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Blutfedern - Maailma Lunastaja

Prolog - Bifröst




Voller freudiger Erwartung eilte sie über den breiten, weisen Schleier. Um sie herum war nichts als Leere. Wie ein tiefschwarzer Vorhang umzäunte die Dunkelheit den hellen, bodenlosen Weg, den sie entlang schwebte.
Sie kannte die Umgebung. Sie war hier schon einige Male gewesen, wahrscheinlich öfter als es irgendjemandem vergönnt sein sollte. Und dennoch fühlte es sich immer noch so ungewohnt befreiend an als wäre es das erste Mal.
Sie war sich sicher, das richtige getan zu haben, auch wenn es diesmal mehr schmerzte als bei ihren davorigen Leben.
In der Welt, in der sie sich die letzten Jahre aufgehalten hatte, würde man sagen, dass dies doch keine Lösung gewesen sei, es einen anderen Ausweg gegeben hätte. Aber wie könnte sie es den Sterblichen verübeln? Sie selbst war viele Jahre dieser Meinung gewesen und verabscheute das, was sie vor wenigen Augenblicken getan hatte. Doch sie wusste, dass sie nur so der Lösung bald einen Schritt näher sein konnte. Immerhin waren die menschlichen Hilfen ihr nicht von Nutzen.
Ihr tat es Leid, so über ihre Familie denken zu müssen. Und vor allem sie einfach ohne jegliche Erklärung zurück gelassen zu haben, aber es war die einzige Möglichkeit sie zu schützen. Und das ermutigte sie.
Noch immer konnte sie vor sich einzig den erleuchtenden Weg ausmachen. Die Finsternis verbarg in ihrer scheinbar endlosen Tiefe das Portal, ihr Ziel.
Und einige andere Dinge, die ihr zum Verhängnis wurden.
Sie sah ihn nicht kommen. Es war zu dunkel, um außer dem Pfad überhaupt etwas erkennen zu können – wo es normalerweise ohnehin nichts als Leere zu sehen gab.
Es war ein Leichtes sie unerwartet anzugreifen, da ihr Horizont im Moment nicht hundertachtzig sondern nur dreißig Grad zu reichen schien. Es ist feige jemanden von hinten zu überfallen, das wusste er. Doch seit wann scherte er sich darum, was fair war oder nicht? Er war der geborene Intrigant. Es saß ihm quasi in der Seele niederträchtig zu sein.
Er sprang rapide hinter ihr aus dem Nichts – buchstäblich. Es blieb ihr nicht einmal die Zeit, seine Aura wahrzunehmen.
Ein schriller, erschrockener Schrei entfloh aus ihrer Kehle und brach die neuralgische Stille, was die Atmosphäre nun nicht gerade angenehmer machte.
Sie spürte den harten, mächtigen Körper hinter sich, welcher mit geschickten Bewegungen ihr den Arm hinter ihrem Rücken verdreht hatte und ihn nun schmerzhaft nach oben schob. Er machte es ihr unmöglich ihren Oberkörper zu bewegen. Und als sie instinktiv versuchte nach ihm zu treten, erklang ein metallisches Zischen, woraufhin er ihr keine Sekunde später etwas Hartes und Spitzes ans Rückgrat drückte. Sie erstarrte.
Tere tulemast, Frea“, flüsterte er gefährlich nah an ihrem Ohr. „Wir wussten beide, dass es eines Tages so enden würde, nicht wahr, armas?“
Sie erwiderte nichts, doch ihre zitternden Atemzüge verrieten ihm ihre Angst. Er lächelte maliziös und verstärkte den Druck der Klinge.
„Du wirst brav mitkommen, nehme ich an?“, fragte er spöttisch. Er erwartete keine Antwort, sondern führte sie vom Weg ab, geradewegs auf den schwarzen Vorhang zu.
Innerlich verfluchte sie Heimdall mit seiner dämlichen Vorsichtsmaßnahme. Dank ihm und Forseti war sie auf der Bifröst lediglich ein beseelter Körper, der außer seiner Schönheit keine Göttlichkeit ausstrahlte.
In diesem Augenblick sehnte sie sich mehr als je zuvor nach ihrer Macht. Es wäre töricht und naiv sich jetzt gegen einen Gott wehren zu wollen, so vollkommen schutzlos. Sie brauchte die überirdische Energie in ihren Adern, um die einfältige Angst vertreiben zu können, die allein seine Stimme in ihr hervorrief.
Sie kannte den betrügerischen Gott hinter sich nur zu gut. Sie wusste, dass er bald mehr als nur direkte Drohungen anwenden würde, um sie sich unterwürfig zu machen.
„Warum… machst du es nicht kurz, …Vé?“, wollte sie wissen und versuchte das Bibern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Vergebens.
Er lachte daraufhin höhnisch auf, bevor er ihr antwortete. „Weil ich das Vergnügen liebe, das weißt du doch“, sagte er schlicht. Sie meinte, erneut ein Lächeln in seiner Stimme herauszuhören.
Die Dunkelheit tat sich auf. Ihr blieb nichts anderes übrig als sich blind von ihm in die Schwärze führen zu lassen.
Ein junger Mann stand stetig am Rande des Geschehens. Schweigend und beobachtete.
Sie bemerkte ihn erst, als sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten und die Schwärze sich grau gefärbt hatte.
„Machen wir doch ihrem Leid ein Ende“, sagte die Gottheit in vorgetäuschter Güte an den jungen Mann gewandt, „Ich danke dir.“
„Bitte“, antwortete er tonlos, doch in ihr tobten verzweifelte, freudige Hilferufe, als sie seine Stimme erkannte.
„Gott sei Dank“, wisperte sie und machte ihrer Hoffnung Luft.
„Hilf mir!“ Es war kaum mehr als ein Piepsen.
Sie hörte, dass der junge Mann die Zähne knirschte. Und das war dann auch sein einziger Akt auf ihre Bitte gewesen.
Sie starrte ungläubig in das Gesicht des Mannes, obwohl sie nur seine Konturen erkennen konnte.
Nägemiseni“, raunte Vé und dann tat er das, was für sie schon die ganze Zeit offensichtlich gewesen war.

Kapitel 1 - Das mit den Perlen



Als ich die schwere, hölzerne Bibliothekstür hinter mir zugezogen hatte und ins Freie trat, machte der Himmel mit einem tiefen Grollen auf sich aufmerksam. Feine, graue Wolken überdeckten den Himmel, der vor wenigen Minuten noch strahlend blau über Chestertown geweilt hatte und händigten die Stadt warmem Nieselregen aus.
Ich stöhnte und hielt mir die weiße Plastiktüte mit den Büchern über den Kopf, die mich zumindest etwas vor der Nässe schützen sollte.
Ich - vom Teufel gesegnetes Mädchen und daher vom Pech verfolgt - hatte versagt, als es darum ging, wer die Bücher für unser Geschichtsprojekt aus der Bibliothek zu besorgen hatte. Und da Kylie und Tyler die Vorstellung, ihre kostbare Freizeit in Bibliotheken zu verbringen, genauso wenig reizte wie mich waren sie mir erbarmungslos in den Rücken gefallen und machten mir diese Aufgabe Zuteil. Der Verrat an der ganzen Sache war ja, dass ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal anwesend war, um zu protestieren.
So kam es also, dass ich an einem schwülen, regnerischen Sommertag trotz Führerschein durch die Straßen von Chestertown trottete. Schutzsuchend unter den schmalen Dachvorsprüngen der Kaufläden, nachdem ich festgestellt hatte, dass die Tüte als Regenschirmimitat nicht wirklich was taugte.
Der Nieselregen verwandelte sich binnen Sekunden in einen mäßigen Niederschlag und ich musste bestürzt zusehen wie die lauen Windböen die Tropfen unter meine Dachtraufen jagten und somit meine Schutzvorkehrung zu Nichte machten. Gedanklich schmiss ich Petrus anklagende Worte entgegen und beschleunigte meinen Gang. Doch ich sollte nicht weit kommen.
Plötzlich rannte ich gegen einen harten Widerstand, der unerwartet von rechts in Form eines jungen Mannes aus einem der Läden aufgetaucht war. Unsere Kollision stieß mich unsanft in Richtung Straße, woraufhin ihm – ebenso wie mir meine Tüte – etwas Kugeliges aus den Händen und kaum hörbar klirrend zu Boden fiel. Das konnte ich auch nur als dergleichen identifizieren, weil ich prompt darauf ausrutschte. Unheil erahnend knackste es unter meinen Füßen und im nächsten Moment fand ich mich auch schon auf dem Asphalt liegend und attackiert von tausend kühlen Wassertropfen wieder. Ich war hart mit dem Kopf aufgeprallt. Als ich mich mit leichtem Schwindelgefühl wieder aufrichtete, wünschte ich mir augenblicklich das Bewusstsein zu verlieren.
Bemerkenswert kräftige, flussgrüne Augen trafen die meine und sahen mich aus seinem wunderschönen Gesicht so vernichtend an, dass ich eigentlich tot hätte umfallen müssen – wenn ich im ersten Moment denn schon bemerkt hätte, dass er diesen Blick mir widmete. Aber wer einmal von diesen Augen visiert wurde, konnte an gar nichts anderes mehr denken als an den smaragdgrünen Farbring um seine Pupillen.
Sobald ich realisiert hatte, dass sein Blick auf keinerlei Freundlichkeit hinwies, versuchte ich meiner Intuition entsprechend meine Augen zu Schlitzen zu verengen, auch wenn ich noch nicht genau wusste, woher diese plötzliche Abscheu gegen mich her kam. Ich meine, ein Zusammenprall zweier Menschen kam doch in jeder zweiten Sitcom vor, ohne größere Katastrophen mit sich zu bringen. Außerdem war er mir in den Weg gelaufen! Warum also sah er mich so an als ob ich gerade seinen toten Hund wieder ausgegraben hätte?
Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Blickduell ausgehalten hatte – wahrscheinlich nicht mal eine Minute – aber irgendwann sah ich ein, es verloren zu haben und sah mich resigniert nach meinen Büchern um.
Zu meinem Bedauern fand ich sie aus der Tüte gerutscht und eines davon aufgeschlagen mit der Innenseite auf den nassen Pflastern neben mir wieder. Na toll.
Ich grummelte und rappelte mich wenig elegant wieder auf die Beine. Darauf bedacht seinem Blick nicht noch einmal zu begegnen, wandte ich mich von ihm ab und sammelte die inzwischen vom Regen durchweichten Bücher auf. Na, zurück in die Bibliothek konnte ich die jedenfalls nicht mehr bringen. Die durfte er mir gefälligst ersetzen!
Wut schnaubend drehte ich mich zurück in seine Richtung. Wider erwarten blickte ich nicht in ein Antlitz voller Zorn, sondern in eine schmerzverzerrte Maske, die mich in der Bewegung erstarren ließ. Der junge Mann hatte sich zwischenzeitlich ebenfalls abgewandt und kniete auf dem nassen Asphalt, was ihn scheinbar nicht zu stören schien. In seiner linken Hand hielt er eine antik aussehende Perlenkette, an deren Ende ein goldenes, kleines Medaillon baumelte. Mit der freien Hand sammelte er irgendetwas vom Boden auf, was ihm offenbar …wehtat. Sein Kiefer war aufeinander gepresst und es hätte mich nicht gewundert, wenn er augenblicklich losgeheult hätte.
Ich wagte einen Blick auf die grauen Pflaster vor ihm.
An mir nagte augenblicklich das Gewissen.
Zwei aprikofarben schimmernde Perlen lagen vor ihm und waren allem Anschein nach von der Kette abgebrochen. Ohne weitere Umschweifen, befahl ich meinen Beinen in die Gänge zu kommen und kniete mich ihm gegenüber.
„Tut mir Leid“, murmelte ich und wollte mich schon daran machen, ihm beim Einsammeln der Perlensplitter zu helfen.
Doch bevor meine Fingerspitzen auch nur in die Nähe der Perlen kamen, ließ mich ein abfälliges Zischen seinerseits innehalten.
„Verschwinde“, zischte er barsch und ich sah, dass er auf seinem Oberschenkel eine Hand zur Faust geballt hatte, ehe ich in seine glanzlosen Augen sah, dessen Blick anklagend auf mir lag. Für einen Moment war ich noch wie benommen und starrte in sein reserviertes Gesicht.
Ich blinzelte verwirrt, um meine Fassung wieder zu gewinnen und erwiderte seinen Blick.
„Schön!“, meinte ich dann schnippisch und richtete mich auf.
Einen kleinen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, noch einmal - aber diesmal mit voller Absicht - auf die Perlen zu treten. Dann aber entschied ich, dass mein Zicken-Image auch ohne diese Aktion bestehen bliebe und eilte die vertrauten Straßen entlang, Richtung Heim.
Der Regen ließ natürlich nicht nach. Das hatte ich auch gar nicht erwartet. Und verwunderlicherweise störte es mich nicht einmal. Im Gegenteil. Ich war sogar dankbar, dass er wohl versuchte mir die Wut aus dem Gesicht zu waschen. Was war das aber auch für ein eigenartiger Kerl gewesen?
Ich ballte die Hände zu Fäusten und versuchte den Kloß in meinem Hals hinunter zu schlucken. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich auf einmal das Bedürfnis in Tränen auszubrechen. Im Regen würde es ohnehin niemandem auffallen. Aber ich schämte mich vor mir selbst und so unterlies ich es, diesem Bedürfnis nachzukommen und biss mir auf die Unterlippe, während ich an den üppigen Backsteinhäuser vorbeistürmte. Diese waren eine der Touristenattraktionen. Eine Kultur unseres süßen Städtchens Chestertown. Auf mich wirkten sie ziemlich trostlos. Manchmal kam es mir so vor, als ob ich immer und immer wieder nur im Kreis lief. Als würde ich gehen und nicht von der Stelle kommen wie das in Albträumen üblich ist. Alle sahen sie gleich aus. Tragischerweise lebte ich in einem dieser Häuser.
Ich konnte von Glück reden, dass auf der gegenüberliegenden Straße mich nicht ein weiteres Backsteinhaus frech anlächelte, sondern stattdessen eine bemerkenswert schöne Reihe von Fliederbäumen die Straße zierte.


Zuhause angekommen, hatte ich mich wieder einigermaßen in den Griff bekommen. Meine Wut war der Verwirrung gewichen, was nicht wirklich eine Besserung war. Nun biss an mir die Neugierde. Hatte ihm die Kette viel bedeutet? War sie sehr wertvoll? Von wem beziehungsweise für wen war sie? Seine eigene wohl kaum. Und warum interessierte mich das überhaupt?
Im Korridor schmiss ich die Tüte achtlos neben eine Kommode und wollte fast ohne Weiteres in mein Zimmer stampfen. Dann jedoch hielt ich inne, als mein Blick auf das mit Metallrosen umrahmte Bild, welches oberhalb der Kommode hing, fiel. Ich lächelte verzückt und stellte mich vor das Bild. Es zeigte eine wunderhübsche Frau mit schwarzen kinnlangen Haaren, die stachelig in alle Richtungen standen. Ihre haselnussbraunen Augen waren von dichten schwarzen Wimpern umrahmt und sahen mir freundlich direkt in die Meinen. Die leicht glänzenden Lippen wurden von einem bezaubernden Lächeln umspielt.
„Verzeihung – Hallo, Mom“, murmelte ich, küsste meine Fingerspitze und drückte sie meiner Mutter auf die Lippen.
Meine Mutter starb vor vier Jahren. Ohne jegliche Vorwarnung war sie in der Woche vor meinem 14. Geburtstag eines Nachts unauffindbar verschwunden. Passanten zogen sie am Tag meines Wiegenfestes tot aus dem Chesapeake Bay. Seitdem feierten mein Dad und ich weder meinen noch seinen Ehrentag. Den angeblich schönsten Tag des Jahres, den Andere in Discotheken oder ähnlichem verbrachten, verbrachte ich auf dem Friedhof.
Ich seufzte tief über diese neuerlich bittere Tatsache, strich mit den Fingern über das Glas vor dem Gesicht meiner Mutter und begab mich in die Küche.
Am Esstisch saß mein Dad mit einem Wirrwarr von weißen und vergilbten Blättern vor sich.
„Irgendwo hier muss sie doch sein …“, murmelte er nachdenklich und kaute auf dem Zahnstocher in seinem Mund herum.
Die Luft roch noch nach vertrockneten Gewürzen von den Bratkartoffeln, die sich mein Vater vor wenigen Minuten wohl gegönnt haben musste.
Als ich ein Blick in seine Richtung warf und gerade zu einem Hallo ansetzten wollte, knallte er mit der geballten Faust und scheinbar mit aller Kraft gefrustet auf die hölzerne Tischplatte. Ich zuckte erschrocken zusammen und verschluckte meine dürftige Begrüßung wieder.
Mein Vater fuhr sich mit den Fingern durch das dunkelbraune Haar, dessen Ansatz inzwischen wieder grau zu werden drohte.
Ich stand noch immer im Türrahmen, als ich mich räusperte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er sah mich mit unendlich müden Augen, unter denen sich leichte Falten abzeichneten, an und atmete schwer aus.
„Du solltest mehr schlafen, Dad“, kommentierte ich sein Abbild und verschränkte die Arme vor der Brust.
Anstatt mich der Höflichkeit halber zunächst zu begrüßen oder auf meine Bemerkung einzugehen, machte er mir seiner Verärgerung sofort Luft.
„Entweder werde ich langsam alt und nähere mich dem Alzheimer oder aber meine Kollegen sind zu blöd, wichtige Unterlagen am richtigen Ort zu verstauen. Nämlich auf meinen Schreibtisch! Seit 4 Tagen such ich nun nach dieser verdammten Gabriella McGurdian!“
Er versuchte die verstreuten Blätter wieder einigermaßen aufeinander zu schieben und prägte dabei einige davon mit Knicken an den Ecken, aber das schien ihn nicht zu kümmern. „Was glaubst du, würde es für einen Skandal in der Stadt geben? Oh Gott, ich sehe die Schlagzeile schon vor mir. Kant and Queen Anne‘s Hospital verschlampt private Unterlagen."
Wie ein Grundschüler, der in aller Eile seine Hefte in die Tasche packt, um den Bus nicht zu verpassen, stopfte mein Vater die losen Blätter in seine Aktentasche und erhob sich vom Stuhl. Als er auf mich zukam und meinen überforderten Gesichtsausdruck bemerkte, seufzte er tief und machte vor mir Halt.

„Tut mir Leid, Eveline, Schätzchen. Aber als Chefarzt hat man es eben nicht immer leicht. Entschuldige bitte, dass du das immer zu spüren bekommst.“
Er legte sanft seine große, raue Hand an meine Wange und versuchte sich an einem Lächeln.
„Schon in Ordnung“, sagte ich und erwiderte sein Lächeln, wobei es bei mir um einiges gekonnter aussah.
„Du weißt, wenn du-“, begann er, aber ich unterbrach ihn.
„Ja, wenn ich Unterlagen von Gabriella McGurdian finde, bringe ich sie dir.“
Er lächelte, aber diesmal ohne es erzwingen zu müssen.
„Ein Anruf tut’s auch!“
Mit diesen Worten nahm er seine Jacke von der Stuhllehne und verließ den Raum, seine Aktentasche hatte er sich bereits unter den Arm geklemmt.
Wenig später hörte ich die Haustür ins Schloss fallen und war allein. Allein wie ich es inzwischen schon gewohnt war.
Seit dem Tod meiner Mutter stürzte sich mein Vater regelrecht in seine Arbeit. Stetig ließ er sich zu Überstunden einschreiben und kam manchmal volle 24 Stunden nicht nach Hause.
Es kam mir ab und an so vor als würde er vor mir fliehen wollen und nicht vor dem Schmerz des Verlustes meiner Mutter. Aber auch mit diesem Gedanken hatte ich mich inzwischen abgefunden. Mein Vater hatte mir schon mehrmals beteuert, dass ich aussehe wie meine Mutter, als er sie kennen lernte. Vielleicht floh er vor dem Schmerz, ständig in das Gesicht einer toten Frau blicken zu müssen? Ich wusste es nicht und würde wahrscheinlich sowieso nie aus meinem Witwer schlau werden. Fragen wollte ich ihn nicht. Ich bekam es genauso wenig zustande ohne zittrige Stimme über meine Mom zu reden wie mein Vater. Obwohl es inzwischen einige Jahre her war, befand ich es noch als unmoralisch auf diesem Thema herumzureiten. Außerdem machte es mir Angst, dass die Tränendrüsen wohl doch austrocknen konnten. Also forderte ich sie schon gar nicht mehr heraus, indem ich einfach nicht mehr von ihr sprach oder groß über sie nachdachte.
Wenn man es nicht selbst erlebt hat, kann man sich gar nicht vorstellen, welcher Schmerz an einem nagt, wenn man den wichtigsten Menschen in seinem Leben ohne Abschied verliert.
Es war als wäre mit meiner Mutter auch ein wichtiger Bestandteil meines Charakters verloren gegangen – meine Stärke, mein Selbstbewusstsein.
Damals war es immer sie gewesen, die mir Mut zusprach, die meinte, dass jeder wegen einer bestimmten Mission auf der Erde war. War es ihre Mission gewesen, im zarten Alter von zweiunddreißig im Chesapeake Bay zu ertrinken?
Ich warf einen Blick zurück in den Korridor, indem das Bild meiner Mutter hing und schluckte schweren Herzens.

