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Prolog

 

Eigentlich war es einer jener Tage, die ich einst geliebt hatte. Es war, als wäre Nashville über Nacht in eine riesige, weiße Decke eingehüllt worden. Die Sonne ließ sie strahlen, sodass es mich beinahe blendete, aber dafür glitzerte sie auch als ob sie mit Silber bestäubt worden wäre. Es gab eine Zeit, in der ich den reinen, kühlen Duft, der damit verbunden war, gemocht hatte.

Neuschnee.

Doch heute fand ich nichts Idyllisches an diesem Anblick. Keine Wärme erreichte mein Herz. Keine Freude.

Es war kein schöner Tag. Dergleichen gab es wahrscheinlich sowieso nicht mehr.

Mein Leben war nie besonders aufregend gewesen oder gar außergewöhnlich.

Ja, man konnte sagen, dass ich das Ebenbild eines typischen Teenagers war. Und – mein Gott – hatte ich das gehasst; hatte ich das langweilig gefunden.

Wer würde das nicht? Jeder wollte doch schließlich ein Unikat in der Gesellschaft sein. Sich aus der Masse hervorheben, wie man so schön sagte. Auch ich hatte es immer angestrebt, etwas Besonderes zu sein.

Was für eine irrsinnige Zeitverschwendung.

Das Schicksal erledigt diese Angelegenheit sowieso irgendwann für uns. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir es dann annehmen wollen oder nicht. Es gilt, es einfach zu akzeptieren. Wir haben nicht einmal das Recht zu protestieren, denn es war ja immerhin unser eigener Wunsch gewesen, oder nicht?

Ich hatte mal gelesen, dass man vorsichtig sein musste mit dem, was man sich wünscht – denn es könnte in Erfüllung gehen. Erst jetzt hatte ich verstanden, was man damit sagen wollte.

Tatsache ist nämlich, dass der Wunsch auf eine völlig andere Weise in Erfüllung gehen kann, als man es sich vorgestellt hatte. Das schrie mir der Grabstein, vor dem ich gerade stand, regelrecht ins Gesicht.

Es war einmal und ist nicht mehr

 

Ich würde hier kein Tag länger als nötig bleiben. Zwei Monate – höchstens drei. Dann wurde ich ohnehin achtzehn und konnte tun und lassen, was immer ich wollte. Gab ja schließlich eh keinen mehr, der mich an irgendetwas hindern konnte…

Wozu sich demnach die Mühe machen und meine ganzen Kartons auspacken? Ich war mir sicher, meine Sachen würden es da drin die paar Monate auch noch aushalten. Doch Ronda bestand darauf, dass „ich es mir hier gemütlich machte“, also tat ich ihr den Gefallen und räumte zumindest meine Klamotten in den Schrank.

Hier wohnte ich jetzt. In der 7th Avenue South, 37201-37250 Nashville bei Miss Ronda Applegate und ihrem Sohn Gavin. Zumindest vorerst.

Sie war die beste Freundin von Richard und Ashley Parker gewesen und ich?

Ich, Hailey Parker, war eines der Erbstücke, das sie nach deren… Ableben erworben hatte.

Nur stellte sie mich leider nicht einfach auf das Fenstersims und ließ mich in Ruhe, wie sie es mit dem antiken Buddha aus Thailand tat. Nein, mir brachte sie fünf Mahlzeiten am Tag, die ich größtenteils unberührt ließ, und fragte mich genauso oft nach meinem Wohlergehen. Dabei sah der Buddha, der von der Sonne langsam richtig ausblich, meiner Meinung nach viel pflegebedürftiger aus als ich.

Das war bereits die dritte Woche, die ich hier in diesem Haus verbrachte und mein Zimmer, das einmal Rondas Arbeitszimmer war, sah eigentlich eher nach einer Abstellkammer aus. Dabei hatte sie sogar extra neue Möbel besorgt.

Ein wirklich schönes Bett aus dunklem Holz stand an dem einzigen, aber großen Fenster des Raumes; gegenüber davon ein dazu passender Schreibtisch und an der südlichen Wand stand ein kleiner Schrank, vor dem ich zwischen meinen Kartons saß und mich ehrlich gesagt fragte, wie all meine Kleider da überhaupt reinpassen sollten. Aber ich beklagte mich nicht. Die Alternative dazu wäre immerhin ein Waisenheim mit weitaus weniger Platz gewesen.

Ich seufzte. Warum hatte ich nicht einfach in meinem alten Zuhause bleiben können? Ich war alt genug, fand ich. Es gab doch viele Jugendliche, die schon vor ihrem 18. Geburtstag ausgezogen waren, oder nicht?

Aber nein, mich betrachtete man als einen Pflegefall. Ich war eine „unzumutbare Gefahr für mich selbst“, sagten sie. Das ich nicht lachte! Als ob ich irgendjemandem je irgendwelche Anlässe zu dieser Behauptung gegeben hätte. Ein Wunder, dass sie mich nicht gleich psychiatrisch behandeln ließen.

Eigentlich hätte ich fast von Glück reden oder gar dankbar sein können, dass ich bei Ronda unterkommen durfte, wären da nicht die ein oder anderen Umstände…

„Missy, nein!“, musste ich plötzlich meine weisse Katze ermahnen, die es sich gerade in einem der anderen, offenen Kartons bequem machen wollte. „Runter da! Los. Schsch.“

Ich stupste sie leicht in die Seite, woraufhin sie missmutig miaute, aber den Karton wieder freigab. Natürlich nicht, ohne ein paar Härchen darauf hinterlassen zu haben. Ich warf Missy noch einen vernichtenden Blick zu, doch davon blieb sie völlig unbeeindruckt. Mit erhobenem Schwanz tapste sie Richtung Fenster und setzte sich davor auf ihre vier Buchstaben.

„Verwöhntes Stück“, murmelte ich und zog das Kleidungsstück aus dem Karton.

Ich klopfte Missys weisse Haare bereits aus dem dunkelblauen Stoff, als mein Herz plötzlich stehen blieb. Schlagartig veränderte sich meine Stimmung. Es war nicht irgendein Pullover, den ich da in der Hand hielt, sondern einer, den ich eigentlich im Altkleidersack vermutet hatte. Ich krallte meine Finger in die Fasern des Pullovers und schloss die Augen.

 

 

„Ich hab dir deine Spinat-Lasagne in den Ofen gestellt, Hails“, hatte ich meine Mutter undeutlich rufen hören. „Wir können leider nicht mehr zusammen essen. Wir sind mal wieder viel zu spät dran.“

Anstatt ihr irgendetwas zurückzubrüllen, schüttelte ich den Kopf und nahm Missy von meinem Schoss. Ihr motorsägenartiges Schnurren verstummte abrupt, als ich sie auf der Couch zurückließ und in Richtung Bad tapste.

„Wie immer. Das mit dem Timing bekommst du wohl nie hin“, sagte ich tadelnd, kaum dass ich im Türrahmen zum Bad stand.

Meine Mum stand vor dem Spiegel, aus ihrem Mund luckten einige Haarklammern hervor, während sie ein paar ihrer dunkelblonden Haarsträhnen in den Fingern hielt und sie zu irgendeiner Frisur zu zwingen versuchte.

„Gott sei Dank bist du da anders“, murmelte sie zwischen ihre zusammengebissenen Zähne hindurch und platzierte eine der Klammern umständlich in ihrem Haar.

„Mhm.“

Ich beobachtete, wie sie die restlichen Klammern aus ihrem Mund nahm, sie in den Spiegelschrank verfrachtete und stattdessen Eyeliner und Mascara hervorzauberte. Mit ein paar gekonnten Handbewegungen hatte sie fünf Minuten später ihren Augen einen neuen Ausdruck verliehen. Wobei ich eigentlich fand, dass sie gar keine Schminke nötig hatte. Mom war bei der Genübertragung in den Genuss von braunen Bambiaugen gekommen, die auch so eine Ausstrahlung hatten, dass jedem halbwegs heterosexuellen Mann die Spucke wegblieb. Ich hatte leider nicht so viel Glück. Das verblichene Graugrün aus Dads Gengrube musste mich zufriedenstellen.

Sie störte sich nicht daran, dass ich jede ihrer Bewegungen verfolgte, wenn sie sich zu Recht machte. Das tat ich öfters.

Nachdem sie sich auch ihre Wangen rosa gepudert hatte, ließ sie ihre Arme sinken und musterte mit zusammengepressten Lippen ihr Spiegelbild. Als sich ihre Züge wieder lockerten, wusste ich, dass sie mit ihrem Ebenbild zufrieden war.

Spätestens als sie sich schwungvoll zu mir drehte und mich lächelnd fragte, ob sie sich so sehen lassen könne, war ich mir sicher. Ich nickte.

Doch kaum, dass ich das getan hatte, verschwand ihr Lächeln auf einmal und machte wieder den zusammengepressten Lippen Platz.

„Was ist?“, fragte ich irritiert und nahm sie nochmal genauer in Anschein.

„Jetzt hast du diesen Fummel immer noch!“, meinte sie verärgert und zupfte an meinem dunkelblauen Pulli herum. Ich sah an mir herab und zuckte die Schultern.

„Er gefällt mir eben und ist übrigens auch saubequem.“, entgegnete ich und schmollte. Der Pullover hatte mal meinem Dad gehört bis er eines Tages mit Zeichentusche verschmiert wurde und Mum den Fleck einfach nicht mehr herausbekommen hatte. Dass sie selbst dafür verantwortlich war, als sie ihre Künstlerphase hatte und mit Tusche experimentierte, untergrub sie allerdings. Lieber ließ sie Dad in dem Glauben, es wäre Öl aus seiner Werkstatt. Dad wollte ihn daraufhin wegwerfen, aber ebenso wie Mum, hatte auch ich mich ab und zu in den Pulli gekuschelt, wenn ich zuhause war. Also hatte ich ihn wieder aus dem Altkleidersack gegraben und für mich konfisziert. 

„Weiß ich auch, aber grässlich ist er trotzdem“, sagte Mum mit gerümpfter Nase und ging an mir vorbei ins gegenüberliegende Schlafzimmer.

„Liebling, wie lange brauchst du denn noch? Mein Klassentreffen beginnt schon in einer halben Stunde“, fing sie wieder an zu kreischen, diesmal jedoch an meinen Vater gewandt.

„Längst fertig“, rief er zurück und betrat den Flur, den auch ich gerade entlang lief. Als wir uns begegneten lächelten wir uns vielsagend an und schüttelten den Kopf über unseren neurotischen  Hausdrachen.

 

Zehn Minuten später standen Dad (im grauen Smoking) und ich (nach wie vor in Leggings und Dads Tusche-Pulli) vor der Haustür, während wir beobachteten, wie Mum von einer Ecke des Zimmers in die andere lief und dabei immer wieder ihren Schuh verfluchte.

„Gefunden!“, jubelte sie irgendwann. Auf einem Bein hopsend kam sie zum Eingangsbereich, gleichzeitig zwängte sie den anderen Fuß in ihre Pumps.

„Also können wir endlich?“, fragte sie meinen Dad, als wäre sie es gewesen, die hier seit fünf Minuten gestanden und gewartet hatte. Dad machte eine vielsagende Armbewegung, die meine Mum als Ganzes einschloss. Vermutlich sollte das sowas heißen wie „an-mir-lag’s-nicht“.

Mum legte mir den Arm um die Schultern und küsste meinen Scheitel. Nebenbei erwähnt, meine Mutter war dazu mit einer Größe von 1, 68 m nur auf Pumps befähigt, während mir nur schlappe zwei Zentimeter fehlten bis ich sie eingeholt hatte.

„Warte nicht auf uns. Könnte später werden, Schatz“, sagte sie dann.

„Und lass deinen Lasagne nicht verbrennen“, fügte Dad mit gerümpfter Nase hinzu. Meine Mum kicherte kurz, dann roch auch ich es.

„Oh, verdammt“, fluchte ich und hechtete ohne ein weiteres Wort des Abschieds in die Küche.

Keine Minute später hatte ich die Tür ins Schloss fallen hören

 

 

Dann zuckte ich auf einmal zusammen, als hätte ich das Scheppern der Tür gerade tatsächlich gehört. Vor Schreck glitt mir der Pulli wieder aus den Händen, sodass er die letzte Träne, die mir jetzt die Wange hinab ran, nicht mehr auffangen konnte.

Ich schluckte schwer. Es war als würde das Türscheppern nicht mehr aufhören, als würde es sich ständig wiederholen.

Es dauerte eine Weile bis ich wieder soweit in der Realität war, dass ich merkte, dass hier keine Türen zugeschlagen wurden, sondern mein klingelndes Handy mich aus meiner Trance gerissen hatte.

Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Wangen und sprang auf. Mein Handy lag auf dem Nachtisch und vibrierte immer mehr auf den Rand zu, doch bevor es fallen konnte, hatte ich es ergriffen und warf einen Blick auf das Display. Es zeigte mir das Gesicht einer erdbeerblonden Asiatin, die unschuldig in die Kamera lächelte. Macey.

Ich seufzte. Bei aller Liebe, auf Maceys Special School News hatte ich jetzt wirklich keine Lust.

Nachdem ich meine Eltern verloren hatte, wurde ich drei Wochen von der Schule befreit. Wenn ich wollte, könnte ich mich auch noch länger beurlauben lassen, aber eigentlich sah ich keinen Sinn darin, mich in meinen vier Wänden zu verschanzen und in Selbstmitleid zu baden, auch wenn ich mich immer wieder dabei ertappte, wie ich genau das tat.

Wie dem auch sei. Jedenfalls hatte Macey, die übrigens meine beste Freundin war, es sich zur Aufgabe gemacht, mich über alles und jeden auf dem Laufenden zu halten. Dass mich das eigentlich nicht interessierte und im Grunde eher nervte, rieb ich ihr allerdings nicht unter die Nase. Immerhin gab sie sich Mühe, mir beizustehen. Sie hatte sogar ihre komplette Zeit in der Woche danach bei mir in meinem Elternhaus verbracht, abgesehen vom Vormittag, wenn sie zur Schule musste. Nachmittags hatte sie jedoch geschwänzt.

Irgendwann hatten sie – damit meine ich das Jugendamt und Ronda – beschlossen, dass ich nicht länger allein in dem großen Haus voller Erinnerungen sein sollte. Im Testament meiner Eltern wurde erwähnt, dass wenn ihnen etwas zustoßen sollte, Ronda die Verantwortung für mich übernehmen sollte. Und dies tat Ronda ohne zu zögern und ja... hier war ich.

Ich schmiss mein Handy aufs Bett und ließ mich daneben fallen, während sein Klingeln weiterhin den Raum erfüllte.

Es dauerte kaum eine Minute, bis ich Pfoten auf meinem Bauch spürte, die ungeduldig auf und ab tapsten. Ich hob den Kopf, um sie auch zu sehen. Mein miauender Schneeball hielt es jetzt wohl für einen guten Zeitpunkt seine tägliche Ration Streicheleinheiten abzuholen. Als ich Missy meine Hand hinhielt, stupste sie sie erst mit ihrer kleinen Schnauze an, ehe sie ihren Kopf darunter schob. Ich ließ den Kopf wieder sinken, schloss die Augen und begann mechanisch Missy zu kraulen.

Mein Handy verstummte.

 

Das war wieder einer dieser Momente, in denen ich mir vornahm für den Rest meines Lebens hier liegen zu bleiben.

Ein Moment, in dem ich mir einbildete, ich wäre einfach nur in einem endlosen, bösen Traum gefangen.

Ein Moment, in dem ich nach meinem Handy greifen und meine Mutter anrufen wollte, nur um mir genau das zu beweisen. Doch das Einzige, was ich mir dabei je beweisen konnte, war, dass nur noch ihre Mailbox zu erreichen war…

Jäh klopfte es in diesem Moment an meiner Zimmertür.

„Hailey, Kleines. Bist du wach? Darf ich reinkommen?“, hörte ich darauffolgend eine vertraute Stimme. Rondas.

Ich nickte erst benommen, dann als es jedoch wieder klopfte, registrierte ich, dass sie das ja gar nicht sehen konnte. Ich schlug die Augen auf und warf schnell ein Ja in den Raum.

Das Erste was ich sah, war Rondas pechschwarzer Schopf. Ob ihr wohl bewusst war, dass ihr Erscheinungsbild manchmal an Sadako aus „The Ring“ erinnerte? Sie hatte wirklich gigantisch dickes Haar, das sie sich ständig hinter die Ohren schieben musste, damit sie nicht schier ihr ganzes Gesicht verdeckten. Doch da genau das gerade der Fall war, fiel mir als Nächstes die große Tasse in ihrer Hand, aus der es zu dampfen schien, auf. Die zweite Mahlzeit an diesem Tag.

„Gavin hat heute mal gekocht. Tomatensuppe, aber nicht aus der Packung.“, sagte sie und lächelte zögerlich. Tomatensuppe war eigentlich eines meiner Leibgerichte, aber im Moment reizte mich der Geschmack nicht besonders. Trotzdem versuchte ich zurückzulächeln, auch wenn es mir nicht ganz gelingen wollte. Ronda biss sich auf die Lippe, ihr war mein schlechter Versuch nicht entgangen. Vorsichtig schob sie die losen Blätter, Stifte und Haarklammern, die auf meinem Nachttisch rumlagen, beiseite und stellte dort die Tasse mit der Suppe ab.

Die Matratze sank neben mir ein bisschen ein, als sich Ronda mit ihrer etwas üppigeren Figur neben mich setzte. Sie ließ ihre Hand in Richtung meines Knies gleiten, worüber sie auch kurz schwebte, aber dann schien sie es sich (zum Glück) doch nochmal anders zu überlegen.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie dann leise. Die Besorgnis in ihrer Stimme war wie immer unüberhörbar. Das war eines der Dinge, die ich an ihr so mochte. Nicht, dass sie sich um mich sorgte, sondern dass sie all ihre Gefühle so offen und ehrlich zuließ.

Als ich nicht sofort antwortete, legte sie doch kurz ihre Hand auf mein Knie.

Nein. „Ja. Ich komm schon klar“, murmelte ich schnell.

„Wirklich?“

Es würde nie wieder alles in Ordnung sein. „Ja.“

Ronda zog ihre Hand zurück und musterte mich skeptisch.

Und da war sie auch schon. Die Eigenschaft, die ich an ihr gar nicht leiden konnte. Lügen durchschaute sie sofort.

Aber Ronda tat mir den Gefallen, nicht weiter nachzustochern und beließ es bei meiner gelogenen Antwort.

„Die Suppe steht auf deinem Nachttisch“, informierte sie mich, als hätte ich es nicht gesehen. „Würde uns freuen, wenn du heute Abend zum Essen runter kommst. Was hältst du davon?“

Ich zuckte die Schultern. Eigentlich hatte ich wenig Lust dazu, wie die letzten Tage auch.

„Du kannst es dir ja überlegen“, fügte Ronda hinzu, seufzte und erhob sich. Aus dem Augenwinkel sah ich wie sie sich noch einmal umdrehte und mich ansah. Als ich ihren Blick erwiderte, öffnete sie den Mund, als wollte sie noch etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder und verließ, nachdem sie ihren Blick kurz auf die Kartons gerichtet hatte, mein Zimmer.

Abermals seufzte ich und nahm die Hand aus Missys Fell, um mir durch die eigenen Haare zu fahren. Natürlich meinte Ronda es mit allem, was sie tat, nur gut, allerdings half mir ihr Mitleid und auch das aller anderen nicht im Geringsten. Ich fühlte mich dadurch nur selbst noch viel bedauerlicher, als ich es sowieso schon war. Aber dagegen konnte keiner etwas unternehmen. Ich musste mich damit arrangieren, ob ich wollte oder nicht. Musste mich selbst motivieren, während mich die Blicke der anderen nur runterzogen.

Und das was ich gerade tat, trug sicherlich zu keinerlei Besserung bei. Ich musste mich zusammenreisen. Ich durfte mich nicht hierher legen und nach der schmerzlosen Leere suchen, wenn ich ohnehin nur Erinnerungen ausgrub. Und die waren dann ganz bestimmt nicht schmerzlindernd.

Ich schlug mit der Faust auf meine Matratze, sodass Missy erschrak und hastig vom Bett hüpfte.

Dieser ewige Zwiespalt machte mich noch verrückt. Im einen Moment, streichelte ich mir noch vor lauter Selbstmitleid fast den Rücken und im nächsten trat ich mir in den eigenen Arsch.

Also erhob ich mich aus dem Bett und begab mich wieder zu den Kartons. Den dunkelblauen Pulli ließ ich jedoch unberührt.

 

***

 

Ich räumte den letzten Karton, dessen Inhalt gerade noch in den Schrank passte, aus, als es wieder klopfte.

„Ja?“

Auch da drehte ich mich nicht um, als sich die Tür öffnete. Diesmal jedoch, weil ich damit beschäftigt war, einen Stapel Jeans mit aller Kraft zwischen die Regale zu quetschen.

„Hat’s dir nicht geschmeckt?“, fragte eine Stimme, die viel zu tief klang, als dass es Rondas sein konnte.

„Was?“

Irritiert drehte ich mich nun doch um. Dabei war es mir egal, dass der Stapel Jeans mit einem plumpen Geräusch auf dem Boden landete.

„Die Suppe. War sie nicht gut?“

Gavin stand mit den Händen in den Hosentaschen vor meiner Tür und schaute mit nüchternem Blick zum Nachttisch. Ich wechselte meinen Eigenen kurz zwischen ihm und der Tasse Suppe.

„Ach so. Ähm…Keine Ahnung“, antwortete ich kleinlaut. „Hab sie ehrlich gesagt noch nicht probiert.“

Nun sah Gavin zu mir herüber, lächelte und runzelte gleichzeitig die Stirn. Ein bizarrer Anblick, aber aus irgendeinem Grund sah es bei ihm ganz natürlich aus. Die Grübchen links und rechts von seinem Mund waren fast genauso ausgeprägt wie die Falte zwischen seinen Brauen. Dann lockerte er seine Züge wieder und die Falten verschwanden. Er ging leicht schlurfend zu meinem Bett und nahm die Schüssel vom Nachttisch.

„Du musst essen“, sagte er, als er mit der Schüssel auf mich zukam. Ich wollte schon genervt aufstöhnen, doch dann fügte er hinzu: „Sonst fühlt sich mein Ego echt verletzt.“

Das Grinsen erschien wieder auf seinen Lippen und ich konnte nicht anders als es zu erwidern und theatralisch die Augen zu verdrehen.

„Oh“, antwortete ich im ganzen Ausmaß meiner Schlagfertigkeit. Ich nahm ihm die Tasse mit der kalten Suppe aus der Hand und ergriff auch sogleich den Löffel. Gavin zwinkerte noch immer vor sich hin grinsend und verschwand hinter der Tür.

Als er fort war, setzte ich mich auf mein Bett und schob mir zögerlich einen Löffel voll in den Mund. Eines musste man zugeben: Der einzige Mann im Haus war vermutlich der beste Koch. Von Rondas oder meinen Kochkünsten konnte man nun wirklich nicht schwärmen. Aber diese Tomatensuppe, also das konnte man Gavin wirklich lassen, schmeckte einfach vorzüglich. Am liebsten hätte ich genüsslich geschmatzt.

Es war ungefähr der 7. Löffel, der in meinen Mund wanderte, als ich plötzlich das gedämpfte Geräusch einer Gitarre vernahm. Ich ließ den Löffel in die Tasse fallen und lauschte.

Monotone Klänge, die mit jedem Schlag höher wurden und dann plötzlich wieder tiefer, nur um dann wieder in höhere Tonlagen überzugehen. Immer in dieser Reihenfolge. Ich schloss die Augen. Es hörte sich danach an, als würde Gavin im Nebenzimmer – seinem Zimmer – wohl gerade seine Gitarre stimmen. Als es dann für eine Sekunde still blieb, folgten jetzt perfekt abgestimmte Akkorde in harmonischem Klang. Eine Melodie, die all meine Sinne abschaltete, bis auf mein Gehör.

Keine Ahnung, wie lange ich auf meiner Bettkante saß und mich Gavins Spielen hingab als wäre ich in Trance, aber als er sich dann mit einem Griff vertat, rauschte ich mit einem Schlag wieder in die Wirklichkeit.

Ich war machtlos gegen die plötzliche Wut, die in mir aufloderte, sobald ich registriert hatte, dass ich solche Klänge selbst nie wieder herbeirufen würde. Nie wieder.

Etwas rabiat stellte ich die Schüssel auf den Boden. Meine allesfressende Katze verschwendete keine Zeit, ehe sie sie in Angriff nahm.

Wo war bloß mein Ipod abgeblieben?

 

 

 

 

 

 

Grauer Januarwind

 

Was genau hatte ich nochmal gesagt? Es ergab keinen Sinn, sich ewig in seinen vier Wänden zu verschanzen und sich selbst zu bemitleiden. Tja, diese Einsicht hielt mich leider nicht davon ab, genau das heute Morgen wieder zu tun.

