von den Torwächterdämonen.
„Der Mensch hinter mir gehört zu mir. Sie hat Kereskila-Augen und ist meine Vertraute. Komm Helena ab rein da.“
Ich mochte es einfach zu sehr, die Torwächter zu ärgern. Im Moment sahen sie zwar aus, wie hünenhafte Menschen, jedoch war ihre eigentliche Gestalt die eines Cerberus. Viele Menschenlegenden waren eben wahr, wenn auch anders, als man dachte.
Die Torwächter ließen uns passieren und durch die schäbige Tür hindurch gelangte man in eine riesige Halle. Überall liefen Leute zu Schaltern um irgendetwas zu beschaffen, oder abzugeben. Es war ein tosender Lärm aus Stimmen, Rufen, Murmeln, Meckern und allen Abstufungen von Verhandeln ob nun ruhig und sachlich, oder rabiat und ausschreitend. Helena war sichtlich fasziniert und blieb fast in der Tür stehen.
„Das hättest du nicht erwartet oder?“
„Nein, ich hatte mir das alles kleiner vorgestellt. Nicht so riesig, verworren und doch organisiert.“
„Weißt du wir haben eins der größten Übel der Menschheit nicht nur zu verantworten, sonder haben auch darunter zu leiden.“
„Welches denn?“
„Die Bürokratie. Wir haben sie seit Anbeginn der Zeit und du siehst sie hier in Perfektion. Komm schon wir sind nicht zum Staunen hier, sonder um Blut zu holen, sonst steck ich dir einen Zapfhahn in die Kehle.“
„Ähm, ja, natürlich, sofort. Ich komme schon!“, rief sie und eilte mir nach, da ich schon losgegangen war. Ich reihte mich beim Schalter für Vampire und Blutsauger aller Art ein und wartete, bis ich dran kam. Indessen spekulierte Helena über unser System. Es gab Schalter für beinahe Alles. Blutbeschaffung, Körpererneuerung, Verwandtenbesuch, Ein- und Ausreise in die Unterwelt, Gnadenersuche, Termine bei Teufelsfürsten, Neuerungsvorschläge und eigentlich alles was man im dämonischen Alltag brauchte. Auch beachtlich waren die Leute, die hier herum liefen. Einige Unterweltler liefen in ihrer wahren Gestalt hier herum, wobei sich hier sämtliche Varianten von Dämonen und Unterweltlern tummelte, die man sich vorstellen konnte. Die meisten waren jedoch in ihrer menschlichen Gestalt gekommen, da sie schnell wieder raus mussten. Es zog sich durch alle Gesellschaftsschichten. Vom Fabrikarbeiter zum Firmenboss konnte man hier alles finden, aber noch faszinierender war, dass hier ganz andere Strukturen galten. So sprach ein Konzernchef einen Arbeiter in aller Höflichkeit an und man merke schnell, dass der Arbeiter als Dämon ranghöher war, da er dem Konzernchef schnell Anweisungen gab, dieser sich verbeugte und schnell zu irgendeinem Schalter rannte. Egal wie mächtig man in der Menschenwelt war, hier hatte alles seine eigenen Regeln.
Eine halbe Stunde stand ich für mein wohlverdientes Blut an und währenddessen frage mich Helena aus, als sie ich das wandelnde Unterweltlexikon. Das stimmte zwar teilweise, jedoch wusste auch ich nicht alles. Nach diesen quälenden 30 Minuten stand ich endlich vor einem übellaunigen Vampir der die Blutkonserven austeilte und Bestellungen aufnahm.
„Die zwei-Wochen Ration bitte zugestellt an meine Meldeadresse.“
„Name?“, fragte man mich gelangweilt.
„Feralia und bitte so schnell es geht. Ich habe noch einiges zu tun.“
„Die haben wir alle, mein Kind.“
„Kind?“, knirschte ich wütend. Helena und die Vampire hinter mir traten schon einige Schritte zurück.
„Wie alt bist du?! 100 Jahre vielleicht? Hör mir mal gut zu. Ich bin Akira Feralia Draculàa. Ich wandele seit fast 600 Jahren auf dieser verdammten Welt und du erdreistest dich mich ein Kind zu nennen?! Sei froh wenn ich dich nicht töte, Kleiner.“ Ich knallte beide Hände auf den Tresen des Schalters und sah ihn wutentbrannt an, wie er immer kleiner in seinem Stuhl zusammensank. Um mich herum wurden Stimmen laut. Ich hörte oft meine Namen fallen. Eigentlich waren solche Auftritte mehr Onkelchens Ding, aber gelegentlich wollte ich auch mal Vorteile daraus ziehen, die Vampirprinzessin zu sein und nicht dauernd das Nachsehen haben. Außerdem waren meine Nerven blank. Seit Tagen hatte ich nur mit einer Notration gelebt und dieser ganze Ärger mit den Rebellen zerrte an meiner Geduld.
„Aber natürlich, Herrin. Sofort“, sagte der Vampir hinterm Schalter kleinlaut und schon huschten einige Hilfsdämonen in die Gänge hinter ihm, um meine Papiere zum Unterschrift zu holen. Ich wollte zwar keinen großen Rummel um meine Person, aber er hatte das Fass zum überlaufen gebracht. Ich hasste die Tatsache für jung und dumm gehalten zu werden nur, weil ich nun einmal diesen Körper hatte. Helena schlich sich wieder an mich heran, nachdem die erste Verblüffung und das Getuschel verschwunden waren.
„Dein Name und dieser Auftritt eben hatten ja eine ganz schöne Wirkung auf die Leute hier. Der Name kommt mir bekannt vor.“
„Feralia wohl weniger, das ist mein Dämonenname, aber ich glaube bei Draculàa würde jeder Mensch hellhörig werden. Ihr habt davon Dracula abgeleitet. Der Urvater aller Vampire. Nun ja ich bin seine Nichte. Auch durch einen Vertrag mit dem Teufel zum Vampir geworden, gehöre ich wohl auch zu den Urahnen der heute bekannten Blutsauger. Ich bestreite nicht, dass es vor uns vampirähnliche Wesen gab jedoch waren wir die ersten nach heutiger Definition. Ich hatte dir doch erzählt, dass ich eine Overe bin. Mein Onkel ist einer der anderen beiden.“
„Dracula ist dein Onkel?!“
„Ja, aber das verliert seinen Schrecken innerhalb von ein paar Jahren, wenn er einen aufzieht. Das ist aber was anderes und im Moment schützt mich dieser Name vor einer Menge Problemen. Außerdem läuft vieles schneller. Oder?“
„Natürlich“, keuchte der Hilfsdämon neben mir und hielt mir einige Dokumente hin. Lieferpapiere. Ich unterschrieb schnell, bedankte mich höflich und wir verließen diesen lauten Vorhof der Hölle.
„Wow“, sagte Helena nur.
„Ganz interessant, wenn man zum ersten Mal da drin ist, oder? Keine Sorge, das lässt nach. Am Anfang dachte ich auch noch wie toll das alles doch ist. Komm, wir müssen nach Hause und die Bestellung annehmen sonst darf ich nochmal anstehen.“
So gingen wir nach Hause und den ganzen Weg über erzählte mir Helena, wie beeindruckend diese isolierte Welt in der Welt der Menschen doch war. Gewöhnungssache.
Zu Hause angekommen öffnete ich das Fenster in meinem Zimmer und einige Minuten später flatterte ein Höllenbote herein, der einen Koffer mit sich trug. Er landete, öffnete den Koffer und zeigte mir den Inhalt. Fein säuberlich gestapelt lagen Blutkonserven und ein paar Flaschen darin.
„42 Ampullen Blut. Eine Mischung aus A und 0 und für das Wochenende einige AB und B Konserven. Dazu aufgrund ihrer momentanen Situation die Tomatensaftflaschen. Bitte hier zu unterschreiben.“
Der Höllendiener hielt mir noch mehr Papiere hin, die ich wieder unterschrieb. Danach flatterte er wortlos aus dem Fenster. Ich stellte den Koffer in eine dunkel Ecke, nachdem ich 6 Ampullen und 2 Flaschen entnommen hatte. Ich drücke Helena eine Ampulle und eine Flasche in die Hand.
„Hilf mir mal bitte befüllen. Einfach aufreißen und dann in die Flaschen kippen.“
„So?“, fragte sie und versuchte ungeschickt die Ampulle aufzureißen.
„Gib mir mal.“
Ich setzte mit einem Reißzahn an, zog und schon war sie offen.
„Man lernt irgendwann die Teile als Werkzeuge einzusetzen. Und nun ganz langsam einfüllen. Nicht zu schnell sonst kommt es auf den Teppich und Blut aus Teppichen raus zu bekommen ist eine Kunst für sich.“
Sie zitterte stark, während sie das Blut umfüllte und die Flasche verschloss.
„Du findest es merkwürdig so etwas zu tun oder?“
„Ja, das stimmt schon. Es ist gewöhnungsbedürftig das Blut von Menschen in Flaschen zu füllen, damit du es trinken kannst. Ich werde mich wohl mit diesem Vampirkram nie wirklich anfreunden können.“
„Sie es mal so: Diese Ampullen verhindern, dass ich lebenden Menschen das Blut aussaugen muss und sie dadurch sterben würden. Ich habe auch wenig Lust dazu dauernd los zu ziehen, wenn es so viel einfacher geht und ich mir nicht dauernd Gewissensfragen stellen muss.“
„Das stimmt wohl, aber sind eure Zähne so nicht fast nutzlos? Also wenn ihr euch wirklich nur von Konserven ernährt.“
„Wenn sie nur zur Blutzufuhr geeignet wären, dann würde ich dir rein theoretisch Recht geben. Allerdings sind es auch gefährliche Waffen.“
„Aber dauert es denn nicht, jemanden so leer zu saugen, dass er stirbt, oder wie setzt ihr sie als Waffe ein?“
„Du musst Wissen, dass Vampirgebisse als eine der todbringendsten Waffen der Unterwelt gelten. Die können mit mehreren Tonnen Druck auf sehr wenig Fläche wirken und somit Knochen brechen und zertrümmern. Gute Gebisse können selbst Stahl kauen und Pistolenkugeln zerbrechen. Unsere Zähne sind eben stabiler. Ein Vampirzahn ist so gut wie unzerstörbar. Außerdem sind sie extrem scharf, wie du gerade sehen konntest. Da kommt kein Messer ran.“
„Klingt sehr beeindruckend, aber mal ehrlich: Stahl zerbeißen? Übertreibst du nicht etwas?“
„Du wirst schon noch sehen. Im Moment habe ich nicht die Kraft dazu, aber ich habe die Ahnung, dass du irgendwann Gelegenheit haben wirst, es zu sehen.“
„Gut, aber bis dahin glaube ich dir nicht.“
„Das ist dein gutes Recht, meine liebe Helena.“

Kapitel 19 - Im Auftrag des Josef


So wurde es zur Routine, dass Helena und ich allabendlich durch die Straßen gingen und nach den abtrünnigen Vampiren Ausschau hielten. Wir sahen nur sehr selten welche, die verstohlen herumschlichen. Soweit ich es überblicken konnte gab es eindeutig höhere Aktivitäten hier, als man vermuten sollte. Sie konzentrierten sich auf Berlin und ich ahnte wieso. Helena war immer noch mulmig zumute, wenn wir durch die Häuserschluchten zogen, aber sie war nichtmehr ganz so schreckhaft, wie am ersten Tag. In der Schule ging es auch sehr alltäglich zu. An Helenas abreise war nichtmehr zu denken, da sie inzwischen zum festen Bestandteil meines Umfelds geworden war. Sie blieb in dem Wohnheim, aber wollte dort baldmöglich heraus. Es lag ihr einfach nicht. Mit jedem Tag der verstrich vergas ich beinahe schon, in welcher Situation ich mich befand. Der Alltagstrott hatte mich völlig eingenommen, bis ein Anruf mich erreichte. Es war Josef, der aus Russland anrief. Inzwischen hatte er den Großteil der Gesellschaft geeint, um gegen die Rebellen vorgehen zu können. Er wendete sich aber mit einem Problem an mich.
„Wir haben ein erhebliches Problem damit, ein paar unserer Leute in Polen zu kontaktieren. Ihre letzte Nachricht kam vor zwei Wochen an, seitdem ist der Kontakt abgebrochen. Sie haben uns von einem kleinen Dorf aus angerufen, dass sie bald bei uns einträfen, aber sie sind noch immer nicht hier. Ich denke, dass die Rebellen oder die Jäger etwas damit zu tun haben. Du bist die einzige, der ich diesen Auftrag momentan geben kann.“
„Wieso ausgerechnet nur mir?“
„Zum einen kann es sein, dass sie sich versteckt haben. Wenn ich dann aus Versehen einen Verräter zu ihrer letzten Position schicken würde, wäre das ihr Ende. Zum anderen hast du das Mädchen mit den Kereskila –Augen bei dir, also wirst du auf keinen der Rebellen oder Verräter so schnell hereinfallen. Und zum letzten, seid ihr einfach viel unauffälliger. Unsere Feinde kennen dein momentanes Aussehen nicht und deine Aura ist auch schwach genug, um kein Aufsehen zu erregen.“
„Schon verstanden. Ich soll also mit Helena nach Polen um möglichst unauffällig unsere Leute zu finden? Und wie hast du dir das vorgestellt? Wie soll ich meinen Zieheltern einen Kurztrip nach Polen erklären? Es sind zwar Ferien, aber trotzdem.“
„Bildungsreise“, antwortete mir Josef, wobei ein spöttischer Unterton in seiner Stimme lag. Eigentlich eine gute Idee. Sie musste nur noch funktionieren.
„Na gut, ich werde nach ihnen sehen. Gibst du mir noch die Beschreibungen und Namen unserer Leute?“
„Natürlich, Prinzessin.“
Wieder dieser kaum merkbare Spott. Auch wenn Vlad, Natalia und ich die Overen waren, ließen wir uns von ihm doch immer in bestimmte Richtungen stoßen.
Nun musste ich nur noch Katharina und Juan diese „Bildungsreise“ schmackhaft machen. Mein Ausflug nach Rumänien stand zwar nichtmehr zur Diskussion, jedoch war er noch in ihren Hinterköpfen. Die gesamte Debatte zog sich über mehrere Stunden, wenn man die Unterbrechungen durch Essen und anderen nötigen Tätigkeiten mit einbezog. Letztendlich konnte ich knapp einen Sieg erwirken, wobei ich die positive Auswirkung auf Helenas Psyche, durch so einen Ausflug ins Feld führte. Auch betitelte ich es mehrfach als Mädchenunternehmung, wodurch sich Zero und Craig nicht angehalten sahen, spontan mitzukommen. Selbst wenn sie es gewollt hätten, wäre es ihnen kam möglich gewesen. Craig wurde anscheinend voll und ganz von seinem Vater eingenommen und kam immer nur zu kurzen Besuchen vorbei. Zero hingegen hatte der Ehrgeiz gepackt, auch wenn man ihm das nie ansah. Er wollte während der Ferien seine Noten aufbessern und vernünftig lernen. Der Erfolg war überschaubar, aber zumindest vorhanden. Es lag ihm einfach nicht, stundelang Bücher zu wälzen. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
Immerhin schaffte er es uns zu verabschieden, als wir tags darauf abreisen wollten.
„Passt bloß gut auf dich und Helena auf. Du weißt, wie manche Leute ticken. Mädelsausflug irgendwo ins nirgendwo. Wie kommst du immer auf sowas?“
„So sehen wir immerhin etwas von der Welt.“
„Sorgt dafür, dass ich euch jeweils in einem Stück wiedersehe. Wenn nicht dann…“
„Dann was? Willst du uns dann noch kleiner hacken?“, fragte ich sarkastisch.
„Genau.“
„Zero, machst du dir etwa Sorgen um uns?“
Er grummelte nur leise vor sich hin. Er mochte es nicht, zu zeigen, dass er sich Sorgen machte, aber seine Augen verrieten ihn. Am liebsten wäre er mitgekommen. Das hatten wir ihm aber schnell wieder aus dem Kopf geschlagen. Er schüttelte den Kopf.
„Aki. Komm ja heil zurück.“
„Natürlich. Fang bloß nicht an zu heulen.“
Nun hatte er sich wieder gefangen und drehte gespielt beleidigt den Kopf weg.
„Macht doch, was ihr wollt“, meinte er, mit gespieltem Gleichmut, aber völlig verflogen war seine Sorge nicht.

Kapitel 20 - Ankunft


Im Zug war mir dann allerdings meine Überheblichkeit verflogen. Mein doch recht loses Mundwerk hatte es wieder geschafft mich in eine problematische Situation zu bringen. Klar wollte ich noch immer diesen Auftrag ausführen, aber mir waren Bedenken gekommen. Ich hatte mich zurückentsinnt auf meine Unachtsamkeit vor meiner Versetzung. Wenn diese Geschichte noch im öffentlichen Bewusstsein war dann würde ein eventuelles publik machen dieser Aktion mehr Gehör finden. Das zwar nur, wenn dieser Auftrag in irgendeiner Form Aufsehen erregte, aber ein erhebliches Risiko bestand. Ich biss unruhig auf meinen Findernägeln rum. Meine Lippen waren bereits blutig, weil ich seit Stunden darauf herum gekaut hatte. Ein Seufzten entkam mir, woraufhin Helena, völlig aus ihrer eigenen Gedankenwelt gerissen aufsah. Ihre Augen waren wässrig und sie sah sehr müde und entkräftet aus.
„Was ist los, Aki? Denkst du es ist eine blöde Idee und wir sollten besser wieder zurück? Schließlich“, sie hielt kurz inne, „schließlich hast du gesagt, dass das sehr gefährlich ist und auch jemand anders das übernehme kann.“ So war das also.
„Wir schaffen das schon. Es ist zwar gefährlich, aber für jemand anderen wäre es noch gefährlicher. Für uns besteht kein so großes Risiko bei dieser Mission. Außerdem wollte ich nur wissen wie lange wir noch brauchen in diesem verdammten Zug. Noch ein paar Stunden und ich brauche noch ein paar neue Lippen und Finger.“
Schweigen trat erneut ein. Kein Eisiges, nur eins, dass mir zeigte, dass Helena sich mit den Tatsachen abgefunden hatte. Noch Stunden saßen wir dort und ich legte mir wieder und wieder Situationen zurecht und spielte sie gedanklich durch. Es gab viele Möglichkeiten, was passiert war und die wenigsten gefielen mir. Es wäre besser gewesen, wenn ich gewusst hätte, was auf uns zukommen würde. Aber ich würde mir etwas überlegen, wenn es soweit war. Ganz sicher.
Ein Ruck fuhr durch meinen Körper und Helenas hecktische Stimme neben mir riss mich aus meinem tiefen Schlaf. Schlaftrunken versuchte ich meine Augen gänzlich zu öffnen, doch es misslang mir die ersten fünf Male, bis ich eine klare Sicht erlangte und eine erstaunliche Entdeckung machte.
„Wir stehen“, veräußerte ich meine erschütternde Feststellung.
„Wir sind, glaub ich, da“
Das Aufstehen verlief ähnlich problematisch wie das Sehen, doch schnell stand ich halbwegs sicher auf meinen Beinen. Wankend verließen wir den Zug und grelles Tageslicht strömte uns entgegen. Überall hörte ich Klänge an die ich mich wieder gewöhnen musste. Polnisch. Das war eine der ersten Sprachen, die gelernt hatte. Auch ein paar deutsche Stimmen waren dabei, was nicht verwunderlich war, so dicht an der Grenze. Von Helena wusste ich, dass sie gebrochen Polnisch konnte. Nicht viel, aber genug um sich zu verständigen. Hunderte Stimmen erfüllten den Bahnhof, mit der Musik, der Sprache und ich versank fast träumend in diesem so warmen Klang. Wir kämpften uns durch die Massen, wobei diese Menschen wie eine undurchdringliche Einheit schienen, die einen in voller Absicht behinderten. Endlich draußen angekommen versuchten wir uns zu orientieren. Helena studierte eingehenst den Busfahrplan um festzustellen, dass sie noch genauso ahnungslos war wie zuvor. Der geniale Einfall einfach zu fragen, ereilte uns nur einige Minuten später. Man wies und freundlich drauf hin, dass in 20 Minuten ein Bus in die kleine Stadt fuhr in deren Nähe die Spur der Gruppe verloren gegangen war. Zwei Stunden danach standen wir an einem verlassenen Bahnsteig eines kleine Örtchens und ich stellte die alles entscheidende Frage: „Laufen oder fliegen?“