Am Abend rief mich völlig außer Sinne Kylie an und störte mich beim Verfolgen meiner Lieblingsserie.
Kylie hatte, so konnte man meinen, wirklich eine Talent dafür, im unpassendsten Moment ihrer Stimmung Kund zu tun. Sie erzählte von der unheimlichen Tragik, dass ihre Lieblingserie, die praktischerweise auch immer um diese Uhrzeit gelaufen war und ich somit ungestört die meine sehen konnte, bis zur nächsten Staffel nicht mehr kommen würde und sie somit beinah ein ganzes Halbjahr auf Chace Crawford verzichten müsse.
„Aber Phelim hat doch eigentlich auch eine bedeutende Ähnlichkeit mit ihm. Findest du nicht auch? Sie haben die gleichen Augen …“, plapperte sie nach einer kurzen, wirklich sehr kurzen, Überlegungspause weiter und verfiel in ihr übliches Geschmachte.
„Kylie, ich hab Besseres zutun als in den Augen eines Proleten zu verfallen“, meinte ich unbeeindruckt und schüttelte genervt den Kopf.
„Wusstest du, dass er einen Bruder hat? Der ist mir noch nie aufgefallen …“, plapperte sie weiter, ohne auf meinen genervten Unterton einzugehen, „Aber kein Wunder. Er scheint ein ziemlich ruhiger Typ zu sein, den kann man unter mehr als Tausend Schülern schon mal übersehen.“
„Ja, Kylie. Aber weißt du, die Staffel meiner Serie ist noch nicht vorbei. Außerdem ist mir es egal, ob Phelim einen Bruder hat“, meinte ich, jenseits aller Höflichkeit und beobachtete, wie der Hauptdarsteller im Bildschirm gerade seine Tabletten hinter einem Buchhalter verstaute, die Kamera ganz nah an sein Gesicht zoomte und seine lilafarben umränderte Augen zeigte.
Am anderen Ende der Leitung ertönte beinahe zeitgleich ein eingeschnapptes Schnauben.
„Na gut. Dann sehen wir uns morgen. Bis dann“, und die Verbindung wurde unterbrochen.

Kapitel 2 - Das mit den Lauschern an der Wand



„Guten Morgen, Lin!“, vor meiner Haustür stand Kylie und strahlte mich an als hätte ich ihr ein Geschenk gemacht und nicht so wie man es um diese Uhrzeit von gewöhnlichen Menschen erwartet hätte.
„Morgen“, brummte ich mit bedeutend weniger Inbrunst und ließ sie eintreten, „Du bist früh dran.“
„Und du spät“, bemerkte Kylie. Sie hob eine Augenbraue und begutachtete mich vom Haaransatz über mein gelbes Mickey-Maus-Shirt, das ich schon seit meinem 12. Geburtstag besaß, bis hin zu meinen noch nackten Füßen. Ich lächelte sie wortlos an und versuchte das Blut, das sich in meinem Kopf stauen wollte, zu vertreiben.
„Ich weiß. Und deswegen geh ich jetzt nach oben und zieh mich mal um“, murmelte ich und ließ Kylie im Korridor stehen.
„Sind das die Bücher aus der Bibliothek?“, fragte Kylie, als ich nach einer Weile wieder nach unten kam und sie am Küchentisch sitzend fand. Auf der Tischplatte lag die weiße Tüte, die sie wohl hier rein geschleppt hatte. Kylie sah mich nicht an, während sie sprach und blätterte stattdessen eines der Bücher durch. Ihr skeptischer Gesichtsausdruck entging mir nicht.
„Die sehen aus als hätten sie eine Begegnung mit der Waschmaschine gemacht“, flocht sie ein und deutete auf das verfilzte Buch, welches sich leicht gebogen hatte, in ihrer Hand.
„Ein Unfall“, sagte ich Schulter zuckend und begab mich zum Kühlschrank, um mir eine Schüssel Cornflakes zu machen. Ich hatte ganz vergessen zu fragen, wie der Typ von gestern eigentlich hieß – immerhin war er mir etwas für die Bücher schuldig!
„Ein Unfall?“, widerholte sie ungläubig. „Du hast die Tüte in die Waschmaschine gesteckt?“ Ihre Stimme klang jetzt so als würde sie grinsen.
Und das tat sie auch, als ich mich zu ihr umdrehte. Ich wusste, dass ihr sehr wohl klar war, dass ich das so nicht gemeint hatte, aber Kylie versuchte sich gelegentlich vergebens als Komikerin.
Ich schob die Augenbrauen zusammen und kicherte mein ‚Du bist unmöglich‘-Kichern.
„Ja, natürlich habe ich das. Ich dachte, so würden die vergilbten Blätter vielleicht wieder weiß werden“, sagte ich sarkastisch und stellte mein inzwischen angerichtetes Müsli auf den Tisch, ehe ich mich Kylie gegenüber setzte. Diese kicherte leise und verstaute die Bücher wieder in der Tüte.
„Waren die von Anfang an so?“, fragte sie, als ich mir den ersten Löffel in den Mund geschoben hatte und ihn in der Schüssel drehte während ich kaute.
Seufzend ließ ich den Löffel los und antwortete widerwillig. „Nein. Irgend so ein Idiot ist gegen mich geprallt. Dabei ist mir die Tüte aus den Händen gefallen, die Bücher sind rausgerutscht und es hat geregnet.“ Ich zuckte die Schultern und nahm das Rühren meiner Cornflakes wieder auf. „Er hat sie beschädigt.“
„Er?“, fragte Kylie und es klang so als wollte sie einen bestimmten Namen hörn.
„Kylie, ich hab keine Ahnung, wie der Typ heißt. Was mich ziemlich verärgert“, ich schob mir einen weitern Löffel in den Mund, ehe ich Kylie ansah.
Kylies Augen weiteten sich und auf ihrem Gesicht breitete sich ein verschwörerisches Lächeln aus. Ich wusste, dass sie momentan einen ganz anderen Grund im Sinn hatte, warum mich die Tatsache, dass ich seinen Namen nicht kannte, so störte.
„Was?! Er muss mir die Bücher ersetzen!“, erklärte ich schmatzend und trank den Rest des Müslis aus der Schüssel heraus, obwohl noch einige Cornflakes in der Milch schwammen.
„Die Bücher ersetzen. Natürlich“, sagte Kylie sarkastisch, schürzte die Lippen und nickte. Genervt stöhnte ich und stand auf.
„Ja, genau! Komm wir müssen los“, erinnerte ich sie, legte meine Schüssel in die Spüle und ließ Wasser hinein laufen.
„Wie sah der Typ denn aus?“, fragte Kylie nachdenklich, als wir wenig später in meinem Wagen, einem sportlichen weißen Alpha Romeo, saßen.
„Keine Ahnung. Hab ihn mir nicht so genau angeguckt“, log ich munter, obwohl ich sein Gesicht genau vor Augen hatte. Vor allem diese Augen, die mich zwar so erbost fixiert hatten, aber dennoch eine tiefgründige Schönheit besaßen.
Ich achtete nicht auf Kylies misstrauisches Mhm und tat so als müsse ich mich voll und ganz auf die Straße konzentrieren.
„Aber ich sag dir. Dieser Kerl war sowas von unhöflich!“, redete ich schnell weiter, weil ich wusste, dass Kylie wahrscheinlich gerade an anderen Hirngespinsten arbeitete. „Ihm war auch etwas aus den Händen gefallen und als ich ihm helfen wollte, es einzusammeln, hat der nur ‚Verschwinde‘ gebrummt“, erzählte ich zu Ende und versuchte seinen feindseligen Ton zu interpretieren. Dass ich dieses Etwas auch noch kaputt gemacht hatte, verschwieg ich ihr lieber.
Kylie blieb stumm. Als ich nach einer Weile vorsichtshalber zu ihr rüber linste – sie könnte ja in Ohnmacht gefallen sein oder sowas, denn ‚still sein‘ passte so gar nicht zu ihr – sah sie gedankenverloren aus dem Seitenfenster. Ich kam gerade an dem Gedanken an, dass sie die Bäume, an denen wir vorbeibrausten, zählen könnte, als sie mich triumphierend lächelnd ansah.
„Der mysteriöse Unbekannte“, sagte sie schlicht und nickte sich selbst zustimmend.
Ich stöhnte. Kylies Mutter war Astrologin und daher durfte ich mir beinahe wöchentlich das Horoskop des Zwillings anhören. Sie ging mir manchmal ziemlich auf die Nerven damit, vor allem wenn sie anfing zu spekulieren, was genau mich erwarten würde.
‚Ein sehr enger Freund will Ihnen näher sein als Ihnen lieb ist‘ hieß es vor zwei oder drei Monaten und seither beobachtete sie die Mimik und Gestik von Tyler mir gegenüber mit doppelter Aufmerksamkeit. Tyler war seit Ende des 2. Jahres auf der Middle School mein Ex-Freund und damals mein erster Freund. Naja, wenn man das überhaupt Freund nennen gekonnt hatte. Er war damals eben der erste Junge, mit dem ich mich super verstanden hatte. Und als es dann hieß, wir wären verliebt und zusammen – ohne auch nur einmal darüber gesprochen oder gar nachgedacht zu haben – hatten wir bis es wieder vorbei war, kein Wort miteinander gewechselt. Inzwischen waren wir im 3. Jahr der High School und Tyler der beste Freund, den man sich neben Kylie vorstellen konnte. Und nicht mehr. Aber das meiner hoffnungslos romantischen Freundin klar zu machen, war ungefähr so erfolgreich wie einen Löwen zu einer Reisdiät zu überreden.
Auch in dieser Woche blieb ich von Kylies astrologischen Berichten nicht verschont.
„Ihnen steht eine Begegnung mit einem mysteriösen, charmanten Jüngling bevor“, wiederholte Kylie den Satz aus meinem Horoskop, den ich erst vor wenigen Tagen gehört hatte.
„Charmant!“, rief ich belustigt und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Sag mal, Kylie Blaige, hast du mir nicht zugehört? Der Typ war alles, aber sicher nicht charmant!“
Kylie kicherte unbeirrt. „Du kennst ihn doch gar nicht! Vielleicht hatte er es eilig und du hast ihn mit deiner Knallaktion verärgert.“
Wohl eher mit meiner Trampelaktion, dachte ich bitter und bis mir auf die Oberlippe, um meine Gedanken nicht laut auszusprechen.
„Unsinn“, sagte ich stattdessen. „Ist ja auch egal. Dem werden wir eh nie wieder begegnen. Hast du die Tüte eigentlich mitgenohm'?“
Eigentlich hatte ich diese Frage nur gestellt, um von unserem jetzigen Thema abzulenken. Zu erwarten war jedoch nicht, dass dieses Frage mit einem kleinlauten, schuldbewussten ‚Nein‘ beantwortet wurde.
Wir hatten über die Hälfte der Strecke schon hinter uns gebracht, aber das war jetzt unbedeutend. Uns blieb nichts anderes übrig als wieder zu mir nach Hause zu fahren und die Bücher zu holen. Und das, obwohl wir ohnehin schon spät dran waren.