Eigentlich wäre heute der offizielle Tag gewesen, an dem ich wieder zu Schule gegangen wäre. Aber die Nacht hatte mir zu viel Freiraum zum Nachdenken gelassen. Samthandschuhe, Mitleidsblicke oder gar -unterhaltungen – ein grauenhafter Gedanke. Ich hatte das alles schon auf der Beerdigung mitgemacht und ich war noch zu traumatisiert davon, als dass ich das nochmal durchstehen wollte. Ronda hatte wie immer vollstes Verständnis für mich gehabt, ohne dass ich irgendeine Erklärung dafür abgab, wieso ich der Schule heute nochmal fernblieb.

Macey ließ sich da natürlich nicht so leicht abspeisen. Zwar hatte ich ihr gesimst, dass es heute noch nicht ging, doch sie hatte mir neun Sms zurückgeschickt.

Sms Nr. 1: Warum?

Sms Nr. 2: Irgendwann musst du damit anfangen, Hales.

Sms Nr. 3: Umso länger du wartest umso schwieriger wird es!

Sms Nr. 4: Ich bin doch bei dir.

Sms Nr. 5: Ich trete auch jedem in den Arsch, der dir zu nahe kommt.

Sms Nr. 6: Tu’s doch mir zu Liebe... 

Sms Nr. 7: Wenn es nicht mehr geht, komm ich auch mit.

Sms Nr. 8: Du kannst jederzeit gehen, wirklich, Hales.

Sms Nr. 9: Tut mir leid, ich will dich ja nicht drängen.

Ich hatte nur auf die letzte SMS mit einem Danke geantwortet. 

 

Rebecca war ziemlich überrascht, als ich eine Stunde vor Schichtbeginn im Serenity’s Diner auftauchte. Oder naja, wahrscheinlich hatte sie nicht mal damit gerechnet, dass ich überhaupt kam. Seit einem Jahr half ich nun dreimal die Woche in dem gemütlichen Diner am Cumberland River aus. Abgesehen von den letzten drei Wochen.

Aber wie gesagt, ich wollte nicht ewig in Rondas Arbeitszimmer versauern. Also beschloss ich, wenn ich mich schon nicht den Blicken meiner Schulkameraden stellen konnte, wollte ich mich zumindest mit dem von Rebecca, meiner übrigens sehr jungen Chefin, aufwärmen.

Die erste Mitleidsunterhaltung hatte ich bereits hinter mich gebracht. Und ehrlich gesagt, sie war zwar schrecklich, aber nicht halb so schlimm wie erwartet.

Als Erstes hatte sie mich angesehen, als würde ich nackt ins Diner kommen. Nachdem sie dann den ersten Schock überwunden hatte, fragte sie, wie es mir ginge und dass ich mir ruhig noch ein wenig Zeit nehmen konnte, bevor ich wieder in die üblichen Schichten einstieg. Aber das hatte ich dankend abgelehnt und ihr versichert, dass ich hier gerne arbeitete.

Im Diner erinnerte mich wenigstens nichts an meine Eltern. Der Nebenjob war eine Sache gewesen, die ich für mich allein entschieden hatte. Meine Schichten lagen immer in der Zeit, in der auch meine Eltern arbeiteten, also hatten sie nie etwas mit dem Diner zutun. Manchmal vergaßen sie sogar, dass ich überhaupt einen Nebenjob hatte. Ich konnte hier so tun, als wäre alles beim Alten.

 

Es war ruhig um die Mittagszeit an diesem Tag, nur drei Tische waren belegt und die aßen seit mindestens einer halben Stunde an ihren Pommes, lasen Zeitung oder nippten an ihrem Kaffee. Keiner warf auch nur einen Blick zum Tresen oder machte Anstalten zu zahlen oder noch etwas zu bestellen.

Also stand ich hinter dem hellen Tresen, meine Zeichenmappe auf der Anrichte und die Bleistiftmine auf weißem Papier. Das tat ich neuerdings ständig. In jeder freien Minute malte ich Bilder, die wie aus dem nichts auf einmal in meinem Kopf erschienen. Das war früher schon ab und an so gewesen – ein Händchen für Kunst hatte ich schon immer – aber nicht in so einem Ausmaß. Federleicht flog der Bleistift über das Blatt, als würde er meine Hand führen und nicht andersrum.

 

„Bin das ich?“

Ich erschrak. Mein Bleistift flog im hohen Bogen über den Tresen. Als ich zurück zuckte, stieß mein Kopf auf ebenso harten Widerstand.

„Tut mir leid“, sagte Rebecca grinsend und rieb sich die Stirn. In meinem Kopf fing es leicht zu pochen an. Was musste sie sich auch so von hinten an mich heranschleichen?

„Schon gut“, antwortete ich und lehnte mich auf Zehenspitzen über den Tresen auf der Suche nach meinem Bleistift.

„Also?“, sagte Rebecca im fragenden Ton.

„Was also?“

„Na, das Bild. Bin ich das?“

Ah. Da lag er ja. Ich klappte den Teil der Anrichte, der als Durchgang diente, auf und hob ihn vom Boden, ehe ich mich Rebeccas Frage widmete. Ich nahm das Blatt zwischen die Finger und hob es neben Rebeccas Kopf. Dann legte ich meinen eigenen schief und lächelte sie zweifelnd an.

„Eher nicht.“

Rebecca zog in gespielter Enttäuschung einen Schmollmund.

Auf meiner Zeichnung konnte man die Umrisse eines Mädchens mit lockigem Haar erkennen, das an einer Blüte roch, welche noch nicht genauer bestimmt war. Was sollte daraus werden? Ein Gänseblümchen, eine kleine Sonnenblume oder ein Edelweiß?

In dem Moment, als ich meine Zeichnung wieder in seine Mappe legte, klirrten die Glocken an der Eingangstür.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass sich Rebecca schon darum kümmern würde, aber plötzlich hörte ich sie ein paar Meter von mir entfernt „Kundschaft“ rufen. Eindeutig ein Zeichen für meinen Einsatz. Ich klappte meine Mappe zu und blickte zu dem Grüppchen lachender Jugendlicher.

Meine Hand, die eben noch nach dem Notizblock greifen wollte, erstarrte. Ich drehte mich um, in der Hoffnung Rebecca zu sehen, doch sie war schon in der Küche verschwunden. Verdammt.

Ich holte zitternd Luft und schloss die Hände um den Notizblock. Das waren nicht irgendwelche Gäste. Das waren Hiller, Cameron, Sandra, Ruby und Marion – ein paar aus meiner Clique. Meiner alten Clique. Zumindest sah ich sie nicht länger als meine Freunde an. Offenbar nahmen sie an, „Waisenkind“ war so was wie eine ansteckende Krankheit. Gehört hatte ich seit… dem jedenfalls nichts mehr von ihnen. Nicht mal zur Beerdigung waren sie gekommen, abgesehen von Hiller.

Ich schluckte das Gefühl, bei dem ich mich nicht entscheiden konnte, ob es Enttäuschung oder Wut war, herunter und trat an ihren Tisch.

„Willkommen in Serenity’s Diner. Was darf’s sein?“, fragte ich sie wie jeden anderen Gast auch.

Auf einen Schlag erlosch ihr Lachen und schon wieder bekam ich Blicke zugeworfen als stünde ich nackt vor ihnen.

„Hailey“, japste der blondgelockte Cameron. Die anderen konnte ich regelrecht schlucken hören.

Mann, was sollte das denn? Zwar hatte ich so eine ähnliche Reaktion erwartet, aber war es denn so eine Überraschung mich hier zu sehen? Hallo-ho? Ich war ein Waisenkind und nicht schwerbehindert.

„Wie… wie geht es dir?“, fragte Ruby, die die Olsen-Zwillinge beinahe zu Drillingen machen konnte. Sie klang atemlos und irgendwie weinerlich.

„Kommst du klar?“, schickte die dunkelhäutige Marion hinterher.

Ich hob eine Augenbraue. Jetzt fragten sie mich das? Jetzt? Nachdem sie mich drei Wochen allein damit ließen?

Das Gefühl, das eindeutig Wut war, bahnte sich wieder seinen Weg nach oben. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und zerknüllte den kleinen Notizblock in meiner Hand.

„Eure Bestellung“, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen, meinen Zorn nur schwer in Schacht haltend.

Die Gruppe wechselte einen Blick miteinander, ehe sie ihn wieder alle auf mich richteten.

„Willst du dich zu uns setzen?“, ignorierte Ruby meine Aufforderung. „Du kannst doch bestimmt Pause machen?“

„Ja, bisschen quatschen und so“, stimmte Cameron mit ein, der seinen Schock überwunden zu haben schien.

 

Okay, es ging nicht anders, das war’s dann mit meiner Selbstbeherrschung.

Wütend knallte ich meinen Notizblock auf den Tisch, so dass er kurz schepperte und alle einen Satz nach hinten machten.

„Bisschen quatschen, ja?“, wiederkamen Camerons Worte aus meinem Mund. „Jetzt wollt ihr quatschen!“

Ich lachte bitter auf und warf die Hände in die Luft.

„Mir geht’s super, prima, ging mir nie besser, was glaubt ihr denn? Mit so tollen Freunden, die für mich da sind – wie sollte es da anders sein?!“

Boom. Die Bombe war geplatzt. Und ich war wieder nackt, diesmal fiel es allerdings auch den anderen Gästen auf.

Ich erfasste einige offene Münder, geweitete Augen und der Gast mit der Zeitung, schüttelte sogar missbilligend den Kopf, ehe er ihn wieder hinter seiner Zeitung verschwinden ließ.

Ich lachte wieder und weinte in einem hysterischen Anfall aus Belustigung, Wut und Traurigkeit. Es war, als wäre das komplette Diner auf Standby gestellt, nur ich lief noch auf Hochtouren - aufgedreht bis zum Anschlag. Keiner wagte es ein anderes Geräusch in mein weinerliches Lachen zu werfen. Nun ja, fast keiner.

„Hailey, was…?“, hörte ich da Rebeccas Stimme in meinem Rücken. Ich drehte mich um und zuckte die Schultern, während eine Träne über meine lächelnden Lippen ran.

Und dann rannte ich.

 

Ich rannte so schnell, dass die Klingel zum Diner schon innerhalb Sekunden außerhalb meiner Hörweite war.

So schnell, dass meine Tränen vom Wind getrocknet wurden.

So schnell, dass ich beim vorbeirennen, einem alten Mann die Zeitung aus der Hand wehte.

So schnell, dass ich für einen Augenblick glaubte, über die Brüstung vom Cumberland River zu stürzen, als ich sie als Bremse benutzte.

Wie konnte ich nur glauben, schon soweit zu sein? Und wieso mussten ausgerechnet die im Diner auftauchen? Ich wusste, ich hatte überreagiert, aber wie konnten sie mich auch sowas Dummes fragen?

Ich keuchte, schluckte, keuchte wieder, weil ich das Gefühl hatte beim Schlucken zu ersticken. Schluchzte, keuchte, rang nach Luft. Atmete tief die kühle Januarluft, die mir schon die ganze Zeit das Haar zerzauste, ein und stieß sie zitternd wieder aus.

Wie konnte es nur soweit kommen? Wie konnten sie mich verlassen und mit ihnen all meine Kraft? Wie konnte es sein, dass mich keiner gefragt hatte? Dass ich nichts dagegen unternehmen konnte? Dass ich einfach… zurückgelassen wurde?

Das war es. Ich kam mir vor wie eine vergessen gewordene Jacke an einer leeren Garderobe. Niemand sonst wusste so genau, wie es sich angefühlt hatte, sie um mich zu haben, also wusste auch keiner so genau wie ich, wie es war, allein zu sein. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass meine Zeit mit ihnen abgelaufen war und nicht andersrum.

Plötzlich hörte der Wind auf, über meine nackten Arme zu streifen und ich spürte etwas Schweres und Warmes auf meinen Schultern.

„Alles in Ordnung, Miss?“, fragte eine mir fremde Stimme.

Jemand hatte mir seine Jacke über die Schultern gelegt, dunkelbraun und ledern. Ich drehte den Kopf.

Neben mir stand ein großgewachsener, junger Mann und sah mich mit aufmerksamen, braunen Augen an.

Ich wandte den Blick ab und nickte. Großartig, fremdes Mitleid war genau das, was ich im Moment brauchte.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der dunkelhaarige die Arme auf dem Geländer verschränkte und auf den Cumberland River hinausschaute.

„Schöne Aussicht, nicht?“, sagte er unerwarteter Weise und stieß mit seinem Ellenbogen leicht meinen an.

Überrascht richtete ich meinen Blick wieder auf ihn. Wieso fragte er mich jetzt so etwas? Keine Ahnung, was ich dazu sagen sollte. Wie konnte er überhaupt annehmen, dass mir gerade nach Smalltalk war, nachdem er mein Schluchzen doch offensichtlich bemerkt hatte?