Kapitel 21 - Auf dem Leichenfeld


Die Sonne stand hoch am Himmel. Helena ging monoton neben mir her. In ihrem Kopf schienen Dinge vorzugehen, in die ich keinen Einblick nehmen konnte, wahrscheinlich über die Gefahr, in die wir uns begaben. Lange schon gingen wir diesen Weg entlang und ich zweifelte langsam daran, dass er jemals enden würde. Mitten in einer Überlegung darüber, dass das hier wahrscheinlich das Ende der Welt war und man auf ewig wandern musste, überkam mich eine Regung meines Körpers. Ohne Absicht blieb ich stehen, meine Muskeln spannten sich und ich witterte etwas.
"Tod", flüsterte ich kaum hörbar. Helena war einige Schritte weiter ebenfalls zum Stillstand gekommen.
"Was ist los?"
"Ich rieche Tod. Hier ganz in der Nähe sind Menschen vor kurzem gestorben. Viele! Das Blut muss in Strömen geflossen sein. Ich...ich spüre es förmlich. Literweise Blut wurde hier gerade erst vergossen."
Ich überlegte nicht lange und rannte los. Ich durchbrach die Baumgrenze des am Rand des Weges stehenden Waldes und lief weiter. Immer tiefer hinein folgte ich dem grausigen und doch so verführerischen Geruch nach dem roten Lebenssaft. Plötzlich tat sich eine Lichtung vor mir auf und es bot sich mir ein schrecklicher Anblick. Das Gras der Lichtung war rot vom Blut der Menschen, die tot und auch noch knapp lebend dort lagen. Viele wimmerten noch erbärmlich in den letzten Zügen ihres Lebens. Mitten in diesem Albtraum aus Blut und Körpern stand aufrecht ein einzelner Mann. Er hielt den abgetrennten Kopf eines Menschen auf seiner Handfläche vor sich. In einer theatralischen Geste rief er dann: "Sein oder nicht sein! Das ist hier die Frage, oder vielmehr: Tod oder Leben! Nicht Prinzessin?"
Sein Blick traf mich und ich sah in seine lodernden, roten Augen. Er war eindeutig eine Kreatur der Hölle und höchstwahrscheinlich auch ein Vampir.
"Ich habe auf dich gewartet, Prinzessin. Ich wusste, dass der Geruch von frischem Blut dich anziehen würde und hier bist du. Ist es nicht wunderschön?"
Angeekelt warf ich einen weiteren Blick auf das Massaker. Einige Körperteile lagen einzeln herum. Ich konnte nicht glauben, dass einer meiner Art das getan haben sollte. Ich trat aus dem Wald hinaus, ganz auf die Lichtung und ging auf ihn zu. In gebührendem Abstand blieb ich stehen.
"Wer bist du und warum hast du das getan?"
"Oh entschuldigt, Eure Hoheit", er verneigte sich spöttisch. "Mein Name ist Kuruk Abenidas und ja ich bin ein Vampir, wie Ihr. Mich erstaunt aber Eure frage Hoheit. Ich tat es aus einer Laune heraus. Warum auch nicht. Dieses wertlose Vieh hatte doch ein schönes Leben bisher." Ein Lächeln umspielte seine Lippen, welche von dem Blut seiner Opfer verschmiert waren. Mein Magen drehte sich gefühlte 5-mal herum.
"Einfach so? Aus einer Laune heraus?"
"So ist es. Ihr mögt erstaunt sein, Prinzessin, aber so läuft das nun einmal. Das Vorrecht des Stärkeren, welches ich gleich nochmal nutzen möchte."
Instinktiv wich ich einige Schritte vor ihm zurück. Seine Augen hatten mich fixiert und er kam langsam auf mich zu. Sein Lächeln wurde breiter, bis es einer Fratze glich.
"Prinzessin, Ihr werdet es hoffentlich entschuldigen, dass ich euch umbringen muss. Leider steht ihr dem Vorhaben unseres Verbundes im Weg."
In meinem Kopf liefen nun mehrere Kurzschlussreaktionen ab. Ich war wie ein Anfänger in eine offensichtliche Falle getappt. Nun erst gab er seine ganze Aura preis und er war mir überlegen. Als weiteres Problem entpuppte sich eine Bewegung am Waldrand. Helena stolperte auf die Lichtung. Hinter ihr kam eine Frau aus dem Wald die Helena ruppig weiter stieß.
"Schau doch mal, Kuruk, was mir im Wald in die Hände fiel. Das kleine Menschlein, das bei seiner Hoheit war."
"Töte sie. Wir haben etwas Wichtigeres zu tun, als uns mit so etwas herum zu schlagen."
"Wenn ihr sie auch nur anfasst werde ich euch in Fetzen reißen!", schrie ich wie von Sinnen.
"Oh, will mir die Prinzessin etwa drohen? Vergiss nicht wer du bist, Kleine. Du bist geknechtet und Einschränkungen unterworfen, die uns nicht betreffen. Ich glaube du bist nicht in der Verfassung uns zu drohen."
Mit diesen Worten trat die Frau Helena in den Rücken, woraufhin diese in eine Blutlache fiel.
"Helena!", entfuhr es meiner fast zugeschnürten Kehle. Ich wollte auf sie zu rennen, doch der hünenhafte Mann packte mich und drückte mich mit dem Rücken an sich.
"Ach du hängst an dem Menschmädchen? Wie dumm von dir. Aber gut dann werden wir sie zuerst töten damit dein Schmerz sich noch steigert."
Alles in mir bäumte sich auf, aber die Frau hatte Recht gehabt. Ich war kaum ein Schatten meiner Selbst und das waren zwei mächtige Untote. Zudem war Helena als Gefahrenfaktor vorhanden. Meine Lage war aussichtslos.
Die namenlose Frau stellte einen Fuß auf Helenas Rücken und drückte sie noch mehr zu Boden. Ein Schmerzensschrei entfuhr ihr, doch ihre Stimme versagte und wurde von Tränen erstickt. Helenas Körper wurde nun von der Frau hochgezogen und sie hielt ihn vor sich, zog ein Messer aus einer Tasche und fuhr Helenas Hals damit ab.
"Ich glaube ich werde ihr Blut trinken, Kuruk. Vielleicht wird sie dann eine von uns und schließt sich unserer Sache an."
Sie lachte schrill und mir gefror das Blut in den Adern. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Ich fühlte mich so schwach, so hilflos und verloren. Ich war nicht mal fähig meine Freundin vor dem sicheren Tod zu retten und einem Dasein als untote Kreatur. Immer panischer sah ich dem Gesehen zu. Mit fast sanften Schnitten riss die Vampirin Helenas Haut auf, sodass ein zarter Rinnsal ihren Hals hinab lief. Die Zähne der Frau kamen diesem Rinnsal und der Wunde immer näher. Auf einmal erfüllte eine unheimliche Ruhe meinen, bis dahin ungeordneten, Geist. Alles schien verlangsamt abzulaufen. Ich sah die Zähne sich immer weiter schieben aber Etwas in mir wusste, dass Helena und mir nichts passieren würde. Dann ein plötzliches Muskelzucken. Wie ein Blitz fuhr jene unheilige Kraft durch mich, die ich verloren geglaubt hatte. Ich fühlte wie ich anfing zu lächeln.
"Lasst sie los", sagte ich in beängstigend ruhigem Ton. Die Vampirin hielt inne und sah ungläubig zu mir rüber. Sie musste lachen und ihr Kumpan stimmte ein.
"Alte Vampire sind immer sehr lustig. Denkst du, nur weil du die Prinzessin bist, dass wir auf dich hören? Ich werde sie fressen und dann richten wir dich hin."
"Ihr wolltet es so."
Meine Muskeln spannten sich erneut, aber nun mit einer Kraft von ungeahntem Ausmaß. Meinem Wächter einfuhr ein überraschtes Keuchen, als er meinem Befreiungsversuch nachgeben musste und sich seine Arme öffneten. Ich konnte genau sehen wie sich die Augen der Frau weiteten und sie ungläubig zusah wie Kuruk zwei Schritte nach hinten taumelte. Diesen Augenblick nutze ich um neben sie zugelangen. Ihre Augen weiteten sich noch mehr, sodass ich dachte sie würden mir gleich entgegen kommen. Von der Seite stieß ich meine ausgestreckte Hand in sie. Ihr vor einigen Sekunden noch amüsiert wirkendes Gesicht wurde zu einer schmerzverzehrten Fratze und sie kippte stöhnend zur Seite. Helena entglitt ihrem Griff und fiel ebenfalls zu Boden. Ich zog sie schnell wieder hoch und stütze sie so gut es ging. Kuruk war jetzt aus seiner Überraschung erwacht und schaute mich ungläubig an. Im nächsten Moment rannte er auf mich zu, einem Ochsen gleich, dem man ein Schwert zwischen die Rippen gestoßen hatte. Helena hing bewusstlos in meinen Armen und er kam immer näher. Zum fliegen war es zu spät, also ließ ich mich zur Seite fallen um gerade noch dieser Fleisch gewordenen Dampfwalze zu entgehen. Ich presste Helena an mich, als könnte sie sich jeden Moment in Luft auflösen. Wir mussten weg hier. Selbst jetzt war es zu gefährlich, mich mit diesem Kraftkollos anzulegen. Dieser setzte nun zu seinem nächsten Angriff an, der jedoch sehr viel überlegter war, als der Vorhergegangene. Er hatte zwei Messer gezogen mit denen er mich nun attackierte. Immer wieder wich ich nur knapp einer der beiden Klingen aus und wich immer weiter zurück. Eine Idee schoss in meinen Gedankenstrom. Ich drehte mich in einer wirbelnden Bewegung um und rannte von ihm weg, mitten in den Wald hinein. Einige Sekunden später blieb ich stehen und lehnte Helena an einen Baum und wand mich wieder zurück. Der Hühne stand wenige Meter vor mir und funkelte mich an.
"Stirb nun Akira Feralia Draculäa! Stirb angesichts der Revolution! Verrecke wie jeder Andere!" Ich nahm meine gesamte Konzentration zusammen und wartete auf einen Angriff. Dieser erfolgte Sekundenbruchteile später. Schnell und präzise rannte er auf mich zu, wechselte mehrfach die Richtung, sodass seine Angriffsrichtung kaum zu bestimmen war doch ich spürte es. Er hob beide Messer und stach zu. Jedenfalls dachte er das. Völlig fassungslos starrte er auf die Klingen, von denen ich mit jeder Hand eine festhielt. Blut floss meinen Arm entlang, doch merke ich diesen Schmerz nicht. Ich brach die Messer an den Stellen wo sie meine Hände berührten und zielte mit den beiden abgebrochenen Spitzen nun meinerseits auf ihn und traf, im Gegensatz zu ihm, mitten ins Herz. Keuchend brach er zusammen. Blut lief aus seinem Mund und er gab nur ein leises Röcheln von sich. Ich rannte zurück, schnappte mir Helena und lief so schnell ich konnte, zurück zur Straße.
Dort angekommen schien mir die Sonne mit solcher Energie ins Gesicht, dass ich dachte, ich hätte sie jahrelang nichtmehr gesehen. Die intensiven Strahlen schienen auch Helena wieder belebt zu haben. Unter Schmerzenslauten versuchte sie sich auf ihre eigenen Beine zu stellen. Es misslang ihr wie einem neugeborenen Reh. Ihre Beine zitterten durch die Angst und ihre Hände griffen nach etwas woran sie sich klammern konnten, damit der Körper nicht einfach umfiel. Ich versuchte sie so gut es ging zu stützen, doch saß auch mir der Schock in den Knochen.
„Schnell wir müssen weiter. Irgendwohin in bewohntes Gebiet.“
Meine Stimme klang brüchig und gehetzt. Immer wieder sah ich zu dem Wald rüber den wir so fluchtartig verlassen hat, doch gab es keine Anzeichen auf Verfolger. Wir setzten uns zwar wieder in Bewegung, aber wesentlich langsamer als zuvor. Zu meiner Überraschung und unendlichen Freude entdeckte ich schon nach relativ kurzer Zeit einige Häuser. Ein Dorf. Ein kleines Bauerndorf musste es sein, worauf wir zuliefen. In steigender Euphorie rannten wir fast schon bis wir die erst Häuser erreichten. Wir liefen noch ein bisschen weiter ins Dorf, dann übermannte mich die Erschöpfung und ich brach zusammen und verfiel in weiche Bewusstlosigkeit.

Kapitel 22 - Die Gastgeber


Ich schlug die Augen auf. Es war weich. Der Untergrund worauf ich lag war weich. Ich setzte mich auf und tastete ungläubig das schöne Bett ab. Es war wirklich da und ich hatte darin gelegen. Aber hatte ich nicht gerade noch auf der Straße gelegen? Schnell sah ich mich in dem Zimmer um. Einige klobige, verstaubte Möbel standen darin. Sie waren von einer dicken Staubschicht bedeckt, aber schienen vor kurzem erst herum geschoben zu sein. Das Bett selbst war auch alt, aber entstaubt und frisch bezogen. Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen meine Jacke und mein Schmuck, darunter standen meine Stiefel. Ich betrachtete kurz meine Hände um festzustellen, dass sie nicht mehr blutbesudelt waren. Irritiert stand ich auf und ließ mich direkt wieder aufs Bett fallen. Schwäche steckte in jedem Muskel. Ich hatte viel Kraft verbraucht. Ein neuer Gedanke schoss mir durch den Kopf. Helena. Hastig sah ich mich nochmal um und bemerkte erst jetzt wirklich, dass das Zimmer dunkel war. War es Nacht, oder waren nur die Vorhänge daran schuld. Ruhiger als zuvor stand ich auf und balancierte einige Sekunden, um sicher zu stehen. Am Fenster angekommen schob ich die Vorhänge ein wenig zur Seite und öffnete die Fensterläden einen Spalt breit. Schwaches rötliches Licht drang in den Raum. Morgenröte. Ich sog die schöne, frische Luft ein und sah mich noch einmal um. Ich durchschritt das Zimmer und bemerkte, dass hinter einem riesigen, alten Schrank ein weiteres, baugleiches Bett stand in dem Helena zusammengekauert schlief.
Erleichtert ließ ich mich einfach auf den Boden sinken. Zu schwach, um überhaupt noch den kleinen Finger zu rühren. Ein paar Minuten verbrachte ich so liegend auf dem Boden, bis ich mich wieder aufrichtete.
Die Tür in der linken Ecke des Zimmers war schnell ausgemacht und ich tapste unbeholfen darauf zu und öffnet sie. Ein schmaler Gang lag vor mir, von dem mehrere Türen abgingen. Aus einem der Zimmer kamen gedämpfte Gespräche und leise Musik. Ich versuchte leise zu der Tür zu schleichen, um die Situation auszuspähen, stieß jedoch gegen einige Putzutensilien die geräuschvoll umfielen und wohl jeden aus dem Tiefschlaf geholt hätten. Entsprechend meiner Befürchtungen öffnete sich die Tür und eine Frau trat heraus. Sie war schlicht gekleidet, Jeans und ein weißes T-Shirt, und ihre Haare waren noch halb nass, wohl frisch gewaschen. Die braunen Fransen hingen in ihr hübsches Gesicht und sie fing an zu lächeln.
"Ah du bist endlich aufgewacht. Das ist schön, wir dachten schon, ihr wacht gar nicht mehr auf. Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?"
Ich war sprachlos. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.
"Entschuldige, dass ich dich so überfalle. Komm doch in die Küche und iss erst mal was, dann kannst du uns vielleicht auch erzählen, was passiert ist."
Sie ging auf mich zu und versuchte mich so gut es ging zu stützen. Hinter uns knarrte etwas. Helena lugte durch die eben noch geschlossene Tür hindurch. Sie blinzelte gegen das Licht im Flur und kam langsam auf uns zu.
"Helena", sagten die fremde Frau und ich im Chor, woraufhin ich die Frau verwirrt ansah. Langsam verstand ich nichts mehr. Die Frau führte mich in eine kleine, aber bequeme Küche, in der auch ein Esstisch Platz gefunden hatte, an dem ein Mann und anscheinend die Tochter der Familie saßen. Beide sahen mich kurz, aber freundlich an und ich ließ mich auf einen Stuhl sinken. Helena nahm neben mir Platz und die Frau brachte nach kurzer Zeit Kaffee, Tee, Saft und Wasser, außerdem Brötchen, woraufhin ich mich erst einmal an dem reich gedeckten Frühstück gütlich tat. Indessen erzählte mir Helena, dass sie schon gestern Abend aufgewacht sei, diese Leute uns aufgenommen hatten und uns versorgt hatten. Natürlich alles auf Deutsch. Mir hätte irgendwie in den Sinn kommen sollen, dass man nicht ungesehen, blutbespritzt am helllichten Tage durch ein Dorf rennen konnte. Diese netten Leute hatten uns aufgenommen, doch fast das gesamte Dorf war informiert und war wohl auch gespannt auf unsere Erklärung. Helena hatte nichts erzählt. Wie auch? Sie war die Hälfte der Zeit bewusstlos gewesen und wollte wohl lieber meine Einfälle abwarten. Also hatte sie erklärt, dass sie nicht sehr gut Polnisch konnte und sie doch lieber auf mich warten sollten. Kluger Schachzug. So mussten wir uns weder absprechen, noch zusammen stimmige Geschichten erzählen.
Nach meiner ausgiebigen Fressorgie fühlte ich mich direkt besser. Langsam füllte sich mein Körper wieder mit Leben. Ich machte einige Schritte durch die Küche, bis ich mich wieder setzte und in 3 wartende Gesichter blickte. Helena nippte an ihrem Kaffee und sah mich unsicher von der Seite an.
"Du scheinst dich ja schnell erholt zu haben, Akio. So heißt du doch, oder? Jedenfalls meinte Helena das und, dass du mehr mitbekommen hättest. Stimmt das, oder willst du nicht darüber reden?"
Der Mann sah mich mit großer Neugierde an, doch überwog seine offensichtliche Sorge. Vielleicht dachten sie auch, ich könne wegen dem Schock nicht mehr sprechen. Sollte ja manchmal passieren. Ich atmete tief durch.
"Ja, ich bin Akio, das stimmt. Wie viel hat Helena Ihnen denn schon erzählt?"
"Nur, dass ihr auf dem Weg Bekannten wart und mitten auf dem Weg bricht ihre Erinnerung ab. Das ist alles was wir wissen. Kannst du uns bitte erzählen woher das ganze Blut an euch kam? Alle im Dorf haben schreckliche Angst."
Er sah zu Boden und ich hörte seiner Stimme an, dass er auch um sich und seine Familie fürchtete. Ich entschied mich für die Wahrheit, wenn auch in etwas abgeänderter Form. Ruhig begann ich zu erzählen.
"Ich glaube, Ihre Angst ist nicht ganz unbegründet. Helena und ich waren auf dem Weg zu Freunden von mir, als ich etwas in dem Wald neben uns gehört habe. Ich wollte nachsehen, was es war und ging tiefer in den Wald, bis ich zu einer Lichtung kam."
Mein Mund wurde trocken und der Geschmack des Kaffees wurde schal. Die Bilder des Massakers tanzten wild vor meinem inneren Auge und mich überkam dieselbe Übelkeit. Mit leichtem Zittern in der Stimme wollte ich nun die Geschichte zu Ende führen.
"Dort lagen mehrere dutzend Menschen. Sie waren alle tot und inmitten dieses Blutbades stand ein Mann. Ich war wie erstarrt, sodass ich nichtmehr weglaufen konnte. Er hat mich gepackt und wollte mich wohl zu seinem nächsten Opfer machen. Dann kam seine Komplizin auf die Lichtung und hat Helena mit sich geschleppt. Sie war schon bewusstlos. Dann ging alles so schnell. Ich hab ihm wohl meinen Ellenbogen in den Magen gerammt und irgendwie auch die Frau überwältigen können, habe mir Helena geschnappt und bin gelaufen, ohne zurück zu schauen. Helena ist auf halber Strecke aufgewacht und so sind wir wohl hier gelandet." Meine Augen waren feucht und mir würde wohl im Moment jeder das traumatisierte Mädchen abkaufen. So auch die 3 Menschen, die mich jetzt geschockt ansahen. Von ihrer gerade noch an den Tag gelegten Fröhlichkeit war nichts mehr geblieben. Die Mutter wurde leichenblass und auch ihr Ehemann passte sich mehr und mehr der kalkweißen Wand hinter ihm an. Nur die Tochter schien ungerührt.
"Schöne Geschichte. Klar, ein Massenmörder geht in den Wäldern um und zwei Fremde finden stolpern darüber und entwischen ihm. Ich kenne Städter und ihr denkt man könnte uns Landvolk einfach für dumm verkaufen, aber die Story könnt ihr jemand anders erzählen."
Ich zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Das Mädchen sah mich hart und voller Abscheu an, als erwarte sie ein augenblickliches Geständnis all meiner Lebenssünden. Ich musste mich wirklich sehr beherrschen, sie nicht zu bitten, selbst nachzuschauen und doch bitte dem Irren in die Hände zu fallen. Langsam entspannte ich mich wieder und zählte in Gedanken bis Zehn und hoffte auf das Verrauchen meiner Wut. Zu den Eltern gewandt fuhr ich fort.
"Ich bitte Sie inständig. Schicken Sie einige Leute in den Wald zu der Lichtung. Die Körper liegen bestimmt immer noch dort und es muss die Polizei gerufen werden. Ich flehe Sie an!" Helena sah mich von der Seite entgeistert an. In ihrem Kopf lief wohl das Szenario ab wenn 20 Menschen auf den Vampir und seine Freundin stießen und dasselbe Schicksal, wie die Toten teilen würden. Aber ich wusste, dass er schon lange weg war. Zum einen wäre es schrecklich dumm gewesen dort zu bleiben und zum anderen war der Geruch von verwestem Fleisch für uns Untote schlimmer als für jeden Menschen. Es bereitete uns fast physische Schmerzen, denn es war der Geruch dessen, wovor wir alle geflohen waren. Dem Tod. Für mich war der Geruch zwar auch nicht schön, aber ich konnte ihn ertragen, was einzig und allein meinem Alter zuzurechnen war. Die beiden Vampire aus dem Wald waren jedoch zwar mächtig, aber nicht alt genug gewesen, um ein solches Leichenfeld lange zu ertragen. Eine Ironie des Schicksals, dass gerade ihre Opfer sie nun vertrieben. Die basslastige Stimme des Familienvaters riss mich je aus meinen Überlegungen.
"Gut. Es kann ja nicht schaden einmal nachzusehen ob etwas passiert ist. Sollte es aber nicht der Fall sein wird es viel Ärger geben."
An diesem Mann war ein wahrer Diplomat verloren gegangen. Er hatte durch diese Art der Lösung sowohl seine eigene Sorge, meine Bitte und den Missmut seiner Tochter befriedigt.
"Denkt ihr, dass ihr uns heute noch zu der Lichtung führen könnt und dass es eure Verfassung zulässt?", wand er sich nun wieder an Helena und mich.
Helena sah mich verstohlen an und ich nickte.
"Ich werde die Leute zu der Stelle führen und Helena wird hier bleiben. Sie ist nicht in der Verfassung sich das noch einmal anzutun. Ich hoffe dieser Irre ist nichtmehr dort."
Er sah mich an mit diesen tiefen braunen Augen, die schon so viel gesehen hatten und sie musterten mich genau. Ich wusste, dass dieser Mann sofort erkennen würde, dass ich nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, wenn sich auch nur ein Gesichtsmuskel zur falschen Zeit spannte. Einige Herzschläge lang versuchte er wohl mich zu verunsichern, doch brachte man eine knapp 600 Jahre alte Heerführerin nicht durch ein paar Blicke dazu solche taktischen Fehler zu begehen.
"Ich bin in einer Stunde mit ein paar Männern zurück und dann führst du uns zu dem Ort."
Nach dieser knappen Anweisung stand er auf und verließ das Haus. Ich trank meinen, inzwischen kalten, Kaffee aus, bedankte mich für das Essen und verließ die Küche in Richtung des Zimmers, in dem unsere Sachen lagen. Helena folgte mir wie ein treuer Schatten. Während der nun folgenden Stunde versuchte ich ihr alles zu erklären und beruhigte sie ausreichend, dass sie wieder lächeln konnte. Anscheinend war die Gute doch nicht so schwach, wie sie es selbst gerne darstellte. Sie hatte den Schrecken schnell verwunden, aber wollte trotzdem lieber hier bleiben. Wer konnte es ihr verübeln? Sie wollte so lange dankeshalber zur Hand gehen, was ich für eine gute Idee befand. In der Zeit des Gesprächs hatte ich eine Blutkonserve aus meinem Rucksack genommen und mir genüsslich zu Gemüte geführt. Jetzt war selbst die letzte Faser und der letzte Muskel wach und bereit eine Gruppe von Ahnungslosen zu einem traumatischen Erlebnis zu führen. Aber das musste leider sein.

Kapitel 23 - Entdeckung und Erinnerung


Die Männer waren ein bunt zusammen gewürfelter Haufen von einfachen Menschen. Jeder von ihnen hatte sichtlich Angst vor dem, was sie erwarten würde. Inzwischen hatte ich auch jegliche Versuche aufgegeben, wie ein verstörtes Mädchen zu wirken, sondern ging mit festen Schritten voraus die Straße entlang. Irgendwann schlug ich mich, mehr einer wagen Ahnung nachgehend in den Wald und roch schon bald wieder das Massaker, doch jetzt war der Geruch verändert. Es war nichtmehr die bedrohliche Süße, die die Luft schwängerte, sondern nur noch die beginnende Verwesung und der Tod, der diese Menschen in Form eines verrückten Untoten ereilt hatte. Meine Schritte wurden immer schneller, hecktischer und bald schon rannte ich, von Ästen und Büschen unbeeindruckt durch den Wald. Ich wurde immer schneller, bis ich die Lichtung erreichte und erneut bot sich mir der Anblick des Schreckens. Wenige Sekunden später stolperten die ersten meiner Verfolger auf die Lichtung. Völlig außer Atem und übersät mit kleinen Schnitten und Abschürfungen standen sie nun da. Viele drehen sich direkt um und erbrachen ihr Frühstück in den nächstbesten Busch. Fast alle zogen ihre Hemden und Jacken vor Mund und Nase und würgten leicht.
Die Lichtung war voller halb verwester Leichen. Alle befanden sich in einem unterschiedlichen Zustand der Verwesung. Einige waren bereits von Maden zerfressen und schauten aus leeren Augenhöhlen, andere sahen aus als würden sie gleich aufstehen und mit mir reden. Die beiden Untoten waren weg, verschwunden von diesem Ort ihrer Mordlust, aber ich konnte noch ihre Existenz an diesem Ort spüren. Sie hatten hier sehr lange gelegt und sich wahrscheinlich an dem reichen Angebot der umliegenden Dörfer gelabt. Männer, Frauen und selbst Kinder lagen dort in ihrem eigenen Blut, halb leer getrunken und von den Krähen zerhackt.
Ich ging langsam auf eine der Leichen zu und griff in eine der Jackentaschen. Es wurde eine fleckige Brieftausche zutage gefördert, die eine kleine Summe Geld und diverse Karten enthielt. Nachdem ich schnell seinen Wohnort ermittelt hatte, wiederholte ich dies mit fünf anderen Leichen. Sie alle stammten aus der Gegend und zwei waren sogar verheiratet. Wahrscheinlich hatten sie gleich die ganze Familie mitgenommen, damit das Verschwinden nicht sofort auffiel. Es war gedacht in der Art eines Vampirs, aber ausgeführt in der eines Menschen. Stupide, brutal und kurzsichtig. Die meisten der Leute waren kaum blutleer, eher angetrunken, mal eben genippt nur um den Geschmack auf den Lippen zu spüren. Ekelhaft. Ein Vampir tötet nur im Notfall und selbst dann nutzt er jeden Tropfen Blut und verschwendet kein Leben sinnlos. Diese zwei hatten sich über die höchsten Gebote der Vampire hinweg gesetzt und dafür würden sie ihre Strafe empfangen. Mit diesem Gemetzel würde sich keine menschliche Justiz beschäftigen, sondern der oberste Rat der Vampire, wenn nicht sogar die Overen, da sogar ich in die ganze Sache verwickelt war. Apropos menschliche Justiz. Ich drehte mich wieder zu meinen Begleitern um, die sichtlich versuchten die Fassung zu bewahren.
"Großer Gott im Himmel, wer tut so etwas?!", entfuhr es dem Ersten der seine Sprache wiederfand.
"Gott hat hiermit wohl wenig zu tun. Eher ein völlig kranker Irrer, der hier ein Massaker veranstaltet hat."
"Freddy, ruf sofort die Polizei und der Rest fasst hier nichts an." Die tiefe Bassstimme des Familienvaters drang wie ein Speer durch die entsetzte Stille, die über der Lichtung gehangen hatte. Ein Mann, vermutlich Freddy, versuchte mit zittrigen Fingern sein Handy zu bedienen, was ihm misslang. Ich nahm das Telefon, wählte die Nummer und drückte ihm das Ding genauso schnell wieder in die Hand, wie ich es ihm abgenommen hatte. Anfänger, dachte ich missmutig. Alle waren damit beschäftigt, sich die Leichen anzusehen, oder den Wald nach Spuren des Massenmörders zu durchsuchen. Ich bat einen der Männer indessen, mir sein Handy zu leihen. Meins hatte ich natürlich bei den anderen Sachen und Helenas und meinem Zimmer gelassen. Nach wenigen Minuten eines sehr kurz angebundenen Gesprächs hatte ich Josef über den Vorfall informiert. Er war sehr besorgt. Die Rebellen wurden immer dreister und scheuten keine direkten Konfrontationen mehr. Ich sollte trotzdem noch unsere Leute suchen, aber kein unnötiges Risiko eingehen. Mir gefiel der Gedanke nicht, dass irgendwo Vampire, mächtiger als ich, herum liefen die mich töten wollten, endgültig.
Entfernt hörte ich mit meinen scharfen Sinnen bereits den Nerv tötenden Lärm der Sirenen. Sie klangen so scharf, monoton und kalt, dass sie nicht zu diesen Drama passen wollten, das sich auf der Wiese vor mir zeigte. Die Männer waren immer mehr zum Rand der Lichtung zurück gewichen und versuchten so gut es ging den Kontakt mit den Toten zu vermeiden. Ich hatte mich an einen Baum lehnend hingesetzt. Mein Blick ging gen Himmel, der so blau und friedlich schien wie immer. Langsam schlossen sich meine Augen und ich atmete tief durch. Der Geruch des Todes und des Blutes hing in der Luft und ließ sie süß und schwer riechen. Zu diesem Gemisch kam nun auch der Duft der Angst, verströmt von vielen Menschen, doch sie fürchteten sich nicht vor dem was geschehen war sondern vor dem was da kommen würde. Auch ich spürte Angst, doch kroch mehr der Hass in mir hoch.
"Heerführerin, wie lauten Eure Befehle?", hörte ich eine Stimme neben mir. Ich öffnete die Augen und sah in die harten Augen eines Kriegers, der mich wartend anblickte.
"Wir warten auf ihren ersten Schritt. Sie werden schnell die Geduld verlieren und dann werden wir ihre Strategie erahnen können", sagte ich routiniert.
Mein Blick ruhte auf den Truppen, die gut 400 bis 500 Meter entfernt Stellung bezogen hatten und plötzlich in hecktische Betriebsamkeit geraten waren.
"Macht euch bereit!", rief ich zu den Männern die hinter mir standen und meine Offiziere gaben den Befehl weiter.
Die geschätzt 2500 Mann vor mir setzten sich in Bewegung. Ich atmete tief durch und betete zu Gott, dass er uns nicht untergehen ließ und drehte mich um.
"Männer! Wir kämpfen gegen die größte bekannte Armee unter Führung des Sultans Memet, aber wir kämpfen für unser Land! Dieses Land in dem unsere Familien leben und es soll nicht erneut unter die Knechtschaft der Osmanen fallen. Dafür werden wir heute unsere Waffen in ihre Herzen stoßen und ihnen auf ewig die Zähigkeit und den Mut der walachischen Krieger zeigen! Und nun folgt mir in diese Schlacht!" Diese Worte hatte ich so laut gerufen, dass jeder aus meiner Truppe es gehört hatte. Blut würde das Gras tränken und viele würden sterben. Ich ritt zusammen mit der 2. Angriffswelle auf unseren übermächtigen Feind zu. Immer wieder hörte ich Schlachtrufe der beiden Parteien, wovon eine hier ihr Ende finden würde.