Kylie und ich kamen natürlich zu spät zu unserer ersten Stunde. Ich war noch nie so dankbar, dass wir so ziemlich die gleichen Kurse belegt hatten. Denn jetzt würde ich nicht die einzige sein, die sich unserem bösartigen Coach Woober, der außerdem unser Mathelehrer war, stellen musste.
Trotz allem Ärger, den wir bekommen würden, schien es Kylie einfach nicht eilig zu haben. Sie wollte doch tatsächlich vor der Damentoilette haltmachen, um ihr Make-up aufzufrischen. Ich glaubte, ich traue meinen Ohren nicht!
„Kylie. Dafür haben wir jetzt um Himmelswillen wirklich keine Zeit!“, schimpfte ich, „Ich für meinen Teil möchte nicht nachsitzen.“
Doch sie blieb stur. „Doch! Wenn du mich nicht so durch die Flure hetzen würdest, wäre mein Make-up nicht verflossen! Außerdem geht Phelim Wadim auch auf diese Schule, falls du das vergessen hast!“, meinte sie und es klang fast verzweifelt. Sie war schlimm geworden. Seitdem sie vor einem Jahr einer der Jungs kaltblütig abserviert hatte, legte sie exorbitant viel Wert auf ihr Aussehen. Als ob es damals nur daran lag und nicht an der Tatsache, dass ihr Auserwählter bereits vergeben war.
Ich stöhnte genervt und ergab mich. Kylie lächelte selig und verschwand in der Damentoilette. Ich war wahrscheinlich auch gerade auf der Damentoilette gewesen, als Gott das Durchsetzungsvermögen verteilte.
Seufzend lehnte ich mich an die gelb verputzte Wand, ließ meine Tasche achtlos neben mir auf den Boden fallen und sah mich resigniert im leeren Korridor um. Ich sog scharf die Luft ein, als ‚er‘ unerwartet aus einem der Seitenkorridore geschlendert kam.
Zuerst schien er mich gar nicht zu sehen und lief unbeirrt direkt auf mich zu. Er hatte seinen Blick auf das hässlich ergraute Laminat unter seinen Füßen gerichtet. Die Tasche, die ihm um die Schultern hing, prallte beim Gehen stetig von seinem Oberschenkel ab. Seine Daumen hatte er lässig in die Gürtelriemen seiner schwarzen Hose geschoben und seine rostbraunen Haare sahen aus, als habe er sie heute noch nicht gekämmt, aber es passte zu ihm wie zu keinem anderen.
Erst als er über den Daumen gepeilt zehn Meter von mir entfernt war, sah er auf.
Sein Gesicht strahlte nicht den erwarteten Zorn aus, eher eine arrogante Gleichgültigkeit, als er mich entdeckte. Für einen Moment war ich noch ganz perplex. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dem Typen hier zu begegnen, geschweige denn ihm überhaupt nochmal entgegen treten zu müssen.
Ihm schien es ganz anders zu ergehen. Er sah mich an als hätte er genau gewusst, dass er mich hier antreffen würde und ich meinte, dass sein Weg genau in meine Richtung einschlug. Als er dann auch noch stehen blieb und den Mund aufmachen wollte, schnappte ich hastig meine Tasche vom Boden und rannte ohne ihn auch nur zu Wort kommen zu lassen den Flur entlang.
Es war total kindisch, das wusste ich, aber es war genau das, was meine Intuition mir als Erstes riet.
Außerdem hatte ich ohnehin überhaupt keine Ahnung, was ich auf seine Beschuldigungen antworten sollte. Ich wusste, dass er mir Vorwürfe machen wollte, was sollte er sonst von einem zotteligen Mädchen wollen, das darüber hinaus auch ein Talent für Tollpatschigkeit besaß?
Dass jede einzelne Perle seiner Kette mehr wert hatte als all die Bücher zusammen, war klarer als Hokkaidos Mashu-See.
Also war es die deutlich kleinere Blamage, einfach abzuhauen als außer Stande etwas zu sagen vor ihm zu stehen und Däumchen zu drehen. Und meine Schuld eingestehen wollte ich schon dreimal nicht!
Zwar völlig außer Atem, aber in Rekordzeit erreichte ich die Tür zum Mathematikkurs. Es war noch eine Minute, um zu verschnaufen, nötig, bevor ich ins Klassenzimmer eintreten konnte. Mist, verdammter. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Kylie den Teil mit der Entschuldigung zu überlassen. Dank meiner überstürzten Fluchtaktion durfte ich diese Hürde nun selbst bewältigen. Das ganze wäre ja alles nicht so tragisch, wenn es nicht Coach Woober wäre, den ich um Verzeihung bitten musste. Er war so ziemlich der strengste Lehrer der gesamten Chestertown High und kannte keine Gnade, was Pünktlichkeit betraf. „Wenn du zu einem Spiel nicht rechtzeitig erscheinst, scheidest du automatisch aus!“, sagte er immer. Dass es sich hierbei aber um Unterricht und Belehrung handelte und nicht um irgendeinen athletischen Wettbewerb, schien ihn keineswegs zu kümmern.
Ich holte noch einmal tief Luft, ehe ich anklopfte und ins Rauminnere schlüpfte.
„Miss Travis!“, rief Coach Woober in fadenscheiniger Freude. „Das wir Sie hier heute auch noch begrüßen dürfen.“
Ich unterdrückte ein entnervtes Stöhnen und sagte stattdessen: „Ja. Tut mir Leid, Sir. Aber wir hatten etwas Wichtiges vergessen und mussten nochmal umdrehen.“
„Wir?“, hakte er nach und versuchte an mir vorbei in den Flur zu linsen.
„Ja, wir“, sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter mir. Überrascht drehte ich mich um. Hinter mir stand – wer sollte es auch anderes sein – der Typ von eben mit Kylie im Schlepptau.
Fassungslos starrte ich erst in sein, dann in das begeistert grinsende Gesicht von meiner besten Freundin, die sich an seinen Arm gehangen hatte. Verräterin.
„Und Sie sind wer?“, fragte Coach Woober und hob eine Augenbraue.
Er räusperte sich, ehe er ihm antwortete. „Ich bin Jeldrik Wadim, Sir. Ich stehe seit letzter Woche ebenfalls auf ihrer Liste.“
Wadim. Ach du Schande. Das auch noch! Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir, eindeutig. Da hatte ich mich doch tatsächlich mit dem Bruder des begehrtesten Schülers unserer High-School angelegt.
Phelim und Jeldrik Wadim waren vor ein paar Wochen nach Chestertown gezogen und seither war Phelim der unangefochten erfolgreichste Charmeur der Chestertown High. Dass er bisher mehreren Mädchen reihenweise das Herz gebrochen hatte und es mit keiner länger als eine Woche aushielt, störte jedoch niemanden. Wie auch leider Kylie nicht.
„Ach ja! Sicher, Sie kommen aus dem Kurs der Sophomores, nicht wahr?“, meinte der Coach, nachdem er seinen Namen auf seiner Liste entdeckt hatte und deutete auf einen der freien Plätze.
Jeldrik drängte sich an mir vorbei und beschlagnahmte den Platz, der eigentlich bisher immer meiner gewesen war. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Ich drehte mich verärgert zu Kylie um, diese aber zuckte nur bedauernd die Schultern und steuerte ihren gewöhnlichen Platz neben Jeldrik an. Dass sie dabei selig grinste, entging mir nicht.
Verräterin, Verräterin, Verräterin!
„Ah, ähm. Die Damen“, hielt uns Coach Woober noch auf. „Hier sind Ihre Klausuren.“
Coach Woober blieb an seinem Pult sitzen und hob uns zwei Blätter entgegen.
Als ich ihm meine abnahm, fügte er, sodass nur ich hin verstehen konnte, hinzu: „Die sehen aber nicht sehr rosig aus.“ Und bedachte mich mit einem mahnenden Blick.
Ich erwiderte nichts darauf und ging ohne auf meine Note zu sehen zu dem einzig freien Platz. Der, der ganz hinten im Eck war und man den Lehrer nur noch mit Mühe verstehen konnte. Ich seufzte verärgert und erdolchte Jeldrik gedanklich und Kylie gleich dazu.
Ich wusste es, dass die Klausur den Bach runter gegangen war, bereits, als ich sie noch nicht einmal geschrieben hatte. Binomische Formeln waren noch nie so mein Ding gewesen. Schon gar nicht, wenn man auch noch darauf aufbauen sollte, wenn man noch nicht einmal die Grundkenntnisse begriffen hatte. Eigentlich war es unnötig die konkrete Note wissen zu wollen. Schlecht war sie ohnehin. Aber meine menschliche Neugierde war wie so oft nicht zu ignorieren und ich warf Widerwillen doch einen Blick auf meine Note.
Ein fettes, rotes F. Ungenügend. Na, diese Arbeit bekam mein Dad wohl besser nicht zu Gesicht.
Murrend stopfte ich die Klausur in meine Tasche und sah zu meinem einzigen Tischnachbarn. Es war ein blonder, blasser Junge, der noch von Akne geplagt war. Aber das schien ihn genauso wenig zu stören, wie das fette F, das ich auch auf seiner Klausur fand. Während Coach Woober mit uns die Matheklausur durchging in der Hoffnung, dass wir es schlussendlich doch noch Dreh raus haben könnten, spielte der Junge seelenruhig Playstation Portable. Wenn er seine Konzentration auf den Unterricht und nicht auf dieses ovale Gerät beziehen würde, könnte er mit Sicherheit auch auf ein C kommen. Aber wie gehabt, es schien ihn nicht zu kümmern.
Seufzend wandte ich mich von ihm ab und versuchte dem Unterricht zu folgen, wenngleich ich den Stoff einzig und allein akustisch verstand.
Obwohl ich eine gute viertel Stunde zu spät zum Unterricht kam, wollte diese Stunde einfach kein Ende nehmen. Sie zog sich und zog sich. Zeitweilen spielte ich sogar mit dem Gedanken meine Nagelfeile auszupacken – meine Finger hatten mal wieder dringend eine ordentliche Pediküre nötig – aber ich verwarf ihn wieder, als Coach Woober die Playstation Portable des Jungen neben mit entdeckt hatte und sie diesem wegnahm.
Es grenzte beinah an eine Wunder, dass ich nach einer Weile vergaß auf die Uhr zu sehen und der Unterricht dann doch schnell ein Ende fand. Mir kam die Schulglocke vor wie die Klingel des Christkindes, die meine Mom damals immer zu Weihnachten läutete, wenn ich zum Geschenke auspacken kommen gedurft hatte. Genau so eilig hatte ich es jetzt aus dem stickigen Klassenzimmer zu kommen, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass mich draußen keine Geschenke erwarten würden.
Kylie wartete an der Tür auf mich und strahlte als habe man sie gerade zur Schönheitskönigin gekürt.
„Warten Sie einen Moment, Mr. Wadim“, sagte der Coach, als ich gerade bei Kylie ankam. Ohne jegliche Vorwarnung packte Kylie mich energisch am Arm und zog mich vor die Tür. Dann stellte sie sich neben diese und versuchte zu lauschen.
„Kylie“, zischte ich mahnend.
„Pscht!“, machte sie und gestikulierte mit ihrer linken Hand, was mir wahrscheinlich zu verstehen geben sollte, dass ich zu schweigen hatte.
Ich schnaubte wütend und war schon im Begriff mich von der Tür zu entfernen, als mich ein Gedanke durchzuckte. Vielleicht hatte Jeldrik ja genauso eine Matheschwäche wie ich? Das würde mich zwar auch nicht weiter bringen, aber immerhin mit Sicherheit meinem Ego Vergnügen bereiten. Ohne weitere Umschweifen stellte ich mich neben Kylie, die gerade den letzten Schüler aus der Tür treten ließ, und lauschte.
„Sie haben sich ziemlich schnell eingewöhnt, Mr. Wadim. Ihre Noten sind überraschend gut“, bekam ich leider Gottes das Gegenteil meiner Hoffnung zu hören. Ich widerstand dem Drang, verärgert wie ein Kleinkind mit dem Fuß aufzustampfen und hörte dennoch gespannt zu, was Coach Woober noch zu sagen hatte.
„Ich wünschte, ich könnte dies auch von einigen anderen Schülern behaupten.“ Er seufzte. „Ich weiß, Sie sind noch nicht lange hier und ich weiß ja nicht, wie es in den anderen Fächern bei Ihnen steht, aber meinen Sie, Sie könnten Zeit finden einer meiner Schülerinnen Nachhilfeunterricht zu geben? Ich möchte wenigstens ein paar meiner Schüler die Kurse in den Sommerferien erspar’n.“
Für einen Moment war es still. Aber dass Mr. Woober schließlich freudig weiter sprach, ließ mich darauf schließen, dass Jeldrik wohl stumm nickend zugestimmt haben musste.
„Wunderbar! Ich selbst bin noch nicht dazu gekommen mit ihr zu sprechen. Wie wär’s wenn sie direkt mal zu ihr hin gehen und ihr Bescheid geben?“
„Natürlich“, hörte ich zum zweiten Mal an diesem Tag seine angespannte, aber auf eine gewisse Weise angenehme Stimme. Bei ihrem Klang setzte mein Herz kaum merklich einen Augenblick aus.
„Ach und sagen sie ihr doch bitte auch, dass sie nicht mehr zu mir zu kommen brauch. Sicher ist sie in Pause in der Cafeteria. Ihr Name ist Eveline Travis.“
„Was?!“, platze es erschrocken aus mir heraus und zog ein Echo mit sich.
Impulsiv, wie ich war, hatte ich die Tür aufgerissen und stand, ehe ich mich versah, auf deren andere Seite. Es dauerte seine Zeit bis ich kapierte, dass das Echo, welches in meiner Stimme mitschwang, nicht ‚mein’ Echo war, sondern lediglich Kylies ebenso entsetztes ‚Was’. Im Gegensatz zu mir, war Kylie jedoch dort stehen geblieben, wo sie war.
Coach Woober sah nun verwirrt und Jeldrik mit hochgezogener Augenbraue, das zierliche Mädchen mit den schwarz gelockten Haaren im Türrahmen an.
Ebenso schnell, wie meine Überschwänglichkeit gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Völlig perplex, als wüsste ich selbst nicht wie ich hierher gelangt war, repräsentierte ich mich nun den beiden argwöhnischen Augenpaaren. Ich schluckte und merkte, wie mein Gesicht langsam wärmer wurde.
„Ich … äh …“, stotterte ich und brach sofort wieder ab, weil mir selbst nicht ganz klar war, was ich eigentlich sagen wollte. Mich rauszureden war sowieso zwecklos. Ich war eine miserable Lügnerin und Coach Woober kannte mich lange genug, um das zu wissen.
„Gerade haben wir über dich gesprochen“, sagte der Coach mit vor Spott triefender Stimme, als habe ich das nicht schon längst gewusst. Mir schoss noch mehr Hitze in die Wangen und ich war mir sicher, dass man das inzwischen auch sehen konnte.
Ich war vor Scham sogar so verzweifelt, dass ich geringzeitig mit dem Gedanken spielte, eine Ohnmacht zu imitieren. Aber dass man mir meine Schauspielerei ebenso wenig abkaufen würde, wie meine Lügen, kam mir gerade noch rechtzeitig in den Sinn, bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzten konnte.
„Zufälle gibt’s“, fügte Jeldrik Coach Woobers Worten zynisch hinzu und bedachte mich mit einem mokanten Grinsen.
Und das war genau das, was ich gebraucht hatte. Mein kompromittiertes Gefühl wich augenblicklich der Wut und ich schlug hart die Zähne aufeinander.
Diffizil ignorierte ich, dass ich mich gerade komplett zum Affen gemacht hatte und ging auf Coach Woobers Bemerkung ein als wäre sie ein ernst gemeinter Satz gewesen.
„Ja, ich weiß. Aber Coach, das geht nicht“, jammerte ich, obgleich mir bewusst war, dass es ohnehin überflüssig war. Jeldrik war mein letzter Tropfen Wasser in der Wüste. Meine einzige Möglichkeit, dem zusätzlichen Mathekurs zu entgehen.
Coach Woober zog beide Augenbrauen gen Himmel. Wobei es eine auch getan hätte. „So?“, sagte er keck und zog das „O“ in die Länge. „Und warum nicht?“
Flehend sah ich zu Jeldrik hinüber, der inzwischen lässig am Lehrerpult lehnte und unsere dürftige Kommunikation stumm verfolgte. Auf eine Reaktion seinerseits in Folge meines auffordernden Blickes, hätte ich bis zur nächsten Sonnenfinsternis warten können. „Der Lauscher an der Wand, hört seine eig’ne Schand’“, kam es mir in den Sinn.
„Weil… weil ich bereits einen Nachhilfelehrer habe!“, schoss es aus mir heraus, ohne dass ich groß darüber nachdachte. Ich war selbst überrascht wie glaubwürdig ernst ich diese Lüge zu Tage gebracht haben konnte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Coach Woobers skeptischer Blick nachdenklich wurde.
„Aha“, meinte er und runzelte die Stirn, ehe er sich an Jeldrik wandte. „Dann hat sich die Sache wohl erledigt, Mr. Wadim. Aber Danke für ihre Bereitschaft.“
Der Coach nahm seine wuchtige Aktentasche vom Pult und verlies den Raum.
Ich hörte nur noch ein ersticktes „Huch“ kurz bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er war wohl der indiskreten Kylie in die Arme gelaufen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie jedes kleine Wort, das hier fiel, sensationslüstern mit verfolgt hatte.
Es tat mir fast Leid, dass sie das Interessanteste, dank ihrer Karambolage mit dem Coach, nun verpassen würde. Aber eben nur fast.
„Entschuldige“, brach Jeldrik die Stille im Raum und sah mich unter seinem transparenten Vorhang, der ihm von der Stirn fiel, hindurch fragend an. Auch mir stand ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Hatte ich da gerade richtig gehört? Er bat mich um Verzeihung?
„Wo... Wofür?“, fragte ich ungläubig und kräuselte die Stirn. Jeldrik schluckte schwer und stieß sich vom Pult ab bevor er mir antwortete.
„Ich war gestern ziemlich unhöflich zu dir. Das tut mir Leid.“
Ich war fassungslos. Und allein deshalb brachte ich dann auch folgende Worte über die Lippen: „Nein, du… Ich meine, reine Unhöflichkeit ist leichter zu vergeben. Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch nicht anders reagiert. Tut mir Leid wegen der Kette.“ Ich lieferte doch tatsächlich ein Eigengeständnis ab. Bisher war mir nicht mal selbst bewusst gewesen, dass es mir wahrhaftig Leid tat.
Jeldrik lächelte mich müde an und fuhr sich durchs Haar, um seine Stirn freizubekommen und lief dann auf und ab.
„Nein. Da wo ich herkomme, haben Umgangsformen mehr wert als materielle Dinge, Eve.“
„Eve?“
Jeldrik hielt in der Bewegung inne und sah mich Stirn runzelnd an.
„Das ist doch dein Name?“
„Ja… Eveline. Genau“, stammelte ich, „Aber woher weißt du das?“
Jeldriks Stirn glättete sich wieder und er lächelte mich kokett an.
Aber er kam nicht dazu mir zu antworten, stattdessen zuckte er kurz zusammen. Und keine Millisekunde später stürmte ein goldblondes Mädchen ins Zimmer.
„Oh. Jeldrik. Hallo“, sagte sie und lächelte ihn übertrieben breit an. Mich begrüßte sie nur mit einem missbilligenden Nicken, als sie mich entdeckte und sprach meinen Namen aus. „Eveline…“
Das Mädchen war niemand geringeres als Christine Warp. Ihre Familie besaß eine Drogeriefirma und man konnte sie als eines der Mädchen bezeichnen, die nur mit den Augen klimpern mussten, um Daddys Porsche zu bekommen. Würde ich in einem amerikanischen Teeniefilm festsitzen, dann würde sie ganz klar Promqueen werden. Aber dem war Gott sei Dank nicht so und sie war einfach nur ein steinreiches Mädchen, das sich einbildete mit ihrem hübschen Gesicht und Daddys Geld alles zu bekommen, was sie wollte. Dass das leider meistens auch der Wahrheit entsprach, verdrängte ich munter.
„Gut, dass ich dich treffe!“, trällerte Christi, warf ihr Haar zurück und legte auf dem dreckigen Laminat einen Catwalk hin, der auch mich zur Katzen werden ließ. Aber zu einer der Katzen, die biestig die Krallen ausfuhr, wenn man sich mit ihr anlegte.
Als wäre ich gar nicht hier, klemmte sie sich an Jeldriks Arm und zog ihn mit sich.
„Ich versteh Mathe überhaupt nicht und Coach Woober hat gemeint, dass ich bei dir Hilfe finde“, hörte ich sie ihren Satz beenden und ich war allein in dem hallenden Klassenzimmer. Mhm. Mit diesem Problem war sie allerdings nicht allein. Ich seufzte und warf einen Blick auf die Tafel, die vor binomischen Formeln geradezu überquoll.

Kapitel 3 - Das mit der Feder



„Mann, Lin, das ist doch ganz einfach!“
Tyler knallte den Bleistift auf die Tischplatte und raufte sich die Haare. Hey, irgendwen musste ich ja schließlich wegen Mathe fragen, oder? Und einen super Nachhilfelehrer kann man sich nun mal nicht einfach aus dem Ärmel schütteln.
Ich ließ Tyler toben. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass er sich zum wiederholten Mal zu so einer Herausforderung, wie mir Mathe beizubringen, überreden ließ. Er und ich waren schon öfter aneinander geraten, wenn er zum x-ten Mal versucht hatte, mir irgendwelche Thermen verständlich zu machen.
„Wie oft haben wir schon festgestellt, dass ich als Mathelehrer -“, Tyler lachte abfällig, „nein, DU als Schüler nichts taugst? Warum hast du dem Typen, den dir Coach Woober organisiert hat, nicht einfach zugesagt?“
Er nahm die Hände aus seinem hellblonden Haar und begann die wenigen Stifte, aber dafür umso mehr Blätter in seinen Rucksack zu verstauen.
Ich stöhnte. „Weil ich den Kerl nicht ausstehen kann.“
„Ich fürchte aber, dass wir beide uns auch nicht mehr besonders gut leiden können nach dem hier“, wetterte er weiter und machte eine Handbewegung, die mich und unseren Küchentisch einbegriff. Seufzend warf ich einen Blick auf das weiße Blättermeer. Trotz all der Mühe, die sich Tyler mit mir gab, waren zig Blätter davon entweder zerknüllt oder über die Hälfte von dem, was draufstand, wieder durch gestrichen worden.
Widerwillig begann ich ihm zu helfen, die Blätter, die noch brauchbar waren, auf einen ordentlichen Stapel zu häufen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich so noch ewig weiter gemacht. Ich hätte Tyler mir heillos oft das Selbe erklären lassen, auch wenn ich wusste, dass es zu nichts führt. Mir war wirklich alles lieber als entgegen meinem Stolz mir Nachhilfe von Jeldrik geben zu lassen. Dass es Tyler versteht, hatte ich von Anfang an nicht erwartet, aber es war frustrierend, dass Kylie es eher als Chance als das ultimativ Dümmste, was einem passieren kann, ansah. „Wenn mir das vorgeschlagen worden wäre, ich hätte dieses Angebot mit Dank angenommen. Du bist manchmal so verklemmt!“, so etwas in der Art durfte ich mir in der letzten Woche unsagbar oft anhören. Wie froh ich war, als Kylie von dem Fußballturnier unserer Schule Wind bekommen hatte und das zum neuen Hauptthema wurde. Naja, vielmehr wurde Phelim wieder zum Hauptthema, da er als Mannschaftskapitän ein Zusatztraining am Nachmittag angesetzt hatte. Tyler hatte mit Sicherheit schon mehr davon verpasst als meine gute Kylie. Einmal hatte Kylie mich mit zu den Tribünen geschleppt, um den Sportlern vor allem aber Phelim beim Schwitzen zu zusehen. Jeldrik war auch dort gewesen, hatte sich aber eher im Hintergrund gehalten, mich jedoch hin und wieder angesehen. Meinte ich mir zumindest einzubilden.
Seit unserer… naja, kleinen Aussprache nach Coach Woobers Unterricht hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Zwar lächelten wir uns inzwischen immer wieder an, wenn wir uns auf den Fluren zufällig trafen, aber wirklich zu einer Unterhaltung kam es nie. Was wahrscheinlich auch an der Obhut Christis lag, unter der er jetzt stand. Ich konnte mich nicht erinnern, Jeldrik je ohne Christi gesehen zu haben, nachdem sie ihn scheinbar als ihr nächstes Opfer auserkoren hatte. Mir war es ohnehin schleierhaft, dass sie plötzlich so viel Interesse für Jeldrik aufbrachte.
Meistens traf ihr Beuteschema auf Kerle zu, die besonders beliebt oder begabt waren. Eben solche, um die sie jeder beneiden würde. Aber seither hatten die meisten Jeldrik noch nicht einmal wahrgenommen. Ganz anders seinen Bruder, auf den sich Christi wunderlicherweise nicht stürzte.
„Man sieht sich dann morgen beim Turnier“, meinte Tyler noch immer etwas mürrisch und schwang sich seine Tasche um die Schultern. Ich beobachtete noch seufzend wie er beinahe fluchtartig meine Küche verließ, ehe ich mich ins Wohnzimmer begab und zum x-ten Mal in Rick Riordans „Percy Jackson: Diebe im Olymp“ las.

„Kylie, das ist ja extrem scharf!“, jammerte ich, den Mund voller Nachos, die wohl in Chili-Dip gebadet hatten. Ohne auf Kylies brüllendes Gelächter zu achten, sprang ich auf und rannte zum nächstbesten Getränkeautomaten. Ich nahm mir nicht die Zeit, mir vorher einen Becher zu besorgen oder die anderen protestierenden Schüler, vor die ich mich drängelte, zu berücksichtigen. Einzig das scharfe Zeug brennend in meinem Mund – und Kopf – habend, hielt ich einfach meinen Mund unter den Wasserspender und ließ die Cola hinein laufen. Um mich herum hörte ich Getuschel und Gekicher, aber das war mir egal. Zu groß war die Erleichterung, dass das Brennen in meinem Mund nachließ.
„Macht man das heutzutage so?“, fragte plötzlich eine bekannte Stimme in mein Gesüffel, das sicher ziemlich bescheuert aussehen musste. Beim Klang seiner Stimme stockte ich und – wie konnte es anders sein – verschluckte mich auch prompt. Hustend und nach Luft ringend richtete ich mich auf und hatte auch wie erwartet Jeldriks breitgrinsendes Gesicht vor mir.
„Vielleicht sind die Becher ausgegangen“, krächzte ich und hielt mir eine Hand an den Brustkorb, während ich mich an einem mokanten Lächeln versuchte.
„Ich könnte dir einen besorgen, wenn du willst“, kicherte er, klopfte mir auf die Schulter und griff sich einen der Becher aus der Palette, die neben dem Getränkeautomaten stand und reichte ihn mir. Das Gekicher um uns herum übernahm die Überhand und ich kam mir langsam ziemlich dämlich vor. Wahrscheinlich hatte ich zu allem Überfluss auch noch einen Tropfen Cola am Kinn hängen, das würde meiner Aktion Nachdruck verleihen. Bei diesem Gedanken fuhr ich mir vorsichtshalber gleich mal mit dem Arm über den Mund.
„Hat dir eigentlich noch keiner gesagt, dass man Schärfe nicht unbedingt mit Kohlensäure zu löschen versuchen sollte?“, kam plötzlich unerwartet die Frage meiner Besten aus der Runde, die sich um uns geschert hatte. Dunkel erinnerte ich mich, dass ich das tatsächlich schon einmal gehört hatte. Ich seufzte, das erklärte wohl auch dieses taube Gefühl meiner Zunge. Noch immer lachend trat Kylie aus der Menge, nahm mir den Becher aus der Hand und füllte ihn mit stillem Wasser, ehe sie ihn mir wieder gab. Kommentarlos trank ich ihren Inhalt und verfluchte innerlich die gesamte Welt. Nun kam ich mir wirklich, wirklich dämlich vor. Richtig bloß gestellt und das auch noch von meiner eigenen Torheit. Ich konnte das Blut, das sich mal wieder unaufhaltsam in meinem Kopf staute, förmlich riechen. Sofort als ich den Becher ausgetrunken hatte, zerdrückte ich ihn und warf ihn einfach auf den Boden, dann drängte ich mich durch die gackernde Menschenmenge. Kylie folgte mir und trug mir praktisch das Gelächter hinterher, auch wenn es nur ihres war. Diese Verräterin.
Wie erleichtert ich war, als wir kurz darauf, die Cafeteria hinter uns gelassen hatten und im Freien vor dem Sportplatz standen. Es war ja beinahe beindruckend wie sie die Umgebung hier draußen aufgerüstet hatten. Die Tribünen hatten sie mit schwarzem, grünem und gelbem Krepppapier dekoriert, das waren die Farben unserer Schule. In der Mitte außerhalb des Feldes, also zwischen zwei fahrbaren Tribünen, wurde eine selbstgeschreinerte Punktanzeigetafel aufgestellt. Auf der anderen Seite war sogar ein Standaufgebaut, wo wir Kunststofffinger und diverse andere Animierungsinstrumente kaufen konnten. Unverschämt. Die Schule fand auch immer Mittel und Wege, den Schülern ihr teilweise mageres Taschengeld abzuknöpfen. Wie zum Beispiel Kylie. Wenige Sekunden später fand ich mich nämlich zusammen mit ihr vor diesem Stand wieder und sie kaufte doch tatsächlich eine dieser unerträglich lauten Rasseln. Na, das konnte ja heiter werden. Die meisten hier machten so einen Aufruhr um das Turnier, als wäre es die Weltmeisterschaft und nicht nur irgendein lausiger High School Wettkampf. Für die Mädchen bot Phelim ja den perfekten Starsportler wie für andere David Beckham. Nur, dass Phelim nicht blond, sondern schwarzhaarig und etwas größer war.
Phelim, seine Mannschaft und das gegnerische Team wärmten sich auf dem Feld bereits für das Turnier auf, welches nach der Mittagspause beginnen sollte. Kylie beobachtete heißhungrig natürlich jeder Phelims Bewegungen, während sie an einem Strohhalm zog und wir querfeldein über den Fußballplatz marschierten.
Wir gingen gerade genau vor dem Fußballtor, als besagter Phelim plötzlich meinen Namen schrie: „Hey Eveline! Vorsicht!“
Woher wusste er den überhaupt meinen Namen? Aber ich hatte überhaupt keine Zeit weiter darüber nachzugrübeln. Als ich reflexartig den Kopf in seine Richtung drehte, fing meine Welt sofort an sich mit zu drehen. Phelims Kopf blieb mir von einem immer näher kommenden und verdammt hart geschossenen, schwarzweißen Ball verborgen. Außerstande mich zu rühren, sah ich zu, wie der Ball direkt auf mein Gesicht zuflog. In Blitzgeschwindigkeit und keinen Falls so wie man es aus Filmen – von wegen Zeitlupe – kannte. Deshalb bemerkte ich im ersten Moment auch gar nicht, dass es nicht der Ball war, was hart gegen meinen Kopf prallte. Jemand oder etwas packte mich in letzter Sekunde am Arm und zog mich zur Seite. Mir blieb noch Zeit für einen erschreckten Schrei, da knallte ich schon mit dem Kopf auf einen harten Widerstand, lag jedoch bereits innerhalb des Tores flach im Gras. Ich vernahm noch ein dumpfes Geräusch, das sich anhörte, als ob jemandem die Hose gerissen wäre, dann wurde ich auch schon wieder unsanft in die Senkrechte gezogen.
Für einen kurzen Moment war ich noch wie benommen und schielte den Mann, der mich an den Schultern aufrecht hielt, an als habe ich einige Tequilas zu viel gehabt.
„Eve, alles ok mit dir?“, fragte eine warme, sanfte Stimme und rüttelte mich leicht. Das half. Ich blinzelte noch einige Male bevor sich meine Sicht wieder klärte. Das erste was ich sah, war ein Paar smaragdgrüner Augen, die mich aus ihren Höhlen besorgt ansahen. Ich zog die Stirn graus, als ich erkannte, wessen Augen es waren… Dass sich dabei aber ein fürchterliches Ziehen in meinem Kopf meldete, war allerdings nicht geplant.
„Mein Kopf tut weh“, murmelte ich und sah hinter mich, um zu erkundschaften, was die Ursache für meine Kopfschmerzen war. Ich erkannte sofort, dass der eiserne Balken des Tors und vor allem aber Jeldriks Stoß dagegen der Auslöser dafür waren. „Weil du, Vollhorst, mich gegen diesen Balken gestoßen hast!“, fuhr ich vorwurfsvoll fort und verengte meine Augen. Jeldrik tat es mir gleich, nahm die Hände von meinen Schultern und richtete sich auf.
„Wenn es dir lieber gewesen wäre, dass dein Kopf weggeballert wird, dann tut’s mir Leid, du Vollhilda!“, meinte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme und wies mit ausgestreckter Hand auf das Fußballtor hin. Ich streckte den Hals und blickte in die Richtung, in die er zeigte. Auf den ersten Blick fiel mir nichts Ungewöhnliches auf bis ich registrierte, dass der Fußball einige Meter ‚hinter‘ dem Tor lag. Erneut legte ich die Stirn in Falten und nahm das Netz des Fußballtores genauer in Augenschein. Ich schluckte. Genau an der Stelle des Netzes, vor der ich vor einer Minute noch gestanden hatte, war nun ein Riss, den einfach nur Phelims Schuss verursacht haben konnte.
„Oh“, war alles was ich dazu zu sagen wusste.
„Mann, Lin, echt! Dass du nie aufpassen kannst. Du bist so eine Trantüte!“, hörte ich mein Teuerste schimpfen, die sich gerade näherte und mit verschränkten Armen vor mir stehen blieb.
„Alles ok?“, rief der andere Wadim, während er auf uns zu joggte. „Sorry, hatte dich echt nicht gesehen.“, sagte er als er neben Kylie zum stehen kam. Dann verzog er den Mund zu einem bedauernden Lächeln und legte Kylie kurz die Hand auf die Schulter, ehe er mir seine Hand entgegenstreckte.
„Schon in Ordnung“, sagte ich, während ich mich von ihm empor ziehen ließ und lächelte verzagt. Dann machte er sich auf, um seinen Ball zurückzuholen. Kylie hatte inzwischen die Arme schlaff an ihrem Körper hängen lassen und sah mit leicht geöffnetem Mund Phelim hinterher. Ich wusste, dass die Tatsache, dass er sie berührt hatte, für Kylie ein ganz großes Phänomen darstellte. Später durfte ich mir sich wieder irgendwelche Geschichten von wegen „Schicksal“ und „Fügung“ anhören. Seufz. Meine Verrückte.
„Komm, du Trantüte“, meinte Jeldrik nach einer Zeit und ich sah kurz, wie seine Mundwinkel nach oben zuckten. „Ich bring dich nach Hause.“