Aber es half zumindest, genau dieses Schluchzen zu unterbrechen, mich aus meinem Konzept zu bringen.

Der dumpfe Wirbel an Emotionen in meinem Inneren verzog sich wieder. Ich fand wieder die Kraft, meine Barrikaden hochzufahren und irgendwie war ich ihm dafür auch dankbar. Ich zog seine Jacke enger um mich und folgte seinem Blick.

„Mh-mh“, machte ich, obwohl der Anblick heute alles andere als schön war. Der Fluss war an seinen Rändern ein stückweit eingefroren und der graue Himmel ließ das Gesamtbild eher gruselig wirken.

„Ernsthaft?“, hakte er nach. Er klang zweifelnd, ich meinte auch ein Lächeln aus seiner Stimme herauszuhören.

„Naja, ich wollte deine Ansichten nicht verletzten.“

Jetzt hörte ich ihn deutlich glucksen. „Tu dir kein Zwang an.“

Es war ansteckend. Ich spürte die letzte Träne aus meinem Augenwinkel quellen, fing sie mit dem Finger auf und stimmte in sein Kichern ein, ehe ich beschloss, ihn genauer zu betrachten.

Was mir als erstes auffiel, war seine markante Nase, aber sie passte in sein Seitenprofil, das zweifellos nicht ohne war. Seine Haare wippten leicht im Takt des Windes als würden sie tanzen und…

„Geht’s wieder?“, unterbrach er jäh meine Musterung und wandte mir ebenfalls den Kopf zu. Seine Augen sahen irgendwie müde aus, auch der leichte, ungleichmäßige Drei-Tage-Bart ließ darauf schließen, dass er heute Morgen nicht rechtzeitig aus dem Bett gekommen war.

Ich nickte und wich seinem Blick wieder aus.

„Schön. Ich bin übrigens Logan“, ließ er verlauten und zog seine Hand aus den verschränkten Armen, um sie mir entgegen zu strecken.

„Hailey“, murmelte ich. Allerdings brauchte ich einen Moment länger, meine Hand aus seiner Jacke zu graben, ohne dass sie mir von den Schultern rutschte.

Logan lächelte und drückte meine Hand, so fest dass ich kurz die Lippen zusammenpresste, um keinen Schmerzenslaut über sie kommen zu lassen.

„Darf ich fragen, wie es dazu kommt, dass Hailey Ende Januar bei sommerlichen zwei Grad in T-Shirt am Fluss steht?“, fragte er. Er klang nicht besorgt oder so, eher neugierig. Ich seufzte.

„Ehrlich gesagt, lieber nicht.“

Logan nickte, wirkte ein wenig enttäuscht, aber das überwand er schnell.

Eigentlich sollte mir ziemlich unbehaglich zumute sein mit diesem fremden Mann neben mir, der mit mir sprach, als wäre es das Normalste auf der Welt. Es war mir noch nicht oft passiert, dass man mich aus dem Nichts ansprach und ehrlich gesagt, wusste ich auch nicht recht, wie man damit umzugehen hatte. Smalltalk war keines meiner Stärken und das änderte sich auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Aber das schien ihn nicht zu stören, und seltsamerweise auch mich nicht.

„Schon gut“, sagte er, wie als Antwort auf eine nie gefallene Entschuldigung meinerseits. „Wer erzählt schon einem Wildfremden, was ihm gerade das Leben schwer macht.“

Dann lachte er als hätte er gerade einen Witz gemacht. Ich versuchte mit einem Lächeln in seine Freimütigkeit einzustimmen, zu meiner Überraschung fühlte sich das Lächeln auf meinen Lippen sogar echt an. Wieder stieß er mich kumpelhaft mit dem Ellenbogen an, diesmal wehte bei seiner Bewegung sein Duft, ein erdiger, bitterer Duft, den keiner aus meinem Jahrhundert tragen würde, zu mir herüber. Aber ich musste sagen, der Geruch kitzelte nicht unangenehm in meiner Nase.

„Wo musst du denn jetzt hin?“, fragte er, noch immer umspielte ein Grinsen seinen breiten Mund. Ich erkannte ein paar Falten, die sich schwach um seine Augen zogen.

„Ich? Nirgends.“, beschloss ich. Ruby und die anderen hielten sich gerade mit Sicherheit noch im Serenity’s auf. Und solange würde ich ganz bestimmt nicht wieder zurückkommen. Warum sich dann also nicht mit einer Smalltalk-Übung die Zeit vergeuden?

„Gut, ich auch nicht.“

Ich zauberte wieder ein Lächeln auf mein Gesicht. Hatte irgendwie vergessen, wie gut es sich anfühlte.

Logan

 

„Sie standen auf einmal zu sechst vor meiner Wohnung. Ehrlich, ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie sie nach drinnen gestürmt, mein Geldbeutel und mein Handy geschnappt haben und mich raus zerren wollten“, erklärte er und schüttelte lachend den Kopf. Seine Augen leuchteten, als er von seinem letzten Wochenende berichtete. Es schien eine schöne Erinnerung zu sein.

Logan hatte mir erzählt, dass er ursprünglich aus New Jersey kam und dann aus vielmehr beruflichen Gründen vor 5 Wochen hierhergezogen war. Er meinte, dass er seinen Horizont erweitern wollte, beruflich und privat. Eine Art Neuanfang in einer fremden Stadt. Ich beneidete ihn.

„Und dann hast du das komplette Wochenende mit deinen Freunden Nashville unsicher gemacht“, mutmaßte ich. Ich trat einen Schritt zurück, um ihn besser siegessicher ansehen zu können. Doch er schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf.

„Nee. Schön wär’s, dann wär ich heute wohl bei Zeiten zur Arbeit erschienen.“

Ungläubig weitete ich meine Augen. „Is‘ nicht wahr. Du hattest auch noch ausgerechnet heute deinen ersten Tag?“

Es war einfach sich mit ihm zu unterhalten. Fast so als würden wir das jeden Tag tun; als bestünde zwischen uns schon vorher eine Art unsichtbarer Draht, der uns miteinander kommunizieren ließ. Ich hatte so etwas noch nie erlebt, aber das machte mir auch keine Angst. Nachdem er erst einmal das Eis mit einer Anekdote aus seiner frühsten Vergangenheit gebrochen hatte, war auch bei mir das Eis geschmolzen.

Logan schmunzelte wieder nickend. Er war ganz begeistert davon, seine Geschichte mit mir teilen zu dürfen und auch, dass sie mich so mitriss. „Doch, wahr. Aber das konnten sie ja nicht wissen. Ich hab es ihnen erst erzählt, als sich mich gestern nicht zurückfahren lassen wollten.“

„Zurückfahren?“

Er warf mir einen gespielt rigorosen Blick zu. „Sie haben mich zum nächsten Bahnhof und nach New Jersey verschleppt.“

Ich klappte den Mund auf und keine Sekunde später brach schallendes Gelächter daraus. Es tat ja so gut, mich mal wieder von jemandem amüsieren zu lassen. Außerdem freute es mich, dass auch er so viel Spaß daran zu haben schien wie ich.

Er hatte in seiner Heimat Freunde, die vor Sehnsucht nach ihm so durchgedreht sind, dass sie ihm am Samstag nach Nashville gefolgt sind, um ihn wieder zurückzuholen.

Mir wurde bewusst, dass er sich im Gegensatz zu mir jedoch bewusst für diesen neuen Lebensabschnitt entschieden hatte. Seine Freunde vermissten ihn, wo er ja so viele Meilen von ihnen weg lebte. Und meine Freunde? Ich war nach wie vor hier und keiner von ihnen kam, um mir eine schöne Zeit zu schenken. Aber daran wollte ich jetzt nicht weiter denken.  

„Und dann hast du heute einfach deinen ersten Arbeitstag verschlafen?“, fragte ich ungläubig. Dass ich Logan dabei leicht auslachte, konnte ich nicht vermeiden.

Er grinste betreten, hob die Schultern und boxte mir auf meine.

„Tja, ich hatte eben nicht mit einberechnet, dass sich solche Züge auch verspäten können. Als ich dann endlich hier ankam, war es schon zehn nach neun und ich hatte eigentlich einen Einarbeitungstermin mit meinem Vorgänger für 7.45 Uhr vereinbart. Also bin ich gerannt wie der Teufel ohne nochmal nachhause zu gehen.“

Er fuhr sich demonstrierend übers Kinn. Ja, dass erklärte diesen ungleichmäßigen Drei-Tage-Bart. Irgendwie war ich erleichtert, dass er nicht immer so verschroben rumlief.

„Der wächst wie Unkraut“, erklärte er und zog an einem seiner zu langen Stoppeln.

„So sieht’s auch aus“, neckte ich ihn. Innerlich versuchte ich dem Drang zu widerstehen, auch mal an seinem Bart zu ziehen – ihn abzureisen. Versteht mich nicht falsch, Drei-Tage-Bärte konnten sehr wohl verdammt sexy sein, aber für Logans Bart blieb wohl keine Zeit ihn in Form zu bringen.

Logan ließ sich allerdings nicht aus der Ruhe bringen. Munter grinste er mir weiter ins Gesicht.

„Hey, du siehst aber auch nicht gerade gepflegt aus“, konterte er frech und zog an einer meiner Haarsträhnen.

„Hey!“, stieß ich empört aus und zog sie ihm aus der Hand. Kurz überlegte ich, ob ich jetzt ernsthaft beleidigt sein sollte, doch dann fiel mir ein, dass er ja irgendwie Recht hatte. Angesichts des Windes, der nach wie vor über unsere Köpfe wehte, hatten sich meine Haare in alle Richtungen verteilt. Wahrscheinlich hatten sie mittlerweile die Form eines Vogelnestes.

Ich streckte ihm die Zunge raus. „Wenigstens kann ich damit noch Rotkelchen anlocken, während du alles, was Augen hat, verscheuchst!“

Logan fasste sich in theatralischer Betroffenheit ans Herz. Dieser Anblick - wie er sich zu mir gedreht hatte und mich dazu mit so weit aufgerissenen Augen anstarrte, dass ich meinte sie traten gleich heraus - brachte mich wieder unhaltbar zum Lachen.

„Mal ehrlich“, kicherte ich. „Du siehst aus wie ein Verbrecher!“

„Wenn das so ist“, meinte Logan verschwörerisch, räusperte sich und kam einen Schritt näher. Ich schluckte hörbar, als Logan sich bedrohlich vor mir aufbaute, der Lacher, den ich versuchte in meiner Kehle zu halten, machte sein Schauspiel allerdings ein klein wenig zunichte.

Logan öffnete gerade den Mund, wahrscheinlich um irgendwas Albernes zu sagen, als er von einer mir bekannten Stimme unterbrochen wurde.

 

„Hailey?!“, hörte ich Gavin aus dem Nichts rufen.

Als ich meinen Kopf in Richtung der Geräuschquelle drehte, sah ich Gavin mit einem Gitarrenkoffer auf uns zu rennen. Man konnte gar nicht so schnell gucken, da hatte er uns schon erreicht. Dass er Logan unsanft von mir stieß und sich wie eine Mauer zwischen uns aufstellte, war nicht zu verhindern.

„Sieh zu, dass du verschwindest!“, zischte Gavin, der mit dem Rücken zu mir stand, an Logan gewandt. Über Gavins Schulter hinweg, sah ich wie Logan beschwichtigend die Hände hob.

„Woho. Ruhig, Brauner.“

„Gavin, lass das!“, befahl ich und gab ihm einen Klaps auf sein Schulterblatt. Gavin zuckte daraufhin zusammen, beachtete mich aber nicht weiter. Mit seinem Gitarrenkoffer verhinderte er, dass ich zwischen ihm und dem Geländer vorbei kam.

„Du kennst ihn?“, fragte Gavin zwischen zusammengebissenen Zähnen. Die Frage hatte er mir gestellt, auch wenn er Logan dabei offensichtlich nicht aus den Augen ließ.

„Ja, und jetzt geh beiseite“, nörgelte ich. Dabei schob ich Gavin schon leicht aus meinem Sichtfeld auf Logan. Doch ich brachte ihn erst in Bewegung, als er freiwillig einen Schritt beiseite ging. Allerdings nur soweit, dass ich mich allenfalls an ihm vorbeiquetschen konnte.

„Und was sollte das gerade dann?“, fragte Gavin, diesmal sah er mich dabei auch an. Für einen Moment war ich überrascht über den besorgten und gleichermaßen wütenden Ausdruck in seinen Augen. Gab es denn überhaupt einen Anlass dazu? Ich verdrehte die Augen.