Kapitel 24 - Misstrauen


Ich erwachte. Fort waren die Armeen und ihre Geräusche, fort das Blut und der allgegenwärtige Tod. Nur ich saß an den Baum gelehnt, abgewendet von dem Szenario, dass ich immer noch auf der Lichtung bot. Ich holte tief Luft. Dass mich meine Vergangenheit schon wieder einholen würde, hätte ich nicht gedacht. Gerade wollte ich mich aufrichten, als etwas über mir die Sonne verdeckte.
„Ach, auch schon wieder wach? Dass du hier schlafen kannst finde ich mehr als zweifelhaft. Ich trau dir nicht. Irgendwas stimmt nicht mit dir und deiner Freundin und ich finde auch noch heraus was. Hast du keinen Respekt, dass du hier mit den vielen Leichen schlafen kannst?!“ Die Tochter unserer Retter stand vor mir mit verschränkten Armen und grimmigem Gesicht.
„Eine Stresserscheinung. Spontanschlaf“, log ich, wenn auch sehr miserabel. Verdammt, sie brachte mich aus dem Konzept. Sie war zwar nur ein Mensch, aber von ihr ging eine Energie aus, die einen dazu bringen konnte Fehler zu machen, fatale Fehler.
„Für was Spontanes hast du’s dir aber sehr bequem gemacht. Erst durchsuchst du Leichen und dann legst du dich schlafen. Komisches Verhalten. Und schau mich nicht so entgeistert an! Die anderen haben es mir erzählt. Wie du hier rumgelaufen bist, ohne einen Anflug von Angst. Ich schwöre dir, wenn du meiner Familie, oder meinem Dorf irgendwie Unglück bringst egal wie, dann wirst du es bereuen!“ Das ungute Gefühl in meiner Magengegend wurde immer schlimmer. Was war los mit mir? Hatte ich Angst? Vor einem Menschenmädchen? Und ich saß immer noch im Gras und musste so zu ihr aufsehen, was den Eindruck den sie machte nur noch weiter verstärkte.
„Ich…“, begann ich schwach, wurde jedoch sofort unsanft unterbrochen.
„Ach sei still. Egal was du sagst und was für Geschichten zu mir erzählen, ich falle nicht darauf herein wie meine Eltern. Du bist nicht zufällig hier rein geraten. Irgendwas hast du mit diesem ganzen Geschehen zu tun.“ Ich drückte mich inzwischen an den Baumstamm wie ein verängstigtes Kaninchen. Das durfte doch nicht wahr sein! Plötzlich ging eine Böe über die Lichtung und ihre Haare wurden zur Seite geweht. Dabei wurde der Blick auf zwei Ohrringe frei, die rötlich im Sonnenlicht glitzerten. Das war also der Grund. Manipulationssteine! Diese Manpus waren eigentlich der Schmuck von Dämonen. Mit diesen konnte man bestimmte Gefühle beim Gegenüber wecken ohne dazu dämonische Kräfte einsetzten zu müssen und so wohlmöglich noch entdeckt zu werden. Meistens war es jedoch reine Spielerei. Das mussten Angst- oder Einschüchterungsmanpus sein. Gegen diesen Effekt war selbst ich wehrlos, wenn ich mich nicht darauf einstellte ihre Kräfte abzuwehren. Aber woher hatte sie die? Dämonenschmuck in einem kleinen Dorf irgendwo im Nirgendwo? Ich baute langsam eine psychische Barriere auf, um den Einfluss der Manpus zu wiederstehen und langsam schwächte das Unbehagen ab. Ich atmete durch und stand auf um endlich kontern zu können.
„Sag mal bist du immer so misstrauisch? Ich hab schließlich dafür gesorgt, dass ihr überhaupt bemerkt habt was hier los ist. Ich versuche mich nützlich zu machen und du beschuldigst mich für das da verantwortlich zu sein? Und wenn du hier schon dich so aufführst, dann sei mal fantasievoller in deinen Anschuldigungen, Kleine.“
Endlich hatte ich meinen Normalzustand zurück. Das hatte gesessen. Die Kleine sah mich wie vor den Kopf geschlagen an und sagte erst mal nichts. Zumal sie etwas älter war, als ich. Sie war es wohl nichtmehr gewohnt Kritik zu hören, dank dieser Ohrringe.
„Was denkst du eigentlich? Du kommst in unser Dorf, zusammen mit deiner kleinen Freundin und plötzlich passiert hier etwas so Schreckliches. Und dann spazierst du hier locker herum und siehst dir Tote an. Jeder normale Mensch läge jetzt noch im Bett und würde Angst vor diesem Ort haben, an dem ihm angeblich Schlimmes passiert ist. Ich trau dir nicht über den Weg. Und für dich heiß ich nicht Kleine, sondern Madelaine. Du wirst schon noch sehen was du davon hast.“ In ihren Augen funkelte es bedrohlich und die Manpus schienen immer stärker zu leuchten.
„Madelaine also. Wie kürzt man dich ab? Mad vielleicht? Das bedeutet verrückt. Pass auf dich auf, dass du nicht verrückt wirst. Es wäre schade um dich. Wirklich.“ Und das meinte ich auch so. Der Nachteil von Manpus war, dass sie aus Emotionen gemacht waren. Um diese zu kontrollieren bedurfte es eines starken Geistes und einer mächtigen Seele. Dämonen hatten diese von Haus aus. Schon durch unser Alter und unsere übernatürlichen Fähigkeiten waren wir für die Beherrschung von Manpus geeignet indem wir ihnen unseren Willen aufzwangen. Doch ein Mensch, vor allem ein so junger und unerfahrener, wie Madelaine war dem nicht gewachsen. Die Manpus würden sie langsam aber sicher Verrückt machen und ihren Effekt auf sie ausweiten. Sie würde verrückt werden, völlig paranoid und ihre Seele an die Manpus verlieren. Als Todesbotin war ich verpflichtet für die Sicherheit der Seelen zu sorgen, also auch für ihre. Als ob diese irren Vampire nicht schon genug gewesen wären. Hatte ich nicht irgendwann noch was von Urlaub gesagt und, dass wir das hier locker über die Bühne bringen würden? Hochmut kommt vor dem Fall. Wie tief falle ich wohl noch?

Kapitel 25 - Konfrontation

Ich musste die Manpus von Mad in die Finger bekommen. Irgendwie! Manpus in Menschenhänden waren gefährlich und zudem ein Verstoß gegen etliche Regeln. Wenn es zu einer Verzerrung ihrer Seele kommen würde, dann wären die Folgen für sie kaum absehbar. Sie konnte völlig apathisch werden, oder anfangen zu morden. Beides war keine Option. Ich verschwieg Helena, was in meinem Kopf herumgeisterte und lag nur mit geöffneten Augen im Bett. Helenas Atmen wirkte beruhigend, völlig friedlich, aber meine Gedanken rasten. Ich musste ihre Ohrringe stehlen und unter Verschluss halten. Nur wie? Ich konnte schlecht in ihr Zimmer marschieren und sie aus ihrem Schmuckkästchen nehmen. Obwohl. Konnte ich doch. Ich setzte mich kerzengerade im Bett auf. Nur was, wenn ich sie hatte? Mad würde sofort bemerken, dass sie weg waren und dann würde ich die erste Verdächtige sein. Am besten vergrub ich sie irgendwo etwas außerhalb. Ja, das sollte klappen. Schnell zog ich mich an und schlich mich so leise wie möglich aus dem Gästezimmer. Auf Zehenspitzen tastete ich mich bis zu Mads Zimmer vor. Ganz langsam und genauso leise öffnete ich die Tür, die zum Glück nur ein leichtes Knarren von sich gab. Hier übrigens eine weitere unwahre Vampirlegende: Wir können nicht durchs Wände gehen. Auch Dämonen können das nicht und müssen diese, wie jeder andere auch, kaputt machen, um hindurch zu gelangen. Nur Geistern war diese Fähigkeit vorbehalten. Diese waren sowieso eine sehr eigene Partei in der Unterwelt, aber genug davon. Madeleine schlief friedlich und drehte sich nur um, als ich ihr Zimmer betrat. Nur schwach schien das Mondlicht herein und erhellte den kleinen Raum. Auf einem kleinen Regal sah ich auch schnell ihr Schmuckkästchen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und gelangte immer näher zu meinem Ziel. Nur noch zwei kleine Schritte. Kaum stand ich vor dem Regal öffnete ich behutsam die Schmuckkiste und oben auf viel anderem Kram lagen sie. Die Ohrringe. Schnell steckte ich sie in meine Jackentasche und wollte mich gerade wieder auf den Rückweg begeben, als ich etwas Beunruhigendes hörte. Hinter mir knarrte es und zwei Füße kamen in hohem Tempo auf dem Boden auf.
„Du!“, vernahm ich nur noch Madeleines Stimme hinter mir. Verdammt. Das Fenster, links! Es war offen. Mit einem filmreifen Sprung entschwand ich durch dieses. Unsanft landete ich nach etwa 4 Metern auf dem staubigen Boden. Sofort setzte ich zum Sprint an. Mein Gesicht hatte sie nicht gesehen und verfolgen würde sie mich bestimmt nicht. Dachte ich. Hinter mir hörte ich etwas dumpf aufkommen. Mitten im Laufen drehte ich mich um und es war wirklich Mad, die mir hinterher rannte. Merkwürdigerweise komplett angezogen. So war das nicht geplant gewesen. Das Haus der Familie stand direkt an einem kleinen Waldstück, in das wir nun rannten. Ich hoffte darauf, dass sie in der Dunkelheit und dem unangenehmem Weg schnell die Verfolgung aufgab. Leider lag ich auch damit ziemlich falsch. Ich lief recht unbeeindruckt durch das Dickicht, wobei mir Äste und Zweige entgegen schlugen, unter denen ich meistens noch durch tauchen konnte. Madeleine zeigte bei meiner Verfolgung eine wirklich bewundernswerte Ausdauer, vor der ich unter anderen Umständen ehrlichen Respekt habt hätte. Sie hetzte mich immer weiter, bis wir bereits so weit in den Wald gelaufen waren, dass die Lichter des Dorfes kaum noch zu erahnen waren. Ich konnte schon lange nichtmehr allen Hindernissen so elegant ausweichen, wie zu Beginn der Jagd und schlug freiere Wege ein, wodurch Madeleine auch wieder an Boden gut machte. Verdammter Mist. Mir bleib nur noch, mich irgendwie zu verstecken. Ich bog wieder uns Unterholz ein, wobei ich mir wieder unzählige Schrammen zuzog. Komm schon Akira! In Rumänien hast du schon weitaus schlimmeres mitgemacht. Es wäre eine Schande, wenn du dich jetzt schon einer Sterblichen in Bedrängnis bringen lassen würdest! Ich drehte mich im Lauf um und konnte gerade noch erkennen, wie sie langsamer wurde. Geschafft! Ewig hatte sie dieses Tempo nicht mitmachen können. Ich wand meinen Blick wieder nach vorne und versuchte die ungefähre Richtung auszumachen, in der das Dorf lag. Ich musste vor Madeleine da sein, damit jegliche Anschuldigungen verrauchten. Meine vielen Schrammen verheilten schon. Wie wollte sie die Behauptung einer Waldverfolgung halten, wenn ich aussah, als sei ich gerade aus dem Bett gestiegen. Ich kicherte hämisch. Es war eigentlich sehr hinterhältig von mir, aber nun mal nötig. Ich blieb stehen und sah zum Himmel. Anhand der Sterne wollte ich die Richtung ermitteln. Ich drehte mich langsam um mich selbst, um einen Überblick zu bekommen, als es knackte. Es war nicht das Knacken von Holz, über das ein Fuchs lief, sondern das Bersten eines herumliegenden Astes unter erheblicher Gewichteinwirkung. Kein Tier in diesen Breitengraden verursachte ein solches Geräusch. Außer einem Menschen. Einem großen kräftigem Menschen. Einem Menschen, der sich bis zu diesem Zeitpunkt völlig lautlos bewegt hatte und nun keine Scheu mehr hatte, sich genau auf mich zu zu bewegen. Kurzum: kein Mensch. Ein Lachen. Vielleicht zwanzig, dreißig Meter entfernt. Vögel flogen auf und kleinere Tiere flohen. Ich erkannte die Stimme sofort. Dann ein Aufschrei. „Wer sind Sie?!“ Madeleine! Sie war ihm schutzlos ausgeliefert. Ich musste zurück. Ich war dafür verantwortlich, dass sie hier war, also musste ich sie auch aus dieser misslichen Lage befreien. Ich zog scharf die klare, kalte Waldluft ein und lief in die Richtung, aus der ich den Schrei gehört hatte. Schnell erreichte ich den schmalen Waldweg, auf dem er stand. Madeleine stand vor ihm, wie ein lebender Schild und sah mich ungläubig an. Kuruks Grinsen war mehr eine verzerrte Maske des Grauens. Reine Rachsucht sprang mir aus seinem Gesicht entgegen.
„Lass sie! Ich bin hier! Du hast erreicht, was du wolltest. Wie habt ihr mich so schnell wiedergefunden?“
„Eigentlich haben wir dich gar nicht gefunden. Wir hatten uns hier versteckt und überlegt, wie wir dich am besten zur Strecke bringen können und dann rennst du hier mitten in der Nacht herum und uns praktisch in die Arme. Sehr viel einfacher hättest du es uns nicht machen können“, schilderte er hämisch. Recht hatte er. Das war unvorsichtig und dumm von mir gewesen. Madeleine war nun mit hinein gezogen worden und wenn ich mir nicht ganz schnell etwas überlegte, würden wir bald beide unter der Erde liegen. Etwas raschelte im Gebüsch hinter mir. Kuruks Begleiterin kam daraus hervor und lächelte schadenfroh.
„Scimschel“, begrüßte er sie freudig. Anscheinend hatten sie selbst ihre menschlichen Namen abgelegt, um sich von diesen abzugrenzen.
„Lasst sie frei“, wiederholte ich meine Forderung mit solider Stimme. Ich wusste, dass ich keinerlei Druckmittel gegen sie in der Hand hatte, aber das mussten sie ja nicht direkt merken. „Du traust dich ja was“, kommentierte Scimschel sofort.
„Dich werden wir gleich töten und sie wird unser Frühstück“, erklärte Kuruk seelenruhig und sah Madeleine schon gierig an.
„Und wie wollt ihr mich töten?“, fragte ich gelassen. Sie mochten mir zwar im Kampf überlegen sein, aber sie hatten nicht die Mittel, um mich zu töten, jedenfalls nicht endgültig. „Nun“, flüsterte mir Scimschel plötzlich ins Ohr, „dafür haben wir uns schon etwas überlegt. Wir werden dich einfach in Stücke hacken und die Teile einzeln in Kisten schließen. Dann kannst du dich auch nichtmehr regenerieren und um die Kisten aufzubrechen bist du derzeitig zu schwach. Wir haben an alles gedacht, Prinzesschen.“ Furcht breitete sich rasend schnell in mir aus. Das konnte klappen. Sie hatten wirklich einen Weg, mich unschädlich zu machen gefunden. Madeleine wimmerte. Kuruk hatte sie im Nacken gepackt und hielt sie so still. Hilfesuchend suchten ihre Blicke mich. Doch ich war hilflos. Völlig hilflos. Schon spürte ich ein Messer an meinem Rücken und eine eiskalte Stimme hauchte in mein Ohr.
„Zuerst schneiden wir dir dein schwarzes Herz heraus. Das bringen wir den anderen als Geschenk mit.“ Der Stahl bohrte sich in meinen Rücken. Langsam quoll das Blut schon heraus und in meinem Kopf rasten die Gedanken. Jetzt war es aus. Vorbei. Ende der Vorstellung. An dieser Stelle würde ich mein Schicksal annehmen müssen. Bezwungen von zwei Abtrünnigen mit einem Messer. Peinlich. Sie drehte das Messer einmal herum, nur um mir Schmerzen zuzufügen und ich schrie auf. „Nein!“, hörte ich dumpf Madeleines Stimme. Sie würde mit mir untergehen. Dabei hatte sie doch nicht damit zu tun. Mein Blick wurde neblig und ich hörte alles nur noch durch einen Schleier aus Blut und Schmerzen. Kuruk lachte. Scimschel lachte. Madeleine wimmerte und schrie. Und ich? Ich war ruhig. Hatte ich das so schnell akzeptiert? Nein. Das hier war etwas anderes. Es war auch nicht, wie auf der Lichtung, als ich meine letzte Kraft zusammengenommen hatte. Dann bebte es in mir. In den Tiefen meiner Seele zitterte es. Irgendetwas tief in mir bäumte sich gegen dieses unrühmliche Ende auf. Immer stärker bebte und zitterte es. Scimschel hatte aufgehört das Messer zu drehen und sah mich ungläubig an.
„Schnell! Schneid ihr Herz raus!“, hörte ich Kuruk noch rufen, bis ich in meine Seele sank. Jetzt wusste ich, was sich da so sehr wehrte, was bebte. Das Siegel. Meine Kraft! Vor meinem geistigen Auge erschien das Siegel, das meine Macht von meinem Körper fern hielt. Es zitterte und plötzlich fühlte ich etwas. Ein Riss. Ein deutlicher Riss war auf dem Siegel zu erkennen und aus diesem Riss strömte etwas. Ein Teil meiner Kraft war wieder da. Sie durchströmte mich wie ein wohliger Schauer. Mein Blick klärte sich und ich riss die Augen auf. Kuruk stand noch fassungslos vor mir. Madeleine war auf den Boden gesackt und sah mich mit großen Augen an. Scimschel hatte schneller ihre Fassung wiederbekommen und stieß das Messer tiefer in mich. Als ob sie das noch retten würde. Ich griff mit beiden Händen hinter mich und umfasste ihre Handgelenke. Sie versuchte sich verzweifelt zu befreien, oder das Messer noch mehr in meinen Körper zu treiben, aber ich zog es langsam mit ihren Händen heraus. Auch ihre Versuche loszulassen scheiterten. Das Messer verließ meinen Körper und fiel auf den Boden. Er jetzt konnte sich Scimschel losreißen und fiel Rücklinks ebenfalls auf den Boden. „Das ist unmöglich“, stammelte sie, während sich meine Wunde innerhalb weniger Augenblicke schloss.
„Das ist nicht unmöglich. Ihr habt das, was in mir war geweckt.“ Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden. Endlich klang sie wieder, wie die der Vampirprinzessin und Seelenernterin. Kuruk sprang über Madeleine hinweg und attackierte mich mit voller Wucht von vorne. Ich wich leichtfüßig aus und kam am Wegesrand neben einer alten Eiche zum Stillstand. Ob es funktionieren würde? Ich musste es versuchen. Ich griff mit der rechten Hand in die Eiche, genau genommen in den Schatten auf dem Eichenstamm, sodass meine Hand bis zum Ellenbogen im Schatten war. Die beiden Vampire starteten derweilen einen neuen, gemeinsamen Angriff und kamen auf mich zu gestürmt. Scimschel, die Zähne voran auf zukam wich ich einfach mit dem Oberkörper aus und schlug ihr mit der linken Hand auf den Hinterkopf, worauf sie zu Boden ging. Kuruk war noch einige Meter von mir entfernt. Langsam zog ich meine rechte Hand aus dem Schatten, die nun etwas hielt. Der Länge nach zog ich einen Stil aus schwarzem Metall heraus. Nach zwei Metern Stil kam eine große, ebenfalls schwarz-silberne, gebogene Sensenklinge zum Vorschein. „Dunkelschnitter“, flüsterte ich leise. Ich ließ sie Sense einmal um meinen Körper kreisen, wobei ich meine Taille als Drehpunkt nutze, bis ich in Kampfposition war. Keine Sekunde zu früh. Kuruk war gerade bei mir angekommen. Ich duckte mich, samt der Sense, unter seinem linken Arm hindurch. In derselben Bewegung richtet ich die Sensenklinge nach hinten, drückte von oben auf den hinten Teil des Stils, wodurch die Klinge in einem Halbkreis nach hinten schnellte. Gerade noch rechtzeitig, um etwas oberhalb seines Ellenbogens zu treffen, wodurch der Arm, durch die Wucht seines Angriffs, vom Rest getrennt wurde und in die Luft flog. Ich zog schnell den Sensenstil wieder zu mir, um erneut in Angriffshaltung zu gehen. Der abgetrennte Arm landete genau vor mir und ich stellte demonstrativ meinen Fuß darauf. Kuruk kam zum stehen. Erst jetzt schien ihm der Verlust seines Armes aufzufallen, denn erst nun brüllte unter Schmerzen auf. Er drehte sich um. Seine blutunterlaufenen Augen fixierten mich. Sie waren fast gänzlich rot. Er verlor zunehmend die Beherrschung. Der nächste Angriff. Schneller. Wütender. Dies Mal wollte ich seinen Kopf erwischen. Die Klinge von Dunkelschnitter bestand aus schwarzem Tränensilber. Das sollte reichen um sein Leben zu beenden. Ich zerdrückte seinen Arm unter meinem Stiefel, woraufhin er noch mehr Kraft in seinen Angriff legte. Ich machte mich bereit. All meine Sinne waren im Kampf. Gleich würde ich ihn vernichten. Doch plötzlich spürte ich etwas an meinen Beinen. Scimschel! Sie riss mich zu Boden, wodurch ich zwar Kuruk nicht erwischen konnte, aber auch sein Angriff ins Leere ging. Ich rollte mich zur Seite und stand so schnell es ging auf um den nächsten Versuch zu unternehmen. Ich erwartete einen neuen Sturmangriff von ihm, doch der blieb aus. Scimschel klammerte sich nun an sein Bein und redete flehend auf ihn ein. „Kuruk! Wir müssen weg von hier! Wir müssen dem Orden erzählen, was passiert ist! Bitte beruhig dich, sonst tötet sie dich. Schnell!“ Sein Blick klärte sich und er sah hinunter zu seiner Partnerin, die aus einer Kopfwunde immer noch blutete. Anscheinend hatte ich sie doch stärker getroffen, als vermutet. Er nahm sie hoch, warf mir noch einen hasserfüllten Blick zu und verschwand dann im Unterholz. Ich ließ Dunkelschnitter langsam sinken. Natürlich hätte ich sie gerade angreifen können, aber das wäre unklug gewesen. Ich hatte jetzt das Überraschungsmoment auf meiner Seite gehabt, wodurch ich stärker gewirkt hatte, als ich wirklich war. Zum Anderen waren sie mir so wahrscheinlich dienlicher. Sie würden den anderen erzählen, dass ich wieder stärker sei. Das konnte ihre Fixierung auf mich erheblich dämpfen. Ich sank auf den weichen Waldboden und klammerte mich an Dunkelschnitter. Wie sehr hatte ich diese Sense vermisst. Meine Seelenernterwaffe. Geschmiedet aus meinem Blut, meiner Seele und meiner Kraft. Ich fühlte mich wieder ein Stück kompletter. Plötzlich hörte ich Schluchzen und sah aus. Madeleine.
„Was ist hier gerade passiert? Wer waren die? Wer bist du? Was soll diese ganze Scheiße?!“ Ich stand auf und ging langsam auf sie zu. „Bleib bloß weg von mir! Du hast gerade dieses Sensending irgendwo her gezaubert! Du bist auch wie die!“ Sie wurde zunehmend panisch. „Ich will dir nichts tun“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Das kannst du sonst wem erzählen! Was soll diese kranke Scheiße?!“ Sie rutschte immer weiter von mir weg. Bevor sie die Gelegenheit hatte aufzustehen und weg zu laufen, machte ich einen großen Schritt nach vorne, sodass ich genau vor ihr stand und berührte die äußere Schicht ihrer Seele. Langsam zog ich ihre ganze Verwirrung heraus, genauso wie ihre Erinnerungen der letzten Stunde. Ihre Augen wurde trübe und ihr Körper schlaff. Bevor sie vollends zur Seite kippte fing ich sie auf und nahm sie hoch. Dunkelschnitter ließ ich wieder in der Dunkelheit verschwinden, damit ich sie vernünftig tragen konnte. Sie schlief. Auf dem halben Weg zurück ins Dorf hielt ich kurz an und vergrub die Manpus tief im Waldboden. Im Haus der Familie angekommen zog ich Madeleine in ihrem Zimmer einen anderen Schlafanzug an und ließ den halb Zerrissenen  im Schatten verschwinden. Anschließend legte ich sie ins Bett. Sie würde sich, wenn sie aufwachte, an nichts erinnern. Höchstens ein paar kleine Schrammen würden ihre Aufmerksamkeit erregen, aber diese auch nicht über das normale Maß an Verwunderung. Ich schlich mich aus ihrem Zimmer, wieder in Helenas und meins. Helena schlief immer noch seelenruhig. Genau, wie ich sie zurück gelassen hatte. Schön, wenn man sich wenigstens auf etwas verlassen konnte. Ich zog mich schnell aus und kuschelte mich ins Bett. Das würde noch Folgen haben.