Keine Viertelstunde später, saß ich neben Jeldrik auf dem Beifahrersitz in meinem eigenen Alpha und schmollte vor mich hin. Natürlich hatte von selbst nicht vorgehabt nach Hause zu gehen, aber meine verräterische Freundin bildete sich ein, eine Beule an meinem Kopf zu spüren und Coach Woober, der alles aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, duldete keine Widerrede. Und selbstverständlich, hatte ich dagegen protestiert, dass Jeldrik meinen Wagen fahren sollte…
Bis wir am Haupteingang angekommen waren hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Und dann auch nur, weil er wissen wollte, wo ich geparkt hatte.
Wie es das Schicksal jeden Tag aufs Neue wollte hatte ich an diesem Tag wieder nur im hinteren Bereich einen Parkplatz ergattern können.
Als wir fast über den gesamten Schülerparkplatz schlendern mussten, streckte er mir vor meinem Wagen auffordernd die rechte Hand entgegen.
Okay… Wollte er jetzt ganz der Kavalier mir in den Wagen helfen oder wie sollte ich das verstehen?
Jeldrik musste gesehen haben, dass mir nicht ganz einleuchtete, was er von mir erwartete, denn er stöhnte genervt.
„Schlüssel“, meinte er brüsk.
Ich setzte meine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
„Meinen Wagen werde ich doch wohl noch selbst fahren dürfen oder?“
Was bildete sich der Kerl eigentlich ein?
Von seinem Gesicht war inzwischen jede Art von Nettigkeit abgebröckelt. Seine linke Hand ballte er so zur Faust, dass jede Ader seines angespannten Armes hervortrat.
„Weißt du, Eve“, er biss kurz die Zähne zusammen, dann sprach er nach einem erneuten Stöhnen weiter. „mir liegt was an meinem Leben. Sei vernünftig. Nur für den Fall, dass dein Kollaps während der Fahrt schlapp macht.“
Ich schnaubte. „So schlimm ist es grad auch wieder nicht“, meinte ich schnippisch.
Er zog die Augenbrauen hoch und bedachte mich mit einem skeptischen Blick. Dann zuckten seine Finger kurz zweimal, was wohl heißen sollte „Gib schon her“. Als ob ich nichts gesagt hätte.
Ergeben seufzte ich, kramte dann widerwillig in meiner Hosentasche und ließ den Schlüssel in seine Hand fallen.
Jeldrik schloss mit einem zufriedenen breiten Grinsen die Finger darum und steuerte dann die Beifahrertür an. Als er sie öffnete, dahinter trat und mit einer einfachen Armbewegung in den Wagen wies, musste ich fast kichern, da sich meine Vermutung auf sein Kavaliergehabe damit teilweise doch noch bestätigt hatte.
Wenige Sekunden später war er um die Schnauze meines Alphas herum gegangen und ließ sich vor dem Lenkrad nieder. Ohne sich vorher umzusehen, wendete er aus der Parklücke und brauste über dem Parkplatz auf die Hauptstraße.
Sein Fahrstil war nicht weniger frivol als der von Rennfahrern. Wie war das? Er hinge an seinem Leben? Davon bemerkte ich jetzt aber nicht besonders viel. Ich kam mir vor wie auf einer Verfolgungsjagd in diversen CSI-Serien. Wir waren dann wohl die Kriminellen auf Flucht. Jeldrik warf mir einen flüchtigen Blick zu und grinste mokant.
„Das hilft dir in diesem Falle auch nicht mehr.“
„Wie bitte?“
Er nickte zu meiner Seitentür. Meine Finger hatten sich fest in den lederüberzogenen Türgriff gekrallt. Sie hinterließen sogar geringzeitig kleine Dellen, an der Stehle an die ich sie gepresst hatte, als ich trotzig meine Finger davon löste. Resigniert hob ich die Schultern.
„Mein Überlebensinstinkt geht wohl davon aus“, murmelte ich. Er ließ ein keckes „Tz“ verlauten und lachte anschließend süffisant auf.
Doch er dachte nicht daran, seine Geschwindigkeit zu drosseln. Häuser, Schilder und was sich sonst noch so alles auf den Straßen tummelte rauschten in zu hoher Geschwindigkeit an uns vorbei – was meine Panik nicht unbedingt geringer fügte.
„Warum hältst du dich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung? Wir sind in einer Wohnsiedlung, weißt du?“, fragte ich nach ein paar Minuten sarkastisch. „Psychos wie du sind die Ursache für zahlreiche Crashs.“
Jeldrik zuckte ungeniert die Schultern. „Psychos wie ich sind mit Grund, dass dein Vater seinen Job machen kann.“
Ich wollte schon kontern, aber just im nächsten Moment fiel mir etwas auf, was mich ihn verwirrt anblinzeln ließ.
„Woher weißt du, dass mein Vater Arzt ist?“, machte ich meiner Verwunderung Luft.
Jeldrik grinste unmerklich, doch sein Blick blieb auf der Straße.
„Ich denke so ziemlich jeder weiß, dass du die Tochter von Dr. Ethan Travis bist – die Stadt ist gesprächig. Außerdem ist sein Assistent ein enger Bekannter von mir.“ Er zuckte erneut mit den Schultern. „Bin ihm schon das ein oder andere Mal begegnet.“
„Du kennst Riley?“, fragte ich baff. Riley Dakoté war seit einigen Jahren der Arztassistent meines Vaters. Hin und wieder aß er bei meinem Vater und mir nach der Schicht zu Abend – was nicht oft der Fall war, da ihre Schichten meistens erst nach Mitternacht endeten, wenn ich für gewöhnlich schon schlief. Ich kannte ihn eigentlich ziemlich gut. Er war noch ziemlich jung und ich konnte mich wunderbar mit ihm unterhalten. Besonders seine sarkastische Art, die er des Öfteren zu Tage legte, war mir sympathisch. Man konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass jemand wie er ‚engen’ Kontakt zu jemandem wie Jeldrik pflegte.
Jeldrik runzelte die Stirn und sah nun doch kurz von der Straße zu mir auf.
„Ja, wir waren zusa-…“, er räusperte sich und ließ den Satz unbeendet. „Ich kenne ihn sehr gut, ja.“
Wir waren zusammen? Wollte er das sagen? Hust. Oh Gott! Und Riley?! Nie im Leben hatte mich etwas vermuten lassen, dass er nicht hetero sein könnte. Im Gegenteil. Ich hatte ihn schon öfter dabei beobachtet, wie er eine der Krankenschwestern – soweit ich mich erinnern konnte hieß sie Ariana – begutachtet hatte, als wäre sie ein Pferd im Rennstall. Unmöglich, dass sie sein Geschmachte nie bemerkte, aber reagieren tat sie trotzdem nicht.
„Was ist?“, wollte Jeldrik wissen, der mein Schweigen wohl bemerkt hatte.
„Nichts“, piepste ich.
Eine ungläubige Falte bildete sich zwischen seinen schmalen Augenbrauen. Wir standen vor einer roten Ampel und er hatte tragischerweise auch noch die Gelegenheit mich mit einem fragenden Blick zu taxieren.
„Ich…na ja“, stammelte ich. „Ich wusste nicht, dass du… also… dass du… schwul… bist.“
Stille. Seine Augen weiteten sich für eine Sekunde und er starrte mich eine Weile einfach nur an.
Erst als hinter uns ein ungeduldiges Hupen ertönte und ich ein „Grün“ heraus brachte, brach er sein Schweigen.
Schallendes Gelächter füllte den gesamten Innensektor meines Wagens. Er hatte seinen Blick nun wieder zur Straße gerichtet, schaltete in den nächsten Gang und fuhr immer noch vor sich hin glucksend an.
Ich konnte ihn einfach nur verblüfft anstarren und nicht vermeiden, dass mein Gesicht roter wurde als eine Tomate es je sein könnte.
„Du glaubst also…“, weiteres Gelächter seinerseits. „Du glaubst also wirklich, dass ich… ‚schwul’ bin? Wie um alles in der Welt kommst du denn auf den Schwachsinn?“
Peinlich berührt zuckte ich die Schultern. Er zog seine Augenbrauen so weit nach oben, wie es seine Sehnen zuließen und verfiel wieder in seinen Lachkrampf. Langsam machte mir sein nicht mehr enden wollendes Gebrülle Angst. Bekam er überhaupt noch Luft?
„Du wolltest doch“, fing ich vorsichtig an, „sagen, dass du mit ihm… zusammen warst?“ Irgendwie kam es als Frage über meine Lippen und nicht wie geplant als handfester Satz.
Immer noch vor sich hin quiekend schüttelte er kaum merklich den Kopf.
Mehr Antwort durfte ich wahrscheinlich nicht weiter erwarten. Und so war es auch. Er gluckste nur noch eine ganze Weile vor sich hin.
„Hier musst du jetzt abbiegen“, wies ich ihm an, als wir inzwischen bei der letzten Abzweigung zu meiner Straße ankamen und er sich glücklicherweise wieder beruhigt hatte. Wahrscheinlich wäre das aber nicht einmal nötig gewesen. Immerhin war er den ganzen Weg über ohne meine Anweisungen zu Recht gekommen – weiß der Geier, woher er wusste, wo ich wohnte. Und ich wollte es auch nicht weiter wissen. Vermutlich würde ich sowieso keine Antwort erhalten.
Jeldrik bog wortlos in meine allseits geliebte fliederumsäumte Straße und machte ohne weitere Fragen vor meinem Haus Halt.
„Wo soll ich ihn abstellen?“, fragte er und nickte mit dem Kopf zur Motorhaube.
„Wie kommst du eigentlich nach Hause?“, wollte ich wissen und ließ seine Frage unbeantwortet – das würde ich später schon selbst erledigen.
Jeldrik ließ seine Schultern auf und ab sinken. „Ich lass mich abholen oder so.“
Ich legte die Stirn in Falten. „Haben doch grad alle Schule, oder?“
Er wedelte bestreitend mit der Hand. „Ich hab noch andere Möglichkeiten außer Phelim, Eve.“
Diskret nickte ich und wies ihm dann doch an, den Wagen auf der Auffahrt vor unserer Garage zu parken, welche sich gleich ans Haus schloss.
Nachdem Jeldrik getan hatte wie ihm geheißen, war ich auf direktem Wege zur Haustür gegangen. Ich war schon dabei die Türe aufzuschließen, als sich Jeldrik hinter mir räusperte.
„Was?“, fragte ich verwundert, drehte jedoch unbeirrt weiter im Schloss.
„Hast du nicht was vergessen?“
„Nicht das ich wüsste“, nun ließ ich doch vom Schlüssel ab und drehte mich zu ihm um. „Tschüss?“, piepste ich dann, weil ich ihn so nah eigentlich nicht erwartet hatte. Jeldrik verzog das Gesicht und trat einen Schritt zurück. Aus unerklärlichen Gründen verärgerte mich das und das bekam er auch augenblicklich zu spüren.
„Erwartest du eine Bezahlung oder so?“, fragte ich und das kam gehässiger über meine Lippen als geplant.
„Ja… Nein. Nicht direkt. Ich erwarte nur deinen Dank.“
Bei aller Förmlichkeit, mir widerstrebte es ihm zu ‚danken’. Immerhin hatte ich ihn nicht gebeten, mich wie ein Kleinkind nach Hause zu verfrachten.
Seine Augen blitzten erwartungsvoll unter seinem Haarvorhang auf. Er taxierte mich mit jenem Blick, von dem ich genau wusste, dass ich ihn hassen würde.
Ohne meinen Blick von ihm zu wenden – auch deshalb, weil ich es gar nicht erst konnte – tastete ich nach dem Türgriff der Haustür hinter mir.
Jeldrik bewegte sich nicht, einzig eine Augenbraue zuckte sekundär nach oben.
Im selben Moment, in dem ich den Türgriff erfasste, nahm er seinen Blick von mir und ich Gans ergriff dies als Chance und verschwand augenblicklich hinter der Tür im Hausinneren.
Ich lehnte meinen Kopf gegen die Tür und atmete einmal tief durch, ehe ich mir mit voller Wucht die Hand vor den Kopf schlug, wie es auch vorhin im Wagen meinem Gefühl entsprochen hatte. Nun stand er vermutlich völlig verdutzt vor meiner Haustür und musste sich weiß Gott was über mich denken. Wer ließ einen schon nach einer berechtigten Dankesanforderung auch einfach stehen? Abgesehen von mir dummen Gans?! Aber wer forderte auch schon so direkt Dank an? Ich schüttelte verwirrt über uns ‚beide’ den Kopf.
Seufzend drückte ich den Türgriff wieder nach unten, trat auf den Boden blickend nach draußen und wollte zu einem argwöhnischen Danke ansetzten, aber da war niemand mehr, dem ich meinen Dank hätte aussprechen können.
Ein Windhauch blies mir meine tiefschwarzen gelockten Haare ins Gesicht und vor mir auf dem Boden eine gräuliche Feder in die Höhe. Umständlich strich ich mir meine Haarsträhnen hinters Ohr und hob die Feder vom Boden, die sacht wieder auf den Grund geglitten war. Sie war grober als ich es erwartet hatte. Ihre einzelnen Äste bogen sich nicht auf meiner unebenen Handfläche sondern behielten stur ihre Form. Sie war auch längst nicht so weich, wie man es von Federn gewohnt war. Rau rieb sie über meine Haut, als ich sie zwischen zwei Fingerspitzen nahm und damit ins Haus verschwand.
Der Anrufbeantworter blinkte rot auf, als ich den Korridor unseres Hauses betrat.
„Sie haben ‚eine’ neue Nachricht“, ertönte die roboterhafte Frauenstimme, sobald ich den Abhörknopf gedrückt hatte. Anschließend ertönte eine sehr vertraute Stimme – die meines Vaters.
„Hallo Spätzchen“, Papier raschelte im Hintergrund. „Mir ist wieder eingefallen, wo ich die Unterlagen von Gabriella McGurdian hingetan haben könnte. Wärst du so lieb und würdest sie mir in die Praxis bringen? Ich glaube…“, wieder raschelte Papier. „Also, sie müssten irgendwo im Wohnzimmer liegen… Bis spätestens 17.00 Uhr brauch ich sie.“
Irgendwo. Das Wohnzimmer war der größte Raum im Haus und ausgerechnet dort lässt er ‚irgendwo’ seinen Kram liegen. Seufzend ließ ich die Feder auf der Kommode liegen und schlenderte ins Wohnzimmer.
Der Raum war in einem hellen Jadegrün gestrichen. Einzelne Kunstwerke von irgendwelchen Landschaften zierten zusätzlich die Wand. Ein weißes Ledersofa, an dem meine Mutter sehr gehangen hatte und mittlerweile auch ich, stand mitten im Raum auf edlem Dunkelholzboden und an der gegenüberliegenden Wand hing Dads Prachtstück – ein Plasmafernseher. Der gläserne Couchtisch war auf einem scheußlichen Teppich aus Bärenfell platziert. Ich hatte schon mehrmals versucht meinen Vater davon zu überzeugen, das verratzte Ding endlich zu entsorgen, aber vergebens. Aus unerklärlichen Gründen fand er das Stück schrecklich antik und meinte so etwas würde unserem Wohnzimmer fehlen. Seufz.
Da auf dem Glastisch außer einer Schale mit Obst und einer Tageszeitung von letzter Woche – mein Dad kam nie dazu nur Eine zu lesen und dennoch besorgte er sich hin und wieder eine Aktuelle – nichts lag, beschloss ich in dem Korb neben der Couch zu wühlen in dem sich weitere diverse Zeitungen befanden.
Abgesehen von Automobil-, Fernseh-, Fashion- und Heilpflanzenmagazinen, einem dicken Wälzer mit der Aufschrift „How to be a Doctor“ – ich kicherte – und, hoppla, meinem alten Tagebuch fand ich nichts, dass einer Patientenakte nur ansatzweise ähnelte.
Ich sah mich noch einmal gründlich im Raum um, ehe den Korb ein zweites Mal durchstöberte und die Akte, naja viel mehr das einzelne Aktenblatt dieses Gabriella, doch fand. Ich funkte kurz Riley an, damit er es mir abnahm und machte mich dann auf den Weg zum Krankhaus.