„Wir haben Spaß gemacht, Gavin. Krieg dich wieder ein“, sagte ich genervt und versuchte ihn mit meiner Schulter ein bisschen weiter weg zu boxen. Vergeblich.

Logan hatte inzwischen die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah resigniert von einem zum anderen. Armer Kerl, erst warf ich ihm vor, wie ein Verbrecher auszusehen und dann kam Gavin daher und behandelte ihn auch noch wie solchen.

„Und wer ist das jetzt?“

„Mein Gott, Gavin“, stöhnte ich entnervt. „Hör doch auf mit diesem Kreuzverhör.“

Gavin hob unbeeindruckt die Augenbrauen – eine stumme Aufforderung, seinen Namen zu sagen.

Ich seufzte. „Wenn du’s unbedingt wissen willst. Das ist Logan. Logan, das ist Gavin.“

Nachdem ich sie einander widerwillig vorgestellt hatte, streckte Logan Gavin seine Hand hin, wie mir zuvor. Als Gavin sie ergriff, war ich mir fast sicher, dass diesmal nicht Logan derjenige war, der zu fest zudrückte.

„Was suchst du überhaupt hier?“, fragte ich mit dem Blick auf den Gitarrenkoffer. „Musst du nicht arbeiten?“

Gavin wandte sich von Logan ab und hob den Gitarrenkoffer ein Stück höher, als würde ihm selbst gerade erst auffallen, dass er ihn in der Hand trug.

„Tu ich doch“, erklärte er. „Die hier muss in die Werkstatt.“

Gavin arbeitete als Praktikant in dem Plattenlabel „The Third Men Records“ von Jack White. Sehr zum Missfallen von Ronda, der es lieber gewesen wäre, Gavin aufs College gehen zu sehen. Doch Gavin war der Ansicht, dass man Talent und Inspiration brauch, um erfolgreich Musikkarriere zu machen und keinen Bachelortitel.

Ich nickte erkennend. „Na dann.“

Gavin brauchte eine Weile bis er kapierte, dass mein angedeutetes Gefuchtel mit den Händen bedeutete, dass er weitergehen sollte. Oder er verstand sehr wohl, wollte nur nicht. Denn er fragte nur: „Und du? Ronda meinte, du wärst mal wieder ins Serenity‘s gegangen. Was machst du hier draußen und was für eine Jacke trägst du da?“

Jetzt fing er schon wieder damit an. Ich wandte den Blick ab und zog in Erwägung einfach wegzulaufen und zurück ins Diner. Aber das konnte ich Logan nicht antun. Aus dem Augenwinkel sah ich übrigens seine Überraschung, als Gavin das Serenity‘s erwähnte.

„Hab Pause. Und die Jacke hab ich einem Gast geklaut. Was glaubst du denn?“, fauchte ich in Gavins Richtung und machte eine vielsagende Geste in Logans.

Mich überkam ein schlechtes Gewissen, als ich bemerkte, dass Gavins braune Augen plötzlich irgendwie verletzt wirkten. Schnell nahm er den Blick von mir und fuhr sich durch seine dunkelblonden Haare, die etwas länger waren als üblich. Ich seufzte innerlich. Irgendwo meinte er es ja nur gut.

„Wie lange hast du noch Schicht?“, fragte er dann, den Blick auf dem Cumberland River. „Ich könnte dich mitnehmen.“

Wenn ich ihn jetzt noch abwies, würde mein Gewissen wahrscheinlich noch unbarmherziger werden. Also seufzte ich innerlich und antwortete: „Bis halb sechs.“

Gavin nickte, warf Logan einen halbherzig entschuldigenden Blick zu und ging dann davon. Wir sahen ihm noch hinterher, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand und die Hand zum Abschied hob, jedoch ohne sich umzudrehen.

„Komischer Kerl“, ließ Logan verlauten und starrte immer noch in die Richtung, in der Gavin verschwunden war. „Dein Freund?“

Ich wollte gerade schon auf seine erste Aussage hin nicken, als ich mich verschluckte, sobald ich seine nächsten Worte registriert hatte. Mein Hust-Anfall war Logan wohl Antwort genug, denn er begann zu lachen und klopfte mir entschuldigend auf den Rücken. „Sorry, war nur ‘ne Frage.“

Dann verabschiedete ich mich von meinem netten Smalltalk in der Hoffnung ihn vielleicht irgendwann wieder zu treffen. Mit jemandem zu reden, der absolut unvoreingenommen von meinem Schicksal war, gab mir irgendwie wieder ein ganz anderes Lebensgefühl.

 

***

 

Pünktlich wie die Sonnenuhr schlappte Gavin um halb sechs an die Theke, hinter der ich gerade meine Schürze verstaute.

Rebecca hatte mir den Gefallen getan, mich nicht weiter nach dem Vorfall vom Mittag zu fragen, doch sie hatte vorgeschlagen, dass ich mir noch ein wenig Zeit nehmen sollte. Auf den Punkt gebracht: Sie hatte mich für eine Weile zwangsbeurlaubt. Böse war ich ihr deswegen nicht. Wäre ich sie, würde ich mich auch als eine Zumutung für ihre Gäste betrachten.

„Können wir?“, fragte Gavin. Mit verschränkten Armen, lehnte er sich an die Anrichte, während er beobachtete, wie ich meine Mappe in meiner Tasche verstaute und in meine Jacke schlüpfte. Wie immer trug er eine mausgraue Strickmütze über seinen dunkelblonden Haaren, deren Spitzen hier und da herausspähten. Vor allem im Stirnbereich ragten sie über seine Mütze hinaus und erreichten einseitig beinahe seine perlkupfernen Augen.

Ich nickte, als ich mir meine Tasche über die Schulter hängte. Aber das hätte ich mir sparen können, denn kaum war ich auf seiner Seite des Tresens, da nahm er sie mir auch schon wieder von den Schultern.

„Ich bin dann weg, Becca“, rief ich meiner Chefin zu, die es mit einem „Ist gut, bis bald“ beantwortete. Irgendwie wurde ich den Verdacht nicht los, dass ihre Definition von „bald“ einen längeren Zeitraum bezeichnete als bei manch anderen. Aber wie konnte ich es ihr verübeln. Die Gäste von heute Mittag bekam sie wahrscheinlich eher nicht so „bald“ wieder zu Gesicht.

Nachdem ich ernüchtert den Mund verzogen hatte, bewegte ich mich auf den Ausgang zu.

„Warum das Gentleman-Getue?“, wunderte ich mich über Gavin, der vorausgegangen war und mir nun sogar die Tür aufhob.

Er sah mich kurz irritiert an, dann trat er einen Schritt zurück und ließ die Tür zufallen, sodass ich gerade noch so hindurchhuschen konnte.

„Nicht, dass ich was dagegen hätte“, fügte ich hinzu, als ich mich neben den triumphierend grinsenden Gavin stellte. Mir fiel auf, dass er trotz des eisigen Winds keine Jacke übergezogen hatte. Stattdessen trug er sein dunkelblaues Jeanshemd sogar offen, unter dem lediglich sein weißes Unterhemd hervor blitzte.

„Ist dir nicht kalt?“, wollte ich mit schiefgelegtem Kopf wissen. Gavin schüttelte nur den Kopf und hielt seinen Schlüssel in Richtung seines stahlblauen Kadett-Cabrios. Ich hob eine Augenbraue, als ich feststellte, dass sein Verdeck offen stand.

 „Gott, irgendwann ist er weg, wenn ich immer vergesse abzuschließen“, bemerkte Gavin amüsiert über seinen eigen Witz, als er ohne die Türen zu gebrauchen vor das Lenkrad hüpfte. Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, es ihm gleich zu tun. Doch dann gestand ich mir ein, dass es wahrscheinlich eher ziemlich unelegant war, wenn ich am Rand der Seitentür hängen blieb und mit dem Gesicht voraus auf meinen Platz plumpste. Also griff ich nach dem Türhebel und zog. Und zog noch einmal. Und nachdem ich schließlich ein drittes Mal versuchte, die Tür zu öffnen, bemerkte ich den vor sich hin glucksenden Gavin, der stur auf die Straße schaute. Wo kam denn jetzt diese Spielkind-Laune her?

„Gavin“, räsonierte ich ihn und trommelte mit den Fingern auf seine Motorhaube. Natürlich hätte ich mir einfach selbst aufmachen können, immerhin versperrten mir keine Scheiben den Weg zu dem Knauf, den ich ziehen musste, damit sich die Tür öffnete, aber da die Karre auch nicht mehr die Jüngste war, war der vor geraumer Zeit abgebrochen. Gottlob, hatte ich das nicht laut gesagt. Andernfalls wäre Gavin in Nullkommanichts wieder aus seinem Kadett gesprungen und mir an der Gurgel gehangen.

Doch da ich das nicht hatte, lachte er sich noch ein Weilchen ins Fäustchen, bevor er mir den Schlüssel reichte, damit ich mir aufschließen konnte.

„Idiot“, murmelte ich, als ich Platz nahm und ihm den Schlüssel ins Zündschloss steckte.

Was einmal blühte

 

Eine Zeit lang blieb es still im Auto, abgesehen von dem kühlen Fahrtwind, der uns um die Ohren peitschte. Doch anscheinend hielt Gavin es für ein angemessenes Wetter seinen Kadett mal wieder etwas Frischluft schnuppern zu lassen. Es war ja nicht so, dass jemand mit im Auto saß der halb einfror und an sein Abwehrsystem appellierte, stark zu bleiben. Aber ich wollte nicht meckern, auch wenn ich nonstop damit beschäftigt war mir die Haare aus dem Gesicht zu halten.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mit ihm bei offenem Verdeck mitfuhr. Allerdings unterschiedenen sich damals die wetterlichen Bedingungen von denen heute gewaltig.

Gavin hatte sich den Wagen von dem Geld, das sein Vater ihm eigentlich für das College hinterlegt hatte, geleistet. So wie die Karre aussah, war von dem Geld noch eine Menge übrig, dachte ich damals, als ich mich auf die abgewetzten Rücksitze fallen ließ, während meine Mutter auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Ronda hatte uns besuchen wollen, als ihr eigenes Auto in der Werkstatt war, weswegen sie sich kurzerhand Gavins Auto geliehen hatte. Mum ließ es sich natürlich nicht nehmen, Ronda zu einer Spritztour zu überreden. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie sie sich immer wieder durchs Haar gefahren war und gelacht hatte, als ihr der sommerliche Fahrtwind die Haare wieder zerzauste. Sie hatte es geliebt, sie hatte diesen kleinen Ausflug mit diesem Auto wirklich genossen.

Obwohl die Erinnerung an ihr Lachen schmerzte – die Erinnerung daran, dass ich es nie wieder hören würde – musste ich bei dem Gedanken daran zwangsläufig lächeln.

„Soll ich dich dann Mittwoch wieder nach der Arbeit abholen?“, fragte Gavin irgendwann, während er in seinem Radio nach einem funktionierenden Sender suchte. Keine Sekunde später schlug er mit der flachen Hand dagegen, als es wieder nur Rauschfrequenzen ausspuckte. Ich zuckte zusammen.

„Du weißt schon, dass es an deiner Antenne liegt und das Radio sein Bestes gibt, oder?“, kommentierte ich belustigt seinen Gewaltakt. Dass ich somit gleichzeitig seiner Frage geschickt ausweichen konnte, war ein unwillkürlicher Vorteil.

Als Antwort schenkte Gavin mir einen herrischen Seitenblick. Ich hob beschwichtigend die Hände in die Luft und presste die Lippen aufeinander.

Ich beobachtete, wie Gavin mit konzentrierter Miene, die er irgendwie schaffte sowohl auf der Straße wie auch auf dem Radio zu halten, jeden einzelnen Sender durchprobierte, bis er irgendwann seufzend aufgab und mich stumm dazu aufforderte, das Handschuhfach zu öffnen. Als ich dem nachkam, wurde ich schier von einem halben Dutzend CD-Hüllen erschlagen. Hastig versuchte ich sie aufzufangen, ehe sie alle auf meinen Schoss oder in meinen Fußraum polterten. Gavin ließ meine kleine Schlacht unkommentiert, stattdessen griff er zielgenau nach einer CD auf meinem Schoss und schob sie in die Anlage. Ich hob eine Augenbraue. Wieso nicht gleich so, bevor er versuchte seine Anlage zu verprügeln? Ich schüttelte den Kopf und verstaute den CD-Wirrwarr weitestmöglich wieder im Handschuhfach.

„Also, wie sieht es aus mit Mittwoch?“, kam Gavin wieder auf das unerwünschte Thema zurück, während er auf dem Lenkrad im Takt zu einem Song trommelte, den ich nicht kannte.