Kapitel 26 - Eine Nachricht und ihre Auswirkungen

Langsam wachte ich auf. Licht. So viel Licht. Verdammt. Wer hatte dieses verdammte Fenster aufgemacht? Wer wollte unbedingt ein frühzeitiges Ende finden? Ich grummelte inbrünstig und drehte mich auf die andere Seite. Weiterschlafen. Nein. Halt. Noch mehr Licht! Diese verdammten Fenster! Wütend schlug ich die Augen auf, bereit jedem und allem eine Kopfnuss zu verpassen, der mich daran hindern wollte die Fenster zu schließen. Dieser Gedankengang verpuffte jedoch augenblicklich, als ich in zwei große, grau-braune, besorgte Augen sah. „Helena“, hauchte ich kaum hörbar. „Aki.“ Ihre Augen waren wässrig. „Endlich bist du wieder hier und wach. Du warst mitten in der Nacht plötzlich verschwunden. Einfach so. Ich dachte schon, dir sei irgendwas passiert. Ich konnte fast nicht schlafen und ich war so glücklich als ich gehört habe, wie du zurück gekommen bist.“ Sie unterdrückte notdürftig ein Schluchzen.
„Tut mir Leid, Helena. Ich wollte wirklich nicht, dass du dir Sorgen um mich machst. Es war so wichtig und ich wollte dich nicht mit reinziehen. Das passiert eh schon viel zu oft und...“ Ich brach ab. Sei es die einfache Tatsache, dass sie Ereignisse der Nacht ihren Tribut forderten, oder, dass ich mich zum ersten Mal seit Ewigkeiten bei jemandem für mein Handeln rechtfertigen musste. Sie saß am Kopfende meines Bettes auf einem einfachen Korbstuhl, der bei jeder noch so geringen Bewegung knarrte. Ich setzte mich im Bett auf, um wieder mit ihr auf Augenhöhe zu sein und strich ihr kurz übers Haar. „Untotes Unkraut vergeht nicht“, sagte ich sanft. In diesem Moment wollte ich das einfach glauben. Langsam beruhigte sie sich und ihr Atem ging wieder langsamer und regelmäßiger. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers ihre Augen trocken und stand auf. Ich schwang meine Beine aus dem Bett, stand auf, aber brauchte einige Augenblicke um einen festen Stand zu finden. Helena war schon zur Tür gegangen und drehte sich nun um.
„Das Bad ist frei, ich war gerade da. Komm danach essen. Du siehst aus, als könntest du was zu essen gebrauchen. Übrigens: Hast du etwas mit Madeleines schlechter Laune zu tun?“ Ich lächelte schief. „Das könnte sein“, gab ich wage zu. Wahrscheinlich wusste sie, dass etwas passiert war. Nur eben nicht was genau. Während ich mich im Bad fertig machte, hörte ich Mad schon zetern. Wo ihr Schlafanzug sei, wieso ihre Hände und ihr Bett so dreckig seien und natürlich wo ihre Ohrringe wären. Außerdem fluchte sie äußerst ungehalten und verwendete unter Zuhilfenahme diverser unschöner Umschreibungen meinen Namen. Man könnte es insofern zusammenfassen, dass sie mich für alle Punkte ihrer Beschwerde verantwortlich machte. Ganz in Ruhe zog ich mich an, verließ das Bad, setzte mich in die Küche und begann in aller Seelenruhe zu essen. Helena, die mir gegenüber saß, schaute nur kurz verwundert auf, aber schüttelte nur eben den Kopf. Nach einigen Minuten stürmte Mad aufgebracht in die Küche.
„DU!“, schrie sie, aber schien nicht zu wissen, wie sie weitermachen sollte. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Fratze.
„Was ist mit mir?“, fragte ich liebenswürdig, während ein leichtes Lächeln meine Lippen umspielte.
„Ich weiß, dass du das warst! Ich weiß nicht, was letzte Nacht passiert ist, aber irgendwas ist geschehen und du warst es!“
„Interessant. Vielleicht solltest du zuerst die Anklage vorbereiten, bevor du mich beschuldigst, wegen irgendwas, wovon du selbst keine Ahnung hast? Ich bin gerade aufgestanden und du schiebst schon Terror? Was ist los? Schlecht geschlafen?“
Ihr Gesicht lief rot an und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich ihre Detonation für die nächsten paar Minuten angesetzt. Sie schlug mit der Hand gegen den Türrahmen und rauschte wieder ab. Die würde sich so schnell nicht wieder hier blicken lassen.
Ab jetzt beschäftigte sich meine Sorgen wieder mit dem eigentlichen Grund unserer Mission: den vermissten Vampiren. Ich  sollte noch einmal Josef anrufen, ob er neue Informationen hatte. Als ich nach draußen ging folgte mir Helena wie ein Schatten, als hätte sie Angst, dass ich nochmal verschwinden könnte. Es klingelt. Lange. Typisch Josef. Wenn man nicht mindestens zwei Minuten klingelte, meinte er, dass es nichts wichtiges sein konnte. Dann ein Knacken in der Leitung.
„Ja, hier die Paktvertretung, Josef hier.“
„Hallo, Akira hier. Gibt es neue Informationen zu den Vermissten? Wir wurden hier etwas aufgehalten. Frag am besten nicht, wovon.“
„Ach Prinzesschen“, flötete der alte Mann fröhlich. „Ich habe ja völlig vergessen dir Bescheid zu sagen.“
„Bescheid sagen?“, fragte ich langsam und in meinem Hinterkopf bildete sich bereits eine Ahnung, aber nein bestimmt nicht, nein.
„Ja, wegen der Vermissten, beziehungsweise jetzt Ex-Vermissten. Genau genommen waren sie nie weg, oder nicht da, je nachdem wie man das jetzt auffasst…“
„Josef, klar und deutlich“, knurrte ich, während mein Geduldsfaden immer kürzer wurde.
„Eigentlich hatte man mir nur vergessen zu sagen, dass sie schon lange hier sind. Schlampige Kommunikation, du weißt ja. Passiert manchmal. Jedenfalls sind alle wohlauf und trudeln hier langsam ein. So hattest du wenigstens ein wenig Urlaub, nicht wahr?“ Er fing an laut und fröhlich zu lachen. Wortlos ließ ich meine Hand mit dem Handy sinken, aus dem immer noch sein Lachen schallte und legte ohne weiteren Kommentar auf. Mein Blick verfinsterte sich und Helena ging instinktiv einige Schritte zurück. Ein leichter Wind strich über den kleinen Hof neben dem Haus, auf dem wir standen. Totenstille. Plötzlich schrie ich auf, zog Dunkelschnitter aus meinem eigenen Schatten und spaltete mit einem blitzschnellen Handgriff den Boden direkt vor mir, sodass die Klinge zitternd stecken blieb. Ich knurrte leise und fletschte meine Vampirzähne. Langsam hob ich meinen Kopf wieder, der bis dahin starr zu Boden gerichtet war und zog die Sense aus dem gespaltenen Boden, wischte den Staub ab und ließ sie wieder in den Schatten sinken. Helena stand sprachlos und mit geweiteten Augen da. „Das hier ist nie passiert und wir werden nie wieder ein Wort darüber verlieren, klar? Das mit der Sense erklär ich dir später“, knirschte ich und ging wieder ins Haus. Idiotisches Pack!

Also fuhren wir einfach wieder nach Berlin, ohne unseren eigentlichen Auftrag erledigt zu haben. Wie auch? Eigentlich gab es ihn ja gar nicht. Und dafür tingelte ich hier durch die Gegend. Nur weil diese hirnlosen Pfosten zu dumm waren mit einander zu reden. Diese verdammten Pfeifen! Leben schon ein paar Jahre länger als alle Menschen und sind mit solch einfachen Aufgaben überfordert. Pack, Verdammtes!
Auf die Weise brodelte ich dann auch die gesamte Rückfahrt vor mich hin und murmelte einige Verwünschungen vor mir hin. Helena hatte sich hinter einem dicken Wälzer versteckt und versuchte sich unsichtbar zu. Nicht, dass diese 600 Seiten einen reellen Schutz vor mir boten, aber allein die Tatsache, dass sie sich traute im selben Abteil wie ich zu sein, war bewundernswert. Josef hatte mir zur Entschuldigung eine Nachricht gesendet. Ich glaube ihm zwar kein Wort davon, da er wahrscheinlich immer noch lachte, aber es machte auch keinen Sinn sich noch sehr lange darüber aufzuregen. Letztendlich wusste ich ja, wie er war. Es war Josef egal, dass ich eigentlich älter war und eigentlich über ihm stand, er hatte immer diese vertraute Art. Allmählich verrauchte mein Zorn und ich konnte wieder normalen Gedanken, ohne wüste Beschimpfungen meiner eigenen Art. Ich musste auch unwillkürlich lächeln. Es hatte ja auch sein Gutes gehabt. Kuruk und Scimschel würden ihren Leuten von meinem gelungenen Auftritt berichten und mich vielleicht dann nichtmehr als Hauptziel betrachten. Zum anderen hatte ich meine geliebte Sense wieder. Die wahre Waffe einer Seelenernterin. Diese wurden auf ganz spezielle Weise hergestellt. Wurde man in den Stand eines Seelenernters erhoben wurde eine individuelle Waffe angefertigt. Die Bestandteile dafür waren Blut, Tränen und Seele des zukünftigen Besitzers. Daraus wurden dann über dem Höllenfeuer die Waffen geschmiedet. Was für eine Waffe jeder einzelne erhielt konnte man nicht bestimmen. Der Schmied der Höllenflammen meinte, dass die Zutaten selbst das entschieden. So erhielt ich meine Sense, Dunkelschnitter, im Alter von 87 Jahren. Als die mir damals einen Teil meiner Seele herausschnitten, dachte ich, ich würde noch einmal  sterben. Nur jetzt endgültig. Es war eine Art Prüfung, die darin beinhaltet war. Wer diesen Schmerzen nicht standhalten konnte, war nicht würdig ein Seelenernter zu werden. Ich hatte es nur knapp geschafft. Bis heute wusste ich nicht, welchen Teil meiner Seele sie in Dunkelschnitter eingeschmiedet hatten. Ich vermisste nichts in mir, aber trotzdem war da immer etwas außerhalb von mir, dass sich so nach mir anfühlte, wenn Dunkelschnitter da war. Endlich hatte ich meine Sense wieder, dachte ich selig lächelnd. Helena lugte über den Rand ihres Buches. Ich lächelte. Sie sah mich kurz verstört an, schüttelte leicht den Kopf und las weiter. Langsam hielt sie mich wohl auch für etwas geisteskrank. Wahrscheinlich gut so. Wieder in Berlin angekommen wurden wir von allen herzlich begrüßt. Es bot sich das übliche Bild einer Familie, die Nachwuchs, samt Freundin nach alleinigem Urlaub vom Bahnhof abholten. So völlig normal. Natürlich verschwiegen wir das Massaker, den Leichenfund und die anderen unüblichen Geschehnisse. Helena stellte sich müde und ließ mich einfach irgendwas erzählen. Schnell brachten wir diese Pflicht hinter uns, brachten Helena zum Wohnheim und fuhren nach Hause, wo ich natürlich nochmal ausgefragt wurde. Als ich endlich in mein Zimmer gehen konnte lagen auf dem Tisch einige Briefe und ein so auffällig unauffälliger Zettel, dass ich diesen zuerst las. Misu hatte ihn mir hinterlassen und in der Sprache der Unterwelt mitgeteilt, dass es in letzter Zeit einige Anomalien bei den Seelen dieser Gegend gab. Außerdem solle ich aufpassen. Wovor hatte er natürlich geschickt verschwiegen. „Ganz oder gar nicht“, murmelte ich in mich hinein. Solche überflüssigen Warnungen konnte ich auch gleich in den Wind schießen. Wie ich mein Glück kannte, würde ich es eh schneller herausfinden, als mir lieb war.

Kapitel 27 - Ein neuer Feind und neue Probleme?

Ein paar Tage lang geschah nichts Außergewöhnliches. So fern schienen die Revolutionäre, die Probleme bei der Gesellschaft und alles andere. Ich hatte Onkel Vlad eine Nachricht zukommen lassen, dass er sich Josef zur Brust nehmen solle. Die Antwort war genauso kurz, wie aufschlussreich. „Habs versucht. Ehrlich. Er hat gelacht. Ich bin ein Overer, verdammt! Langsam vermute ich, dass er über uns steht. Pass auf dich auf! Sonst tu ich’s!“ Damit war das wohl erledigt. Gegen Josefs Art und Weise kam man nicht an und am Ende konnte man es ihm nicht mal übel nehmen. Helena hatte auch aufgehört diese Situation innerlich zu hinterfragen, was sie getan hatte, ich wusste es, und hatte es mit stiller Akzeptanz hingenommen. Eines Nachts, Misu hatte mir wieder normale Aufträge überbracht, machte ich mich gerade bereit zum Abflug, als ich etwas aus dem Gang hörte. Helena war im Wohnheim und der Rest der Familie schlief, also was war das? Ich öffnete meine Tür einen Spalt breit und starrte den Gang entlang, bis zur Treppe, die an der Wohnungstür endete. Es war nichts Verdächtiges zu sehen. Ich schüttelte den Kopf und schloss leise die Tür. Wieder wand ich mich dem Fenster zu und wollte endlich losfliegen. Wahrscheinlich lagen meine Nerven noch blank. Dann ein Poltern. Diesmal lauter. Aus dem Hinterhof, wenn ich mich nicht vertat. Ich sollte das eventuell überprüfen, nicht, dass meiner Pflegefamilie in meiner Abwesenheit etwas passierte. Lautlos glitt ich durch das halboffene Fenster und landete auf der Garage. Noch ein Scheppern und eine leichte Erschütterung. Irgendetwas, oder irgendwer war sehr kräftig an der Wand aufgekommen. Ein kurzes Röcheln, dann Stille. Mist. Der Aufprall war von einem Mensch gekommen. Jetzt wollte ich erst recht wissen, was da los war. Ich hangelte mich elegant vom Garagendach und versuchte lautlos um die Ecke zu spähen. Ein Mann saß zusammengesunken an der Wand. Blut lief über sein Gesicht und er schien nichtmehr zu atmen. Halt. Waren das Vampirzähne? Und wo war der Typ, dem er diese schweren Verletzungen zu verdanken hatte. Und… Ich konnte den Gedanken nicht beenden. Eine riesige Klaue schoss aus der Dunkelheit. Sie wirkte fast wie aus Metall, mit einem mattsilbernen Schein und Blut klebte daran. Sie schloss sich um meinen Hals, meine Schultern und meine Oberarme und bohrte sich hinter mir in die Wand. Ich war völlig fixiert.
„Du?“ In den blutroten Augen vor mir blitze kurze Verwunderung auf, die jedoch sofort wieder dem hasserfüllten Blick wich. „Ich hätte es wissen sollen. Sie haben dich also auch geschickt, um mich zu töten.“ Ich konnte nicht reden. Mein Brustkorb war von der riesigen Klaue viel zu eingeengt. „Erst schleichst du dich ein, um mich in Sicherheit zu wiegen und dann willst du mich umbringen, mit diesen Idioten als Ablenkungsmanöver? Fast hätte ich dir vertraut, aber jetzt ist alles klar. Dann bekommst du ab jetzt die gleiche Behandlung, wie die anderen Häscher vor dir.“ Die roten Augen funkelten mich an. Ich war immer noch fassungslos. Langsam schloss sich die Klaue immer enger um meinen Oberkörper. Ein Krächzen entkam meiner Kehle. „Zero, bitte.“ Sein Griff verhärtete sich, aber er drückte nicht weiter zu. Er starrte mich nur an, als wollte er mich nur durch diesen Blick töten. Langsam bekam ich meine Stimme wieder.
„Zero, was…? Wieso…bist du einer von uns?“
„Einer von euch?!“ Er lachte eiskalt auf. „Ihr habt mich rausgeworfen. Vor 10 Jahren! Tu nicht so, als wüsstest du von nichts. Du wurdest doch auch nur von diesem verdammten Rat geschickt, um mich aus dem Weg zu räumen.“
„Der Rat? Dich aus dem Weg räumen? Ich verstehe nicht…“ Seine Augen bohrten sich fast schon in die Meinigen, aber ich gab nicht nach. Wieso auch? Ich wusste ja nicht, was hier los war. „Zero ich flehe dich an. Was ist hier los?! Wer waren die und wer bist du wirklich?“ Ich versuchte ihn so fest und ehrlich anzusehen, wie ich konnte. Verdammt. Seine Aura war sehr mächtig. Ich musste mich irgendwie aus dieser Umklammerung befreien, nur wie? Er war stärker als ich, soviel stand fest. Egal warum er so wütend war, wenn es sich auf mich entlud war das das Ende der Vampirprinzessin, alias mir. Ich hörte auf mich zu winden und wurde ruhig. Das brachte eh nix. „Zero. Wenn ich dich hätte umbringen sollen, warum auch immer, warum hätte ich dann bis jetzt warten sollen? Es hat schon zig Möglichkeiten gegeben, oder? Außerdem hätte ich mich dann doch nicht so dämlich angestellt, wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist. Dann hätte ich das Überraschungsmoment genutzt. Bitte Zero, lass mich los und wir reden darüber!“ Logik schien bei ihm Wirkung zu haben. Der griff lockerte sich, die Klaue wurde aus der Wand gezogen und ich sank kraftlos an der Wand zusammen, sodass ich nun im Staub des Hofes saß. Zeros Klauen wurden wieder zu Händen, seine Augen bekamen das übliche, kalte blau-grau und er ließ sich genau vor mir im Schneidersitz auf den Boden fallen.
„Gut, reden wir. Ich kann dich ja immer noch umbringen.“ Ich atmete tief durch und betastete vorsichtig meine Arme, auf denen sich deutliche Druckmale abzeichneten.
„Wenn du nicht hier bist um mich umzubringen, weshalb dann?“
„Ich bin eine Seelenernterin.“
„Du bist ein Vampir.“
„Ja, aber hauptberuflich Seelenernterin, zurzeit.“
„Und wieso ist man als Seelenernterin in Berlin, bei einer Menschenfamilie?“
„Unglückliche Umstände. Seh halt aus wie 17, also hat mich das Amt weitergeleitet. War nicht meine Absicht.“ „Aha. Und was macht man als Seelenernterin?“ „Seelen sammeln, um die Höllenflammen am brennen zu halten. Nebenbei bin ich eben die Vampirprinzessin, aber bin kaum beim Pakt.“
„Vampirprinzessin? Du bist…?“ Zum ersten Mal verlor er die Fassade der völligen Coolness und sah mich einfach nur groß an.
„Akira Feralia Draculäa. Vampirprinzessin und Seelenernterin. Als diese werde ich mir wohl nicht vom Rat irgendwas befehlen lassen, oder? Glaubst du mir langsam?“ Er rang einen Moment nach Fassung. Ihm dämmerte es wohl langsam, was hier los war.
„Wenn du wirklich die Prinzessin bist, warum hast du mich nicht einfach getötet, als ich dich angegriffen habe? Als Overe musst du doch stärker sein als ich. Da geht deine Geschichte nicht ganz auf.“
„Ich bin versiegel, du Trottel. Seit 30 Jahren jetzt schon. Ich bekomme es gerade so hin meine Sense zu ziehen und das hast du mit deinen Klauen geschickt unterbunden. Ich wäre dir im Moment im Kampf unterlegen.“
„Du spielst also mit offenen Karten?“
„Was bleibt mir anderes übrig? Entweder ich erzähl dir die Wahrheit und du bist vielleicht überzeugt, oder ich erzähle dir irgendeinen Mist und sterbe garantiert.“
„Hm.“ Schweigen. Zero dachte angestrengt nach. Nun hatte ich eine Frage. „Und jetzt erzählst du mir mal, wieso der Rat dir Häscher hinterher schicken sollte? Es ist dem Rat verboten, sich in Urteile einzumischen, wenn wir dich, wie du gesagt hast, rausgeworfen haben.“
Wieder lachte er kalt auf. Seine Antwort war genauso zynisch. „Glaubst du wirklich, dass diese Penner sich daran halten? Im Traum nicht. Die wollen mich tot sehen, weil ich eine Bedrohung für sie bin.“
„Ich versteh gerade nur die Hälfte. Ich glaube, dass ich einen Teil damals mitbekommen hab, aber da war ich weit weg vom Pakt…“
Er seufzte. „Willst du wirklich alles wissen? Aber mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn dein Weltbild, mit dem lieben Rat, dann in Trümmern liegt.“
„Bin ich dran gewöhnt. Und den Rat bete ich auch nicht gerade an, falls du das denken solltest.“
„Dann ist’s ja gut.“ Und dann fing Zero an mir seine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die ich bisher nur in zusammenhanglosen Fetzten gekannt hatte und sich mir nun eröffnete.

Kapitel 28 - Die Geschichte des Zero Lescartes

Zero war nicht, wie ich, als Mensch geboren worden, sondern er war bereits als Untoter auf die Welt gekommen. Ein geborener Vampir. Ebenso seltene, wie mächtige Wesen. Zeros Vater war Belisar Lescartes. Ein mächtiger und angesehener Vampir, der direkt von Vlad abstammte. Seine Mutter war eine von seinen Abkömmlingen gewesen, die ihm damit Gehorsam schuldig. An einem verregneten Herbsttag war dann Zero zur Welt gekommen, jedoch nicht als Ergebnis einer Liebe, sondern eines Plan. 9 Jahre lang wuchs er wie jeder andere geborene Vampir auf. Wohl behütet irgendwo weit weg von jeglichem Einfluss durch die Menschen und sogar durch andere Vampire. Belisar achtete steht’s penibel darauf, dass Zero keinen Kontakt zur Außenwelt hatte. Dieser hielt das für völlig normal. Er kannste es nicht anders. Hauptsächlich beschäftige sich seine Mutter mit ihm und versuchte ihm selbst unter diesen Umständen ein möglichst normales Leben zu bieten. Zero hielt das alles 9 Jahre lang für völlig normal und alltäglich. Eines Abends schlich Zero wieder einmal über die Gänge des alten Landhauses seines Vaters. Dieser war in der nahe gelegenen Stadt bei einer Bank angestellt und pflegte deshalb einen menschlichen Tag-Nacht-Rhythmus. Seine Eltern und die wenigen Bediensteten schliefen noch und man hörte nur den Wind, der um das Haus strich. Doch aus dem Kaminzimmer konnte er Stimmen vernehmen. Er erkannte deutlich die tiefe Stimme seines Vaters und die sanfte seiner Mutter. Warum waren sie noch wach? Von seiner Neugierde getrieben schlich er den dunklen Gang entlang und positionierte sich in Hörweite. Die schweren Eichentüren standen einen Spalt breit offen, um der Hitze einen Ausweg zu bieten.
„Er ist unser Sohn!“, schrie seine Mutter verzweifelt. Sie konnte kaum stehen und Tränen liefen über ihr sonst so schönes Gesicht.
„Na und? Ja, er ist mein Sohn, aber wenn er seine Aufgabe nicht erfüllen kann, ist er nutzlos für mich.“
„Wie kannst du sowas sagen? Du hast ihn jetzt all die Jahre aufwachsen sehen und er ist immer noch nicht mehr für dich?“, zischte sie nun gefährlich leise.
„Was sollte er mehr für mich sein, als meine Lebensversicherung? Dich behalte ich doch auch nur hier, weil du für sein Überleben sorgst. Du würdest es nicht wagen, ihn sterben zu lassen. Nur zu diesem Zweck gibt es euch beide. Um mir dienlich zu sein.“ Zero schüttelte es am ganzen Körper. Er fühlte sich, als sei die Umgebungstemperatur um mehrere Grad gefallen und das nur durch den schneidenden Ton seines Vaters. Kurze Zeit hörte man nichts mehr von drinnen. Dann wieder die verzweifelte Stimme der Mutter.
„Du verdammtes Monster!“ Zero lief los, den dunklen Gang entlang, die Treppe hoch, dann links und ab in sein Zimmer. Dort angekommen verkroch er sich unter mehreren Decken, doch diese halfen nichts gegen die Leere tief in ihm, die gerade geschaffen worden war. Ab diesem Moment nahm er alles anders wahr. Die kalte Aura seines Vaters ebenso, wie die traurige Herzlichkeit, die ihm seine Mutter entgegen brachte. Die Welt, die er für so normal gehalten hatte, war bloßer Schein. Immer wieder lief er nun abends durch das Landhaus und hörte noch einige Gespräche dieser Art mit. Langsam setzte sich für ihn ein Bild der Faktenlage zusammen. Er, Zero Lescartes, war von seinem Vater Belisar nur dafür gezeugt worden, um ihm als lebende Blutkonserve zu dienen. Das Blut geborener Vampire war sehr mächtig und für die eigenen Eltern kam es beinahe dem der Overen gleich. Zeros Blut war für seinen Vater das entscheidende, nicht er selbst. Schon allein dieses Wissen drehte Zero den Magen um, aber dazu kam, dass seine Mutter, und damit die Einzige, die ihn anscheinend wirklich liebte, ebenfalls hier gefangen war. Er wurde immer mehr wie ein Schatten, ein Phantom, das durch die Gänge schlich und sich um nichts und niemanden kümmerte. Wieder hörte er die Stimmen aus dem Kaminzimmer. Wieder sein Vater und seine Mutter, die sich über dieses leidige Thema stritten. Er seufzte. Es hatte doch keinen Sinn.
„Lass ihn gehen!“, sagte plötzlich die weibliche Stimme in festem Tonfall. Zero horchte auf.
„Wieso sollte ich?“
„Er ist mein Sohn und ich werde ihn um jeden Preis beschützen. Selbst wenn ich dich dafür zum Teufel jagen muss!“
„Du willst mich töten?“, fragte es ganz sachlich und schien einige Schritte auf sie zuzugehen.
„Um Zero zu beschützen ja.“ Ihre Stimme hatte keine Zweifel mehr. Sie war sich völlig sicher mit dem, was sie da sagte. Sie würde ihren Sohn nicht länger unter diesen Umständen aufwachsen lassen.
„Du drohst mir? Du bist nichts weiter als das frühere Behältnis und die Fürsorge für mein Blut! Es reicht. Ich lasse es nicht zu, dass jemand wie du sich solche Dinge herausnimmt.“ Zero war zum Türspalt geschlichen und beobachtete nun fassungslos und völlig erstarrt die Ereignisse. Seine Mutter stand wenige Meter vor dem Kamin. Ihr Blick war sicher und ihr Stand fest. Sie erwartete alles. Belisar kam die letzten Schritte auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Verwirrt sah sie ihn an, ob dieser vertraulichen Geste. Er lächelte leicht und legte die andere Hand auf ihren Kopf. Zero spürte Freude in sich aufkeimen. Hatte seine Mutter ihn am Ende doch überzeugen können und würde er sie nun gehen lassen? Doch seine Hoffnungen wurden je zerstört.
„Verrecke“, sagte er immer noch sanft lächelnd und riss ihr mit einer schnellen Bewegung den Kopf ab. „Dreckige Kreatur. Wagt es doch wirklich mir, ihrem Herrn zu wiedersprechen.“ Er warf den abgerissenen Kopf achtlos ins Feuer und ließ den Rest des Körpers zu Boden sinken. Danach wischte er sich beiläufig die Hände am Kleid der Toten ab, während die Haut des Gesichts langsam im Kamin verkohlte. In diesem Moment war etwas in Zero erwacht, das bis dahin friedlich geschlafen hatte. Er riss die beiden Flügel der schweren Tür einfach auf und stürmte in das Zimmer. Entsetzten zeichnete sich in den Augen des alten Vampirs ab, als ihn zwei mattsilberne Klauen in den Magen trafen und nach hinten wegkippte. An die nächsten Minuten konnte sich Zero nicht erinnern. Er wusste nur, dass er seinen Vater mit den Klauen zerlegt und ihn dann ins Feuer geworfen hatte. Zuvor hatte er den Kopf seiner Mutter heraus geholt. Lange hatte er noch dagesessen, in dem blutbespritzten Zimmer auf dem edlen Teppich, der mit den Lebenssäften seiner Eltern durchtränkt war. Er hielt den Kopf seiner Mutter eng an sich gedrückt und wiegte sich hin und her, während er den Flammen zusah. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand er auf, ging zum Kaminsims und stellte behutsam den Kopf darauf. Die Augen waren geschlossen, die Haut nicht ganz verkohlt. Sie sah fast aus, als würde sie schlafen. Bluttränen liefen ohne Unterlass über Zeros Wangen, doch er fühlte nichts mehr. Nur diese Stille. Wie in Trance drehte er sich um, ging zu dem großen Sessel in der Ecke des Zimmers und rollte sich darauf zusammen. Gleich würde wieder alles gut sein. Das konnte gar nicht geschehen sein.