Riley wartete bereits an der Information auf mich. Er unterhielt sich gerade mit einer brünetten Schönheit – seine heiß begehrte Krankenschwester Ariana – die hinter dem Tresen stand und immer wieder an einer Tasse nippte. Riley schien sich in diesem Gebäude, das hauptsächlich von weiss regiert wurde äußerst wohl zu fühlen.
Ich hingegen war froh, Krankenhäuser soweit es ging meiden zu können. Hier roch es ständig nach Krankheit, Menschen in weissen Kitteln wuselten wie Ameisen gehetzt durch die Gänge und lächeln sah man hier kaum jemanden. Ja, Krankenhäuser deprimierten mich.
Ich räusperte mich mehrmals, um Riley aus seinem Flirtfieber zubekommen. Er war mächtig beschäftigt damit, auf alles – und mochte es noch so unlustig sein – los zu kichern, was Ariana sagte. Es tat mir fast Leid, Riley unterbrechen zu müssen, schließlich schien das heute so etwas wie eine Premiere zu sein, da Ariana ihm endlich Beachtung schenkte. Aber ich hatte es eilig diese muffige Krankenunterkunft so schnell wie möglich wieder verlassen zu können.
Beim dritten Räuspern gab ich es auf und stach ihm grob in die Seite. Wer nicht hören will, muss fühlen.
Riley zuckte kurz auf und sah mich dann verwirrt an.
„Ah, Lin. Da bist du ja endlich“, meinte er dann lächelnd.
„Ja, seit knapp 10 Minuten“, murrte ich genervt. Im Ernst. Es waren gefühlte 10 Minuten.
Riley lachte übertrieben amüsiert auf und tätschelte mir wie einem Kleinkind den Kopf. Demonstrativ wich ich einen Schritt zurück und funkelte ihn böse an.
Bei aller Liebe, an meinen Haaren wuschelt niemand rum.
„Hat dir mein Vater aufgetragen, mir zu zeigen, wie man mit Ariana flirtet oder mir etwas entgegen zu nehmen?“, fragte ich dann skrupellos und setzte ein hämisches Lächeln auf.
Rileys Lachen verstummte und er beäugte mich mit demselben giftigen Blick, den ich ihm gerade gesandt hatte, wie ich zufrieden feststellte.
Ariana lächelte mich entschuldigend an, pustete noch kurz über ihre Tasse und verschwand dann hinter einer Tür, die sich neben dem Tresen befand. Ich meinte zu sehen, dass sie rot wurde.
Riley sah ihr bedauernd nach, ehe er mich wieder grimmig anfunkelte.
Ungerührt zuckte ich die Schultern und Riley quittierte es mit einem säuerlichen Schnauben.
„Also, Linchen. Die Unterlagen?“, fragte er auffordernd und streckte mir seine Hand entgegen.
Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, die Blätter irgendwo ordentlich einzuordnen sondern einfach lose transportiert. Riley nahm sie mir forsch aus der Hand und studierte jedes einzelne Blatt mit konzentrierter Miene.
„Ja… Das dürften sie sein“, meinte er dann nach geringer Zeit und lächelte mich freundlich an, während er eine seiner braunen Locken nach hinten strich. Meinem Erachten nach waren sie mal wieder viel zu lang, aber Riley schien wohl der Ansicht zu sein, dass man als Arztassistent keine ordentliche Frisur brauchte. So hingen ihm all seine Locken schlaff am Kopf bis zum Ohrläppchen herab.
„Warum bist du eigentlich nicht in der Schule?“, fragte er nachdenklich.
„Hatte Kopfschmerzen“, meinte ich brüsk.
Riley runzelte die Stirn. „Und jetzt nicht mehr?“
Prüfend tat ich es ihm gleich. Normalerweise müsste mein Kopf beim Verziehen der Stirn protestieren, aber nichts dergleichen geschah. Mir war gar nicht aufgefallen, dass sich meine Kopfschmerzen wohl in Luft aufgelöst hatten. Das letzte unangenehme Regen hatte ich auf der Bank im Schulhof verspürt…
Ich schüttelte entschieden den Kopf.
Riley grinste breit und boxte mir freundschaftlich in den Arm. „Akute Unlust, verstehe.“
Ich verdrehte die Augen und schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Musst du nicht irgendwie arbeiten oder so?“, fragte ich betont genervt.
Rileys Grinsen wurde noch breiter. Dass das überhaupt ging?
„Doch, doch. Genau. Danke. Ich wusste ich verplan grad irgendwas“, meinte er sarkastisch und tätschelte mir noch provokant den Kopf.
„Bis die Tage, Linchen.“ Und schon lief er mit zügigen Schritten zum nächsten Fahrstuhl. Zu seinem Glück hatte sich gerade in diesem Augenblick einer aufgetan.
Ich sah ihm noch nach, winkte und wartete bis sich der Fahrstuhl wieder geschlossen hatte. Dann machte ich kehrt und lief durch die elektrischen Schiebetüren ins Freie.

Kapitel 4 - Das mit dem Albtraum



Die Luft war ekelhaft stickig und kroch kratzend seine Lungen hinab. Er befand sich in einer der Sitznischen, noch immer an seinem ersten Martini nippend. Nur mit Widerwillen zwang er sich gelegentlich einen Schluck zu nehmen. Wenn die blonde Frau am gegenüberliegenden Stehtisch nicht permanent seinen Blick suchen würde, wäre der Martini schon längst in einem der naheliegenden Blumentöpfen gelandet, aus denen gigantische Palmen ragten. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis die Blondinne an genug Cocktails gezogen hatte und selbstbewusst zu ihm hinüber kommen würde. Er lächelte sie verspielt an, als sie ihm erneut einen Blick zu warf und betont langsam ihren Strohhalm zum Mund führte. Die Menschen waren einfach so berechnend. Es brauchte nicht viel, um sie in ihren Bann zu ziehen. Ein, zwei verwegene Blicke und eine virile Haltung genügten, um den Großteil der Frauen des Clubs auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen und den männlichen Anteil gegen sich aufzubringen. Genüsslich leckte sie sich über die Lippen und er konnte sie im dämmrigen Licht der Schwarzlichter glänzen sehen. Verführerisch legte sie den Kopf schief und fingerte an einer ihrer Haarsträhnen herum, während ihre Augen unter dem dunklen Wimperngranz lustvoll funkelten. Nicht zum ersten Mal bekam er solch einen Anblick geboten. Die typische weibliche Betörungskunst eben. Er wandte unbeeindruckt den Kopf ab und nahm einen kräftigen Schluck Martini, wobei es auch sein letzter war. Er hatte kleine Mühen, nicht das Gesicht vor Ekel zu verziehen, als ihm das nach Galle schmeckende Getränk die Kehle hinunter lief.
„Hey“, raunte plötzlich eine Stimme nah an seinem Ohr.
Berechnend, ging es ihm erneut durch den Kopf und lächelte halbherzig bevor er gelassen den Kopf in Richtung Geräuschquelle drehte. Neben ihm hatte sich die Blondinne platziert und legte gerade leicht ihren Kopf auf ihre Handoberfläche auf. In der anderen Hand schwenkte sie ihren halbvollen Cocktail. Ihm entging nicht, dass der Ausschnitt ihres dunkelblauen Cocktailkleides inzwischen zwei Zentimeter tiefer lag als wie er es vor wenigen Minuten noch getan hatte. Er grinste höhnisch und ließ den Blick zu ihrem Gesicht schweifen. Sie spitze bezirzend die rotbemalten Lippen und ihr rechter Mundwinkel zog sich leicht nach oben. „Allein hier?“, fragte sie, darauf bedacht ihrer Stimme eine rauchige Note zu verleihen. Ihre Augen blitzen kurz auf, als er nicht sofort zur Antwort ansetzte. „Sieht ganz so aus“, antwortete er und drehte seinen Oberkörper in ihre Richtung. Sie lächelte selig, nahm den letzten Schluck ihres Cocktails und tat es ihm gleich. Wobei sie fast unmerklich ihre Brust etwas herausstreckte und ihm ihre üppige Oberweite zur Show stellte. Ein durchaus reizender Anblick und jeder normale Mann wäre drauf angesprungen, aber er fand anderes Interesse an ihr. Sorgsam stellte sie ihr Glas ab und legte den Ellenbogen auf die Rückenlehne, wodurch sie problemlos seine Schulter mit ihrer Hand erreichen konnte. Nur ganz sanft strich sie mit den Fingern seinen Arm auf und ab. „Lust zu tanzen?“, fragte sie leise und griff mit der anderen Hand nach seiner. Er zögerte kurz. Eigentlich wollte er keine Zeit mehr verschwenden.
Sanft entzog er ihr seine Hand wieder. „Ich wollte eigentlich gerade aufbrechen. Aber du kannst mich gerne begleiten.“
Sie biss sich kurz auf die Unterlippe, als müsse sie sich darüber besannen und nickte dann kurz. Lächerlich, dachte er, ich konnte deine Begeisterung vom ersten Moment an riechen.
Er zahlte noch eben seinen Martini und die sechs Drinks der fremden Blondinne. Respekt, sie schien für ihre schmächtige Figur ganz schön was zu vertragen. Gewiss war ihr der Alkohol schon anzumerken, aber es hielt sich in Maßen. Da hatte er schon andere Fälle erlebt.
Er bekam gerade sein Wechselgeld zurück, als sie ihm über den Rücken strich, ihm zu hauchte, dass sie sich noch kurz verabschieden wolle und ging mit zügigen Schritten zu dem Stehtisch, von dem aus sie ihn zuvor angeschmachtet hatte.
Er lehnte sich an die Bar und schloss die Augen. Es fiel ihm nicht schwer, die dröhnende Musik und das Getuschel und Gekreische der umliegenden Menschen auszuschalten und allein auf die Dinge zu lauschen, die ihn interessierten.
„Mit dem da willst du einfach weg, Lisanne?“, hörte er eine besorgte Frauenstimme zu seiner Blondinne sagen. Lisanne hieß sie also. Nette Information.
„Ja! Ist er nicht der Wahnsinn?“, die Blondinne bemerkte nicht einmal den argwöhnischen Unterton ihrer Freundin. Er verdrehte die Augen. Mit was für einem naiven Ding hatte er es denn hier zu tun?
„Und du bist sicher, dass das nicht irgend so ein Perversling ist?“, mischte sich eine Männerstimme ein. Lisanne schnaubte. Auch er stöhnte genervt und ging direkt auf das Grüppchen zu.
Als wäre es selbstverständlich, legte er ihr den Arm um die schmale Taille und fragte für jeden hörbar: „Bist du soweit? Meine Limousine steht bereit.“
Aus dem Augenwinkel sah er zufriedenstellend wie sich die Augen ihrer Freunde weiteten und roch wie ihr Argwohn der Bewunderung wich. Er lächelte zufrieden und sah in das Gesicht von Lisanne. Auch sie sah ihn mit großen, grünen Augen an und stotterte ein leises ‚Ja‘.


„Das ist doch keine Limousine“, sagte Lisanne wenig später enttäuscht, als sich sein Wagen mit einem kurzen Blinken aufschloss.
Er zuckte die Schultern. „Nein, ich habe es nur eilig. War eben das erste was mir einfiel, um dich von deinen Freunden loszureißen.“
Schweigend öffnete er ihr die Tür zur Rückbank seines Wagens. Sie verzog den Mund und nickte dann jedoch kommentarlos, ehe sie einstieg. Er tat es ihr gleich.
Lisanne verschwendete keine Zeit. Er hatte den nach Honig duftenden Geruch ihrer Erregung zwar wahrgenommen, aber nicht damit gerechnet, dass sie so schnell die Initiative ergriff. Kaum, dass er die Seitentür zugezogen hatte, schwang sie sich auf seinen Schoß und machte sich daran, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, während sie seinen Hals mit Küssen liebkoste. Für einen kurzen Moment war er noch wie benommen. Dann jedoch legte er seine Hände an ihre Hüften und grub die Finger in den Stoff ihres Kleides, während er sich einzig auf ihren Duft konzentrierte. Doch sie machte es ihm nicht ganz leicht, sich zu konzentrieren. Ihre Finger wanderten bereits über seine nackte Brust und glitten irgendwann gefährlich nah an seine Gürtellinie. Hey, irgendwo war er eben auch nur ein Mann. Außerdem erschwerte ihr ständiger Wechsel von seiner linken Halsseite zur rechten, das Einfangen des Geruches ihrer Energie. Mit einem frustrierten Seufzen, das in ihren Ohren wohl eher wohlig klang, legte er ihr die Hand unters Kinn und führte ihren leicht geöffneten Mund direkt vor seinen. Ihr Atem war schon ganz zittrig vor Erregung und vernebelte ihm die Sinne. Zu köstlich schmeckte ihr kraftvoller Atem auf seiner Zunge. Genussvoll nahm er ihr einen tiefen Atemzug, wodurch ihr Atem kurz ins Stocken geriet, doch sie war zu sehr mit ihren lüsternen Gefühlen beschäftigt, als dass sie dies irgendeiner Unnatürlichkeit zuschrieb. Lisanne nahm eine Hand von seiner Brust und legte sie ihm in den Nacken. Immer wieder fand ihr stoßweise kommender Atem den Weg in seine Lungen und reizte ihn mit dem Versprechen von mehr Energie. Er konnte einfach nicht anders und drängte ihr fordernd die Lippen auf. Aber nicht diese Ebene von fordernd, auf der sie sie glaubte. Es sehnte ihn nach ihrer Lebensenergie, ihrem Atem und nicht nach ihrer bedingungslosen Hingabe. Ohne, dass sie sich ihm wieder entziehen können hätte, sog er kontinuierlich und begierig ihr die Luft aus den Lungen. Sein Körper bebte und prickelte vor neuerrungener Kraft. Völlig in dem Rausch ihrer Energie gefangen, bemerkte er nicht einmal wie sich Lisannes Finger krümmten und in seine Haut bohrten. Auch, dass sie sich mit aller Macht gegen ihn wehrte, registrierte er nicht. In seinen Ohren rauschte sein Blut unaufhörlich, das ihre Energie in ihm zur Wallung gebracht hatte. Jede einzelne Sehne, jeder Muskel erfüllte sich mit neuer Kraft und war alles, was er zu seinem inneren Seelenfrieden für diese Nacht brauchte. In seinen Armen ließ Lisannes Widerstand langsam nach. Sie wurde schwach und ihre Lebensenergie schmeckte nicht mehr halb so süß, wie sie es vor wenigen Minuten noch getan hatte. Lisanne verlor das Bewusstsein und er löste seine Lippen von ihren.


In dieser Nacht erwachte ich keuchend und mit feuchter Stirn aus einem Albtraum: Christi und Jeldrik standen gemächlich im Schulflur, Christi lehnte an einem der Spinde. Jeldrik hatte seine Hände links und rechts von ihrem Kopf abgestützt. Sie sagte etwas, worauf hin Jeldrik lüstern grinste. Er sah sich um. Der Flur war leer. Außer mir und den Beiden war keiner hier. Doch Jeldrik schien mich gar nicht zu bemerken. Er sah durch mich hindurch. Sein Lächeln wurde breiter. Doch diesmal war es nicht mehr lüstern, viel mehr… siegessicher und bitter. Christis Züge erstarrten als Jeldrik sanft mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht strich. Dann ging alles ganz rasch. Unerwartet schnellte Jeldriks Hand nach hinten. Aus seinen Fingern fuhren lange Krallen, vielmehr sahen sie aus wie fünf kleine Sicheln. Ruckartig schlugen sie nach vorn unmittelbar in Christis Visage. Ich sah noch, dass sich Christi aus ihrer Bewegungslosigkeit befreite und verwirrt und zugleich schockiert auf ihre Todeswaffe starrte, ehe ich erwachte und mich im Bett aufsetzte.
Die Luft entfloh stoßweise aus meiner Lunge und ich hatte plötzlich wahnsinnige Kopfschmerzen. Ich zog die Beine an, lehnte meine Ellenbogen auf die Knie und legte meinen Kopf in meine Hände. Immer wieder überkam mich ein Schüttelfrost, als ich mir ausmalte, wie der Traum geendet hätte... Erst als ich mich nach einiger Zeit gesammelt hatte, bemerkte ich, dass mein Fenster offen stand. Seltsam… Ich konnte mich nicht erinnern es geöffnet zu haben. Ungeschickt strampelte ich meine Decke von mir und kletterte aus dem Bett. Wahrscheinlich war mein Vater nach der Arbeit ins Zimmer gekommen und schlussfolgerte auf Grund meiner Perlen auf der Stirn, dass ich es als zu warm im Raum empfand. Es war nicht weiter wichtig.
In dem riesigen Medikamentenauswahlschrank in der Küche holte ich mir noch eine Paracetamol gegen die Kopfschmerzen, ehe ich wieder ins Bett krabbelte und wieder im Reich der Träume versank – hoffend auf Angenehmere.

Die Sonne strahlte in ihrer vollen Pracht und schien mir grell ins Gesicht. Mist, verdammter. Wo hatte man die Sonnenbrille, wenn man sie brauchte? Richtig. Im Handschuhfach seines Wagens. Langsam krochen mir die Schweißperlen aus den Poren, während Kylie neben mir völlig im Gleichgewicht und mit besser sitzendem Makeup als das eines jeden Promis nebenher joggte. Richtig. Coach Woober hetzte uns gerade wie ein Irrer um den Sportplatz. Hut ab für seine Kondition und das mit Mitte fünfzig. Könnte mir ruhig etwas davon abgegeben, bei mir schien die Ausdauer irgendwie flöten gegangen zu sein oder so. Oder Kylie hatte sie mir geliehen. Und dabei meine ich das ‚Geliehen‘, was sie darunter versteht – nämlich unfreiwilliges Schenken. Ich hasste Sport. Es gab einfach keine andere Tätigkeit, die mich mit mehr Blamagen beglückte.
Coach Woober lief uns allen voran, ab und an drehte er sich um, um sicher zu gehen, dass sich zwischen seiner Herde kein Kaugummi bildete. Aber ich forderte ihn immer wieder heraus und so kam es zum dritten Mal in dieser Stunde dazu, dass der Coach meine athletischen Fähigkeiten bemängelte. „Mädchen, du sollst joggen und nicht gehen. Und Sie, Miss Ryan, passen Sie sich nicht dem Tempo Ihrer Freundin an. Es sei denn, Sie möchten auch den Eindruck einer Schildkröte erwecken.“
Die Gruppe vor mir kicherte. Ich verdrehte die Augen und verdrückte mir einen gehässigen Kommentar. Kaum dass Woober sich entschlossen hatte sich wieder umzudrehen, blieb ich stehen und stemmte eine Hand in die Hüfte. Seitenstechen ahoi. Ich verzog das Gesicht zu einer Maske, die mehr als deutlich machte wie unzufrieden ich momentan war. Kylie joggte auf der Stelle und sah mich mit ihren großen schokoladenbraunen Augen erwartungsvoll an.