„Nicht nötig“, lehnte ich ab. „Bin Mittwoch nicht im Dienst.“

Gavin wandte mir mit zusammengezogenen Augenbrauen kurz den Kopf zu. „Wieso nicht? Ich dachte, du fängst wieder normal an zu arbeiten. Montags, mittwochs und samstags, oder nicht?“

Woher wusste er das so genau? Das war ja fast erschreckend, wie schamlos Ronda mit Gavin über meine Gewohnheiten zu plaudern schien.

„Ja, schon… normalerweise. Aber…“, druckste ich herum und suchte krampfhaft nach einer Antwort, die nicht danach klang, dass Rebecca mich noch für unzurechnungsfähig hielt. „Rebecca. Also… sie braucht zurzeit keine Aushilfe mehr.“

Ich widerstand dem Drang zu jubeln, als mir die perfekte Ausrede in den Sinn kam. „Es soll ziemlich ruhig geworden sein im Serenity‘s“, ich zuckte mit den Achseln. „Sie ruft mich an, wenn wieder Hochsaison ist.“

Gavin nickte, sah aber trotz meiner grandiosen Erklärung nicht wirklich überzeugt aus. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass er das jetzt am liebsten hinterfragen würde. Die geborene Lügnerin war ich ja noch nie gewesen, aber die Lüge gerade kam wirklich glatt über meine Lippen. Ich schnaubte, versuchte aber es ihn nicht merken zu lassen. Konnte er nicht mal aufhören, sich ständig Sorgen zu machen?

 

Den Rest der Fahrt schwiegen wir. Seit ich bei den Applegates beziehungsweise bei der Applegate und dem Richfield (Gavin trug den Familiennamen seines Vaters) eingezogen war, ist unser Verhältnis irgendwie angespannter geworden. Es gab Zeiten, in denen ich mich mit Gavin bedenkenlos über alles Mögliche unterhalten konnte; sogar Zeiten, in denen wir gemeinsam vor dem Fernseher gesessen sind und gegeneinander Street Fighter gezockt hatten. Doch die Zeiten waren vorbei, seitdem er sich aufführte als wäre er mein gottverdammter großer Bruder. Zugegeben, als ich jünger war, hatte ich mir oft vorgestellt, wie es wäre Gavin als Bruder zu haben. Wir hatten das auch ab und zu gespielt, wenn wir nicht gerade verheiratet waren und ich einen Sand-und-Wiesen-Eintopf zubereitete. Aber wie gesagt, ich war noch jung und dazu noch naiv und sehr phantasievoll.

Wenn ich früher schon gewusst hätte, wie nervig Gavin in dieser Rolle sein konnte, hätte ich mich garantiert nicht mehr zum Geschwister spielen bewegen lassen.

Ich seufzte lautlos. Ich fand es ja schon bedauernswert, dass unser Verhältnis so unter unserem Zusammenleben zu leiden hatte.

Was ich brauchte war ein Stücken Normalität. Eben irgendetwas, das sich nicht durch den Tod meiner Eltern änderte. Doch auf dieses Etwas war ich bislang noch nicht gestoßen. Selbst bei Missy kam es mir so vor, als wäre sie seitdem verstärkt auf Kuschelkurs, um mich zu trösten.  

Als Gavin und ich die Auffahrt zu Rondas Haus hochfuhren, stand ein roter Corsa vor der Garage, in die Gavin zu fahren pflegte. Um Gavins Mundwinkel zuckte es, als er den Wagen entdeckte. Es war Celines Wagen; der seiner Freundin. Bei jedem anderen, der es gewagt hätte, ihm den Weg zu versperren, wäre seine Laune auf der Stelle auf dem Nullpunkt gelandet. Aber jetzt parkte er seinen Wagen einfach dahinter und stieg ohne ein weiteres Wort aus. Gavin war schon an der Haustür, während ich mir noch mit den Fingern die Haare kämmte und die Tasche umhängte, ehe ich ebenfalls zum Haus trottete.

„Hey, Honey“, hörte ich Celine schon flöten, noch bevor ich sie sehen konnte. Als ich sie dann schließlich sah, hing sie um Gavins Hals und löste gerade ihre fülligen Lippen von seinen und strahlte. Es war nicht zu übersehen, dass sie immer noch bis über beide Ohren verliebt war, obwohl sie nun schon fast ein halbes Jahr miteinander gingen. Ihre olivgrünen Augen, die im krassen Kontrast zu ihrer dunklen Haut und den noch dunkleren Haaren standen, leuchteten regelrecht in Anbetracht Gavins. Celine war unleugbar eine wahre Schönheit, aber keine von der Sorte, die ihre eigenen Hofdamen besaß oder sonstige Untertanen. Nein, sie war eine freundliche, loyale Person, auch wenn sie einen Hang zu Melodramen hatte und deswegen sehr schnell eifersüchtig wurde. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie nicht sehr begeistert darüber war, dass ein anderes Mädchen in beinahe ihrem Alter zusammen mit ihrem „Honey“ unter einem Dach lebte. Aber wenn dem so war, dann ließ sie es sich nicht anmerken, sondern behandelte mich wie jeder andere auch mit übertriebenem Wohlwollen.

Als sie mich entdeckte, kam sie augenblicklich auf ihren dunkelblauen High Heels auf mich zugestöckelt und nahm mich in den Arm.

„Hi, Sweetie“, sagte sie währenddessen. „Alles klar?“

Ich lächelte flüchtig in ihr hübsches Gesicht und nickte. Ich konnte nur schwer abstreiten, dass ich einen gewissen Neid auf sie hegte. Sie besaß einfach eine wirklich einehmende Ausstrahlung und eine Leichtigkeit, wie ich sie einmal besessen hatte, bevor ich sie… verlor.

Celine machte wieder auf dem Absatz kehrt und schnappte sich Gavins Hand, ehe sie ihn in Richtung Küche zog. Ihr Gang war schwungvoll und elegant. Ohne dabei arrogant zu wirken, stellte sie ihre typischen Latina-Hüften zur Show, während Gavin entspannt hinterher schlenderte. Sie beide waren auf ihre ganz eigene Art smart und selbstsicher. So verschieden, aber doch einander ebenbürtig. Wieder beschlich mich ein Gefühl von Neid.

„Hailey?“, hörte ich da Rondas Stimme. „Kommst du essen?“

Ich rümpfte die Nase, als der Geruch von Ravioli in sie stieg. Ravioli zählten nun wirklich nicht gerade zu meinen Leibspeisen, aber ich folgte dennoch dem Geruch in die Küche.

Ronda werkelte gerade mit dem Salatbesteck auf der Arbeitsplatte und kämpfte mit dem Salat, von dem einige Blätter bereits aus der Schüssel entwischt waren. Ich stellte mich neben sie und nahm ihr das Besteck aus der Hand. Überrascht beobachtete sie, wie ich die Schüssel vor mich zog und für sie weiter mischte. Aus dem Augenwinkel konnte ich sogar erkennen, dass ihr Mund einen kleinen Spalt weit offenstand. Ich schloss kaum merklich die Augen.

Für einen kurzen Moment hatte ich wirklich in Erwägung gezogen mit ihnen zu essen. Doch offenbar glich normales Verhalten bei Hailey einem achten Weltwunder.

Tonlos holte ich meinen Teller vom Tisch und schaufelte Salat darauf. Ich wollte Rondas Welt ja immerhin nicht aus dem Gleichgewicht bringen, also sagte ich, nachdem ich mir eine Gabel voll im Stehen in den Mund geschoben hatte: „Ich ess‘ lieber oben.“

Nachdem Rondas Mund wieder zugeklappt war, war die Normalität wieder eingetreten und ich verließ die Küche. Ich sah wie Gavin sich auf seinem Stuhl in meine Richtung drehte und Anstalten machte etwas zu sagen, aber Celine legte ihm vorher bedeutsam die Hand auf seine. Ich notierte mir gedanklichen einen Pluspunkt für Celine.

 

Mit einem krächzenden Miauen begrüßte mich Missy, als ich mein Zimmer betrat. Wie es schien, hatte sie den ganzen Tag noch kein Laut von sich gegeben. Ich strich ihr flüchtig über das Fell und setzte mich vor meinen Schreibtisch, vor dem ich auch meine Tasche ablegte.

Missy strich mir unaufhörlich zwischen den Beinen, während ich meinen Salat aß. Als sie schließlich auch noch anfing zu schnurren und miauen, verstand ich, dass auch sie hungrig war. Also stellte ich den Teller außerhalb ihrer Reichweite und ging wieder nach unten, um ein Schälchen Nassfutter für sie zu holen.

Ich vernahm eine angeregte Stimme, als ich die Treppen hinunter lief.

„Ich weiß mir wirklich nicht mehr zu helfen und Hailey sowieso nicht“, hörte ich da plötzlich meinen Namen aus Rondas Mund. Meine Augen weiteten sich, während meinen Füße automatisch in Schleichmodus übergingen. Lautlos näherte ich mich der Küche.

„Du glaubst gar nicht, wie froh ich darüber war, als Hailey heute Mittag arbeiten gehen wollte. Ich dachte, endlich macht sie einen Schritt in die richtige Richtung“, Ronda seufzte. „Aber als mich dann Rebecca anrief und mir erzählte, dass Hailey einen Zusammenbruch hatte…“, wieder seufzte sie und auch ich. Verdammt, konnte man in diesem Haus denn nichts für sich behalten? Jetzt war Gavin wohl endgültig klar, dass ich vorhin geschwindelt hatte.

Außerdem: Zusammenbruch!? Also bitte, musste man da auch noch so unverfroren übertreiben?

„Sie brauch einfach noch ein Weilchen Zeit, Mum“, mischte sich Gavins dämpfende Stimme in Rondas Monolog.

„Ein Weilchen sind mittlerweile schon 3 Wochen, Gavin. Ich finde Rondas Gedanken, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, berechtigt“, beanspruchte Celine ihr Recht auf freie Meinungsäußerung. Wie bitte, was?! Psychologische Hilfe? Beinahe verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein? Sofort strich ich den Pluspunkt wieder.

„Das wird auch nichts helfen“, widersprach Gavin. „Wir kennen Hailey, sie wird auch bei dem nicht reden. Erst recht nicht, wenn sie sich zum Sprechen gezwungen fühlt.“

Allerdings. Das war mein Einsatz. Ich richtete mich auf und betrat sicheren Schrittes die Küche. Sofort richteten sich drei Paar Augen auf mich – reichlich schockiert, stellte ich zufrieden fest.

Ohne ein Wort ging ich auf den Schrank zu, in dem sich Missys Futter befand, während mir ihrer Blicke folgten.

„Gavin hat Recht“, sagte ich ohne sie anzusehen, als ich Missys Lieblingssorte aus den Kartons suchte. „Hailey lässt sich zu keinem Seelenklempner schleppen“, mit einem aufgesetzten Lächeln drehte ich mich um. „Wenn sie reden will, redet sie schon.“

Damit verließ ich die Küche wieder und stampfte die Treppe lauter hoch als nötig. Ich hörte keinen Ton mehr von ihnen, bis ich wieder in meinem Zimmer war.

 

Tränen mischten sich unter Missys Futter, während ich es ihr in eine Schüssel tat und mit einer Gabel zerkleinerte. Missy saß bereits ungeduldig vor der Schüssel auf dem Boden und kam mir dabei mit ihrer Schnauze, die sich schon ein paar Bröckchen Fleisch schnappte, immer wieder in die Quere.

Nur noch zwei Monate, rief ich mir in Erinnerung.

Dann konnten auch sie sich glücklich schätzen, dann würde ich nicht mehr länger ihr Problem sein und sie konnten ihr geregeltes Leben wieder aufnehmen. Ich war es ja so Leid, ständig als Last angesehen zu werden. Ich wollte das nicht, ehrlich, und es war mir auch nicht egal, dass ich allen das Leben schwerer machte als es sowieso schon war. Aber ich war nun mal machtlos dagegen. Ich konnte nichts dafür, dass mich das Glück zu meiden schien und mich die Isolierung heimsuchte. Eigentlich hatte ich geglaubt, dass es leichter war, wenn ich sie nicht mit meiner Gesellschaft belästigte. Wenn ich mich zurückzog und erst wieder rauskam, wenn das Loch in meinem Inneren angefangen hatte zu heilen. Doch da hatte ich mich geirrt. Wie zur Bestätigung würgte ich einen Schluchzer aus eben diesem Loch.

Schniefend richtete ich mich wieder auf und holte meine Mappe aus der Tasche. Als ich sie aufschlug, sah ich ein lächelndes Mädchen mit geschlossenen Augen, das ihre Nase an die Umrisse einer Blüte hielt. Das Bild in meinem Kopf hatte sich verändert. Die Zeichnung kam mir unecht, fingiert vor.