Am nächsten Morgen fanden die Bediensteten das Blutbad und den schlafenden Zero vor und meldeten den Vorfall sofort beim Rat der Vampire. Zero wurde weggesperrt, in eine kleine Kammer im Haus des Paktes. Seine Tür war schwer bewacht, das wusste er, aber er wollte auch gar nicht fliehen. Wohin auch? Sein gesamtes bisheriges Leben war in jener Nacht in Flammen aufgegangen. Er lag nur auf seinem Bett und starrte die Decke an. Drei Tage lang verharrte er so, nähm apathisch Blut zu sich, das ihm unter der Tür hindurch geschoben wurde und wartete auf etwas, von dem er selbst nicht wusste, was es war. Dann wurde die Tür geöffnet. Vier Vampire nahmen ihn in ihre Mitte und brachten ihn ins Erdgeschoss in einen großen Saal. Das Licht des Kronleuchters blendete und das Gewirr aus vielen Hundert Stimmen ließ ihn zusammenschrecken. Einer seiner Wächter stieß ihn nach vorne, sodass ihn alle ansehen konnten und er ganz unten auf der kleinen freien Fläche stand. Seine zittrigen Beine konnten den dürren Jungen kaum halten, der nun langsam aufsah. Die Ratsversammlung. Langsam ebbten die Stimmen ab und ein Mann, wahrscheinlich der Ratsvorsitzende, erhob sich.
„Die Anwesenden mögen sich erheben. Wir befassen uns heute mit dem Fall des Zero Lescartes, eines Geborenen, der auf grausame Art und Weise seinen Vater, Belisar, umgebracht und verbrannt!“ Aufgeregtes Murmeln. Der Ratsvorsitzende gebot den anderen mit einer Geste zu schweigen. Wieder kehrte Ruhe in den riesigen Saal ein und alle Blicke ruhten auf Zero, der so verloren dort unten aussah.
„Zero Lescartes, hast du irgendwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?“ Er schwieg. Nur langsam kehrte seine Stimme zurück, die er so selten benutzte.
„Dieser Mann hat meine Mutter einfach so getötet und mich brauchte er nur, um sein eigenes, verdammtes Leben zu retten! Tut was ihr wollt, ich weiß, was ich getan habe und ich bereue es nicht! Nur eins bereue ich wirklich: Dass ich es nicht getan habe, bevor er ihr den Kopf abgerissen hat! Mehr sage ich dazu nicht, denn es ist mir egal.“ Er atmete kurz durch und drehte dem Rat den Rücken zu. Seine Wächter sahen in verdutzt an, aber er beachtete sie nicht weiter. Diesmal war es kein leichtes Raunen, das durch die Menge ging, sondern Ausrufe des Entsetzens.
„Er hat seinen eigenen Vater getötet“, kreischte eine Frau hysterisch.
„Belisar war einer der mächtigsten unter uns und dieses Kind soll ihn getötet haben?“, rief jemand von den oberen Plätzen.
„Dieser Junge ist eine Gefahr für uns alle, wenn er nicht einmal vor seinem eigenen Vater zurückschreckt!“, echauffierte sich ein Weiterer. Viele solche Aussagen wurden durch den Raum geworfen, doch es interessierte ihn nicht. Ein weiteres Mal wurde es still und die Stimme des Ratsvorsitzenden erhob sich.
„Der Rat wird nun darüber entscheiden, welches Urteil deiner Tat angemessen ist.“ Zero wurde von seinen Wächtern auf den Gang geführt, wo sie wohl auf das Urteil warten sollten. Die Zeit schlich. Der Zeiger der Wanduhr schien vor seinen Augen zu zerfließen und die Ziffern entschwanden seinem Sichtfeld. Er dachte nach. Sein wirrer Geist klärte sich nun und in seinem Inneren manifestierte sich eine Entscheidung. Er wollte leben. Egal, was diese Leute dort drinnen entschieden, er würde sich wehren. Seine Mutter hatte sich geopfert um ihn zu befreien und nicht, damit er kurze Zeit später vom Rat getötet wurde. Die Tür zum Saal wurde geöffnet. Eines der Ratsmitglieder winkte sie stumm wieder herein. Zero positionierte sich wieder in der Mitte und wartete die Entscheidung des Rates ab, die er eh schon kannte.
„Zero Lescartes. Wir, der oberste Rat der Vampire verhängen hiermit die Todesstrafe über dich.“ Allgemeine Zustimmung aus den Reihen des Rates. Zero spannte sich an. Was sollte er tun? Hatten sie damit so leichtfertig sein Ende besiegelt. Während er noch fieberhaft nachdachte tat sich etwas beim Rat. Einer der Vampire, ein groß gewachsener Mann mit dunklem, welligem Haar und einem leichten Bart hatte sich erhoben und streckte die Hand nach oben. Alle starrten ihn fassungslos an.
„Veto“, klang es aus dem Mund des Bärtigen. Er sah verächtlich auf den Rest des Rates herab und ließ sein Wort wirken. Sobald sich alle wieder beruhigt hatten setzte er sich wieder und verschränkte die Arme.
„Aber Graf…“, setzte der Ratsvorsitzende an, bekam jedoch nur einen eiskalten Blick vom Bärtigen. „Na gut.“
Er seufzte. „Hiermit annulliere ich das ausgesprochene Todesurteil, aufgrund eines Overenvetos des Grafen. Es tritt somit das Ersatzurteil in Kraft. Vogelfreiheit. Der Verurteilte wird der Gesellschaft vollständig verwiesen. Er erhält 5 Tage Zeit um zu verschwinden. Danach kann er von niemandem mehr Gnade erwarten, oder sein Recht einfordern. Die Ratssitzung ist damit geschlossen.“
Mit diesen Worten löste sich die Versammlung in alle Richtungen auf. Zero wurde von seinen Wächtern in ein kleines Zimmer gebracht. Er bekam seine Kleidung und ein kleines bisschen Blut. Kaum war er reisefertig führte man ihn hinaus. Auf dem großen Platz vor dem alten Herrenhaus stand ein einfacher Kleinwagen, in den er einstieg. Schweigend fuhren sie los. Zero, der Fahrer und seine vier Wächter. Mehrere Stunden vergingen so. Irgendwann hielten die abrupt an. Sie waren an einem Stadtrand. Die Wächter stiegen aus, Zero tat es ihnen gleich. Es war eine kleine Stadt in Osteuropa. Wo genau konnte Zero nicht sagen. Einer der Wächter deutete vielsagend auf die Stadt, dann stieg er wieder ein. Als alle, bis auf Zero, wieder saßen fuhren sie los und ließen ihn einfach stehen. Fünf Tage sollte er Ruhe haben.
Trotz dessen, dass der Rat sich eigentlich nicht einmischen durfte schickten sie ihm immer wieder Mörder, um ihn zu beseitigen. Zero war dauerhaft auf der Flucht, lebte auf der Straße und schlug sich durch halb Europa. Irgendwie schaffte er es zu überleben und seinen Häschern immer wieder zu entkommen. Er war aber gejagt. Kein Fester Wohnsitz, keine Freunde, nichts durfte er haben, denn sie würden es rausbekommen. Nach einigen Jahren, die er auf diese Weise verbrachte war er es leid immer zu flüchten. Inzwischen war er seinen ehemaligen Jägern weit überlegen und so zog er nun eine Spur aus den Leichen seiner Verfolger durch Europa. Doch irgendwo in der Schweiz verlor sich seine Spur. Er war endgültig untergetaucht. So unauffällig wie möglich hatte er sich bis zur Hauptstadt Deutschlands durchgeschlagen, aber nun war er am Ende. Er hatte sich einfach auf der Straße hingesetzt und war zusammengesunken. Tage später wachte er wieder auf, in einem Heim. Seine vielen Wunden waren versorgt worden und er lag in einem weichen Bett. Keine Steine und keine Straße mehr, einfach ein Bett. Da selbst in den Tagen seiner Bewusstlosigkeit niemand hergekommen war, um ihn zu töten schienen sie wirklich seine Spur verloren zu haben. Er entschied sich einfach da zu bleiben. Wenn ihn seine Häscher irgendwo nicht erwarteten, dann genau hier, mitten unter Menschen. Nach kurzer Zeit wurde er auch bei einer Familie aufgenommen und führte zum ersten Mal ein völlig normales Leben. Leider entdeckten seine Verfolger bald, wo er sich aufhielt, allerdings gab es kaum noch Auftragskiller unter den Vampiren, die ernsthaft in Erwägung zogen Zero zu jagen. Viel zu bekannt er war schon in diesen Kreisen, allein schon dadurch, dass er dem Rat trotz allem entkam. Nur noch selten besuchten ihn die Killer und diese konnte er schnell aus dem Weg räumen. So gelangte Zero Lescartes, der geborene Vampir und Ratsfeind Nummer 1, in eine menschliche Familie in Berlin.

Kapitel 29 - Ein Zweckbündnis wird geboren

Eine Kugel zerriss die Luft knapp neben Zeros linkem Ohr und schlug in die Mauer ein. Er war aufgesprungen und hatte einen Satz zur Seite gemacht. Ich hatte den Kopf um wenige Zentimeter geneigt um der Kugel auszuweichen. Sowohl er, als auch ich hatten unseren Beobachter schon lange bemerkt, aber uns nichts anmerken lassen. Eine Pistole blitze im Gebüsch auf und man hörte es hecktisch rascheln. Er wollte abhauen, doch Zero war schneller, sprintete auf ihn zu und bekam ihn am Arm zu fassen. Ein lautes Knacken ertönte und der Schütze schrie auf. Sauber gebrochen. „Was willst du? Das Übliche?“, zischte Zero bedrohlich in sein Ohr, während er ihn vor sich her führte. Unter immer lauter werdendem Protest führte Zero ihn zur Mauer, wo er ihn, wie vorher mich, fachgerecht fixierte. Ich war inzwischen in aller Seelenruhe aufgestanden und hatte angefangen meine Kleidung vom Staub frei zu klopfen. Der Schütze fing plötzlich an zu lächeln. Ich lächelte zurück. Plötzlich drehte ich mich um, zog Dunkelschnitter aus dem Schatten und warf sie in das andere Gebüsch. Ein kurzes Röcheln, dann Ruhe. Zero sah mich verständnislos an.
„Aber wie…?“, fragte er etwas entrückt.
„Ich hab dir gesagt, dass du mich nur daran gehindert hast sie zu beschwören“, erklärte ich, zuckte mit den Schultern und trat näher an den Gefangenen heran.
„Ich trau dir immer noch nicht“, sagte Zero kalt, während er den Mann vor ihm musterte.<
„Musst du auch nicht, aber ich will wissen, was hier vor sich geht. Wenn das alles stimmt, hat der Rat ganz schön Probleme. Und da ich soeben seinen Kollegen ins Totenreich verfrachtet habe, kann der hier uns jetzt ganz in Ruhe Rede und Antwort. Auf den hattest du dich doch verlassen, oder?“ Ich lächelte leicht. Er sah nun nichtmehr ganz so selbstsicher aus, wie noch vor wenigen Sekunden, aber sagte nichts.
„Los sprich“, befahl Zero und drückte ihn langsam zusammen. Erst als seine Augen bedrohlich aus ihren Höhlen traten, endschloss er sich klugerweise zu reden.
„Hör auf! Bitte! Ich sag ja schon alles, nur zerdrück mich nicht!“
„Es geht doch“, sagte Zero so überfreundlich, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
„Elias Marsh schickt mich. Er hat dein Kopfgeld noch einmal erhöht. Viele werden mir folgen, Zero Lescartes! Irgendwann kannst auch du dich nichtmehr wehren, also gib am besten jetzt auf. Du zögerst es doch nur raus. Denn du bist…“ Zero quetschte seinen Brustkorb weiter zusammen und seufzte gespielt.
„Immer die gleiche Leier. Das erzählt ihr mir nun seit so vielen Jahren und was war bisher? Nur Schwächlinge wie du. Jetzt sag ich dir mal was, du Laufbursche…!“
„Halt, Zero, lass ihn noch eben“, bat ich schnell, bevor er dem Typen ein völliges Ende bereiten konnte.
„Was ist?“, frage er böse werdend.
„Elias Marsh sagtest du, oder?“, fragte ich in Richtung des halb Zerquetschten. Dessen Augen weiteten sich urplötzlich und seine Lippen bebten. Mit ruhiger Stimme fuhr ich fort.
„Elias Marsh ist ein Ratsmitglied und damit ist es ihm nicht gestattet in solcher Form in die Strafvollstreckung einzugreifen. Wenn ich das alles recht verstanden habe hat er ein Kopfgeld auf jemanden ausgesetzt, der vom Rat zur Vogelfreiheit verurteilt wurde. Damit hatte der Rat jegliche Legitimation zum Handeln verloren. Das hier ist also nach Vampirrecht regelwidrig. Der Graf wird nicht erfreut sein.“
„Prinzessin“, stieß der Häscher gepresst heraus. „Was macht Ihr denn hier?“
„Eigentlich gehe ich gerade in diesem Gebiet meiner Arbeit als Seelenernterin nach, aber anscheinend muss ich nebenbei auch noch eine Intrige innerhalb der Gesellschaft aufdecken und einem Ratsmitglied die Tour versauen. So viele schlechte Nachrichten hintereinander. Ich glaube nicht, dass Onkelchen noch genug Nerven hat, um sich in dieser Sache besänftigen zu lassen. Ihr wisst ja, Verrat ist nicht gerade sein Lieblingsvergehen.“
Zero sah mich die ganze Zeit nur verwundert an, während der von ihm Gehaltene angefangen hatte unkontrolliert zu zittern und seine Panik langsam überhandnahm. Ich blieb weiterhin ganz ruhig und bewahrte die Fassade. „Bitte, nein! Ich war nur auf das Kopfgeld aus. Ich verschwinde sofort wieder, für immer, aber liefert mich nicht dem Grafen aus. Bitte!“ So schnell wurden harte Kerle zu kleinen Handlangern. Durch seine Vergangenheit hatte mein Onkel ein sehr schlechtes Verhältnis zu Verrätern und das wusste die gesamte Gesellschaft.
„Zero lass ihn.“
„Wie bitte?“
„Lass ihn los. Der wird nicht wiederkommen. Nicht wahr?“ Er nickte heftig mit dem Kopf.
„Warum sollte ich auf dich hören?“
„Weil ich direkt an Elias Marsh und damit an die Quelle deiner Probleme komme?“
„Ha! Wieso solltest du mir helfen?“
„Ich will keine Intriganten in der Gesellschaft und schon gar nicht im Rat haben.“
„Und anschließend tötest du mich. Wie praktisch.“
„Sei nicht so zynisch. Ich hab nichts gegen dich und habe auch keinen Grund an dir und deiner Geschichte zu zweifeln. Außerdem hat der Graf gegen deine Hinrichtung gestimmt, also werde ich diese ganz sicher nicht durchführen. Das wäre zurzeit Selbstmord.“
„Du kannst mir viel erzählen. Ich war seit meiner frühsten Jugend, seit ich ausgestoßen wurde, nicht mehr beim Pakt. Ich weiß nichts über die Strukturen und die Situation dort. Ihr Overen seid klüger und stärker, als normale Vampire. Folglich muss ich davon ausgehen, dass du aus deinem Verhalten einen Vorteil ziehen wirst und da ein solcher Skandal sich nicht gut auf das Klima im Pakt auswirken wird, kann ich davon ausgehen, dass du mich still und leise beseitigen willst, so wie ihn.“ Ich klatschte sarkastisch. Ich konnte ihm diese Art zu denken nicht übel nehmen. Seit Jahren war er daran gewöhnt verfolgt zu werden, jeder war ein potenzieller Verräter und Häscher. Und jetzt stand ich vor ihm, als Overe und bat ihm Hilfe an und das aus einem so einfachen Grund. Natürlich sperrte sich sein gesamtes logisches Denken dagegen. Aber wie sollte ich so jemandem helfen? Vertrauen brauchte eine Basis, aber unsere Vertrauensbasis ähnelte momentan einem Grashalm, auf dem ich versuchte zu balancieren. Ohne großen Erfolg. Zero sah mich weiter kalt an. In seinem Blick lag nur Verachtung und Misstrauen. Ich seufzte. Ich war doch die Vampirprinzessin, wieso scheiterte ich dann an der Überzeugung eines gewöhnlichen, geborenen Vampirs? Weil er rein logisch dachte. Wie bekämpfte man bestechende Logik und jahrelange Gewohnheit? Durch Gegenlogik! Wenn das nicht funktionierte musste ich ihm Elias Marsh als Geschenk verpackt vor die Füße werfen, bevor er mir auch nur im Ansatz vertraute und das war für mich alleine ein Ding der Unmöglichkeit.
„Da du ja so überzeugt davon bist, dass ich dich umbringen will, dann sag mir, warum ich das nicht schon längst getan habe.“
„Du wusstest nicht wer ich bin.“
„Und wieso sollte ich dann, in deiner Version, hier sein?“
„Könnte wirklich Zufall gewesen sein, oder du wusstest einfach nicht, wer genau ich bin.“
„Ah, ein erste Zufall. Nächste Frage: Wieso lebe ich noch?“
„Was soll diese Frage? Du lebst noch, weil du einen Vertrag mit der Hölle hast. Wird das hier eine Wissensabfrage?“, antwortete er leicht überrascht, jedoch weiterhin kühl.
„Nein, das nicht. Aber du vertraust mir genug, um mich am Leben zu lassen, weil du weißt genau, dass du gerade stärker bist als ich und es ein leichtes wäre mich als Risikofaktor aus dem Weg zu räumen. Da also eh ein Grundzweifel besteht, kannst du es doch auch mal darauf ankommen lassen und mir einen kleinen Vertrauensvorschuss gewähren. Deine Situation kann sich doch nur verbessern, denn umbringen kannst du mich später immer noch.“ Bitte, bitte, bitte, lass das Wirkung gehabt haben. Ein leichtes Lächeln huschte über sein sonst so starres Gesicht. Nun sah er mir direkt in die Augen. Er wirkte nichtmehr kalt, sondern irgendwie amüsiert. „Tuche.“

Kapitel 30 - Die fast perfekte Idee mit der Klassenfahrt

Es war nicht ganz so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Zero und ich saßen zwar in einem Zug nach Frankreich, dem momentanen Aufenthaltsort von Elias Marsh, sogar in die richtige Gegend, jedoch mit unserer ganzen Klasse. Klassenfahrt. Welcher grenzdebile Vollidiot hatte das eigentlich erfunden?! Die Tatsachen sahen nun so aus, dass ich Zero in einer ruhigen Minute in der Schule den Standort von Marsh mitgeteilt hatte. Zu unser beider Leidwesen war in diesem Moment unsere hoch geschätzte Klassenlehrerin vorbei gekommen. Als sie den Namen der Region hörte war sie vollauf begeistert und meinte, dass man doch eine kleine Klassenfahrt dahin unternehmen konnte. Welch glorreiche Idee, die nur dem vernebelten Gehirn einer Pädagogin entspringen konnte. So und so ähnlich zeterte ich vor mich hin, während der Zug ruhig vor sich hin tuckerte. Zero saß mir gegenüber am Fenster, hatte seinen Kopf auf eine Hand gestützt, die Haare vor die Augen fallen lassen und erinnerte sehr an eine entnervte Steinstatue. Dazu kam der eiserne Mantel des Schweigens, der nicht etwa aus gegenseitiger Antipathie, sondern vielmehr aus dem Ärger über die aktuelle Situation resultierte. Um es in die Sprache der heutigen Jugend zu fassen: Wir waren maßlos angepisst. Helena, die neben mir saß versuchte verzweifelt ein normales Gespräch zu führen, wurde dabei jedoch nur von Craig unterstützt, der nicht so recht wusste, was er tun sollte. Also führen die beiden irgendwann eine normale Unterhaltung und blendeten uns beide Miesepeter aus. Besser so. Meine ganze schöne Planung war zum Teufel gegangen. Ich hatte eigentlich vor gehabt so eine Art Bildungsausflug vorzutäuschen, um mit Zero kurz nach Frankreich zu können, aber ich hatte doch niemals die Absicht gehabt ihn wirklich zu machen! Jetzt hatte ich einen Notfallplan erfinden müssen. Ich hasse Notfallpläne! Einem Notfallplan hatte ich mein unplanmäßiges Ableben zu verdanken. Und unser jetziger war wirklich keine Perle an Strategie. Wir hatten vor uns morgen, kurz vor einem Tagesausflug in eine altehrwürdige Stadt, krank zu stellen. Alle würden weg sein, wir verschwinden unauffällig aus der Herberge und statten Elias Marsh einen Besuch ab. Genial, oder? Oder eben auch nicht. Denn diesen Plan hatten wir innerhalb von einer Minute entwickelt und deshalb war er viel zu lückenhaft. Dieser Plan war so fehleranfällig wie der Mensch an sich. Zero hatte gemeint, dass wenn uns irgendwer erwischen sollte, ich ja einfach seine Erinnerungen manipulieren könnte. Er stellte sich das alles etwas zu einfach vor. Im Grunde löschte ja nicht ich die Erinnerungen, sondern die Hölle und das auch nur mit schriftlichem Antrag und dem ganzen bürokratischen Mist. Andererseits stellte sich wirklich die Frage, wer in diesem Plan dazwischen funken sollte, wenn alle anderen weg waren. Im Idealfall waren wir also zum Abendessen zurück. In Gedanken kam es mir nun doch sehr zynisch vor einen Fall von solcher Wichtigkeit für den Pakt vom traditionellen abendlichen Speisen abhängig zu machen, oder auch nur zeitlich ein zu grenzen. Der einzige Lichtblick, den ich im Moment erkennen konnte war, dass Zero sich nicht völlig von mir abgewendet hatte und anscheinend sogar meine Anwesenheit zu akzeptieren begann. Es konnte natürlich auch sein, dass er mich in Sicherheit wiegen wollte und mich nach Elias Marsh umbrachte. Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich anfing so zu denken würde das hier nicht gut ausgehen. Ich musste ihn davon abhalten Marsh zu töten, sonst waren alle Beweise seiner Unschuld vernichtet und die ganze Mühe umsonst. Ich musste Marsh also zum reden bringen, ihn durch Zero unter Kontrolle halten, gleichzeitig Zero selbst zurück halten und für eine ruhige Überführung zum Pakt sorgen, wo ich meinem Onkel und dem Rat alles erklären durfte. Kinderspiel. Ich ließ meinen Kopf in meine Hand sinken, schloss kurz meine Augen und beobachtete weiter die vorbei ziehende Landschaft. Es sah so friedlich aus. Nichts ließ darauf schließen, wie sehr es unter der Oberfläche brodelte. Für den Pakt würde es ein einschneidendes Ereignis sein. Langsam fing mein Kopf an zu rauchen. So viele unbekannte Aspekte, so viele Unsicherheiten und Fehlerquellen, da musste man verrückt werden. Ich stöhnte gequält.
„Alles in Ordnung, Aki?“, hörte ich plötzlich Craigs warme, dunkle Stimme neben mir. Ich drehte den Kopf und sah direkt in seine Augen, die mich besorgt musterten. Er hatte sich zu mir rüber gelehnt. Zero war auch aus seinen Gedanken gerissen worden und sah nun wohl ebenso überrascht aus wie ich. Nur langsam konnte ich meine Gedanken ordnen und auf das hier und jetzt konzentrieren.
„Ja, natürlich. Warum?“
„Du bist schon den ganzen Tag so komisch drauf. Redest kaum, schaust gedankenverloren aus dem Fenster und wirkst irgendwie traurig. Ganz anders als sonst.“ Helena sah mich entschuldigend an. Ich hatte ihr alles erklärt und sie gebeten Craig zu beschäftigen, damit er keinen Verdacht hegte. Es wäre jedoch zu viel verlangt das zu schaffen, während er mit zwei schlecht gelaunten Gestalten auf dem Weg zu einer eigentlich erfreulichen Klassenfahrt war. Nun sah er auch Zero kritisch an.
„Es ist wirklich nichts. Mir geht es heute einfach nicht so gut. Vielleicht habe ich mir eine Erkältung eingefangen, oder es ist einfach nicht mein Tag“, versuchte ich ihn zu beruhigen.
„Ein denkbar ungünstiger Augenblick für einen Krankheitsanfall. Schließlich sind wir auf Klassenfahrt. Zero sieht auch schon die ganze Fahrt über nicht gesund aus. Wirst du etwa reisekrank?“ Zero setzte sein bestes höhnisches Lächeln auf und antwortete ihm wie gewohnt.
„Ich bin nicht reisekrank, mein Bester, allerdings soll es vorkommen, dass man auch einfach mal nicht kommunikativ ist. Als ob mir Zugfahren etwas aus machen würde.“ Doch sein Spott war nicht so beißend wie sonst und man merkte, dass er nicht völlig bei der Sache war. Normalerweise liebt er die kleinen Schlagabtausche mit Craig, jedoch kreisten seine Gedanken wohl gerade nur um Elias Marsh. Craig, in seiner Funktion als bester Freund, hatte das natürlich auch sofort wahrgenommen, sagte aber nichts mehr. Er seufzte nur.
„Gut, du willst nichts sagen. Ich kenn dich lange genug um nicht weiter zu fragen, sonst flieg ich noch hochkant aus dem Abteil.“ Damit ließ er sich wieder in seinen Stuhl fallen, sah und noch kurz sorgenvoll an und erlange sein gewohntes Lächeln zurück. „Möchtest du wenigstens mit uns kommunizieren, Aki, oder färbt Zero langsam auf dich ab? Ich hoffe nicht.“ Ich lächelte nur kurz und nickte, danach ging die Unterhaltung weiter und ich ließ mich von Craig und Helena ablenken, sodass ich schnell aus meinen tristen Gedanken gerissen war und ich nichts mehr an Elias Marsh, oder auch nur den Pakt, erinnerte. Nach geraumer Zeit erwärmte sich auch Zero dazu mit uns zu reden, sodass es doch noch eine angenehme Fahrt wurde.