„Kylie, du…“, ich musste Luft holen, „du kannst auch ohne mich weiter laufen. Vermassle dir wegen mir nicht die Note.“
Kylie zuckte nachlässig die Schultern. „Das hol ich bei Volleyball wieder auf.“
Ich verdrehte die Augen. Das wenn ich nur auch könnte.
Woobers Herde war uns bereits mindestens 300 Meter voraus und zu meinem Glück hielt der Coach es wohl nicht mehr für nötig seine Gruppe zu überprüfen. Ich blinzelte gefrustet in die Sonne und strich mir eine Haarsträhne, die von Schweiß getränkt schon ganz klebrig war, aus der Stirn.
„Gehen wir duschen“, meinte Kylie dann und warf wie auch ich noch einen kritischen Blick zum Coach. Sie war mittlerweile zum Stillstand gekommen und wartete mit verschränkten Armen darauf, dass meine Atmung wieder einen einigermaßen normalen Rhythmus annahm. Ich nickte heftig und kürte gedanklich Kylies Worte zum Vorschlag des Tages.
„Das gibt’s doch nicht!“, schimpfte ich und rüttelte mit aller mir gebliebenen Kraft an den Türen jeder einzelner Duschkabine. Als ich einsah, dass selbst die letzte nach dem vierten Versuch nicht aufschwang, kickte ich wütend gegen die Tür und gab ein genervtes Murren von mir. Da waren doch tatsächlich alle Duschkabinen verschlossen. Ich fuhr mir unstet durch mein Haar, das sowieso schon total verstrubbelt war und sah Kylie fragend an.
„Und jetzt?“
Kylie verschränkte die Arme unter ihrer üppigen Brust und spitze die rosaroten Lippen.
„Ich hätte da schon einen Vorschlag“, begann sie nach kurzer Überlegung und sah mich skeptisch an. „aber ich denke, dass davon nicht so begeistert wärst.“
Nun verschränkte auch ich die Arme und zog eine Augenbraue empor. „Warum sollte ich? Spuck ´s schon aus, Kylie!“
„Wir könnten bei den Herrenkabinen nachsehen“, sie zuckte stoisch die Schultern. „Die haben jetzt eh noch alle gute zwanzig Minuten nichts Besseres zu tun als Coach Woobers Anweisungen nachzugehen.“
„Worauf warten wir dann noch?“, meinte ich lethargisch, mir nicht anmerken lassend, dass ich tatsächlich etwas von diesem Gedanken abgeneigt war. Ohne Kylies kleingläubigen Blick zu beachten, schnappte ich mir Handtuch und Kulturbeutel, die ich vor meiner Duschkabinendemolierung aufs Waschbecken gelegt hatte, und machte mich auf den Weg zur Herrenumkleide. Kylie stand noch einige Sekunden mir abtrünnig nachsehend vor den Duschkabinen, aber es dauerte nicht lang bis ich ihre Schritte hinter mir hörte.
Gefällig spürte ich, wie das kalte Wasser jede Phaser meiner überhitzten Haut abkühlte. Ich rieb mir mehrmals übers Gesicht und wurde glücklicher Zeuge wie der überflüssige Schweiß abgespült wurde. In diesem Moment hatte ich wirklich das Bedürfnis, die Duschkabine vorerst nicht mehr zu verlassen. Die kalte Dusche war eine erwünschte Abwechslung zu dem saunaähnlichen Wetter, das in Chestertown weilte. Aber wie immer konnte man sich sein Schicksal nicht aussuchen. Wenn ich also in den nächsten Minuten nicht nur im Handtuch bekleidet von einer Herde grölender, junger Männer entdeckt werden wollte, wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, in dem ich die Duschbrause abdrehen und zügig zurück in die Damenumkleiden eilen sollte. Die letzten prasselnden Tropfen genießend, drehte ich blind das Wasser ab und wickelte mir anschließend das Handtuch um den Körper.
„Und? Triffst du dich heute Nachmittag noch mit ihm?“
Ich zog gerade die Tür zur Mädchenumkleide hinter mir zu, als ich die piepsige Stimme von Nadine, einer von Christis Hofdamen, aus der anderen Seite der hölzernen Trennwand vernahm. Die arme Kylie. Jetzt tat es mir wirklich leid, dass ich mir beim Duschen so viel Zeit gelassen hatte und sie sich nun von Nadine bequatschen lassen musste. Aber von welchem ‚ihm‘ sprach sie da denn bitte?
„Ich gehe davon aus“, perzipierte ich nun leider Gottes aus Christis Anwesenheit. Naja, wenigstens schien Kylie doch ihrer Ruhe gehabt zu haben.
Das Handtuch fest um die Brust gewickelt trat ich in ihr Sichtfeld und bemühte mich, ihnen keinen Blick zuzuwerfen. Auf deren abschätzige Blicke konnte ich gut und gerne verzichten. Einen kurzen Moment herrschte Stille, dann plapperten die Beiden jedoch kontinuierlich weiter. Kylie saß inzwischen wieder vollständig bekleidet einige Meter weiter hinten an die Spinte gelehnt auf dem Boden und las in einem Buch. Ich glaube, sie hatte mich noch nicht einmal bemerkt, als ich meinen Kulturbeutel neben ihr fallen ließ und aus dem Spint meine Klamotten fischte.
„Der war heute überhaupt nicht in der Schule, kann das sein?“, bohrte Nadine ihre herrische Freundin weiter.
„Nein. Sicher hat er verschlafen. Ich weiß jedenfalls nichts von…“, Christi legte eine kurze Pause ein. Verwirrt von ihrem plötzlichen Stopp, warf ich einen flüchtigen Blick in ihre Richtung. Wohl nicht flüchtig genug, denn Christi lächelte im gleichen Moment triumphierend in meine Richtung, ehe sie ihren Satz beendete. „…von Jeldrik.“
Ich biss die Zähne zusammen und fixierte einen Punkt auf der Spinttür, die ich fast im selben Moment zugeknallt hatte. Kylie war davon zusammen gezuckt und legte nun endlich ihr Buch zur Seite. Besagter ‚ihm‘ war also der gute Jeldrik. Natürlich.
„Vielleicht weil er die Schnauze voll von dir hat?“, meldete sich meine Beste spitz zu Wort und rappelte sich vom Boden auf. Ich hätte sie knutschen können. So unbeteiligt wie möglich löste ich meine Hand vom Spintgriff und schaute an Kylie vorbei in Richtung der beiden anderen Mädchen.
Christi gab mir wohl den heut schönsten Anblick, wie sie für einen Moment sprachlos die Augen zu Schlitzen verengte und wütend schnaubte. Ich glaubte Nadine neben ihr sogar leicht grinsen zu sehen, was dem Ganzen noch einen viel schöneren Eindruck verlieh.
„Davon hast du ja Ahnung, nicht Kylie? Du weißt wie sowas anfängt“, fand Christi die Sprache wieder und warf Kylie einen mindestens genau so wirkungsvollen Kommentar entgegen. Der tragischerweise auch noch ins Schwarze traf. Kylie war damals genüge auf die Schnauze gefallen, weil sie einfach eine unglaublich anhängliche Art an sich und somit sich einige Typen vergrault hatte. Damals, heute war es eher umgekehrt. Aber die Tatsache, dass sie manche der Schüler immer noch als klammernde Furie abstempelten, machte ihr schwer zu schaffen.
Christi grinste noch einmal, sich ihres Sieges sicher, tippte Nadine an und sie verließen den Raum. Im selben Moment klingelte es zur Pause und die ersten Mädchen aus unserem Jahrgang stürmten die Umkleide.
„Ich verzieh mich mal in die Toiletten“, murmelte ich und drückte mich mit Jeans und Top unter dem Arm geklemmt an der böse dreinschauenden Kylie vorbei.


Keine viertel Stunde später saß Kylie wutentbrannt neben mir auf dem Beifahrerplatz meines Alphas und bearbeitete geflissentlich mit ihren Fingernägeln den kunstlederbezogenen Sitz.
Tyler, der auf der Rückbank saß, beobachtete Kylies Treiben, während ein mokantes Lächeln stets seine Lippen umspielte. Ich war zu sehr damit beschäftigt die Klimaanlage auf Hochtouren zu bringen, um die ekelhaft schwüle Hitze im Wagen zu vertreiben, die mir ungemein das Atmen erschwerte.
„Sag mal, Kylie, was versuchst du damit zu erreichen, Lins Ledersitze zu demolieren?“, fragte Tyler belustigt, als ich gerade die Hauptstraße einschlug.
Mich hätte es nicht gewundert, wenn Kylie anstatt eine Antwort zu geben Tyler nur unmenschlich angeknurrt hätte, aber zu meiner Überraschung ignorierte sie Tylers herausfordernden Kommentar und schnaubte. Tyler kicherte unverhohlen und lehnte sich tief in den Sitz zurück.
„Ein kleine Kollision mit unserer guten Christi“, klärte ich den feixenden Tyler in meinem Rücken auf und konnte nicht verhindern, dass sich auch über meine Lippen ein Lächeln schlich. Kylie kommentierte unser Gespräch nur mit einem weiteren Schnauben, so dass ich mir langsam Sorgen machte, sie fand das Ventil ihrer Wut nicht.
„Verstehe“, gluckste Tyler. „Aber hey, Mädels. Kommt ihr heute Abend eigentlich zur ‚Rising Summer‘-Fete?“
„Findet die nach eurer Niederlage überhaupt noch statt?“, schlug Kylie nun sich ihrer Wut beugend zurück. Jetzt war es an Tyler beleidigt vor sich hin zu murren.
Erwartungsgetreu hatten unsere wilden „Ice Fighters“, so nannte sich die Schulmannschaft, gestern beim Turnier kläglich versagt, wie ich mitbekommen hatte. Offensichtlich hatte unser Überflieger mit Namen Phelim etwas Besseres zu tun, als unserer Schule nach Jahren des Debakels einen Sieg einzuheimsen. Jedenfalls war er gestern irgendwann klangheimlich vom Turnier verschwunden, obwohl über die Hälfte der Schule auf sein Talent vertraut hatte. Mit Phelim verschwand auch die Hoffnung auf den Gewinn und ich war nicht die Einzige geblieben, die das Turnier frühzeitig verlassen hatte.
Wie dem auch sei. Heute Abend sollte am Chesapeake Bay an einem Strand nördlich von Rock Hall wieder unsere alljährliche ‚Rising Summer’-Fete stattfinden. Großzügig von der Schule finanziert. Dass sie dieses Jahr aufgrund des Turnieres etwas geringfügiger ausfiel, störte eigentlich keinen, bis auf die Schülerband, die nun für die Musik aufkommen musste.
„Also, ja“, murrte Tyler, nicht auf Kylies bissige Stichelei eingehend und verschränkte die Arme vor der Brust. Aus dem Augenwinkel sah ich Kylie selbstgefällig lächeln. Kylies Wut verflog langsam also wieder. „Da fällt mir ein…“, begann sie und sah mich an, „Lin, kannst du mir dieses eine dunkelrote Top leihen?“
Tyler seufzte nörglerisch und stopfte sich seine Kopfhörer, die er eigentlich so gut wie immer lässig um den Hals hängen ließ, in die Ohren, was wohl heißen sollte „Oh nein, Mädchengespräche“.
„Klar. Komm heute Abend einfach vorher vorbei“, sagte ich und machte vor einer roten Ampel Halt.
Kylie neben mir gab einen bedrückten Laut von sich und kratze sich anschließend am Kopf. „Also, um ehrlich zu sein… Ich komm erst etwas später. Kannst du mir es nicht einfach jetzt geben? Ich lauf dann von dir aus nach Hause.“
Ich ließ meine Finger vom Lenkrad gleiten und sah die sich noch immer unschuldig am Kopf kratzende Kylie an. „Und warum, wenn man fragen darf?“
„Naja“, begann sie zögerlich. „Phelim kommt auch erst -“
„Die Wadims kommen?“, unterbrach ich sie. Viel zu interessiert, wie ich leider feststellen musste.
„Ja. Von Phelim weiß ich jedenfalls. Deinen Jeldrik musst du schon selbst fragen.“
Ich verengte die Augen und ließ ihre Anspielung unkommentiert, darauf wartend, dass sie weiter redete.
„Phelim kommt jedenfalls erst gegen halb elf. Von daher brauchst du mich auch nicht früher zu erwarten“, fuhr sie grinsend fort und entließ endlich das Leder aus ihrer Gefangenschaft.
Ich schüttelte in gespielter Empörung den Kopf über Kylies Vorgehensweise.
Nachdem wir Tyler vor seiner Straße abgesetzt hatten, fuhren wir wie abgemacht zu mir nach Hause.
Wie es das Schicksal wollte, hatte sich im Korridor meines Hauses bereits von dem schwülen Wetter draußen eine Saunaatmosphäre verbreitet. Petrus musste mich hassen. Anders konnte es gar nicht sein. Stöhnend streifte ich mir die Schuhe von den Füßen und trottete mit der wieder bestens gelaunten Kylie in den ersten Stock, wo sich mein Zimmer befand.
Sie war ‚das’ Energiebündel schlecht hin. Was vielleicht auch ihre eins in Ausdauer erklärte, die ich absolut nicht nachvollziehen konnte. Ich war keine Niete in Sport, aber man konnte meine volle Aktivität einfach nicht länger als 10 Minuten beanspruchen.
„Oh, WOW. Ziehst du das heute an?“ Kylie war noch keine Minute in meinem Zimmer gestanden, da hatte sie sich schon auf meinen gut gefüllten Kleiderschrank gestürzt und machte sich daran, meine Ordnung in das reinste Desaster zu verwandeln. Sie wedelte mir mit einem rückenfreien grauen Top mit schwarzem Aufdruck vor der Nase herum. Ich nahm es ihr aus der Hand, um es genauer betrachten zu können.
„Ich weiß nicht. Hab mir darüber noch keinen Kopf gemacht“, antwortete ich Schulter zuckend.
Kylie entriss es mir wieder, hob es prüfend vor meine Brust und legte abschätzend den Kopf schief.
„Ja, das ziehst du an. Ich hab Chucks in derselben Farbe“, entschied sie und deutete auf ihre Füße, an denen wahrhaftig dasselbe mausgrau getragen wurde.
Mir was es gleich, was ich heute anziehen würde. Obwohl ich einen ausgeprägt guten Riecher für Mode hatte, machte ich nie sonderlich fiel daraus. Ich legte mehr Wert auf Bequemlichkeit. Das Top war locker geschnitten und würde wasserfallartig über meine Schultern hängen. Was Bequemlichkeit anging, hatte ich also nichts dagegen auszusetzen.
Kylie streifte sich die Chucks von den Füßen und durchstöberte gedanklich meinen Kleiderschrank.
„Und wo ist jetzt das Top?“, drängte sie und riss schon die nächste Kleiderschranktür auf, um dort ihr Wüsten fortzufahren. Glücklicherweise entdeckte ich den dunkelroten Fetzen hängend an der Lehne meines Schreibtischstuhles, bevor Kyle mehr als zwei Kleidungsstücke aus meinen Regalen achtlos um sich auf dem Boden verteilen konnte.
Sie nahm sie mir gierig aus den Händen, als wäre es der letzte Tropfen Wasser in der Wüste.
„Perfekt! Und…ähm…“, stammelte Kylie und zeigte auf ihre nackten Füße. „Da ich dir meine überlass, bräuchte ich jetzt welche von dir.“
„Ich könnt dir vielleicht…“, fing ich an und sah mich suchend im Zimmer um.
„…die roten Ballerinas geben?“, beendete Kylie meinen Satz hoffnungsvoll und klimperte mit den Wimpern.
Bei diesem Hundeblick war es unmöglich, ihr etwas abzuschlagen. Ich zuckte die Schultern, hob sie vom Boden neben meinem Bett auf und gab sie ihr.
Sie lächelte selig und ging damit zufrieden wie ein Kind, das ein Eis spendiert bekommen hatte nach unten.
„Ich beschränke mich heute auf Rot und Schwarz“, informierte sie mich, als sie im Korridor in die Ballerinas schlüpfte. „Rot – Die Farbe der Verführung“, fügte sich kichernd hinzu.
„Der Liebe“, verbesserte ich sie und zwinkerte. Kylie verdrehte theatralisch die Augen und grinste breit.
„Wie auch immer. Jedenfalls lasse ich mich heute nicht von Tyler heimfahren“, entgegnete sie entschlossen, verfiel sichtlich in einen Tagtraum und verschwand hinter der Haustür.


Es war Spätnachmittag, als ich es endlich an der Zeit befand, mich für den Abend zu richten – Angefangen mit der Gesichtsrenovierung. Da vibrierte mein Handy. Ich war so konzentriert gewesen, dass ich unvermeidlich zusammen zuckte und mir mit der feinen Bürste meiner Mascara ins Auge stach. „Scheiße.“, fluchte ich und hüpfte auf und ab, während ich mir Wind in die Augen fächerte. Das brannte vielleicht!
Wenn ich gerieben hätte, hätte der Schmerz vielleicht eher ein Ende gefunden. Aber das ging natürlich nicht – sonst verschmierte ich ja alles.
Mein Handy gab einfach keine Ruhe. Da war jemand wohl mächtig hartnäckig. Das Brennen ließ langsam nach, aber noch immer tränte mein Auge. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich bei meinem rechten Auge doch noch einmal von vorn anfangen durfte. Die Tränen hatten das Gröbste verschmiert und an meiner Wange hinterließ ein schwarzer Tropfen eine dunkle Spur. Ich fluchte wiederholt und tastete dann blind nach meinem Handy, dass ich an den Waschbeckenrand gelegt hatte.
Mit einem gemurrten „Ja“ nahm ich das Gespräch entgegen.
„Woho, Lin. Sachte!“, lachte jemand an der anderen Leitung.
„Tyler. Was gibt’s?“
„Ja, Tyler“, er lachte erneut. „Hab ich dich grad bei irgendwas gestört? Oder warum so aggressiv?“
„Nein, ich begrüße einen immer so freundlich. Weißt du doch“, meinte ich sarkastisch.
„Tut mir aber Leid“, schlug er zurück – Sarkasmus ließ grüßen. „Ähm, ich wollte dich fragen, wie du gedenkst zur Fete zu kommen.“
Jetzt ließ endlich auch das Tränen langsam nach. Ich riss mir einige Blätter Klopapier von der Rolle und wischte mir damit die verschmierte Mascara von den Wangen.
„Mit dem Auto?! Wie denn sonst? Oder hättest du Lust 14 Meilen zu laufen?“
Wenn er ein bisschen nachdenken würde, wäre er selbst auf die Antwort gekommen. Ich hasste es, wenn man Fragen stellte, die man sich eigentlich selbst beantworten konnte.
„Nein, natürlich nicht“, er räusperte sich. Wahrscheinlich war ihm mein bockiger Ton aufgefallen. „Du kannst auch bei mir mit fahren. Wäre ja irgendwie umständlich, wenn jeder von uns seinen Sprit verfährt, oder?“
„Mhm-mh. Hast Recht. Kylie auch schon gefragt?“
„Ja, aber sie will erst um zehn gehen und ich muss noch zum Soundcheck mit den Jungs.“ Tyler spielte in unserer Schulband und war dazu verflucht, den halben Abend damit zu verbringen auf den Tasten seines Keyboards herum zu klimpern und dazu seine Stimmbänder schwingen zu lassen. Obwohl er es liebte Musik zu machen, war ich mir sicher, dass es ihm lieber gewesen wäre mit seinen Freunden zu feiern.
„Aus unerklärlichen Gründen, sträubt sie sich dagegen schon um halb neun hin zu gehen“, fuhr er fort.
Ich kicherte. „Ja, weil sie dann ganze zwei Stunden ohne Phelim sein muss.“
„Oh je, ganze zwei Stunden ohne ein Objekt der Begierde? Natürlich… Die Hölle für unsere gute Kylie“, stimmte er in mein Lachen ein.
„Ja. Wobei sie noch nicht weiter gekommen ist, als ihn anzuschmachten“, informierte ich ihn schmunzelnd. „Also, dann um halb neun?“
„Jo. Ich hol dich ab.“
Ich nickte, obwohl er es nicht sehen konnte und legte auf. Jetzt musste ich mich wieder meinem demolierten Gesicht zuwenden. Seufz. Lidschatten, Eyeliner, Kajal, Mascara… Die ganze Prozedur von vorn.


Pünktlich wie die Sonnenuhr stand Tyler um 20.30 Uhr vor meiner Haustür und hupte ungeduldig.
„Ja ja…“, flüsterte ich genervt vor mich hin und band mir Kylies Chucks zu Recht. Ich hatte mich für meine alte schwarze Hotpants entschieden, welche vom vielen Waschen inzwischen total verbleicht und mehr Grau als Schwarz war. Selbstlos wie ich ab und an war, hatte ich Kylie mal meine Bessere überlassen, die ich bis heute nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Mein langes lockiges Haar, um die mich regelrecht jeder beneidete, fiel mir wie ein nachtfarbener Wasserfall vom Rücken.
Erneut hupte Tyler auf der Straße – ganze dreimal hintereinander –, während ich noch hastig eine Nachricht für meinen Vater hinterließ.
Der Himmel hatte sich am Horizont inzwischen schon in alle Fassetten von leichtem Rosé bis hin zu sachtem Hellorange verfärbt, als ich ins Freie trat. Hinter der Stadt linste noch minimal die Sonne hervor.
Petrus schien es gut mit uns zu meinen. Die Luft war noch immer angenehm warm, fast sogar noch schwül und weit und breit war keine graue Wolke zu sehen. Herrlich.
Gut gelaunt ließ ich mich auf den Beifahrersitz von Tylers knallroten Opel Astra GTC fallen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Tyler ließ entgegengesetzt meiner Erwartung meine liebevolle Geste unkommentiert, schaltete in den ersten Gang und fuhr an.
Seltsamerweise freute ich mich nun richtig auf unsere ‚Rising Summer’ Fete und wenn Jeldrik kam, konnte ich mich vielleicht sogar angemessen bedanken…