Ich griff nach dem Bleistift mit Radiergummi aus dem Becher auf meinem Schreibtisch, löschte ein paar Umrisse aus und veränderte ihre Form. Als mir eine Träne von der Nasenspitze aufs Papier fiel, ließ ich nach kurzem Überlegen auch das Lächeln aus dem Gesicht des Mädchens verschwinden. Stattdessen zeichnete ich ihren Mund zu einer graden Linie, außerdem einen tropfenartigen Kristall an ihren einen Augenwinkel.

Ich legte den Stift beiseite und hob das Blatt gegen meine Schreibtischlampe. Viel authentischer, entschied ich, ehrlich und unverblümt. Ich fuhr mit den Fingern über die Umrisse der Blüte, die zu einem verwelkten Edelweiß, um das das Mädchen zu trauern schien, geworden ist.

 

 

„Hailey, komm da weg. Hailey!“, hatte mein Vater gebrüllt, während ich mich unter den Zaun beugte, der vor der Schlucht schützen sollte. Ich hatte sein Gebrüll nicht beachtet, offengesagt noch nicht einmal wahrgenommen. Mein Blick war auf das Edelweiß gerichtet, das zwischen den Felsen am Rande der Schlucht blühte. Es war nicht so, dass ich noch nie eines gesehen hatte – in den europäischen Bergen, wo wir Urlaub machten, gab es genug davon – aber diese hier war größer gewesen als die anderen.

„Hailey!“, brüllte mein Vater in dem Moment, in dem ich sie mit den Fingerspitzen erreichte. Einen Augenblick später zog mich jemand unsanft unter den Zaun hindurch und nahm mich auf die Arme.

Ich blickte in die ängstlichen und zugleich wütenden Augen meines Vaters. „Was machst du denn da?“

Schweigend zeigte ich auf das Edelweiß. Mein Vater wechselte den Blick zwischen mir und dem Edelweiß, dann setzte er mich wieder auf meine eigenen Füße.

„Ich wollte die Mama mitbringen“, erklärte ich mit meiner Kleinmädchenstimme. Meine Mutter war damals krank geworden in den Bergen und wurde im Tal versorgt, allerdings wollte sie nicht, dass deswegen auch unser Urlaub vorbei war und so schickte sie uns auf Wanderschaft.

Sofort verschwand der Zorn aus seinen Augen und er setze sich in die Hocke, um mit mir auf einer Höhe zu sein.

„Die darfst du doch nicht pflücken, Hailey“, sagte er lächelnd und warf wieder ein Blick auf den weißen Blütenstern. „Das ist der Edelweißkönig, weißt du?“

„Der Edelweißkönig?“ Meine Augen waren wahrscheinlich golfballgroß geworden.

Dad nickte. „Wenn du ihn pflückst, dann verlieren alle anderen Edelweißblüten ihre Führung und verwelken. Deswegen wächst der König auch an solchen gefährlichen Ort, damit kleine Mädchen wie du“, er stupste mir gegen die Nase, „sie nicht für ihre Mütter abrupfen.“

Ich kicherte und schlug leicht auf seine Hand. Auch er lachte, dann erklärte er weiter: „Außerdem ist sie ein Symbol für Liebe und kühnen Wagemut. Kein Wunder, dass du dich von ihr angezogen fühlst, du kleine abenteuerlustige Wicke.“

Ich verzog den Mund zu einer Grimasse, da ich mir nicht sicher war, ob ich mich jetzt beleidigt fühlen sollte. Doch dann verpasste Paps mir einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.

„Gehen wir wieder ins Tal“, bestimmte er und nahm mich bei der Hand. Ich stolperte ihm hinterher und ließ das Edelweiß solange nicht aus den Augen, bis die Schlucht hinter dem Hügel verschwunden war.

Hailey in "Die Freakshow"

 

Ich wollte es keinen weiteren Tag aufschieben. Als mich mein Wecker (in Form von einem Anruf Maceys) aus dem Schlaf riss, beschloss ich felsenfest, zumindest den schulischen Alltag wieder einkehren zu lassen. Oder naja. Alltag, insofern ich den mitleidigen Blicken aller anderen ausweichen konnte.

Im Bad stellte ich mich vor den Spiegel und führte in meinem Inneren einen stillen Monolog.

Ich wusste, dass es unausweichlich war, wieder dieses Schultergeklopfe ertragen zu müssen. Und wenn nicht das, dann dieses verkrampfte, sorglose Getue als sei die Welt in bester Ordnung. Im Grunde würde ich mich also mit nichts zufrieden stellen, was geschehen oder auch nicht geschehen würde. Keine Ahnung, was ich von meinen Mitschülern erwartete.

Feststand, dass ich Mitleid nicht ausstehen konnte, andererseits war aber so zu tun als wäre nichts, auch eine Form von Mitleid, oder? Damit wollte man mich doch quasi von der Tatsache ablenken, dass ich nicht mehr die Tochter der Parkers war. Ich war nur noch die Parker. Hmpf.

Ich spuckte die Zahnpaste aus, die ich in einem Mund schaumig und irgendwie auch rötlich geschrubbt hatte.

„Du bist eine strake, toughe… Waise“, sagte ich zu meinem Spiegelbild und wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab. „Du wirst keinen Nervenzusammenbruch bekommen und die Sache meistern als wäre nichts.“

Ich verzog mein Gesicht, während ich mein dunkelblondes Haar entwirrte. Logan hatte Recht, gepflegt war definitiv was anderes. Das Dunkelblond sah im Gegensatz zu dem meiner Mum schmutzig und kraftlos aus. Als hätte jemand zu sehr mit den Kontrasten gespielt und auf ein Minimum hinab gesenkt. Ich seufzte. Für einen Augenblick beneidete ich sogar das rothaarige Model für das Garnier-Haarfärbemittel, welches zusammen mit diversen anderen Marken auf dem Spiegelschrank lungerte.

Ich legte den Kopf schief. Wieso besaß Ronda sowas eigentlich? In meiner Erinnerung hatte ich sie immer nur mit ihrem pechschwarzen Haar gesehen. Nicht der Hauch einer Farbe.

Ich reckte mich, um an die Schachtel heranzukommen.

Rouge Cachemire“, las ich auf der Packung und wiederholte es einige Male, wobei ich die Wörter immer anders betonte. Als ich beschloss, dass Rouge Cachemire aus meinem Mund klang wie aus dem einer sturzbetrunkenen Französin, stellte ich die Packung zurück an ihren Platz. Mh, sollte wohl die Farbe sein.

Missy meldete sich mit einem hungrigen Maunz zu Wort und strich mir um die Beine, kaum dass ich das Badezimmer verlassen hatte. Ich beugte mich zu ihr und begann, sie hinter ihrem Ohr zu kraulen.

Für gewöhnlich verließ sie mein Zimmer eigentlich nicht. Zu fremd war ihr die neue Umgebung noch und vor allen Dingen der Geruch. Ich konnte sie da nur zu gut verstehen. Allerdings war es ihr im Gegensatz zu mir auch vergönnt, in meinen (einigermaßen) vertrauten vier Wänden zu bleiben. Vielleicht sollte ich einmal meine Zimmertür abschließen und sie zu einem Rundgang zwingen? Ich zog meine Hand zurück und beäugte sie mit erhobener Augenbraue. Als sie wahrnahm, dass sie niemand mehr streichelte, sah auch sie zu mir auf und miaute unschuldig. Ahnungslos, welche Gedanken ich gerade gegen sie hegte. Lachend schüttelte ich über mich selbst den Kopf und nahm sie auf die Arme.

„Komm, Dickerchen. Heute frühstücken wir mal in der Küche!“

Aber nur, weil ich sichergehen konnte, dass Ronda und Gavin bereits bei der Arbeit waren.

 

Ich hätte nicht her kommen sollen. Es war die Hölle! Ungelogen. Vielleicht war ich ja doch mit meinen Eltern gestorben und nur nicht artig genug für den Himmel gewesen?

Ich hatte gerade mal einen Fuß auf das Schuldgelände gesetzt und schon hatte ich die ersten Gesichter bemerkt, die mich mit einer Mischung aus Entsetzen und Mitgefühl anstarrten. Ich senkte den Blick auf den Boden und tat so, als würde mir meine Tasche von der Schulter rutschen.

Ich war ja darauf gefasst gewesen, dass es so kommen würde, aber jetzt wirklich damit konfrontiert zu werden war irgendwie wieder ein ganz anderes Pflaster.

Zwar war nur die Hälfte der Blicke auf dem Schulhof auf mich gerichtet, aber das war schon beträchtlich viel an einer High School mitten in Nashville.

Mann, wieso war ich damals auch so kontaktfreudig und engagiert gewesen? Dann würden die meisten nicht einmal wissen, dass ich frischer Waise war – geschweige denn, dass ich überhaupt existierte. Aber nein, Hailey hatte sich immer brav auf die Talentshow-, Schulfeier- und Musical-Bühnen gestellt, um ihre Fingergeschicklichkeit auf Saiten unter Beweis zu stellen. 

Noch nicht einmal die Hälfte des Schulhofes war geschafft und ich dachte schon darüber nach, wie ich hier möglichst schnell wieder weg kam. Migräne? Übelkeit? Ein Schwächeanfall? Und das wäre nicht einmal so weit hergeholt. Ich fühlte mich tatsächlich so als könnte eines davon gleich eintreten. Oder vielleicht auch alles drei.

Allein das Bewusstsein, dass ich nicht unbemerkt blieb, wog zentnerschwer auf meiner Brust. So erdrückend, dass ich den Kloß in meinen Hals nur mit Mühen herunterwürgen konnte. Und das, obwohl mich noch nicht einmal jemand angesprochen hatte.

Meine Schläfen pochten, während ich mich krampfhaft auf das Knirschen unter meinen Füßen konzentrierte. Ein banales Geräusch. Kein Getuschel oder erschrockenes Keuchen in meine Richtung. Ich begann sogar meine Schritte zu zählen, nur um meine Umgebung auszublenden.

Normalerweise hätte ich beleidigt sein sollen, dass mich keiner begrüßte. Sonst hatten sie es immerhin auch getan. Aber für diesen Moment war ich dankbar dafür, dass sie mich nur anstarrten. Auch wenn das auch nicht unbedingt zu den nettesten Gesten gehörte, die ich mir vorstellen konnte. Aber wie bereits erwähnt, ich würde – nein, ich konnte mich eh mit nichts zufriedengeben, unabhängig davon wie sie reagiert hätten. Und trotzdem…

Jäh stieß mich etwas unsanft an der rechten Schulter einen Schritt zurück. Mit einem leisen Poltern, rutschte mir meine Tasche zu Boden. Doch das genügte, um mir die übrige Geräuschkulisse wieder bewusst werden zu lassen.

„Sorry“, hörte ich jemanden hinter mir nuscheln, anschließend seine sich entfernenden Schritte. Ich blickte mich nicht nach ihm um. Es war mir einerlei, wer mich da übersehen hatte, obwohl es gewissermaßen eine kleine Erleichterung war, von jemandem übersehen zu werden. Viel wichtiger war jedoch, dass ich wieder den richtigen Takt fand. Schließlich gab es immer noch genug, die das nicht taten.

Bei welcher Schrittzahl war ich? 34, 43? Na, dann eben von vorn.

Seufzend griff ich nach meiner Tasche und richtete mich wieder auf. In diesem Moment hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Ich zuckte zusammen, in der Befürchtung, dass jetzt das erste Mitleidgespräch für heute folgen würde. Doch die Schreckenssekunde war schnell überwunden, nachdem ich Maceys Stimme erkannt hatte. Als ich mich nach ihr umdrehte, tat sie es mir gerade gleich, um dem Typen hinterher zu schauen, der mich angerempelt hatte. Dann beschleunigte sie ihre Schritte und lächelte mich freudig an.

„Du bist tatsächlich hier!“, jubelte sie beinahe, als sie neben mir ankam. Ich verdrehte unbemerkt die Augen. Ich war sicher, wäre ich nicht gekommen, hätte Macey mich diesen Morgen höchstpersönlich aus dem Bett und zur Schule gezerrt. Das hatte sie mir schon am Telefon so nett angedroht. Weil ich nicht antwortete, piekte sie mir plötzlich in die Seite, woraufhin ich einen kleinen Schmerzenslaut von mir gab.