Kapitel 31 - Schauspielerisches Talent

Raus aus dem Zug, rein in den Bus, raus aus dem Bus, rein in die Herberge, einrichten, raus aus der Herberge, rein in die kleine, aber historische schrecklich bedeutsame Stadt, rumrennen, raus aus der kleinen Stadt, rein in die Herberge, sterben. Nun gut, letzteres war wohl etwas überzogen, aber die meisten unserer Klassenkameraden schienen doch dem Tod näher, als dem Leben. Lediglich Craig, Zero und ich sahen so aus, als könnten wir uns noch aus eigener Kraft bewegen. Wir hatten uns im Aufenthaltsraum der Herberge niedergelassen und die meisten warteten wohl sehnsüchtig auf ihren Bestatter. Selbst die sonst so übermotivierte Lehrerschaft hing in den Seilen. Auch Helena war anscheinend schon vor einigen Minuten still, an meiner Schulter lehnend, verstorben. Zero und Craig spielten Karten, was ich interessiert verfolgte und mich wunderte. Bei Zero und mir war es verständlich, dass wir keine allzu großen Erschöpfungserscheinungen hatte, schließlich bezogen wir einen Teil unserer Kraft von den höllischen Energien und hatten unsterbliche Körper, auch wenn eine Klassenfahrt samt Bildungsausflügen selbst gestandenen Dämonen dahin raffen konnte. Aber warum ging es Craig so blendend? Klar, er war recht sportlich, auch wenn ich ihn noch nie habe Sport treiben sehen, aber andere gut trainierte Leute waren auch völlig am Ende. Langsam wurde ich müde. Das angeregte Gespräch der Jungs zum Kartenspiel und Helenas ruhiges und rhythmisches Atmen hatten eine ungeheure Wirkung. Auch, wenn ich den ganzen Tag über kaum etwas getan hatte, was meine Kräfte wirkliche beansprucht hätte, hatte mein Hinterkopf die ganze Zeit gearbeitet und die Gedanken umhergetrieben. Elias Marsh. Wie sollte ich diesen Mann dazu bringen widerstandslos zum Pakt mitzukommen ohne, das Zero ihn tötete? Zero war nun wirklich kein sehr impulsiver Typ, aber über die ganzen Jahre musste sich ein solcher Hass auf Marsh angesammelt haben, dass diese bei einem Zusammentreffen herausbrechen könnte und ich konnte ihm das nicht einmal verdenken. Ich selbst war ja nur wegen eines tiefen Rachegedanken zur Untoten und zur Dienerin der Hölle geworden. Es wäre zwar denkbar ungünstig, wenn Zero so handeln würde, aber könnte ich ihn verurteilen? Nein, dazu hatte ich kein Recht. Ich konnte nicht vorhersagen, was geschehen würde, also musste ich warten.  Alles Nachdenken war doch sinnlos, wenn am Ende alles genau so laufen wird, wie man es nicht bedacht hat. Plötzlich hörte ich einen Stuhl rücken. Zero war aufgestanden und hatte in die Hände geklatscht. Laut genug um einige ehemals Schlafende zu wecken. „Hey Leute! Wie wär’s, wenn wir jetzt alle in unsere Zimmer gehen und dort schlafen? Ich weiß wir wollten uns einen netten Abend machen, aber den haben nur Craig und ich. Selbst Aki pennt uns gleich weg, also sollten wir es für heute gut sein lassen. Alles klar?“ Keine Antwort. Erst nach einigen Sekunden stellten sich die ersten Bewegungen ein. Zombiehafte Bewegungen. Stühle wurden verschoben, Sachen lethargisch gegriffen und langsam schlurfte die Zombiearmee in Richtung ihrer Räumlichkeiten. Helena hingegen schlief immer noch und ließ sich auch von nichts stören. Zero hatte sich vor mir aufgebaut, die Hände in den Seiten und erinnerte mich entfernt an eine sehr strenge Haus-oder Großmutter. Er musterte die schlafende Helena kritisch, woraufhin ich mit den Schultern zuckte und ihn hilflos ansah. Auch das interessierte sie nicht. Er ließ die Arme fallen und seufzte. „Kannst du sie tragen?“, frage er mich dann halblaut. „Ja, ich denke, dass ich das noch schaffe. Zu unserem Zimmer ist es ja auch nicht weit. Craig kannst du wohl ihre Jacke mitnehmen. Danke.“ Ich hievte Helena mit Zeros Hilfe auf meinen Rücken, sodass ich sie bequem tragen konnte. Während Craig zur anderen Seite des Raumes eilte um ihre Tasche zu holen flüstert ich Zero zu. „Übermorgen also?“ Er nickte nur stumm. „Alles weitere dann.“ Egal, wie es laufen würde, es würde erhebliche Auswirkungen auf uns und unsere Umgebung haben. Ich verabschiedete die Jungs auf dem Gang und legte Helena in unserem Zimmer schlafen.

Am nächsten Tag nochmal dasselbe. Bus, Stadt, Sehenswürdigkeiten, in kleinen Gruppen rumlaufen. Doch dieses Mal achteten Zero und ich penibel darauf kaum Kraft zu verbrauchen. Craig und Helena begrüßten dieses energiesparende Programm sehr, wodurch wir meistens in Restaurants saßen und uns irgendwo anders niederließen. Auch die restliche Klasse schien diese Auffassung zu teilen. Dieser Abend wurde wirklich unterhaltsam und alle waren wach und fröhlich. Selbst Zero ließ sich zu so etwas wie positiver Stimmung hinreißen und sang beim Karaoke ein wirklich herzerwärmendes Duett mit Craig. Ein Liebeslied, wobei sie sich gegenseitig anschmachteten, was die allgemeine Stimmung ungemein hob. Zum ersten Mal hörte ich Helena aus vollem Herzen lachen und ließ mich davon anstecken. So ging es bis spät in die Nacht. Am nächsten Morgen war es dann soweit. Die Uraufführung von „Aki und Zero sind krank“. Ein wahres Meisterwerk moderner Poetik mit einem wundervollen Plot und großartigen Darstellern, die gänzlich mit ihrer Rolle verschmolzen. Allein die Dialoge sollten jeden Kritiker umgehauen haben. Falls wir Kritiker gehabt hätten. In diesem Fall übernahmen unsere Lehrer diese Rolle und wir überzeugten voll und ganz. Blutunterlaufene Augen? Für Vampire doch wohl ein Leichtes. Aschfahle Gesichtsfärbung? Kein Problem. Kaltschwitzige Finger? Tja, wir erzeugten Körperwärme nur um uns von den Menschen nicht so sehr zu unterscheiden und nicht aufzufallen. Wir brauchten keine Wärme. Kurzum: Vampire waren dazu gemacht sich krank zu stellen. Eine Fähigkeit, für die wohl manches Kind sich gerne hätte beißen lassen. Wer hätte vor 500 Jahren vermuten können, dass ich meine dämonischen Fähigkeiten einmal darauf konzentrieren würde mich auf einer Klassenfahrt krank zu stellen. Das Schicksal hatte wirklich Humor, auch wenn dieser mir doch sauer zu schlucken gab. Natürlich gaben wir ein jämmerliches Bild ab und versuchten so bemitleidenswert auszusehen, wie es uns möglich war. Und wir waren gut! Extrem gut! Eventuell auch etwas zu gut. Während die Lehrer- und Schülerschaft direkt 5 Meter Sicherheitsabstand einnahmen, wollte Craig am Liebsten alle Ärzte des Landes anrufen um uns behandeln zu lassen. Als wir ihn endlich davon überzeugt hatten, dass wir zwar krank waren, aber nicht im Begriff zu sterben, schloss er sich, immer noch wiederwillig, zusammen mit  Helena einer anderen Gruppe an. Wahrscheinlich hätte er uns gerne den ganzen Tag gepflegt. An sich ein netter Gedanke, aber für unseren Plan mehr als hinderlich. Nachdem wir sicher waren, dass sie sich auf dem Weg in die nächstgrößere Stadt befanden und nicht nochmal zurück kamen machten wir uns bereit. Wir trafen uns marschbereit auf dem Gang. Beide im schwarzen Kapuzenpulli mit dunkler Hose und stabilen Stiefeln. Wir betrachteten uns gegenseitig. „So wollen wir also einem der mächtigen Ratsvampire entgegentreten?“, fragte er mit leichtem Zweifel in der Stimme und zog eine Augenbraue fragend hoch. „So schaut’s aus“, entgegnete ich und konnte selbst kaum glauben, dass ich das gerade bestätigt hatte. „Na dann kannst du uns ja jetzt zu seinem genauen Aufenthaltsort bringen, Prinzessin.“ Ich zuckte leicht zusammen. Meinen Titel betonte er jedes Mal speziell. Es klang dann eher wie eine Beleidigung mit starkem, sarkastischem Unterton und einem solchen Schneiden in der Stimme, dass man sich sorgte, gleich wirklich einen Schnitt auf der Haut zu spüren. „Nenn mich nicht bei meinem Titel. Im Moment sitzen wir im selben Boot und das ist wahrlich keine Luxusfähre, sondern eher eine leckende Nussschale. Ich weiß ja, dass du mir nicht traust, aber bitte belass es bei einer normalen Anrede, wie bisher auch. Schließlich bin ich noch dieselbe Person.“ „Vielleicht“, entgegnete er nur kühl, aber lächelte dabei zum ersten Mal leicht. Das würde der längste Tag meines Lebens, wenn ich mir die Ausgangssituation so ansah. Ich wollte mit diesem Eiseimer einen mächtigen Vampir überführen, der mich wohl mit einer Geste töten konnte und mein einziger Beschützer war eben jener Eiseimer, der mir nicht traute, was ich ihm weder verübeln noch austreiben konnte. Hoffentlich hatten wenigstens Craig und Helena Spaß. Wir würden definitiv keinen haben.

Kapitel 32 - Elias Marsh

Wir saßen in einer kleinen Regionalbahn, während es draußen angefangen hatte strömend zu regnen. Die Fahrt zu dem kleinen Ort, in dem Elias Marsh leben sollte. Natürlich in seinem eigenen Herrenhaus, wie es sich für den Vampir von Welt gehörte. Und wo wohnte ich? In einem Einfamilienhaus in Berlin. Nicht, dass das schlecht war, aber etwas deprimierend doch wohl. Der Regen rann die Fenster herunter und hinterließ seine typischen Muster aus Tropfen und Linien, die sich immer wieder änderten. Ich musste nachdenken. Knappe 600 Jahre Erfahrung, aber auf diese Situation hatte ich wirklich keinerlei Vorbereitung und auch keine Antwort. Was hatte ich mir da wieder ans Bein gebunden? Die große Akira Feralia fährt ins Unglück, ohne Plan und mit einer Bummelbahn. In Frankreich. Welch episches Ende meines auch ansonsten etwas merkwürdigen Lebens und Nachlebens. Verzweifelt legte ich den Kopf in meine Hände und starrte den Boden an. Das war doch ein Himmelfahrtskommando! „Entspann dich, Aki.“ Ich sah überrascht auf. Nicht nur, dass er mich ganz normal angesprochen hatte, ohne einen Hauch von Zynismus in der Stimme, sondern er hatte auch wirklich so geklungen, als wollte er mir beruhigen. Ich sah ihn nur etwas verwirrt an. Er seufzte. „Du machst dir ja echt einen riesigen Kopf. Entspann dich und genieß die Fahrt. Viel Zeit zum Entspannen wirst du später nicht mehr haben, also nutz das hier. Wir gehen da rein, hauen ihn um, liefern ihn ab und fertig.“ Die Ruhe, mit der er das von sich gab, war mir unbegreiflich. „Denkst du nicht, dass du das etwas unterschätzt?“ „Nein. Ich habe auch viel nachgedacht in den letzten Tagen und bin zu dem Schluss gekommen, dass es nichts bringt sich jetzt darum zu kümmern. Du kannst dich nicht auf eine Situation einstellen, die du noch gar nicht kennst. Deshalb gehe ich jetzt einfach davon aus, dass es gut laufen wird und du bist doch die Prinzessin. Der sollte doch Respekt vor dir haben, oder?“ „Mit diesen Gedanken hast du schon Recht. Nur bei dem letzten Punkt muss ich dir widersprechen.  Er hat unsere Gesetze und das oberste Gebot der Vampirgesellschaft verletzt und scheint sich selbst als Instanz zu sehen, der es erlaubt ist über andere zu richten. Es würde mich wundern, wenn so jemand Respekt vor mir hätte. Letztendlich habe ich nur die moralische Macht auf meiner Seite, ansonsten habe ich keinerlei Mittel, um ihn zu irgendetwas zu bewegen.“ „Und mich.“ Wieder musste ich ihn verwirrt anblicken. „Du hast mich auch auf deiner Seite. So ungerne ich es auch zugebe, scheinst du es wirklich ernst zu meinen, mir zu helfen. Also werde ich die Kraft für uns beide übernehmen. Wie du schon angemerkt hast, werde ich dich allerdings vernichten, wenn du dich doch gegen mich stellen solltest“, ergänzte er gelassen. Den sollte mal jemand verstehen. Im einen Moment macht er sich lustig über mich und benimmt sich wie ein Feind und im nächsten will er für mich mit seiner Kraft einstehen. „Die letzte Anmerkung musste sein, oder? Na dann schauen wir doch mal, wie gut wir als Zweckgemeinschaft zusammenarbeiten.“ Er lächelte. Oder war das nur eine Täuschung. Seit wir hier waren hatte Zero kaum gelächelt, außer, wenn Helena und Craig dabei waren. Hoffentlich würde sich unser Verhältnis nach dieser Aktion wieder bessern, schließlich war das auch irgendwie mein Ziel.

Beim Anwesen von Elias Marsh angekommen verflog mein letztes bisschen Zuversicht. Zero sah auch nicht mehr so kühl und selbstbewusst aus wie er es sich wohl gewünscht hätte. Er kaute auf seiner Unterlippe herum und sah sich hektisch um. Am Rand des Ortes stand das alte Herrenhaus, dass er vielleicht sogar selbst bauen ließ und gab ein imposantes Erscheinungsbild ab. Der Garten war gepflegt und sogar einige Blumenbeete waren angelegt worden. Es sah so aus, wie man es von einem Vampir von Stand erwartete, aber fast wie ein dunkler Nebel waberte das Unbehagen aus diesem Haus. Es war nicht nur die Aura eines hochrangigen Vampirs, sondern noch etwas anderes, wie eine Art düstere Erscheinung. Der Rasen war gut gepflegt, doch wirkte er wie künstlich. Kein Leben steckte in diesem Ort. Der Garten des Paktes war meistens verwildert und es wuchs alles durcheinander, aber man spürte dort und auch im Haus selbst die Leute, die dort lebten. Hier waren nur die Stille und der kalte Todeshauch, der einem entgegen schlug. Das sollte wohl Eindringlinge abhalten, aber dass es auch auf uns eine so starke Wirkung hatte, zeigte, dass er wohl auch Vampire von hier fern halten wollte. In letzter Zeit war es still um Elias Marsh geworden und man hatte sogar schon über seinen Tod spekuliert, aber so langsam verstand ich, wieso niemand hier her gekommen war um nach ihm zu sehen. Eine deutlicher Ausladung als das hier gab es nicht. Trotzdem mussten wir uns zusammenraufen und in dieses Haus, zu diesem Mann und ihn fast schon herausfordern. Bei dem Gedanken an unsere Situation stellten sich mir die Nackenhaare auf. „Nervös, Prinzessin?“, fragte Zero, aber der wohl beabsichtige Spot war kaum noch zu hören und es schien mir, als wollte er sich damit nur selbst beruhigen. „Etwas, aber es muss sein. Ich werde vorgehen, klingeln und auch zuerst ein Gespräch führen. Wenn es dann wirklich zum Kampf kommt ist mein Teil des Ganzen erfüllt, weil dann bin ich ziemlich aufgeschmissen. Wenn du nicht gegen ihn ankommst tritt Phase drei in Kraft“, versuchte ich zu unser beider Beruhigung ein Gespräch anzufangen. „Was bedeutet Phase drei? Die ist mir neu.“ „Wir sterben und Onkel Vlad wird fürchterliche Rache für mich nehmen. Kurz vor seinem Tod gesteht Marsh alles und dir wird im Jenseits Absolution erteilt.“ Wieder huschte ein leichtes Lächeln über sein Gesicht und er entspannte sich etwas. Auch wenn dieser Satz der pure Zynismus gewesen war, schien er meinem Unterbewusstsein doch nicht so unmöglich, wie ich es gerne gehabt hätte. Immerhin hatte ich die schwere Spannung etwas mildern können. „Beruhigend, das zu wissen“, sagte er, nachdem er einmal geschluckt hatte und langsam wieder zu seiner gewohnt spöttischen und kühlen Art zurück fand. Langsamer als nötig gingen wir zur Haustür, woran in großen Lettern der Name des Besitzers stand. Gleich daneben eine moderne Klingel mit Gegensprechvorrichtung, die an diesem Ort irgendwie fehl am Platz wirkte. Nachdem ich mich noch mal durch eine Rücksprache mit meiner inneren Stimme darüber vergewissert hatte, dass das wirklich nötig war betätigte ich die Klingel und lauschte gespannt dem Läuten der Glocke im Inneren. Nach wenigen Sekunden ertönte eine Stimme aus der Gegensprechanlage. Eindeutig nicht Elias Marsh. „Ja bitte?“, fragte die Stimme höflich. „Hier ist Akira Feralia Draculäa. Ich würde gerne eine Unterredung mit Elias Marsh haben.“ „Natürlich, sofort. Ich werde Ihnen gleich die Tür öffnen. Gedulden sie sich bitte einen Moment.“ Es knackte und die Stimme war weg. Wir warteten einen kurzen Moment und schon wurde die schwere Eingangstür geöffnet. Im Türrahmen stand nun ein Mann in einem einfachen, schwarzen Anzug, zurück gekämmten Haaren und blassroten Augen. Ebenfalls ein Vampir und wohl ein direkter Abkömmling von Marsh selbst. Er verbeugte sich leicht vor mir und sah dann Zero kritisch an. „Er gehört zu mir. Mein Leibwächter. Mein Onkel hat ihn mir ans Bein gebunden, weil er mal wieder übervorsichtig ist“, versuchte ich notdürftig zu erklären, während ich ein missglücktes Lächeln versuchte. Er nickte nur leicht. „Folgen sie mir bitte, Herrin.“ Er machte den Weg frei und hielt uns die Tür auf. Anscheinend hatte Marsh ihn als Butler eingestellt und er schien die gesamte Zahl der Angestellten auszumachen. Etwas irritiert folgen wir ihm, bis wir schließlich im ersten Stock vor einer großen Tür zum Stehen kamen. „Der werte Herr wird Euch nun empfangen, Prinzessin. Ich werde gleich den Tee reichen, wenn es genehm ist. Falls Ihr, oder Euer Begleiter einen Wunsch haben können sie mir diesen jederzeit mitteilen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand wieder in der Dunkelheit der Gänge. „Komischer Typ“, stieß Zero verächtlich aus. Ich musste ihm im Stillen beipflichten. Marsh hatte schon immer ein gewisses Talent dafür gezeigt andere zu manipulieren und in seinen Bann zu ziehen, aber dass diese Manipulation zu einer solchen Leblosigkeit führte war mir nicht bewusst gewesen. Als ich die Tür bedächtig öffnete war mir sofort klar, dass wir keinen einfachen Gegner haben würden. Seine Aura war überwältigend und selbst für einen hochrangigen Vampir noch im oberen Drittel einzuordnen. Er saß hinter einem großen Schreibtisch, auf dem viele Briefe verstreut lagen und hinter ihm flackerte das Kaminfeuer. Ich trat in kleinem Abstand vor den Schreibtisch. Zero hatte sich die Kapuze tief in das Gesicht gezogen und in der Nähe der Tür positioniert. Elias Marsh sah von seinem Papirstapel auf und breitete die Arme aus, als er mich sah. Als er aufstehen wollte, gebot ich ihm sitzen zu bleiben. Je mehr Abstand zwischen und war, desto besser. „Akira, meine Liebe! Wie geht es dir? Wir haben uns ja schon so lange nicht mehr gesehen, aber kein Wunder bei deinem Job. Setz dich und erzähl mir was, oder warum bist du zu mir gekommen?“ Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, schloss die Augen und ging kurz in mich. Ich spürte Zeros Aura hinter mir. Schwach, nicht aktiv, aber da. Ich wusste nicht warum, aber die Tatsache ihn hinter mir zu haben beruhigte mich ungemein, auch wenn wir nur eine Zweckgemeinschaft waren. Ich öffnete die Augen und sah Marsh direkt ins Gesicht. „Es geht um den Fall von Zero Leskartes von vor ein paar Jahren“, begann ich mit fester Stimme. Seine Fröhlichkeit und die heitere Ausgelassenheit waren mit einem Schlag aus seinem Gesicht verschwunden. Nun sah er mich ernst an und überlegte wohl, wie er damit umgehen sollte. „Der Fall ist doch schon lange bei den Akten. Warum sollte ich oder Ihr euch damit noch beschäftigen? Oder hat jemand den Tod des Jungen vermeldet?“ Kurz blitze Hoffnung in seinem Gesicht auf. Ein verschlagenes Lächeln umspielte seine Lippen und er schien sich auf eine Bestätigung meinerseits zu freuen. „Nein, deshalb bin ich nicht hier.“ Das Lächeln verschwand wieder und er rückte sich in seinem Sessel zurecht. „Viel mehr bin ich hier um Ihnen ein paar Fragen zu stellen.“ „Gut, dann frag. Mein Butler sollte uns auch gleich Tee bringen. Setzt euch doch, Prinzessin. Es reicht doch, dass Euer Leibwächter schon die ganze Zeit steht.“ „Nein danke, ich stehe lieber. Es wird auch nicht lange dauern. Nun zu meinem eigentlichen Anliegen. Hatten Sie nach der Verurteilung irgendwelchen direkten oder indirekten Kontakt zu Zero Leskartes?“ „Natürlich nicht. Als Ratsmitglied ist es mir verboten nach der Urteilsverkündung Kontakt zu Verurteilten zu haben.“ „Das stimmt. Und Ihnen ist auch bewusst, dass sie nach der Verkündung keine eigene Form von Bestrafung vornehmen dürfen?“ Langsam wurde ihm unwohl. „Ja, das weiß ich. Worum geht es Euch, Prinzessin?“ „Es geht mir darum, dass es nach den Gesetzen der Vampirgesellschaft verboten ist, auf einen Vogelfreien Killer anzusetzen. Das gilt als eigenes Urteil und ist damit absolut unzulässig.“ Nun war es auf dem Tisch. Wie würde er nun regieren? Meine gesamten Muskeln spannten sich an um einem plötzlichen Angriff entkommen zu können, doch er blieb sitzen, senkte den Kopf und ließ einige Sekunden verstreichen. Dann zuckte sein Körper plötzlich, doch statt eines Angriffs, fing er an laut zu lachen. Ich schaute ihn verwirrt an. Nachdem er sich einige Lachtränen aus den Augen gewischt hatte sah er mich lächelnd an. „Prinzessin, ich dachte schon es wäre etwas mit mir. Ihr könnt einem mit Eurer ernsten Art wirklich Sorgen machen. Nun gut, wer hat das denn getan? Soll ich euch helfen ihn zu finden, oder wisst ihr noch nicht, wer es getan hat?“ Ich war so überrumpelt, dass ich kurzzeitig die Fassung verlor und wohl ziemlich dumm diesen Mann angeschaut hatte, der nun in all seiner Selbstsicherheit dasaß und anscheinend davon überzeugt war, dass es nicht um ihn ging. Sowas Selbstgefälliges. „Ich weiß schon wer es ist. Derjenige sitzt mir gegenüber. Sie wissen, dass sie damit gegen gültiges und unantastbares Vampirrecht verstoßen, deshalb gebe ich Ihnen in Ihrer Position als Ratsmitglied die Chance sich selbst bei meinem Onkel zu melden um Ihre Strafe zu empfangen. Das würde zumindest etwas von Ihrer Würde wahren. Fall Sie das nicht in Erwägung ziehen werden wir den üblichen juristischen Weg gehen. Sehen Sie das als freundliches Angebot.“ Oh Mist. Damit war mein Testament unterschrieben, das konnte er nicht mehr umlenken. Doch immer noch lächelnd antworte er mir. „Meine liebe Akira, wir kennen uns doch jetzt schon so lange. Wer hat euch denn diesen Floh ins Ohr gesetzt? Ich bin seit vielen Jahren ein ehrenwertes Mitglied des Rates. Aber Ihr habt diesen Text wirklich schön aufgesagt. Wie man es von einer der Overen erwartet. Nun setzt euch und sagt mir, wer solche Geschichten über mich verbreitet.“ „Unfassbar“, flüsterte ich leise und angewidert. „Was sagtet Ihr? Jetzt setzt euch schon und lasst uns Tee trinken“, drängte er mich freundlich. „Es reicht mir, Elias. Ich bin kein dummes Mädchen, auch, wenn ich für euch so aussehen mag. Hört auf mit dieser gespielten Vertrautheit. Es ekelt mich an, wie ihr so tun könnt, als seien wir auch nur in irgendeiner Art tiefer verbunden!“ Meine Nervosität war weg, meine Angst verflogen. In meinen Gedanken stand nur noch das Ziel diesen Mann aus der Gesellschaft zu entfernen. „Prinzessin, was ist los mit Euch?“, lachte er, “Wie kommt Ihr auf solche Gedanken? Hat euch irgendwer beauftragt oder euch eingeflüstert, so von mir zu denken?“ „Elias, Ihr erinnert euch doch bestimmt, welchen Teil der vampirischen Triplette ich repräsentiere, oder?“, fragte ich ihn nun ganz ruhig. Er sollte noch merken, dass er die Falsche für dumm verkaufen wollte. „Natürlich, Prinzessin. Ihr repräsentiert die Seele.“ Kurz nachdem er es ausgesprochen hatte wich jegliche Fröhlichkeit aus seinem Gesicht und sein linker Ringfinger zuckte nervös. „Das hattet Ihr vergessen, oder? Weil Ihr dachtet, Ihr hättet ein dummes Kind vor Euch, oder einen normalen Vampir, den Ihr täuschen könnt, aber das stimmt nicht. Ihr habt Eure Seele nicht unter Kontrolle gehabt und ich konnte in ihr lesen, wie in einem offenen Buch. Ihr habt in den letzten Jahren viele Duzend Auftragsmörder auf Zero Leskartes angesetzt. Damit seid Ihr allen Ämtern enthoben, da ich Eure Schuld selbst nun an Euch sehen konnte. Werdet Ihr euch jetzt friedlich ausliefern?“ Er war ganz still gewesen und hatte nur dagesessen und hatte sich alles angehört. Nun sah er mich kalt an und stand langsam auf. „Dann lässt es sich wohl nicht ändern. Meine liebe Akira, ich habe das doch nur für das Volk der Vampire getan. Für den Rat und für Euch. Dieser kleine Bastard war zu stark und außer Kontrolle. Es war ein Fehler ihn am Leben zu lassen! Wir hätten uns damals schon seiner endledigen sollen, dann wäre er heute auch nicht so ein Ärgernis. Er ist eine Gefahr für uns alle! Selbst vor seinem eigenen Vater ist er nicht zurück geschreckt. Wir vergessen da hier einfach alles und Ihr geht wieder Eurer Arbeit nach. Oder Ihr erledigt ihn selbst, wie wäre das? Überzeugt euren Onkel, dann können wir ihn jagen lassen.“ Mit jedem Satz war er lauter geworden und war auf mich zugekommen. Aufflammender Wahnsinn spiegelte sich in seinen Augen. Ich wollte weg von ihm. Er war besessen von der Macht und ihrer Erhaltung und das ohne Rücksicht auf Verluste. „Na was sagt Ihr?“ Er drängte immer näher zu mir, bis er mir genau gegenüber stand. „Niemals! Ihr seid süchtig nach der Macht und denkt nicht mehr klar. Ich würde nie so einfach meine Prinzipien wegwerfen.“ Er sah nun fast schon traurig aus, legte den Kopf leicht schief und schien nicht zu verstehen, warum ich ablehnte. Von einem Moment auf den Nächsten verschwand der Wahnsinn aus seinen Augen und sie wurden kalt wie Eiskristalle. „Wirklich bedauerlich. Dann muss ich Euch wohl auch aus dem Weg räumen, genauso wie Euren kleinen Wachhund. Um den wird sich mein Butler schon kümmern.“ Verdammt, der Butler! Er war wohl eingeweiht und bestimmt nicht schwach, wenn Marsh ihn angestellt hatte. Ich drehte mich fast panisch um. „Zero!“, entfuhr es mir in einem Aufschrei der Sorge und schlimmen Vorahnung. Ich sah noch, wie eine schwarz gekleidete Gestalt zu Boden ging. Zero stand daneben. Er hatte den Butler mit einem gezielten Schlag ausgeschaltet. „Beweisstück?“, fragte er kalt, während er mich ansah und auf den Butler zeigte, der reglos am Boden lag. Ich nickte nur stumm. Zero würde ihn nicht töten, weil er als Belastung gegen Marsh diente. „Du!“, entfuhr es Marsh. Er hatte eine Hand auf meine Schulter gelegt, deren Finger sich nun tief in meine Haut gruben, sodass ich einen Schmerzlaut unterdrücken musste. „Lass sie los“, verlangte Zero ruhig. „Wieso sollte ich? Ich werde sie einfach umbringen und dann endlich dich. Das hätte ich von Anfang an selbst machen sollen!“ Der Wahnsinn war in vollem Ausmaß zurück. „Ich hab gesagt, dass du sie loslassen sollst!“ Zeros Augen glühten tiefrot und seine Aura wurde sehr viel deutlicher. „Sonst was? Was willst du tun?“ „Akira? Dein Teil ist erledigt. Danke.“ Er hatte dabei so ehrlich und ruhig geklungen, dass es mir mit einem Mal meine Ruhe wiedergab. „Tja, Prinzessin, dein Wachhund scheint dich im Stich zu lassen.“ Oh, da lag er falsch. In einer blitzschnellen Bewegung griff ich nach seinen Fingern die auf meiner Schulter lagen, knickte sie nach oben, sodass sie brachen und entwand mich so seinem eisernen Griff. Im gleichen Moment, indem ich befreit einige Schritte nach vorne taumelte zischte bereits Zero an mir vorbei, seinen rechten Arm zu einer Klaue verwandelt und blockte Marshs Handbewegung in meine Richtung ab, mit der er mich wohl zurückholen wollte. „Ich werde dein Gegner sein, du mieser, kleiner Spinner“, zischte Zero und ging in eine leicht gebückte Kampfposition, bei der seine beiden riesigen Klauen vor ihm in Stellung gebracht waren. Das hier würde kein normaler Kampf werden. Es war die Rache eines Jungen, der aller verloren hatte und ein Leben in Angst hatte führen müssen, wegen einem machthungrigen Fremden.