Kapitel 5 - Das mit den frei kämpfenden Adlern



Ich hatte den ganzen Weg über schelmisch gegrinst und sang zusammen mit Tyler jeden Song, der im Radio gespielt wurde, mit. Irgendwann hatte Tyler mich gefragt, ob ich etwas genommen hätte. So viel gute Laune, wäre er gar nicht von mir gewohnt. Ich kommentierte seine Aussage mit einem kecken Zungeblecken und lachte theatralisch.
Bestens gestimmt trotteten wir nun eine halbe Stunde später über den Strand nördlich von Rock Hall und dem Gratitude Hafen in Richtung Bühne. Wie jedes Jahr hatte man auf der gesamten Sandwiese Fackeln und Verstärker, welche schon mächtig zur Probe dröhnten, aufgestellt. Tyler lief mir mit langen Schritten voran. Die Bässe und schräge Gitarrensolos riefen wohl den Musiker aus ihm und er hatte es plötzlich mächtig eilig Teil der Töne zu sein. Ich hatte wirklich Mühe mit ihm Schritt zu halten.
Der Strand war noch verhältnisgemäß leer, da die Fete offiziell erst gegen neun starten sollte. Vereinzelt wuselten kräftige Männer, welche vermutlich die schweren Boxen und Instrumente transportiert hatten, Leute vom Dekorationsteam unserer High-School und vorzeitige Gäste aufgeregt herum. Leider jedoch niemand, den ich kannte. Also beschloss ich mir mit ein paar Drinks von der Bar, die 50 Meter von der Bühne entfernt war, die Zeit tot zu schlagen.
Während ich an meinem alkoholfreien Fruchtcocktail nippte, ließ ich den Blick immer wieder zu Bühne schweifen und lächelte Tyler und den Rest der Band freudig an, wenn sie mich sahen.
Ich achtete schon gar nicht mehr darauf, wen ich eigentlich angrinste, bis jemand mein Lächeln nicht erwiderte.
Jeldrik.
Ich seufzte tief, hüpfte von der Box, auf der ich mich drapiert hatte und ging zur Bühne.
Jeldrik hatte den Blick inzwischen wieder abgewandt und zupfte an einer Akustikgitarre herum.
Irgendeiner der Band – ich glaube, er hieß Dean – half mir auf die Bühne. Ich steuerte Jeldrik an, der nicht mehr von der Gitarre aufsah und ließ mich neben ihm nieder.
Er saß reglos auf einem dunkelroten Kissen und erst jetzt bemerkte ich, dass er die Augen geschlossen hatte und leise für sich einen Song spielte, den ich nicht identifizieren konnte.
Vorsichtig stupste ich ihm in die Seite, um ihn auf meine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Jeldrik zuckte erschrocken auf, sah mich kurz irritiert an und dann wieder auf die Seiten seiner Gitarre. Ich schluckte einmal schwer und holte tief Luft.
„Danke“, sagte ich und versuchte Kylies Hundeblick zu imitieren.
„Wofür?“, fragte er ohne mich eines Blickes zu würdigen und drehte an den Wirbeln. Somit war meine angestrengte Nachahmung für die Katz.
Ich pustete mir noch einmal ergeben Luft aus den Backen.
„Dafür, dass du dich um mich gekümmert und nach Hause gebracht hast.“
Jeldrik nickte und kräuselte den Mund. „Danke.“
Irritiert sah ich ihn an. „Wofür?“
„Dafür, dass du es doch noch über dich gebracht hast, mir zu danken“, meinte er bescheiden und sah mich endlich auch an.
Ich lächelte breit, da ich mich an unsere erste Unterhaltung erinnert fühlte, die ähnlich verlaufen war. Ihm schien es gleichermaßen zu gehen, denn auch er grinste und bedachte mich mit einem warmen Blick.
Obwohl er mich diesmal genau so fesselte, wie jene andere Blicke von ihm empfand ich ihn diesmal keineswegs als unangenehm. Im Gegenteil.
Die Sonne war inzwischen untergegangen und über uns leuchteten schwach die ersten Sterne. Im tanzenden Licht der Fackeln funkelten Jeldriks Augen unvergleichbar schön. Wenn ‚schön’ überhaupt dem gerecht kam, was seine Augen ausstrahlten. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm ich nicht einmal mehr die dröhnenden Bässe um uns herum wahr und ich wünschte mir plötzlich, dass es ihm genauso ging…
„Huhu, Eveline!“, rief jemand über die Bässe hinweg, aber ich registrierte zu Anfang gar nicht, dass ich gemeint wurde.
Zeitweilig hielt Jeldrik noch seinen Blick auf mir, ehe er sich räusperte und in die Richtung sah aus der die Rufe kamen. Ich selbst schüttelte kurz verwirrt den Kopf, um ihn frei zu bekommen und tat es ihm gleich. Ungefähr 100 Meter von uns entfernt stand Kylie und wedelte wild mit den Armen. Ich lächelte und nickte ihr zur Begrüßung einmal zu. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jeldrik ihr schlicht winkte.
„Musst du jetzt auch spielen?“, fragte ich ihn zögernd und hoffte, dass die Antwort „nein“ lauten würde.
Jeldrik schüttelte nachdenklich den Kopf, dann lächelte er mich freundlich an. „Nein. Erst gegen halb eins. Da muss ich Tyler ablösen.“
Nur mit Mühen schaffte ich es, meine Begeisterung im Zaun zu halten und nickte möglichst gleichgültig.
„Du… kannst ja derweil mit uns rumhängen…“, fing ich vorsichtig an und fügte dann bitter hinzu: „Wenn du dich nicht schon mit -“
„Christi geht mir auf die Nerven“, unterbrach er mich zornig und sah jäh in eine andere Richtung. Normalerweise hätte ich mich über diese Antwort gefreut, wenn mir nicht schlicht in diesem Moment etwas anderes in den Sinn gekommen wäre.
„Nerve ich -“, setze ich an, doch wieder schnitt er mir das Wort ab.
„Ich glaube, ich nerve dich eher“, behauptete er und lachte süffisant auf.
Abermals schoss mir das Blut ins Gesicht und ich wendete den Kopf ab, damit er es nicht bemerkte.
„Nein. Du nervst mich nicht“, murmelte ich leise und sah über die Menschenmenge, die sich nun langsam auf dem Strand verteilt hatte.
Jeldrik kicherte neben mir und plötzlich strich er mir die Haare hinters Ohr, die ich zuvor wie einen natürlichen Vorhang vor mein Gesicht fallen gelassen hatte.
„Du bist ja rot!“, stellte er amüsiert fest und zog seine Hand zurück. Augenblicklich schoss mir erneut Wärme ins Gesicht und mir wurde noch heißer. Ein Wunder, dass ich nicht schon längst explodiert war, so viel Hitze wie sich in meinem Kopf staute.
Ich ließ seine Bemerkung unkommentiert und nickte stattdessen zu einem Lagerfeuer, das jemand nahe am Wasser gelegt hatte. Einige Leute, darunter auch Kylie und andere meines Jahrgangs, tummelten darum und wippten im Takt der Bässe mit, die langsam eine Gestalt annahmen. Manche hielten Stöcke ins Feuer und grillten vermutlich Marshmallows oder Würstchen.
„Gehen wir dazu?“, fragte ich eintönig.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er nickte. „Ja, die Band fängt sowieso bald an zu spielen. Bis dahin sollten wir hier weg sein.“
Jeldrik rappelte sich auf und streckte dann mir die Hand entgegen. Ich nahm sie und ließ mich von ihm empor ziehen.
Kylie versuchte gerade verzweifelt Derek, einer aus unserer Stufe, zum Tanzen zu überreden. Sie hatte seine Hände genommen und tanzten vor ihm mit einer Eleganz, um die ich sie jedes Mal beneidete. Dieser jedoch stand stocksteif da und sah zu allem Überfluss demonstrativ in eine andere Richtung. Ich sah wie Kylie seufzte, seine Hände wieder schlaff an seinen Körper fallen ließ und auf mich und Jeldrik zu hüpfte.
„Na, ihr zwei?“, trällerte sie übermutig und hing sich an meinen Arm.
„Wo ist Phelim?“, flüsterte sie dann leise, so dass nur ich sie hören konnte und drehte sich unauffällig zu Jeldrik um.
Ich zuckte die Schultern. „Das musst du ihn schon selbst fragen“, wiederholte ich ihre Wort von heut Nachmittag und lächelte sie kokett an.
Jeldrik, der meine Worte gehört hatte – wie es auch beabsichtigt war –, wechselte interessiert den Blick zwischen mir und Kylie.
Kylie stöhnte leise murmelte irgendwas von wegen „Vielen Dank auch“ und wendete sich dann lächelnd Jeldrik zu.
„Na. Wo hast du denn deinen Bruder gelassen?“, fragte sie und tat so, als ob es sie nur nebensächlich interessierte. Was ihr erstaunlicherweise auch gelang.
Jeldrik grinste breit, sah über ihren Kopf hinweg, meinte: „Frag ihn doch selbst.“ Und nickte mit dem Kopf zur Bühne.
Kylie sah ihn kurz irritiert an, ehe sie den Kopf schüttelte und ihn in die Richtung drehte in die er gedeutet hatte.
Ihr Fernsehturm mit dem gelockten schwarzen Haupt stand vor der Bühne und wippte im Takt der Musik zusammen mit einem anderen Mädchen mit. Vorsichtig sah ich wieder zu Kylie. Ihr Blick verriet mir, dass wenn sie es könnte, sie dem Mädchen tausend Frösche an den Hals hetzen würde. Blind tastete sie nach meinem Arm zischte etwas, dass wie „Gleich zurück“ klang und stapfte in Richtung Bühne.
Jeldriks Brust neben mir bebte leicht und als ich zu ihm auf sah, hielt er sich die Hand vor den Mund. Lächelnd schüttelte ich den Kopf und boxte ihn sanft vor die Brust.
„Ich mach uns mal solche selbst geschreinerten Spieße“, kicherte er, zeigte auf die Stöcke, die einige ins Feuer hielten und lief davon.
Mit zwei dünnen Holzstücken und einem Taschenmesser bewaffnet kam er wenige Minuten später zurück. Ich hatte mich inzwischen vor dem Feuer neben einem Mädchen aus meiner Klasse niedergelassen und zwirbelte gelangweilt an meinen Locken herum. Jeldrik setzte sich neben mich in den Schneidersitz und fing am oberen Ende des Stockes an eine Spitze zu schnitzen. Das Mädchen war aufgestanden und hatte achtlos ihr eigenes Messer liegen gelassen, das ich mir jetzt schnappte und griff nach dem anderen Stock.
Jetzt saß ich also da mit Stock und Messer bewaffnet und hatte doch eigentlich überhaupt keine Ahnung, wie man eine ordentliche Spitze zu Stande brachte. Jeldrik setzte konzentriert immer wieder das Messer etwa zehn Zentimeter unterhalb des Hauptes an und dann splitterte jedes Mal ein Stück des Holzes in die Höhe, wenn er das Messer mit einer raschen Bewegung am Holz entlang reiben ließ, als ich zu ihm linste und versuchte mir seine Methode einzuprägen. So schwer schien es gar nicht zu sein.
Nun ja, das war wiederum leichter gesagt als getan. Als ich es versuchte ihm gleich zu tun, blieb ich ständig in irgendwelchen Rillen hängen, die ich selbst ins Holz graviert hatte und schaffte es Schluss endlich mir auch noch selbst ins Fleisch zu schneiden.
„Au!“, jammerte ich auf, ließ Stock und Messer fallen und steckte mir den Zeigefinger in den Mund.
Jeldrik lachte neben mir spöttisch auf. Er hatte das Stück Holz inzwischen in einen ansehlichen Spieß verwandelt und legte ihn bei Seite.
„Ich sagte doch, dass ich das mache“, ließ er kichernd verlauten, griff nach dem vergewaltigten Stück Holz vor mir und streifte dabei augenblicklich mein nacktes Knie, was mir eine Gänsehaut hervor rief. Er selbst schien es wahrscheinlich gar nicht bemerkt zu haben, aber in mir kribbelte es plötzlich unaufhörlich. Ich nahm den Finger aus dem Mund, legte meine Hand auf die Stelle die er berührt hatte und rieb unmerklich daran. Ich hoffte, somit die Gänsehaut vertreiben zu können.
Jeldrik hatte während meines Kampfes mit mir selbst meinen Stock zum Spieß umfunktioniert und beäugte mich jetzt kritisch.
„Dir ist kalt oder?“, fragte er dann Stirn runzelnd und deutete auf meine Hand am Knie.
„Ich…äh“, setzte ich an, doch Jeldrik befreite sich bereits aus seinem dünnen schwarzen Hemd, dass er über einem tiefblauen T-Shirt trug und legte es mir um die Schultern, was mich verstummen ließ.
„Ist nicht wirklich ´ne Verbesserung, aber vielleicht hilft es ja doch ein wenig“, meinte er Schulter zuckend und zupfte mir den Kragen zu Recht.
Ich konnte nicht mehr tun, als hilflos zu nicken. Fehler. Jeldrik machte sich noch immer an dem Kragen zu schaffen und durch meine Bewegung fanden seine Finger sachten Kontakt zu meiner Haut und… Oh Gott! Ich war schrecklich kitzlig und konnte nicht verhindern, dass ich – so albern es auch sein mochte – den Kopf einzog und dämlich vor mich hin kicherte.
Jeldrik ließ irritiert die Arme sinken, legte den Kopf schief und grinste mich amüsiert an.
„Tut…tut mir Leid… Ich bin nur –“
„Kitzlig. Ja, verstehe“, unterbrach er mich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemals so unbeschwert einen Abend mit Jeldrik verbringen würde. Meinen Plan, Jeldrik so schnell wie möglich wieder aus meinem Kopf zu verbannen, hatte irgendetwas in mir verdrängt und unerklärlicherweise ärgerte ich mich nicht einmal darüber. Inzwischen fühlte ich mich richtig wohl in seiner Nähe und bedauerte es jedes Mal, wenn menschliche Bedürfnisse uns zwangen, kurzzeitig getrennte Wege zu gehen. So seltsam dieser Kerl auch sein mochte, ich hatte das Gefühl ihn endlich wirklich kennen und vor allem mögen zu lernen.
„Ich wusste gar nicht, dass du dich unserer Schülerband angeschlossen hast“, sagte ich irgendwann, während wir erbarmungslos Marshmallows im Feuer schmoren ließen.
Jeldrik ließ die Schulter auf und ab sinken und drehte seinen Spieß einige Male. „Du weißt noch so einiges nicht über mich“, meinte er nachdenklich.
„Na, das können wir noch ändern. Spielst du gerne?“
Er zog die Augenbrauen zusammen und seinen Marshmallow aus dem Feuer. „Gitarre, meinst du?“, er nahm den Marshmallow von der Spitze und pustete an ihm. „Sonst wäre ich wohl kaum beigetreten, oder?“, fragte er und lachte neckisch. Als ich ihm nicht mehr als ein Schulter zucken entgegengesetzt hatte, seufzte er tief und lächelte mich entschuldigend an.
„Mein Vater hatte es mir einst beigebracht… Aber er ist…“
Jeldrik schluckte und schlug die Zähne zusammen. Sein Blick war leer. Er schien nur noch körperlich anwesend zu sein, geistig jedoch einige Jahre zurück.
„Ich… Das, das tut mir leid“, stammelte ich und legte zögernd meine Hand auf seine.
Er schüttelte kurz den Kopf und landete somit wieder in der Gegenwart, ehe er den Blick auf unsere Hände senkte.
„Nein, das brauch es nicht. Er lebt noch. Nur… nur für mich ist er gestorben“, erklärte er lächelnd und entzog mir seine Hand. Obwohl er lächelte, kam er mir in diesem Augenblick vor wie ein alter, einsamer Mann, der sich trotz allem durchs Leben schlägt.
„Übrigens. Dein Marshmallow brennt“, fügte er schmunzelnd hinzu.
„Was – oh, Mist!“
Hastig zog ich den Stock aus dem Feuer. Nicht nur der Marshmallow brannte, sondern der dazugehörige Stock gleich dazu. Ich sprang in die Höhe und wedelte panisch mit dem Stock, was dummerweise, dass Feuer nur noch mehr anfachte. Jeldrik krümmte sich neben mir vor Lachen, während ich immer noch auf und ab sprang und versuchte meinen Marshmallow davor zu bewahren zu Asche zu werden.
Seinen Marshmallow zwischen den Zähnen, rappelte Jeldrik sich auf und kam auf mich zu.
„Essen kannst du den eh nicht mehr, also...“, nuschelte er neben dem Marshmallow zwischen die Zähne hindurch und zeigte mir den Rest des Satzes, indem er mir meinen Stock aus dem Händen nahm und…
„Aber dann hab ich…“, setzte ich zum Protest an, doch da landete der Stock bereits mitsamt meinem Marshmallow im Feuer.
„…keinen Spieß mehr“, beendete ich mürrisch meinen Satz und sah schmollend zu, wie mein Marshmallow dahin schmorte.
Jeldrik biss die Hälfte seines Marshmallows ab und hielt mir die andere Hälfte vor die Nase.
Ich kräuselte den Mund und tat so als ob ich darüber nachdenken müsste, sein Angebot anzunehmen. Jeldrik verdrehte die Augen gen Himmel, kicherte und hielt ihn mir so nah vor den Mund, dass der Marshmallow meine Lippen berührte. Da konnte ich nicht widerstehen, öffnete schmunzelnd den Mund und ließ ihn mir von Jeldrik hinein schieben.
„Ich kann dir…“, Jeldrik stockte und machte sich plötzlich ganz steif. Er riss schockiert die Augen auf und – so schnell konnte ich gar nicht gucken – stand plötzlich einige Meter weit entfernt mit dem Rücken zu mir.
„Ich… bin gleich zurück“, sagte er noch und lief mit gehetzten Schritten über den Strand.
Einen Moment lang blieb ich noch verwirrt stehen und sah zu, wie er irgendwann hinter dem Gebüsch in der Dunkelheit verschwand. Warum war er jetzt so überstürzt abgehauen? Wenn ich das herausfinden wollte, musste ich meinen Beinen schleunigst befehlen in die Gänge zu kommen.
Ohne weitere Gedanken zu verschwenden schluckte ich hastig das warme Stück Marshmallow hinunter und stolperte eilig in die Richtung, in der Jeldrik verschwunden war.
Von irgendwo vernahm ich ein dumpfes Geräusch und ein ersticktes Stöhnen, als ich mich weit genug von der Festanlage entfernt hatte und die Bässe nur noch leise im Hintergrund hervordrangen. Ein erneuter dumpfer Schlag, jedoch deutlich lauter ließ mich vermuten woher die Geräusche kommen konnten. Ich wusste nicht warum, aber auf einmal fühlten sich meine Beine an als wäre Blei in ihnen und ich kam nur schleppend voran. Die Geräusche wurden immer deutlicher je näher ich dem kam. Irgendwann glaubte ich, Konturen von Menschengestalten in der Finsternis zu erkennen und beschleunigte meinen Schritt, obwohl seltsamerweise mein Instinkt danach schrie umzukehren.
„Dako –“, vernahm ich plötzlich eine bekannte schöne Stimme und blieb wie angewurzelt stehen, als sein Wort von einem lauten Knacken unterbrochen wurde.
Langsam gewöhnten meine Augen sich an die Dunkelheit und die Gestalten wurden schärfer, die sich unmittelbar 50 Meter von mir entfernt befanden. Sie schienen jedoch zu beschäftigt, als dass sie auf mich Aufmerksam wurden. Ständig entdeckte ich ihre schwarzen Schatten an einer anderen Stelle und… Verdammt, sie bewegten sich einfach zu schnell!
Einige Schritte vor mir und näher am Ort des Geschehens erstreckte sich ein hohes Gebüsch, das mir perfekt als Schutz dienen konnte. Ohne weiter lange zu überlegen, schlich ich zu ihm und stellte mich dicht dahinter. Verkroch mich sogar schon schier in dem Haufen von kratzenden Ästen und zwickenden, groben Blättern.
Jetzt, da ich nahe genug war, bemerkte ich erst, dass es drei Personen waren. Zwei davon standen jedoch immer beieinander, in welchen ich Phelim und Jeldrik erkannte. Die dritte Gestalt stand zu weit weg, als dass ich sie ausfindig machen konnte. Aus Phelims Rücken rankten zwei seltsame dunkle Gefieder in Gestalt von Flügeln, wie man sie bei Adlern kannte. Ebenso bei der Person, die weiter entfernt stand und angestrengt atmete, wie es auch Jeldrik tat, nur das seine deutlich heller waren. Was war das für eine Freakshow?
Phelim stützte seinen Bruder leicht, der jetzt ein gedämpftes Fauchen von sich gab, angeschlossen von einem trockenen Schrei. Sein T-Shirt riss in tausend Fetzen von seiner Brust und mit einem Male breiteten sich von seinem Rücken die homogenen Flügel aus, wie auch auf dem Rückgrat der anderen beiden. Einfach so. Aus dem Nichts!
Ich legte die Stirn in Falten und rieb mir die Augen. Halluzinierte ich?
„Du mieser Bastard!“, zischte Jeldrik zwischen den Zähnen hindurch. Im selben Moment wich Phelim ein Schritt von ihm zurück, Jeldrik schlug einmal mit den Flügeln auf und sprang in die Höhe. Die dritte Person lachte bitter und tat es ihm gleich.
Vom Himmel ertönten fast zeitgleich zwei klirrende, unerträglich hohe Geräusche, welche mich an das erinnerte, das erklang, wenn man mit den Fingernägeln über Schultafeln kratzte.
Im nächsten Augenblick hörte ich Jeldrik schmerzlich stöhnen und sah zu wie er unsanft auf den Grund zurück knallte. Instinktiv ging ich einen Schritt nach vorn soweit es das Gebüsch zu lies und streckte eine Hand nach ihm aus. Nahm sie aber sofort wieder zurück und schlug sie mir vor den Mund, um einen bestürzten Schrei zu ersticken, der mir entfleuchen wollte.
Er hatte erschrocken aufgekeucht, als er hart mit dem Rücken auf den Boden aufgeschlagen war. Links und rechts von ihm lagen noch geringzeitig seine Arme, aus dessen Händen sich ungewöhnlich lange Finger erstreckten. Sie wurden vom trüben Mondlicht reflektiert und schimmerten metallisch.
Die dritte Person befand sich blitzschnell wieder auf dem Boden und ging auf Jeldriks sich krümmenden Körper zu. Parallel dazu knurrte Phelim. Dasselbe klirrende Geräusch ertönte und aus seinen Fingern fuhren lange Krallen, die mich an Sicheln erinnerte. Augenblicklich danach warf er sich auf die andere Gestalt, welche unter seinem Gewicht dem Boden gerecht wurde.
Plötzlich hatte ich eine Art Déjà Vu… Ja natürlich! Erst letzte Nacht hatte ich geträumt, dass Jeldrik ähnliches mit seinen Fingern angestellt hatte.
„Gleich wachst du auf“, redete ich mir erleichtert ein und war froh, nicht glauben zu müssen, was sich da gerade vor meinen Augen abspielte.
Jeldrik rappelte sich in der Zeit, in der Phelim und der Dritte fauchend am Boden aufeinander einschlugen, mühsam wieder auf, stürzte sich dazu und beförderte den Dritten mit einem angestrengten Kraftschrei einige Meter in die Luft. Beinahe gleichzeitig sprangen auch Jeldrik und Phelim in die Höhe.
Für einen Moment war es still. Mein Verstand und die typische menschliche Neugierde zankten sich mal wieder um die Funktion meines Körpers. Ein Teil von mir dachte daran, dem Traum selbst ein Ende zu setzen und mich zu zwicken, um mich wach zu bekommen. Der andere Teil wollte schlicht erfahren, wie der Kampf zu Ende ging und war wie schon so oft der Stärkere von Beiden.
Zögernd richtete ich meinen Blick gen Himmel. Jeldrik, Phelim und der Dritte standen in bodenloser Höhe bewegungslos in der Schwärze der Nacht. Der Dritte lächelte unverhohlen und sprach zu ihnen. Zu meinem Bedauern hörte ich nur Gemurmel und Satzfetzen wie: „…findet… unserem Hochwohlgeboren… nur weil… umsonst Treue schenke.“ Dann lachte er laut und bitter. Phelim hatte sich wieder auf ihn stürzen wollen, doch der Dritte hatte mit den Flügeln geschlagen und Phelim wurde von einem kräftigen Windstoß durch die Luft geschleudert, fing sich jedoch wieder einige Meter über mir.
„Überlegt es euch!“, hörte ich die unidentifizierbare Gestalt hämisch brüllen, deren Stimme mir aber bekannt vorkam. Die Krallen des Dritten blitzen kurz im Schein des Mondes und er war verschwunden.
Für einen Augenblick hingen Jeldrik und Phelim noch bewegungslos in der Luft und schienen dem nachzusehen, der mir unsichtbar geworden war.
Phelim stieß verbittert Luft durch die Zähne, ehe auch er einmal kräftig mit den Flügeln schlug und von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Jeldriks Flügel flatterten hastig, als sich seine Füße immer mehr dem Boden näherten.
Regungslos verharrte ich in dem von mir sicher geglaubten Versteck und hielt mir noch immer die Hand vor den Mund.
Jeldrik landete, anders als zuvor, sacht und mit einer Eleganz, die mir den Atem raubte, auf der Erde. Sein nackter Oberkörper war, wie ich im fahlen Licht des Mondes erkennen konnte an einigen Stellen mit Kratzern, aus denen minimal Blut heraus quoll, versäht. Trotzdem glich seine Brust der, eines griechischen Gottes.
Ich ließ meine Hand sinken und sog scharf die Luft ein. Jeldrik blickte irritiert auf und drehte sich einmal um die eigene Achse.
Mist, verdammter! War mein Atemzug denn so laut gewesen?
Taumelnd machte ich einen Schritt zurück. Ein Ast knackste unüberhörbar laut unter meinen Füßen, wenn man in Betracht zog, dass um uns herum absolute Stille herrschte. Wenn er meinen Atemzug nicht gehört hätte, wäre er spätestens jetzt auf meine Anwesenheit aufmerksam geworden. Hundert pro.
Keinen Augenschlag später, war Jeldrik aus meinem Sichtfeld verschwunden. Plötzlich hatte mich jemand von hinten gepackt, sodass ich mit dem Rücken gegen dessen Brust gepresst wurde und drückte mir etwas Kaltes und Hartes unters Kinn. Ich lehnte den Kopf soweit zurück, wie es mir möglich war und umklammerte den Unterarm jener Person, die mir unmissverständlich die Kehle aufschlitzen wollte. Mein Atem ging schnell und stockend. Meine freie Hand zitterte, welche schlaff neben meinem Körper hing.
Darauf wartend, dass ein Spruch kam wie: „Wenn du versprichst, nicht zu schreien lasse ich dich am Leben“, blieb ich wie steif gefroren stehen und wagte es nicht einmal zu schlucken.
„E…E…Eveline?!“, ertönte unerwartet Jeldriks Stimme neben meinem Ohr.
Hastig ließ er von mir ab und ich hörte den Boden unter seinen Füßen knirschen, als er einige Schritte rückwärts taumelte. Noch ein anderes Geräusch, das sich anhörte, als ob ein Zelt davon geweht wurde, ertönte im Zusammenhang mit einem leichten Windzug. Erleichtert atmete ich tief die Luft ein.
„Du…Was… Was…Was suchst du hier?“, stammelte Jeldrik – unverkennbar. Es war Jeldrik. Ich schluckte kräftig und presste mir die Finger so fest in den Arm, dass es schmerzte.
Verflucht, noch mal! Warum wachte ich nicht auf?
Zitternd sog ich die Luft ein und drehte mich zögernd zu ihm um, wobei mir das Hemd, das er mir zuvor selbst umgelegt hatte, von den Schultern glitt.
Jeldrik starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und wartete geduldig darauf, dass ich zur Antwort ansetzte. Die Flügel und die beängstigenden Krallen waren verschwunden und er sah, abgesehen von den rot schimmernden Kratzern, wieder einigermaßen menschlich aus.
„Du…Das…“, fing ich an, doch stockte als ich bemerkte, wie bibbernd meine Stimme klang.
„Du… Du hast uns gesehen?“, half er mir aus der Reserve und sein Blick wurde angsterfüllt.
Ich schwieg. Mein Atem ging immer noch unnatürlich schnell und ich bohrte erneut, auch wenn ich wusste, dass es zwecklos war, die Finger in meinen Arm.
Um Jeldriks Blick zu entgehen, schielte ich auf das schwarze Hemd, das neben mir im sandigen Dreck lag und nickte kaum merklich.
„Du hast…“, setzte Jeldrik wie gehabt an, verstummte dann jedoch und drehte sich von mir. Unsicher blickte ich wieder zu ihm auf.
Er seufzte, legte sich die Finger an die Schläfen und massierte sie, als habe er Kopfschmerzen. Er wirkte reichlich verzweifelt.
Wiederholt seufzte er, wandte sich dann wieder mir zu und fuhr sich aufgebracht durchs Haar. Sein Blick verriet mir, dass ich ihn mit meinem Gesehenen in eine absolut ratlose Lage getrieben hatte.
Allein die dumpfen Bässe von der dröhnenden Musik der Festanlage drangen in der Stille zu uns. Ab und an hörte man amüsiertes Schreien der feierten Masse. Sogar die Wellen des Flusses, die an die Brandung schlugen, waren zu hören.
„Komm mit“, flüsterte Jeldrik atemlos, machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück in Richtung Strand. Zuerst verstand ich nicht, was er da murmelte, hob dann aber hastig sein Hemd vom Boden und stolperte hinter ihm her.
Wollte er jetzt einfach wieder zurück zum Fest? Als ob nichts geschehen wäre? Einfach zurück… hinter dem Gebüsch hervor ins Getümmel treten… zusammen mit mir… Ach, du großer Gott! Die Leute mussten doch was vollkommen Falsches denken, wenn ich… zusammen mit einem Jungen,… der auch noch nur in Shorts gekleidet war… hinter Büschen auftauchte und… Allein der Gedanke ließ meine Wangen glühen! Ich sah es schon vor mir, wie uns alle mit Gekicher und Getuschel wieder in die Gesellschaft aufnahmen und sich die Köpfe nach uns verdrehten… Das konnte eine Woche geben. Und Christi? Oh Gott. Ich wollte mir gar nicht erst ausmalen, welche Rachepläne sie für mich schmieden würde. Die auch noch absolut unberechtigt wären!
Auch wenn ich wusste, dass es momentan absolut unpassend war, kam ich einfach nicht darum, dass mein Blick über Jeldriks ebenbürtigen Rücken glitt und an seinem wohlgeformten Hintern hängen blieb…
Die gedämpften Bässe wurden wieder lauter je näher wir dem Strand kamen. Inzwischen konnte ich auch wieder jedes einzelne Wort verstehen, das von Tyler gesungen wurde.
Jeldrik beschleunigte seinen Gang und mir fiel es sichtlich schwer mit ihm Schritt zu halten. Widererwarten schlug er aber nicht den Weg durch die Büsche ein, sondern ging strikt an ihnen vorbei und vorbei an dem Feiergetümmel in Richtung Hafen. Ich folgte ihm, obgleich ich mich immer wieder verwirrt – und auch irgendwie erleichtert – zum Strand umdrehte.
Der steinige Weg führte uns eine nicht allzu hohe, steile Klippe hinauf, auf dem einzig ein glatter flacher Fels stand. Jeldrik ließ sich auf diesen im Schneidersitz nieder und blickte in den Süden.
Obwohl es nur eine minimale Erhebung der Erdfläche war, hatte man von hier alles im Überblick. Rechts von uns konnte ich die Bühne unserer ‚Rising Summer’ Fete und die darum tanzenden Menschen ausmachen. Ich hörte das Wasser plätschern, indem sich einige vergnügten und sich gegenseitig nass spritzten.
Links grenzte der Gratitude Hafen an die Brandung und einige kleine Privatyachten und Containerschiffe steuerten gerade ihre Anlegestellen an.
Während ich die Aussicht bewunderte, hatte Jeldrik seinen Blick auf mich gerichtet und sah mich abwartend an.
Ich zog eine meiner dünn gezupften Augenbrauen in die Höhe.
„Also?“ Es überraschte mich selbst, wie gleichgültig ich die Worte beziehungsweise ‚das’ Wort über die Lippen gebracht hatte.
Jeldrik seufzte tief und sein Blick glitt zur Wasseroberfläche auf der sich der Mond spiegelte. Das Wasser glitzerte in deren Licht.
„‚Was hast du gesehen?“, murmelte er schroff ohne mich dabei anzusehen.
„Ich… Du…“, fiel ich in mein altbekanntes Stottern zurück. Widerwillig führte ich mir die Bilder meines Traumes vor Augen… wie aus Jeldriks Rücken graue Adlerflügel schlugen… er hart auf dem Boden aufkam…
Mein Blick fiel auf einen Kratzer der sich von seiner Brust unter die Achseln bis zur Wirbelsäule erstreckte und ich erschauderte.
„Tat es sehr weh?“, fragte ich leise und deutete mit dem Kopf auf seine Brust. Jeldrik sah mich noch einen Moment irritiert an, zog dann jedoch die Augenbrauen zusammen und neigte den Kopf nach unten, um die roten Streifen auf seiner Haut zu begutachten.
„Die heilen schnell wieder“, sagte er achselzuckend. „Gib mir mein Hemd, wenn es dich stört. Ich brauch es ohnehin wieder, wenn ich später noch spielen soll.“
Ich riss die Augen auf. „Du willst… Du willst trotz allem“, ich machte eine ausschweifende Geste mit den Händen, die ihn und seine Kratzer einbegriff, „wieder zurück zur Fete?“
Erneut zuckte er die Schultern, streckte einen Arm aus und gab mir zu verstehen, dass ich ihm sein Hemd geben sollte.
Zaghaft machte ich einige Schritt auf ihn zu und ließ mich neben ihn auf den Felsen sinken. Als ich ihm sein Hemd, das über meinem Arm hing, hinhielt und seine Finger meine Haut berührten, zuckte ich auf Grund eines undefinierbaren Brennens unwillkürlich zusammen. Jeldrik schien es gar nicht bemerkt zu haben und glitt in die Ärmel seines Hemdes.
Stirn runzelnd betrachtete er kurz seinen Oberarm, der bereits von Stoff überzogen war.
„Was hast du mit meinem Hemd gemacht?“, fragte er dann verwundert und blickte dann auf den meinen.
Erst jetzt bemerkte ich, dass der Stoff von langen Rissen, die nicht zu verbergen waren, geziert wurde. Behutsam nahm er meinen Arm und streckte ihn aus, um ihn besser betrachten zu können. Ich tat es ihm gleich.
Mein rechter Ober- und Unterarm war übersäht mit feinen, kurzen Kratzern. Diese hatten wahrscheinlich auch das Brennen, dass ich eben gespürt hatte, verursacht.
Ich musste sie mir wohl zugezogen haben, als ich mich fast in dem Gebüsch verkrochen und die ‚Adler’ beobachtet hatte…
Jeldrik drehte meinen Arm vorsichtig und sah mich dann kurz nachdenklich an.
„Jetzt ist sowieso schon alles egal…“, murmelte er wie zu sich selbst und legte sachte seine andere Hand auf die Stelle, an der sich die meisten Kratzer erstreckten. Unwillkürlich zuckte ich unter seiner Berührung zusammen, stockte aber beinahe augenblicklich wieder, als zwischen seiner Hand und meiner Haut ein fahler Lichtstrahl hindurch drang. Erstaunt wechselte ich immer wieder den Blick zwischen seinem Gesicht und seiner Hand. Er hatte die Augen geschlossen und sein Gesicht war hinter einer angestrengten Maske versteckt.
Das Brennen unter seiner Berührung ließ nach, ebenso verglühte der leichte warme Lichtstrahl, bis er schließlich ganz erlosch und Jeldrik seine Hand von meinem Arm nahm.
„Du…Was…“, stotterte ich und starrte auf meinen Arm, der jetzt seltsamerweise unversehrt war. Prüfend tastete ich ihn ab und rechnete mit einem erneuerlichen Schmerz. Aber nichts dergleichen. Als… als hätte er mich geheilt.
„Du…“, setzte ich abermals an, verstummte jedoch, als ich bemerkte, dass er mich resigniert beobachtete. Jeldrik nickte kaum merklich und sein Blick glitt über meine Oberschenkel und blieb an meinen Waden haften.
„Sag mal, hast du irgendwie mitgemischt bei uns?“, fragte er Stirn runzelnd. Er griff nach meinen beiden Fußknöcheln und zog sie zu sich, wobei er auch meinen gesamten Oberkörper in seine Richtung drehte. „Du siehst ja schlimmer aus als ich.“ Fast lächelte er und ich machte mich auf ein spöttisches Lachen von ihm gefasst, doch stattdessen legte er beide Hände an meine Waden und verzog sein Gesicht nochmals zu jener konzentrierten Grimasse.
Sein Hemd hatte er noch nicht zugeknöpft und das müde Licht, das wieder zwischen unserer Haut hindurch pferchte, bestrahlte schwach seine Bauchmuskeln. Abermals raubte mir der Anblick von seiner (diesmal auch noch nackten) perfekt proportionierten Brust den Atem. Schwer zu glauben, dass ich nicht schon längst blau angelaufen war, so oft wie mir das in seiner Anwesenheit unterlief.
Nach – meiner Meinung nach – viel zu wenigen Sekunden ließ Jeldrik wieder von mir ab und schob meine Beine von sich. Ohne mich davor noch einmal anzusehen, machte er sich an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen und ließ seine Brust dahinter verschwinden.
„Ich hab ab dem Zeitpunkt zugeschaut, als… also… Flügel auf deinem Rücken auftauchten.“, sagte ich irgendwann, weil mir aufgefallen war, dass ich auf seine eigentliche Frage gar nicht geantwortet hatte.
„Du wirst mir nicht glauben, dass du dir das alles nur eingebildet hast und es darauf belassen, oder?“, fragte er hoffnungslos. Ich schüttelte den Kopf. „Was bist du?“
Nervös kaute ich auf meiner Oberlippe, während ich beobachtete wie Jeldrik den letzten Knopf verschloss und auf eine Antwort von ihm wartete. Doch er schwieg.
„Du kannst mich und meine Fragen jetzt nicht so einfach ignorieren“, hackte ich hartnäckig weiter nach und schmollte fast.
„Sonst…-“, setzte ich zur Drohung an, doch ich wurde von einen zornigen Schnauben von ihm unterbrochen.
„Sonst was? Wirst du es jedem erzählen? Ha! Die Klapsmühle würde dich mit Freuden aufnehmen!“, seine Worte troffen vor Spott und trafen mich unverzüglich.
Geknickt schüttelte ich den Kopf und führte meine weniger wirksame Drohung zu Tage.
„Sonst ignorier ich dich auch…“, flüsterte ich und kam mir augenblicklich vor wie ein kleines schüchternes Mädchen, das zum ersten Mal einem Jungen ihre Liebe gesteht.
Jeldrik grinste, kicherte, was dann in ein lautes Lachen aus der Tiefe seines Zwerchfells ausartete und sah mich bedauernd an.
„Das wäre mir sogar fast lieber“, meinte er dann und lachte noch einmal spöttisch auf. „Aber ich kann das nicht so stehen lassen.“, fügte er seufzend hinzu und sah in die Ferne über den Fluss.
„Wie dann?“, fragte ich vorsichtig, nahm sein Kinn in meine Hände und drehte seinen Kopf zu mir zurück. Er schloss seine Finger um mein Handgelenk und führte es von seinem Gesicht.
„Im Normalfall würde ich dafür sorgen, dass du nicht mehr stehen kannst“, sagte er ruhig und sah mir dabei intensiv in die Augen, immer noch mein Handgelenk umschlossen.
Ich schluckte hörbar und bekam tatsächlich… Angst vor ihm. Es würde mich nicht wundern, wenn er meinen Herzschlag so laut hörte wie ich ihn jetzt spürte. Die Iris seiner Augen blitzten für einen kaum wahrnehmbaren Moment jadegrün auf.
„Ich… Ich werde niemandem etwas sagen. Ich…“, meine Stimme war eine Oktave höher und in meiner Panik verhaspelte ich mich. Jeldrik ließ meine Handgelenke los und legte seinen Finger auf meine Lippen.
„Glaubst du wirklich, dass ich dich noch… zum Schweigen bringe, nachdem ich dich… kennen gelernt habe?“, fragte er und bedachte mich mit einem warmen Blick.
Ich schwieg und wartete darauf, dass er weiter redete.
„Ich hoffe, ich kann dir vertrauen“, fing er zögerlich an und nahm seinen Finger von meinen Lippen. Taxierte mich aber weiterhin eindringlich. Ich nickte und sog scharf die Luft ein.
„Ich erzähle dir nur das Nötigste und du musst mir versprechen, nicht weiter zu fragen“, seufzte er, ehe er weiter sprach.
„Ich bin… wir sind… so eine Art böse Engel“, Jeldrik lächelte bitter. „Halb Dämon, halb Zyona um genau zu sein.“
„Zyona?“, unterbrach ich ihn und zog die Augenbrauen zusammen.
„Keine Fragen. Schon vergessen?“, sagte er bestimmt, doch stieß dann ergeben Luft aus. „Ich schätze, ihr würdet uns ‚Engel’ nennen.“
„Heißt das, du bist eine Art Gesandter Gottes?“
Er lachte abfällig. „Wenn du unter Gott jemanden verstehst, der andere für sich in den Tod schickt…“, flüsterte er, aber es schien nicht wirklich an mich gerichtet zu sein.
„Also nicht…“, stellte ich leise fest.
„Über unseren… oder unsere Gebieter darf ich dir nichts sagen.“
„Warum halb Dämon?“, seine Bitte von wegen keine Fragen, war mir herzlich egal. Schande über mich, ja.
„Weil Phelim und ich... also… wir sind ursprünglich Zyona, aber… haben uns vor einiger Zeit dem Regent der Finsternis angeschlossen.“
„Seid ihr dann die ‚Bösen’?“, fragte ich und kam nicht umhin spöttisch zu kichern.
Jeldrik verzog schmerzlich das Gesicht und ich bereute meine Frage augenblicklich.
„Ich wünschte, ich könnte nein sagen… aber das wäre gelogen“, er seufzte und schloss die Augen. „Ja, wir sind die Bösen.“