„Spinnst du?“, rief ich aus und nahm den Weg zum Schulgebäude wieder auf. Macey hielt mit mir Schritt. Sie zuckte die Schultern, ehe sie erklärte: „Ich wollte nur sicher gehen, dass ich nicht träume. Du hast ja keine Ahnung, wie furchtbar langweilig die letzten Wochen waren.“

Ich wünschte, ich könnte das Selbe behaupten. „Jetzt bin ich ja wieder hier.“ „Ja, zum Glück“, sagte Macey, legte mir kurz ihren Arm um die Schultern und drückte sie. Ich lächelte sie von der Seite an. Sie schien sich wirklich zu freuen. Ich war unsagbar erleichtert, dass wenigstens Macey sich auch weiterhin benahm wie Macey. Wenn ich sie ansah, fühlte ich mich einfach sofort ein kleinwenig weniger allein. Sie trug ihre erdbeerblonden Haare heute zu einem Pferdeschwanz, ihre natürlich dunklen Augenbrauen wurden von ihrem Pony beinahe überdeckt. Dunkel, weil Maceys Eltern ursprünglich aus einer Kleinstadt in Japan kamen. Dass dort die gentechnisch am Häufigsten auftretende Haarfarbe Schwarz ist, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Als wir damals dann auf die High School kamen, war Macey der Meinung gewesen, es sei Zeit für eine Typveränderung. Eine blonde Asiatin war für mich und alle, die Macey kannten, schon ziemlich gewöhnungsbedürftig. Aber es stand ihr überraschenderweise sogar richtig gut und brachte ihre mandelförmigen, braunen Augen viel mehr zum Ausdruck. Das fiel nicht nur mir auf, sondern scheinbar auch der Gattung Mann. Macey gehörte unbestreitbar zu denen, die die Liste der hübschen Mädchen an der Nashville High führte. Nur gab sie sich dieser Tatsache bezüglich eher unwissend. Und das war auch so ein Charakterzug, den ich an ihr liebte. Überheblich oder arrogant war sie deswegen keinesfalls.

„Was trägst du da heute eigentlich für Lumpen, Hailey?“, fragte sie dann, als wir das Schultor des imposanten Schulgebäudes erreichten. Nun gut, manchmal war sie vielleicht doch ein wenig herablassend. Automatisch warf ich ein Blick auf mein Outfit. Im Gegensatz zu Macey, die ein enges T-Shirt unter ihrer Lederjacke trug, versteckte sich unter meinem Parka ein dunkelgrüner Strickpulli, der mir etwas zu weit war. Dazu eine schwarze Slim-Jeans und braune Stiefel. Ähnlich wie Macey. Als Lumpen würde ich mein Outfit nun auch nicht bezeichnen.

Ich wollte gerade beleidigt die Arme verschränken und meinen bequemen Pulli verteidigen, als jemand von innen das Schultor aufriss und beinahe Macey umwarf. Als sie sich daraufhin lautstark beklagte, machte sie damit leider die nahestehende Schülerschaft im Flur auf uns aufmerksam. Oder besser gesagt, auf mich. Augenblicklich nahm der Lärm, der aus dem Flur drang, um circa die Hälfte ab und die Blicke auf mich um ein Doppeltes zu. Mein Magen krampfte sich zusammen und jetzt überkam mich wirklich eine kleine Übelkeit. Den Ersten, den ich aus der Reihe meines Publikums erkannte, war Hiller. Doch im Gegensatz zu den anderen schaute er mich einfach nur ausdruckslos an. Nicht mitleidig, überrascht oder als wäre ich eine Außerirdische. Räuspernd senkte ich den Kopf, zupfte Macey kurz am Jackenärmel, damit sie mir folgte – sie sah diesmal immer noch verärgert ihrem Rempler hinterher – und schritt den Flur entlang. Ich brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, dass sich alle bemühten, mir auszuweichen. So wie ich mich bemühte, mit niemandem Blickkontakt aufzunehmen. Doch leider sprachen mir selbst Leute, die mir sonst noch nie aufgefallen waren, ihr Mitleid aus, während ich an ihnen vorbei ging. Alles was ich dann tun konnte, war akzeptierend zu nicken.

Ich hatte das Gefühl, dass es kein Augenpaar gab, das nicht mal kurz in meine Richtung geschaut hatte. Doch dem war nicht so. Es war eine große Erleichterung, dass mich manche mir fremde Schüler mit derselben Gleichgültigkeit behandelten wie sonst auch. Allerdings musste ich während den Pausen auch feststellen, dass sich andere schamlos in Grüppchen zusammenstellten, um über mich tuscheln. Es war ein ständiges Auf und Ab. Im Laufe des Tages erzählte Macey mir auch noch, dass sich der Vorfall vom Dinner schon rumgesprochen hatte, was mich seufzen ließ. Macey wich mir den ganzen Tag nicht von der Seite, außer natürlich, wenn unser Stundenplan uns dazu zwang. In der dritten Stunde war es dann soweit. Ich hatte Erdkunde, während Macey sich mit Kunst vergnügte. Zu meinem Missfallen war Erdkunde der Kurs, in dem Hiller mein Nebensitzer war. Ich kramte gerade meine Utensilien für den Unterricht aus meiner Tasche, als sich Hiller lautstark auf seinen Stuhl fallen ließ. Erschrocken blickte ich ihn an, woraufhin er lächelte und grüßend nickte. Ich erwiderte sein Lächeln schwach und war dankbar dafür, dass in diesem Moment Mrs. Liverton das Klassenzimmer betrat und ihren Unterricht begann. Ich hatte den Faden schnell verloren, zu viel ging mir im Kopf herum, als dass ich dem Unterricht hätte folgen können. Ich spürte die Blicke in meinem Rücken, die mir ihr Mitleid regelrecht auf den Kopf gossen. Resigniert richtete ich also meine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf das Treiben vor dem Fenster. Hin und wieder warf ich einen Blick zu Hiller, der ständig seufzte und auf seinem Stuhl herumrutschte. Kurze Zeit später wusste ich auch warum.

„Hailey?“, flüsterte er mir zu, als Mrs. Liverton gerade etwas an die Tafel schrieb. Ich hatte mir noch nicht einmal die Mühe gemacht, meinen Block aufzuschlagen. Hiller lehnte sich etwas zu mir herüber, was mich dazu veranlasste ihn anzusehen. Seine dunklen Locken hingen ihm in die Stirn, die er in Falten gelegt hatte. Darunter sahen mich seine braunen Augen reumütig an.

„Es… es tut mir leid, das mit gestern“, sagte er. Ich hob die Augenbraue und lachte freudlos auf, was uns ein paar neugierige Blicke einbrachte. Ach, das tat ihm also leid. Das gestern war ja wohl das kleinste Übel, das ich die letzten Wochen durchlebt hatte. Zumal es nicht einmal dazu hätte kommen müssen, wenn er und die anderen mir einfach beigestanden hätten. Aber nein, scheinbar konnten sie nur „Freunde“ gebrauchen, die himmelhochjauchzender Laune waren.

„U…und natürlich das mit deinen Eltern“, beeilte er sich hinzuzufügen. Großer Fehler. Ich war eigentlich immer jemand gewesen, der seine Gefühle ganz gut im Griff hatte, aber das hatte sich geändert. Ich war für mich selbst wie eine tickende Zeitbombe, die jederzeit und völlig unerwartet hochgehen konnte.

Meine Sicht verschleierte sich, der Kloß in meinem Hals könnte man als besagte Bombe bezeichnen. Erneut lachte ich auf, was sich diesmal jedoch eher als Schluchzer entpuppte. Es war zu spät. Ich spürte bereits die erste Träne, die sich meine Wange herunterbahnte. Hiller riss perplex die Augen auf. Verzweifelt bemühte er sich, die Situation wieder zu kippen, indem er sich für Gesagtes entschuldigte. Als er dann auch noch seine Hände auf meine Schultern legte, wurde leider auch Mrs. Liverton auf uns aufmerksam.

„Ms. Parker, gibt es ein Problem?“, sprach sie mich an, ehe sie meine Tränen entdeckte. „Oh“, fügte sie dann hinzu. Ich schüttelte entmutigt den Kopf und schlug mir die Hände vors Gesicht. Nun war mir die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse sicher. Ich hasste mich für diesen Ausbruch. Gab ich ihnen somit noch mehr Anlass dazu, mich zu bemitleiden. Gefühlte minutenlang war es bis auf mein Schluchzen still, dann hörte ich Mrs. Liverton aufseufzen.

„Mr. Hiller. Bitte bringen Sie Ms. Parker zum Vertrauenslehrer“, bestimmte sie. Ich nahm die Hände vom Gesicht, kurz blieb mir sogar ein Schluchzer im Hals stecken. Ich sah von Mrs. Liverton zu Hiller, der bereits aufgestanden war und Anstalten machte, mir beim Aufstehen zu helfen als wäre mir schwindelig. Ich sagte nichts, ignorierte seine Hände jedoch, um stattdessen meine Sachen zusammenzupacken. Schniefend schulterte ich meine Tasche und stand auf. Hillers Hände waren dennoch kurz darauf stützend an meinen Ellenbogen. Klaglos ließ ich ihn gewähren. Bis wir die Tür erreichten, sagte keiner mehr ein Wort.

Die Tür fiel gerade ins Schloss, als ich noch jemanden sagen hörte: „Das muss furchtbar pein-“ Der Rest des Satzes wurde von dem Klicken der Schlosses verschluckt. Aber ich brauchte ihn auch nicht zu hören, um zu wissen wie er endete. Ehe ich reagieren konnte, zog Hiller mich an sich und strich mir über den Rücken. Erst war ich erstarrt von der plötzlichen Nähe, dann jedoch stürzten meine Emotionen erneut über mich ein. Ergeben – und heulend – lehnte ich mich gegen ihn. Hiller schwieg und wartete geduldig darauf, dass ich mich beruhigte.

„Geht’s wieder?“, fragte er nach einer Weile und schob mich ein Stück von sich, um mir in mein verheultes Gesicht zu sehen. Dass ich mir heute Morgen Mascara aufgetragen hatte, war die reinste Verschwendung. Ich nickte zaghaft, während ich einen Schritt zurück ging und mir über die verschmierten Wangen wischte.

„Komm, bringen wir dich zu Mr. Perce“, sagte er und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.

 Irritiert sah ich ihn an. „Mr. Perce?“

„Ja, Mr. Rosefield ist in Rente gegangen. Seit dieser Woche haben wir einen neuen Schulpsychologen.“

Wenigstens etwas. Die Gespräche mit Mr. Rosefield waren nicht sonderlich effektiv. Die meiste Zeit hatte er nur Fragen gestellt wie: Wie fühlt sich das an, hat Sie das verletzt, was werden Sie jetzt tun? Und nachdem er schließlich anfing, sich unregelmäßig zu waschen und das Gerücht seinen Umlauf machte, er hätte zuhause sieben Raten frei herumlaufen, war sein Ruf mehr als verschrien.

Als wir die Schulkorridore durchgequerten, fiel mir auf, wie gut er zu meiner derzeitigen Lebensituation passte. Von außen hatte unser Schulgebäude ein wenig Ähnlichkeit mit dem Schloss von Versailles, doch wenn man es betrat, verschwand der anfängliche Zauber wieder. Vergilbtes Linoleum, verziert mit Kaugummis und Fußabtritten, grauer Putz an den zum Teil plakatierten Wänden hinter den zahlreichen Spinten – müsste ich ein Foto machen, das meine Lebensgefühl beschreibt, wäre hier mein Schauplatz.

„Du, Hailey, hör mal“, Hiller hielt mich am Arm zurück, als ich gerade an der Tür zum sogenannten Vertrauenszimmer klopfen wollte. „Ich hoffe, du bekommst nicht wieder gleich einen Nervenzusammenbruch, aber…“, er räusperte sich. „Ich weiß, ich hab mich genauso beschissen verhalten wie die anderen, aber… es tut mir wirklich leid, wie das alles gelaufen ist. Ich will einfach nur, dass du das weißt und… ich vielleicht die Chance bekomme, es wieder gut zu machen.“

Nein, diesmal bekam ich keinen Nervenzusammenbruch. Ich war viel mehr überrascht von der Offenheit, die Hiller mir entgegenbrachte. Eigentlich gehörte er immer mehr zu den Leuten, die mit ihren Gedanken hinterm Berg hielten.

Ich wollte ihm gerade antworten, als die Tür zum Vertrauenszimmer aufging. Ich zuckte zusammen. In der Erwartung unseren neuen Vertrauenslehrer zu erblicken, drehte ich mich um. Mir klappte die Kinnlade herunter. Das war doch hoffentlich ein schlechter Scherz.

„Hallo, Mr. Perce.“, begrüßte Hiller den Mann mit der markanten Nase und diesmal mit gepflegtem Drei-Tage-Bart.

Logan Perce, unser neuer Schulpsychologe.

Impressum

Texte: Sarah Hofmann
Bildmaterialien: http://absentii.deviantart.com/art/Kingdom-Of-Love-358149029
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

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