Zeros erster richtiger Schlag fegte Marsh weg wie eine Feder im Wind und schleuderte ihn an die Wand. Stöhnend krachte er zu Boden. Nur schwer konnte er sich wieder aufrichten und ein normaler Mensch wäre wohl schon fast seinen inneren Blutungen erlegen. Doch er griff sich einen Degen, der von der Wand gefallen war und kam nun auf Zero zu. Seine Augen funkelten bedrohlich und ließen keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit. Er stürmte auf Zero zu und versuchte seinen Hals zu treffen um ihm den Kopf von den Schultern zu schlagen, doch Zero wich immer wieder geschickt aus. Marsh hatte einen entscheidenden Fehler gemacht. Er hatte Zero durch seine ganzen Häscher trainiert und selbst kaum etwas getan. Jetzt hatte er jemanden gegen sich, der genau wusste wie man kämpft und bereit war sein gesamtes Können gegen ihn ins Feld zu führen. Schon als Kind war er gefährlich gewesen, doch nun nach Jahren des ewigen Kampfes war noch sehr viel gefährlicher geworden. Marsh hatte sich sein eigenes Schicksal erschaffen. Er hatte immer die Macht der geborenen Vampire gefürchtet und nun stand er wohl einem der mächtigsten dieser Art gegenüber. Immer wieder startete er Angriffe gegen Zero, doch dieser wich mit spielerischer Leichtigkeit aus. Es erschien mehr, als würde er tanzen statt in einem Kampf auf Leben und Tod mit seinem Erzfeind zu ringen. Dieser geriet übrigens zunehmend in Rage und wurde immer unkontrollierter. Auf einmal spürte ich einen Auraanstieg, der direkt von Marsh ausging. „Zero, pass auf! Seine Auraaktivität hat sich verändert, er hat irgendwas vor!“, rief ich gerade noch rechtzeitig. Zero konnte nur knapp den Blutspeeren entkommen. Blutkontrolle. Das hieß, dass er sich auf Natalias Kampftechniken verstand. Er konnte Blut aus seinem Körper ziehen und beliebig Formen und verhärten, jedoch auch anderen einflößen und sie so zu seinen Sklaven machen. Die Blutspeere, die den Boden durchlöchert hatten zerflossen sofort wieder und kehrten zu ihrem Meister zurück. „Dachtet ihr wirklich, dass ich es euch so einfach mache? Das hier wird dein Ende Zero Leskartes!“ Mit diesen Worten schossen etwa zwanzig Blutspeere aus ihm heraus. Zero war schnell zur Seite gesprungen, doch zwei Speere erwischten ihn dennoch. Blut tropfte aus seiner Schulter und dem Oberarm. Marsh lächelte siegessicher und kam langsam auf Zero zu, der einen Moment lang seine Wunden betrachtete. „Verdammt, da hab ich mich doch wirklich treffen lassen. Wie ärgerlich. Doch das reicht nicht, alter Mann. Diese Speere sind ja wirklich nett und bestimmt auch für viele tödlich, aber ich lasse mich von so etwas nicht mehr aufhalten!“In einer unglaublichen Geschwindigkeit schlossen sich seine Wunden und er richtete sich wieder zu voller Größe auf. Ein dämonisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Marsh war nun drauf und dran die Beherrschung zu verlieren und seine Gesichtszüge schienen auch nicht länger auf ihn zu hören. Sein Ausdruck wechselte von einer Maske des Wahnsinns zu völliger Ungläubigkeit und wieder zum gelassenen Gesicht des Anfangs. „Beenden wir es, Elias Marsh. Unser gemeinsames Schicksal wird hier und jetzt enden.“ Ohne jegliche Emotion stürzte Zero auf ihn zu, seine Klauenhand legte sich um seinen Oberkörper, ließ ihn nach hinten fallen und rammte ihn mit aller Kraft in den Boden. Seine Klauen bohrten sich durch den Teppich in den Boden, überall entstanden Risse. Einen Sekundenbruchteil später brach der Boden unter ihnen ein und sie stürzten ins Erdgeschoss. Ich hörte den Aufprall des Bodenstücks, das hinunter gefallen war, dann ein letztes Aufstöhnen von Marsh. Schnell rannte ich zum Loch im Boden und sah nah unten. Zero kniete auf Marsh und fixierte ihn immer noch mit seiner Klauenhand. Der Verräter selbst schien das Bewusstsein verloren zu haben. Blut war um seinen Mund zu erkennen und sein Rückgrat war wohl gebrochen. Mit einigen geschickten Handgriffen hatte ich mich durch das Loch nach unten gehangelt und stand nun vor Zero, der leicht keuchend dasaß, als würde er Marsh nicht mehr loslassen wollen. „Es genügt, Zero. Er ist nicht mehr bei Bewusstsein. Ich rufe gleich beim Pakt an. Es ist vorbei“, sagte ich sanft und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Nur sehr langsam stand er auf und klopfte bedächtig den Staub von seiner Kleidung. „So viele Jahre waren es. So viele Jahre in der ewigen Angst und nun kommst du vor ein paar Wochen in mein Leben und schon ist meine Angst nicht mehr vorhanden. Du bist echt unglaublich, Aki. Aber im Kampf hast du zurzeit echt nichts drauf, oder?“, sagte Zero gelassen und grinste mich beim letzten Satz breit an. „Wie bitte?!“, entrüstete ich mich überrumpelt. „Naja, ohne mein Eingreifen hätte dich der Typ auseinander genommen. Das ist echt schwach.“ „Für die meisten Idioten reichen selbst meine momentanen Fähigkeiten. Außerdem hab ich dir doch gesagt, dass ich nicht in Höchstform bin.“ Ich sah beleidigt weg. Was erlaubte sich der Kerl? „Ja, das stimmt.“ Seine Stimme hatte plötzlich einen ganz sanften Ton, wie ich ihn fast nie bei ihm hörte. „Ohne mich wärst du gestorben, er hätte dich umgebracht und ich hätte dich auch töten können. Sogar noch leichter, als ich es mir vorher gedacht hatte. Trotz all dem bist du mit gekommen. Ich bin wirklich beeindruckt. Woher wusstest du, dass ich dich nicht einfach sterben lasse?“ „Irgendwer musste ja mit dem Vertrauen anfangen, außerdem hätte das nicht zu dir gepasst. Ich habe mich mit dir im Rücken sicher gefühlt und nach über 500 Jahren vertraue ich meinen Eingebungen sehr und damit auch dir. Ganz einfach.“ Zero stieß ein verächtliches Seufzten aus. „Du bist wirklich unglaublich, Aki.“ „Du scheinst dein Urteil über mich ja auch geändert zu haben, oder?“ „Wenn ich von diesem Idioten hier etwas gelernt habe, dann dass man nicht vorschnell urteilen sollte. Nichtmal über die Vampirprinzessin. Denk nicht, dass plötzlich wieder alles in Ordnung ist, aber ich glaube es gibt eine Basis damit wir mit einander gut auskommen.“ Egal wie hart und sachlich er dabei wirken wollte, so hatten seine Worte doch eine gewisse Wärme, die mir sagte, dass wir doch wieder Freunde werden konnten.

Kapitel 33 - Nachbereitung

Kapitel 34 - Unsere Klasse, unsere Ruhe

Wieder saßen wir in dem Zug, nur dieses Mal in die andere Richtung. Richtung vorgetäuschter Normalität, Richtung unserer Freunde und damit jener Menschen, die wohl nie erfahren würde, was an diesem Tag geschehen war. Für die Vampirgesellschaft würde es wohl ein denkwürdiger Tag werden und große Wellen schlagen, doch hier, in der Welt der Menschen lief alles wie gewohnt. Es war wieder ruhig zwischen Zero und mir, allerdings lag diesmal nicht das bedrückende Schweigen über uns, sondern eher eine geschaffte, aber glückliche Ruhe. Zero hörte leise Musik, hatte den Kopf gegen die Scheibe gelehnt und seine Augen geschlossen. Ich beobachtete die anderen Mitreisenden. Menschen beobachten war eins meiner wenigen Hobbies, die hauptsächlich aus purer Langeweile geboren worden waren, aber man konnte einen gewissen Unterhaltungswert nicht leugnen. Langsam jedoch spürte auch ich den Tag auf mir lasten. Meine Bewegungen wurden träger und nach einigen Minuten fand auch ich meinen Kopf an der Glasscheibe wieder. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir wieder in dem kleinen Dorf an, in dem sich unsere Herberge befand. Schnell hatten wir sie erreicht und huschten durch den Vordereingang hinein. Anscheinend noch rechtzeitig. Noch keine lärmenden Schüler waren zu hören und weder Militär, noch Geheimdienste schienen die Spurensicherung aufgenommen zu haben, was hieß, dass Craig nichts gemerkt hatte. Ich sah auf die Uhr in der Eingangshalle. „Die kommen frühestens in einer Stunde zurück. Wir haben es echt geschafft zum Abendessen hier zu sein, Aki. Aber irgendwie schien es mir zu einfach. In einer Nacht und Nebelaktion Elias Marsh zur Rechenschaft ziehen? Das klingt mir irgendwie zu simpel.“
„Da hast du ganz recht. Der eigentlich spannende Akt kommt jetzt. Im Schlimmstfall hat Marsh noch Verbündete in den Reihen des Rates und ich weiß, wie aalglatt manche von denen sind. Die legen es sich am Ende noch so zurecht, dass du mich beeinflusst hast. Dann würden sie das Ganze auf dich schieben und könnten nun wirklich eine Todesstrafe verhängen.“ Das konnte wirklich zum Problem werden.
„Es ist immer der Schlimmstfall zu erwarten.“ Er lächelte schief. „Aber heißt Vogelfreiheit nicht eigentlich, dass ich frei von jedem Gesetz bin?“
„Eigentlich ja, aber es ist der Vampirrat und wie das nun mal so üblich ist, haben sie die Gesetze verfasst und sich bestimmt irgendwo eine Tür eingebaut, damit sie doch noch Gewalt über dich haben. Letztendlich müssen wir dafür sorgen, dass wir genug Fürsprecher haben. Am besten Onkel Vlad, aber das wird eine ganz eigene Angelegenheit.“
„Wir stecken also immer noch bis zum Hals in Problemen“, stellte Zero trocken fest.
„Wenn du es gleich so ausdrückst: ja. Der schwere Teil kommt erst noch. Hier können uns nämlich nicht deine unglaublichen Kräfte retten. Zuerst müssen wir aber diese Klassenfahrt hinter uns bringen. Hoffentlich wird das angenehmer.“ „Immerhin will uns hier keiner umbringen. Sag mal, Aki?“
„Ja?“
„Was würde eigentlich mit dir passieren, wenn der Ernstfall eintritt und sie mich zum Täter machen? Du hängst da ja irgendwie auch mit drin.“
„Rechtlich passiert mir nichts. Ich habe die Immunität einer Overen, aber ich würde natürlich einiges an Ansehen und Vertrauen einbüßen. Außerdem, falls mir Onkel Vlad nicht glaubt, kann ich mich auf einen Urlaub im Kerker einstellen und mein freies Berufsleben vergessen. Und damit auch Craig, Helena, Melli und alle anderen.“ So sachlich ich das auch erklärte, hatte ich trotzdem plötzlich einen Klos im Hals, der mir fast das Sprechen unmöglich machte. Bisher war alles nach Plan verlaufen, aber das konnte sich sofort ändern. Wir hatten sehr hoch gepokert und an sich keinerlei Absicherungen, falls es nicht so verlief, wie wir das wollten. Plötzlich hörte ich laute Musik. Ich sah auf. Zero hatte mir seine Kopfhörer aufgesetzt, grinste und formte mit den Lippen nur die Worte „Entspann dich, das wird schon alles gut gehen.“ Und lehnte sich elegant wieder zurück. Er war wirklich irritierend. Im einen Moment war er noch der Prinz des Eises und würdigte mich keines Blickes und jetzt war er fürsorglich, besorgt und fröhlich. Wir hatten uns in der Lounge niedergelassen und saßen in zwei großen, bequemen Sesseln. Zudem hatten wir uns Kaffee geholt und uns umgezogen. Wir hatten beide ein Handtuch auf dem Kopf, da wir durch einen Regenschauer mussten. Insgesamt sahen wir jetzt eigentlich viel erbärmlicher aus, als zu unserer Krankheitsaufführung.
„Denkst du irgendwer kauft uns später oder morgen unsere Wunderheilung ab?“, fragte ich skeptisch. „Bleibt ihnen was anderes übrig?“, stellte Zero die trockene Gegenfrage.
„Wohl eher nicht. Ich glaub ich höre sie. Dieser unverkennbare Lärm von Schulklassen. Nur Mückensummen übersteigt das an Nervigkeit und durchdringendem Geräuschpegel.“ „Sind Mücken nicht eigentlich kleine Vampire und damit Artverwandte?“
„Stell uns bitte nicht mit denen auf eine Stufe. Immerhin gibt es mehr Mittel gegen diese Viecher, als gegen uns. Eigentlich sind die die Bedrohung…!“ Bevor wir diese, bestimmt hoch philosophische, Diskussion weiter führen konnten, stürmte unsere Klasse, einem Gewitter gleich, die Eingangshalle und damit war die Ruhe erledigt. Nachdem das gesamte Gebäude in Chaos zu versinken schien, entdeckten uns Craig und Helena.
„Akira! Zero! Ihr seht beschissen aus!“ Craigs Feingefühl war wirklich unglaublich. Er stand vor uns, hatte beide Arme weit geöffnet und schien sich jetzt erst seiner Aussage und seinem Auftreten bewusst zu werden. Er sah irgendwie verloren aus.
„Oh, ähm, Entschuldigung, so war das nicht gemeint…“, stammelte er nun etwas unbeholfen. Er hatte anscheinend einfach das erstbeste gesagt, was ihm durch den Kopf gegangen war. Er musste echt Redestau gehabt haben.
„Wie war es denn gemeint, Craig“, fragte Zero spitz und seine Augen funkelten fast schon. Craig versuchte sich nun, geschickt wie immer herauszuwinden, gestikulierte wie wild und sah mich immer wieder hilfesuchend an, doch ich lächelte, schwieg und nippte an meinem Kaffee. In diesem Moment amüsierte ich mich einfach nur über ihr Gespräch, erfreute mich an all dem Leben, das in den Räumen und Gängen war. Helena kam zu mir uns umarmte mich. Dabei flüsterte sie mir ins Ohr: „Und, wie lief es?“ „Wie du siehst, leben wir noch. Der Rest wird sich bald entscheiden.“
„Ich bin so froh, dass ihr wieder heil zurück seid. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, dass ihr tot sein könntet.“ Ich spürte, wie ihre Tränen auf meiner Schulter landeten und ihre Stimme erstickt wurde. Arme Helena. Sie unterdrückte ihr Weinen schnell wieder und ließ sich in den Sessel neben mir sinken, drückte ihre Tasche an sich und schwieg. Die Diskussion der beiden Herren ging indessen immer weiter. Zero hatte sein bestes höhnisches Grinsen aufgesetzt und Craig schien immer mehr in Erklärungsnöte zu geraten.
„Lass gut sein, Zero. Das kann man sich ja nicht ansehen. Als würde man jemandem beim Ausweiden zusehen wobei der Kampf vorher Zahnstocher gegen Streitaxt war.“ Zero drehte langsam seinen Kopf zu mir und schien abzuwägen, ob er meiner Bitte Folge leisten, oder weitermachen sollte. Craig gestikulierte im Hintergrund und schien mir eine stille, aber sehr ausführliche Dankesarie zu widmen. Ich musste lachen, woraufhin Zero ihm einen kurzen, bohrenden Blick zuwarf und sich Craig, wie erschossen in den letzten Sessel der Runde sinken ließ. Nach langer Unsicherheit und Kälte, schien endlich, wenigstens für ein paar Stunden, wieder alles gut zu sein. Auch wenn mir meine Instinkte sagten, dass dies nur eine trügerische Ruhe war, war es doch angenehm. Sehr viel angenehmer als in dem dunklen Herrenhaus irgendwo da draußen, in dem Elias Marsh seine düsteren Fäden gesponnen hatte um diese Intrige zu formen. Ich würde ihm zeigen, was passierte, wenn man sich gegen die eigenen Leute stellte. Als Vampirprinnzessin bringe ich Verderben über all jene, die es wagen, sich selbst über alle anderen zu stellen und werde sie strafen, um die Gesellschaft zu wahren und mein Heim zu schützen. Dies ist der Auftrag der Overen.

Kapitel 35 - Vorrausblick

Die restlichen Tage der Klassenfahrt verliefen normal. Für mich war es fast schon verstörend, eine solche Normalität um mich zu haben. Nicht selten entfernte ich mich von den anderen um auch wieder einen inneren Abstand zu gewinnen. Mehr als jemals zuvor musste ich mir bewusst machen, dass das hier nicht real war. Es war nur eine Tarnung, ein Schauspiel, dass ich inszenierte um nicht entdeckt zu werden, aber mit jedem Tag verschwamm in meinen Gedanken die Trennlinie zwischen meinem Leben in den Schatten, das mich mit der Unterwelt verband und jenem, das ich hier im Licht führte. Noch nie zuvor hatte ich solch enge Bindungen mit den Menschen eingehen müssen. Schon zwei meiner neuen Bekannten wussten um meine wahre Identität. Je mehr ich versuchte meine zwei Leben auseinander zu zerren, desto stärker schlossen sie sich zusammen, ihre Ränder verschwanden manchmal ganz und dann durchzuckte mich die kalte Klarheit, die ich nie erhalten wollte. Ich konnte es nicht mehr. Zero hatte den endgültigen Stoß gegeben, der Schatten und Licht verband. Das hier war nicht einfach eine Versetzung in ein neues Einsatzgebiet gewesen. Ich konnte nicht mehr so vorgehen, wie ich es sonst immer getan hatte. Alles war anders, mit jedem Wort, dass ich sprach, mit jeder Bekanntschaft, die ich machte wurde meine Klarheit deutlicher, bis ich am vierten Tag der Klassenfahrt mitten in der Nacht aufwachte. Blut rann aus meinen Augen und ich zitterte. Helena war aufgewacht und zu mir geeilt. Zusammen hatten wir das Blut wegwischen und aus den Bettbezügen waschen können, doch während der ganzen Zeit hörte das Zittern nicht auf und ich wusste nicht wieso. Ich war ruhig, doch der Gedanke, der sich in dieser Nacht in meinem Kopf gebildet hatte war so deutlich, wie kaum etwas sonst. Zum ersten Mal seit vielen hundert Jahren gab es nicht mehr meine zwei Leben, nicht mehr mein geteiltes Selbst, sondern nur noch mich, mein Leben und diese Erkenntnis machte mir auf eine Weise Angst, wie es nicht einmal der Tod in früherer Zeit geschafft hatte. Langsam wurde mir auch bewusst wieso. Schon durch Helena hatte sich ein Faden zwischen meinen Welten gespannt, den ich nicht zu trennen vermochte und schon sie war dadurch in Gefahr geraten. Die Revolutionäre. Egal in welcher Welt, sie waren eine Gefahr, der ich niemanden aussetzen konnte. Sie hatten es selbst gewagt den Pakt anzugreifen, also was würden sie tun, wenn sie mich finden würden und wüssten, mit wem ich zu tun habe? Zero könnte sich wohl noch verteidigen, aber Helena war ihnen ausgeliefert.
„Helena?“ Meine Stimme glich kaum noch einem Flüstern, mehr einem gebrochenen Wort, welches nur durch Zufall meinen Mund verlassen hatte.
„Ja? Akira, was ist los mit dir?“
„Helena. Sobald wir zurück sind, bringe ich dir bei, wie man mit Waffen umgeht.“„Was? Warum? Wie kommst du auf einmal darauf? Das ist doch absurd.“
„Nein, ist es nicht.“ Endlich hatte meine Stimme ihren Klang wiedergefunden. „Du hast erlebt, wie sich der Konflikt mit den Revolutionären zuspitzt. Jeder, der mit mir zu tun hat ist potentiell in Gefahr und ich kann es nicht einfach so lassen, dass du im Falle des Falles völlig wehrlos bist. Das könnte ich mir nicht verzeihen. Ich habe dich da hinein gezogen und ich werde dafür sorgen, dass du überlebst.“
„Akira…“
„Deine Augen haben den Nebeneffekt, dass deine Sehkraft auch außerordentlich ist. Du kannst auf viel größere Entfernung scharf sehen. Wahrscheinlich besser als Tiere, oder Dämonen. Wir werden es mit Schusswaffen probieren. Du kommst mit Zero und mir zum Pakt, sobald wir wegen Elias Marsh dorthin aufbrechen.“ Ich war ganz ruhig, es war analytisch. Kein Gefühl, sondern kalte Berechnung, etwas, was ich seit frühster Kindheit beherrschte, womit ich umgehen konnte.
„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“
„Es reicht nicht mehr, nur abzuwarten, was sie als nächstes tun. Wenn sie Krieg wollen, können sie den haben. Ich habe in letzter Zeit völlig vergessen, dass ich kein kleines Mädchen bin, sondern eine Overe. Ich lasse mich nicht herumstoßen und tanze nach deren Pfeife. Wer sich an meiner Familie und meinen Freunden vergreift, den werde ich zerreißen. Ich werde ihnen zeigen, dass die Hölle im Vergleich zu manchen sehr weltlichen Dingen, ein schöner Ort ist, an den sie gerne gehen wollen.“ Ein Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus. Helena hatte sich instinktiv an die Wand hinter sich gedrückt und saß nun so, zusammengekauert in ihrem Bett. Ich hatte mich gesetzt, die Hände gefaltet und meinen Kopf schräg darauf gelegt. Zum ersten Mal seit langer Zeit musste auch Helena wieder klar geworden sein, dass ich nicht mehr menschlich war, sondern im tiefsten Inneren ein Monster und sogar schon zu Lebzeiten eine Ausgeburt des Krieges.
„Wir werden dir beibringen, wie man sich verteidigt. Selbst gegen abtrünnige Vampire. Es werden nicht noch einmal so viele durch sie sterben. Nie mehr.“ Plötzlich entspannte sich Helena. Ein leichtes Seufzten entfuhr ihr und sie sah mich offen an.
„Na gut, ich werde es versuchen, aber nur, damit du dir keine Sorgen mehr machen musst und ich dir nicht zur Last falle. Ich werde nicht auf einmal zur großen Kämpferin, aber vielleicht nicht mehr ganz so hilflos.“ Eigentlich, war sie tapferer, als man denken würde.
„Das reicht mir vollkommen“, sagte ich ihr glücklich.Vielleicht war es naiv, aber allein diese Aussage von ihr, hatte mich den berühmten Silberstreif am Horizont sehen lassen. Es schien mir nicht mehr ganz so trostlos. Vielleicht auch, weil durch Zeros Erscheinen ein Faktor hinzugekommen war, den man an Spannweite und Tragkraft nicht unterschätzen sollte. Außerdem war er mir als Vampir nochmal ein ganzes Stück sympathischer, wenn auch in gleichem Maße unheimlicher, aber wenn er selbst mir, der Vampirprinzessin, Angst zu machen vermochte, konnte er die Revolutionäre kampflos, nur mit einem Blick in die Flucht schlagen. Bei Menschen funktionierte das immerhin wunderbar. Man konnte den größten Rebellen vor sich haben und Zero bändigte alle mit einem Blick und einem Wort. Eine Macht, die wohl nicht nur durch dunkle, vampirische Kräfte zu erklären war. Fraglich war allerdings immer noch, wie es mit Zero weitergehen würde, aber das würde sich bald klären, genauso wie der Fall von Elias Marsh. Ihn würde ich zuerst in die Hölle auf Erden schicken.

Kapitel 36 - Erzählungen

 

„Was meinst du mit >in zwei Wochen<?! Willst du mich ärgern, oder was? Das kann doch keine zwei Wochen dauern! Josef, nun sag auch mal was dazu?!“
„Akira, das würde ich ja schrecklich gerne, aber du regst dich seit etwa 10 Minuten auf und dann ist es sehr schwer dir ins Wort zu fallen“, versuchte der alte Vampir zu deeskalieren. Ich hörte das Material des Telefonhörers langsam knirschen, als ich ihn in meiner Wut immer weiter zusammen drückte.
„Wir können doch nicht zwei ganze Wochen abwarten! Das ist absurd. Wir müssen das jetzt machen! Bis zu dieser Verhandlung hat der Typ sich doch irgendwas ausgedacht um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Verdammt!“
„Der Rat hat nun einmal so entschieden und eigentlich solltest du die letzte sein, die sich darüber beschweren sollte.“
„Und warum das?“, fragte ich genervt. Nichts lief hier nach Plan.
„Weil wir deinen Onkel nur ganz knapp davon abhalten konnten zu dir zu fliegen, dich gefangen zu nehmen und wirklich irgendwo einzusperren, weil du so eine verdammt gefährliche Aktion durchgezogen hast und deinen kleinen Freund hätte er wahrscheinlich umgebracht, weil er dir dabei geholfen hat. Es braucht mindestens zwei Wochen bis diese Wut verraucht ist und selbst dann solltest du gewaltig aufpassen. Wundert mich eh, dass sie diesen Geborenen nicht sofort mitgenommen haben…“
„Ich hab ihnen verboten Zero mitzunehmen. Falls doch habe ich ihnen eine Behandlung mit meiner Seelenklaue angedroht. Er steht unter meinem persönlichen Schutz, also rührt ihn niemand an. Er wird schon zur Verhandlung auftauchen. Sein Interesse daran Marsh zu bestrafen ist viel zu groß.“ Ein Seufzten war am anderen Ende der Leitung zu hören und kurz war es still. Josef dachte nach, was selten genug passierte. Fast eine Minute verging, bis man es wieder Knacken hörte.
„Du bringst uns alle in Teufels Küche. Du weißt wie manche der Ratsmitglieder bei so was sind. Das wird einen Riesenaufstand geben. Erst recht, wenn dieser Geborene mitkommt. Das wird eine Katastrophe!“
„Er heißt Zero und das wird keine Katastrophe. Natürlich wird es einen Eclat geben, aber das müssen wir riskieren. Wenn das Ganze wirklich so tief geht, wie Zero gesagt hat, haben wir einige faule Äpfel dort herumsitzen. Es wird funktionieren.“ Es musste funktionieren.
„Na gut. Ich vertraue dir einfach mal Akira, aber sei bitte vorsichtig. Wir wissen beide, dass du momentan nicht in der Lage bist, dir große Fehler zu leisten.“ Er klang müde und sehr bemüht darum, seine Ermahnungen nicht fortzusetzen. Ich war ihm ja dankbar dafür, dass er sich um mich sorgte, aber es war zu spät um noch abzubrechen. Auch, wenn ich gerade keine Kraft hatte, ich war immer noch eine Overe!
„Alles wird gut, Josef. Ich vertraue Zero und in zwei Wochen zeig ich auch Onkel Vlad, dass es gut war, dass ich ihn alleine geschnappt habe. Ich muss jetzt auch los, wir fahren gleich ab und wenn ich zu spät zum Bus komme und alle auf mich warten müssen, wird Zero nur wieder sauer und hält mir eine Predigt. Bis dann.“ Ich legte auf, bevor er noch etwas erwidern konnte und lief zum Bus. Wie erwartet stand Zero bereits wartend davor und warf mir einen bösen Blick zu, während ich an ihm vorbei ins Innere des Busses huschte und mich schnell neben Helena setzte. Als er an mir vorbei ging und sich hinter mich neben Craig setzte seufzte er nur kopfschüttelnd. Das war wieder der Zero, den ich kannte.

In den nächsten Tagen stand wieder viel Arbeit auf dem Programm. Natürlich mussten wir auch wieder in die Schule und waren davon schon nicht sonderlich angetan, aber Helena und ich mussten uns auch noch mit meiner Überwachungsarbeit herumärgern. Es schien zurzeit große Unruhen zu geben und alle schienen wachsam zu sein. Selbst in den Höllenzweigstellen, wo sonst ein fröhliches Chaos herrschte, lag etwas Unheilvolles in der Luft. Besonders die Vampire waren alle sehr besorgt, was nicht verwunderlich war, angesichts der Tatsache, dass sich unsere Probleme gerade häuften. Sonst waren die Vampirjäger schon unser größtes Problem gewesen, aber jetzt kamen diese internen Probleme zum Vorschein und nicht zuletzt die Revolutionäre waren dann die Spitze des Eisbergs, auf den wir uns zubewegten. Josef hatte wohl doch Recht, dass es gerade keine gute Idee wäre, wenn ich Onkel Vlad unter die Augen treten würde. Bei dem ganzen Ärger würde er eh schon gereizt sein. Das war nun wirklich keine ideale Ausgangslage. Immerhin gab es in meinem direkten Umfeld gerade keine Probleme mehr. Bis auf Helena, die Tag und Nacht an mir hing, weil sie Angst hatte, dass ich nochmal abhauen könnte. Und Craig, der mich immer mit Argusaugen im Blick hatte, da er sich anscheinend intuitiv Sorgen machte. Und natürlich Zero, der von Craigs Sorge, dem Warten und sowieso allem genervt war. Wenn ich so darüber nachdachte war eigentlich gar nichts in Ordnung. Die einzigen Personen, die noch normal waren, schienen meine Pflegeeltern und Melly zu sein. Diese beäugte Zeros und mein Verhalten immer nur halb irritiert, halb genervt und schüttelte den Kopf. Wer konnte es ihr übel nehmen? Wir waren alle gerade etwas gereizt und das ging von Zero und mir aus.
Eine Woche lief das so, bis alle genug hatten. Melly setzte uns mit etwas Geld und einem Befehl vor die Tür. Wir sollten uns irgendwie auf andere Gedanken bringen und mal Spaß haben. Bis wir diese negative Aura nicht losgeworden waren, würde sie uns aussperren. Daraufhin knallte sie die Haustür zu. Craig und Helena wiesen und ebenfalls ab und meinten, dass Melly damit Recht habe und uns etwas freie Zeit ganz gut tun würde. So setzten wir uns zuerst in ein Café und überlegten, was wir tun sollten. Wir häuften einige Freizeitaktivitäten an, aber nichts konnte uns begeistern. Als das die untergehende Sonne schon alles in ein warmes Rot tauchte und kaum noch Menschen um uns herum waren, stellte Zero plötzliche eine ungewöhnliche Forderung.
„Erzähl mir was von dir“, sagte er und lehnte sich entspannt in dem bequemen Korbstuhl zurück. Ich schaute etwas irritiert von meinem Cappuccino hoch und brauchte einige Sekunden um diese Frage einzuordnen.
„Was soll ich dir denn erzählen?“, fragte ich verwirrt, während ich mich fragte, ob ich mich nicht doch verhört hatte.
„Wir haben nichts zu tun und kommen ja anscheinend doch ganz gut miteinander klar. Außerdem müssen wir bald zusammen einen Prozess durchstehen, also möchte ich wissen, mit wem ich es zu tun habe. Meine Geschichte kennst du, aber ich deine nicht. Du magst die Vampirprinzessin sein, aber letztendlich weiß ich nichts über dich“, erklärte er mit ruhiger Stimme und rührte in seinem Kaffee herum. Ein nachvollziehbarer Gedanke. Er hatte abseits der Vampirgesellschaft gelebt und solche Sachen nie gehört.
„Gut, ich werde dir erzählen, wer ich bin. Aber ich werde dir auch von Vlad und Natalia erzählen und von allen anderen beim Pakt. Nicht alle sind wie Marsh und das würde ich dir auch gerne vermitteln. Wenn du Fragen hast, dann stell sie, ich werde alles beantworten, aber bestell dir schon mal einen neuen Kaffee, weil das hier wird dauern.“ Ich lächelte. Er wusste ja nicht, was er sich da eingebrockt hatte.
Und so erzählte ich. Mehrere Stunden. Über meine Vergangenheit mit Onkel Vlad, über unsere Vampirwerdung durch den Vertrag, unser Leben danach und wie Natalia zu uns stieß. Ich erzählte ihm von den vergangenen Epochen, meiner Arbeit für die Hölle und von den Mitgliedern des Paktes. Die Stunden vergingen und die Kaffeetassen auf dem Tisch begannen sich zu stapeln.
„Das wäre dann soweit die Kurzfassung“, stellte ich irgendwann zufrieden fest.
„Kurzfassung?“ Zero wirkte etwas fassungslos.
„Das waren fast 600 Jahre in ein paar Stunden. Wenn ich dir alles erzählen würde, dann müsstest du den Laden hier kaufen um genug Kaffee zu bekommen.“
„Da hast du wohl Recht, aber es ist schwer vollstellbar, dass du wirklich schon so alt bist. Du benimmst dich einfach nicht wie jemand, der über 500 Jahre alt ist.“
„Das stimmt wohl, aber ich sehe es als mein kleines Privileg an, mich noch so zu verhalten. Dank diesem jungen Körper wundert sich auch niemand darüber. Keine Sorge, wenn du mal in Gefahr gerätst werde ich dich retten kommen und mich auch meinem Alter entsprechend benehmen“, sagte ich ihm augenzwinkernd. Er schüttelte nur lächeln den Kopf.
„Das beruhigt mich jetzt ungemein“, erwiderte er sarkastisch.
„Glaubt man dir sofort.“ Ich musste lachen. Es tat gut so offen mit jemandem reden zu können, der auch in dieser Welt gefangen war, der auch von dem Vampirdasein umgetrieben wurde. Nach so kurzer Zeit wussten schon zwei Leute aus meinem näheren Umfeld Bescheid. Irgendwie beunruhigte es mich, aber tief in mir spürte ich, dass es gut so war.
„Wenn Craig wüsste, dass du über 500 bist…“, störte Zero überraschend meinen Gedankengang. Ich antwortete direkt und wortgewandt wie immer.
„Warum?“ Irgendwie hatte er mich mit dieser Aussage total aus dem Konzept gebracht.
„Ach, nicht wichtig“, er winkte ab. Solle einer den Typen verstehen.

Kapitel 37 - Alte Wunden

 

Seit meinem Gespräch mit Zero war eine Woche vergangen. Unsere Reise zum Pakt war nicht mehr weit entfernt und bisher hatte es von Josef keinerlei schlechte Nachrichten gegeben. Das Schulleben hatte uns wieder voll im Griff und so war die Zeit schnell vergangen. Ich hatte nicht viel Zeit über alles nachzudenken. Tagsüber war ich in der Schule, beschäftigte mich mit dem Alltagsleben und nachts folgte ich meiner Arbeit. Ich war seit einigen Tagen schläfrig, aber das sollte sich durch ein Wochenende voller Schlaf wieder aufheben lassen. Wir hatten gerade Schule und der Sportunterricht hatte soeben geendet. Alle zogen sich um, um nach Hause gehen zu können. Es waren unsere letzten beiden Stunden gewesen. So viel zu tun für mich arme, kleine Seelenernterin. Ich seufzte. Es führte ja kein Weg daran vorbei.
„Hey, Akio, was ist das da auf deinem Rücken?“ fragte Sabrina, ein Mädchen aus meinem Sportkurs, die sich neben mir umgezogen hatte. Was sollte mit meinem Rücken sein? Ich ging zu einem der Spiegel an den Waschbecken und verrenkte mich so, dass ich meinen Rücken begutachten konnte. Kleine Narben zeichneten sich auf meiner Haut ab und prägten sich immer weiter aus. Es erschienen immer wieder neue Male. Meine Augen weiteten sich und ich atmete schwer auf.
„Unmöglich“, stieß ich leise hervor. Mein Kopf raste. Das war völlig undenkbar. Wieso gerade jetzt? Ich fühlte mich plötzlich schwer, mein Kopf tat weh. Kurze Schmerzen zuckten durch meinen Körper. Ich war wie gelähmt. Mit letzter Kraft schaffte ich es mich in eine der Einzelkabinen zu befördern und abzuschließen. Die Schmerzen wurden immer schlimmer und ich konnte nur mit Mühe die Schreie unterdrücken, die versuchen sich meiner Kehle zu entreißen. Was war hier nur los.
„Akio ist alles in Ordnung?“ Es klopfte an der Tür. Wie durch einen Schleier hörte ich Sabrinas besorgte Stimme.
„Akio, antworte bitte! Oder mach auf! Was ist los mit dir?!“ Eine andere Stimme, aber sie wirkte so weit weg, dass ich sie niemandem zuordnen konnte. Meine Sinne waren wie betäubt und nur der immer wieder zuckende Schmerz war klar und deutlich. Dröhnend hörte ich weitere Stimmen, Schreie und Klopfen. Waren das meine Schreie? Ich wusste es nicht einmal. Diese verdammten Schmerzen. Erst war es nur mein Rücken gewesen, aber jetzt konnte ich es überall spüren. Meine Beine und Arme, mein Gesicht und die Hände. Alles wurde von Schmerzen erschüttert. Es fühlte sich an wie damals. Hilfe. Onkel Vlad. Sorin. Irgendjemand?
„Aki!“ Diese eine Stimme drang noch zu mir durch. Helena.
„Aki bitte mach auf! Sabrina ist los gerannt um einen Lehrer zu holen. Du musst da rauskommen, bitte!“ Sie wollte stark klingen, doch die Tränen streckten ihre Stimme beinahe nieder. Mit letzter Kraft antwortete ich ihr.
„Helena, hol meine Sachen. Um es zu bedecken. Bitte. Hol Zero.“ Meine zitternde Hand öffnete den Riegel und ich fiel nach draußen auf den Boden. Helena kam sofort zu mir gestürmt und zog mich an. Jede Faser meines Körpers schien sich gegen mich gestellt zu haben. Helena überließ mich den anderen Mädchen und eilte nach draußen auf den Gang, wo Craig und Zero wahrscheinlich schon gewartet hatten. Zeros Stimme durchbrach den Schleier um mich herum.
„Wir bringen sie nach Hause. Ich kümmere mich darum. Überlasst das Craig, Helena und mir. Helena hilf Craig dabei sie zutragen. Und ihr macht endlich den Weg frei! Ich rufe ein Taxi. Los!“ Er wusste, dass es nichts war, was Menschen sehen sollten. Ich nahm inzwischen kaum noch etwas von meiner Umgebung wahr. Meine Augen waren geschlossen, der Schmerz betäubte jedes Gefühl und ich hörte nur noch weit entfernte Stimmen. Nur Zero drang noch deutlich zu mir durch. Wahrscheinlich hatte er sie unterbewusst telepathisch verstärkt. Motorengeräusche. Eine Tür wurde geöffnet.
„Craig, du bleibst hier und versuchst alle zu beruhigen. Sag, dass es nur ein kurzer Anfall war. Ich erklär dir alles später. Helena du kommst mit mir. Fahren Sie!“ Zero. Er hatte alles im Griff. Er war ruhig und hatte alles im Blick. Er wäre ein guter Heerführer gewesen. Damals.
Plötzlich spürte ich einen riesigen Schmerz in meinem Bauch. Ich spuckte Blut, öffnete nur leicht die Augen und vor mir verschwamm die Gestalt Radus langsam mit der Dunkelheit, die mich umfing.
Wie im Fieber taumelte ich, war nicht mehr Herr meiner Sinne. War das hier ein Taxi? Nein. Ein Land. Es bebte unter vielen tausend Füßen, die auf ihm marschierten. Diese Verdammten. Rufe. Schreie. Das Klirren von Schwertern. Stille. Sorins Stimme.
„Es tut mir Leid, Akira- so leid. Ich konnte nicht. Bleib hier. Akira! Stirb nicht!“ Im roten Schleier meines eigenen Blutes sah ich sein Gesicht. Tränen liefen herunter und tropften auf mein Gesicht. Er hielt meinen geschundenen Körper in den Armen. So ruhig. So sanft. Nicht wie ein Krieger. Weine nicht. Wir wussten, dass uns der Tod erwarten würde. Mit den letzten Kräften, die ich aufbieten konnte, führte ich meine Hand zu seinem Gesicht und versuchte die Tränen ab zu wischen, doch hinterließ ich eine Spur aus Blut. Entschuldige, formte ich stumm mit meinen Lippen. Dann verließ mich die Kraft. Weine nicht, Sorin, mein Freund. Du warst mir immer ein guter Freund, Sorin. Überlebe. Meine Augen schlossen sich und ich hörte nur noch den Schrei Sorins.
„Ich werde euch zerfetzen!“ Dieser Hass, der in seiner Stimme lag. Kämpfe nicht für mich, Sorin, kämpfe für dich und deine eigene Zukunft. Hupen. Hupen? Ein Taxi fuhr über das Schlachtfeld, auf dem ich soeben gestorben war. Es hatte Probleme alle Leichen zu umfahren, fuhr Schlangenlinien und schien völlig unkontrolliert. Es bog scharf am osmanischen Lager ab und überfuhr beinahe einen der Unterführer. Urplötzlich bremste es. Reifen quietschten und es kam zum Stillstand. Vor einer Ampel. Ein walisischer Truppenverband marschierte auf der kreuzenden Route. Mein Kopf wollte zerspringen. Sorin benutzte das stehende Taxi als Sprungbrett, flog mehrere Meter durch die Luft und konnte mit seinen Doppelschwertern gleich drei osmanische Krieger niederstrecken. Nein. Damals stand da kein Taxi. Keine Ampel. Ampeln in der Walachei. Zu dieser Zeit. Was macht ein Taxi auf diesem Schlachtfeld?
„Das hier ist kein Schlachtfeld, sondern Berlin. Ähnlichkeiten nicht ausgeschlossen, aber trotzdem nicht das gleiche“, sagte Zero freundlich. Anscheinend hatte ich die letzte Frage laut ausgesprochen. Er lächelte milde. Helena hatte sich an mich geklammert und war anscheinend unfähig zu sprechen.
„Du machst Sachen“, hörte ich eine tiefe Stimme vom Steuer. Ein Dämon saß auf dem Fahrersessel und gab gerade wieder Gas, da die Ampel auf Grün gesprungen war.
„Warum?“, brachte ich nur hervor.
„Wir bringen dich zur Zweigstelle, um deine Wunden zu behandeln. Zero hat sofort bei uns angerufen. Es ist auch schon jemand von der Innenabteilung auf dem Weg dorthin, da deine Verletzungen wohl kein Zufall waren und irgendeine direkte Verbindung nach unten haben.
„Oh, ich dachte mir sei rein zufällig der Bauch aufgeplatzt. Welch überraschende Diagnose“, erwiderte ich sarkastisch. Natürlich war hier etwas schief gelaufen und dass das unmittelbar mit meiner Verbindung zur Hölle zusammen hing war wohl ersichtlich.
„Na na, nicht frech werden, junge Dame“, wies mich der Dämon zurecht.
„Wenn sie schon wieder dumme Kommentare abgeben kann, scheint ihr Zustand ja nicht mehr ganz so kritisch zu sein“, mischte sich Zero ein. Recht hatte er. Langsam ging es mir wieder besser. Es kamen auch keine weiteren Schmerzen hinzu. War es vorbei? Das Taxi bog scharf rechts ab und mein Kopf wurde gegen die Scheibe geschleudert. Sofort funkelte ich ihn durch den Rückspiegel böse an. Der Dämon versuchte es, so gut es ihm möglich war, zu ignorieren, jedoch konnte ich sehen, wie sich einige Härchen in seinem Nacken aufstellten. Ich lächelte Selbstzufrieden. Der würde nicht mehr so abbiegen. Amateur.

Impressum

Texte: Sayaruka Eshinryu
Bildmaterialien: Bearbeitete Coverversion by NichtExistenz
Lektorat: Yelava Yen´vela, NichtExistenz, L.S.
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

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