Kapitel 6 - Das mit dem dämonischen Zyona



„War… War der andere dann einer von den ‚Guten’?“, tippte ich an und bemühte mich den Gedanken zu umgehen, dass vor mir ein Wesen saß vor dem ich eigentlich Angst haben sollte. Ein Dämon.
Jeldrik schnaubte verächtlich und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl belustigt aussehen sollte. Aber ich wusste es besser. Es troff vor Abscheu.
„Ja. Oder eher nein. Er ist nur von der Rasse der Vollblutzyona.“
„Und warum…“, murmelte ich leise für mich. Es war also einer von der Seite, auf der Jeldrik und Phelim einst gestanden hatten. Ich musste gar nicht erst fragen, ob die Zyona und Dämonen sich mit Abneigung gegenüber standen. Aus unerklärlichen Gründen war mir das auf Anhieb klar gewesen.
„Nein. Keine Fragen. Ich rede und du gibst dich damit zufrieden was ich dir erzähle – erzählen kann“, sagte er so normativ, dass ich den Mund unverzüglich wieder zuklappte, als ich im Begriff war nachzufragen.
Um uns herum hörte man die Grillen singen und den Fluss rauschen. Menschen schrien und vergnügten sich mit ihres Gleichen, die schweren Ankerketten von Schiffen klirrten bis sie den Grund erreichten, irgendwo sang die Nachtigall ihr einsames Lied… Es war eine so friedvolle ‚normale’ Nacht in Maryland und dennoch erschien mir alles so überdimensional. Der natürliche Klang der Natur, des Lebens, der Menschen… Sie passten einfach nicht zu den Bildern meines ‚Traumes’… aus dem ich aus welchen Gründen auch immer nicht erwachte.
„Ich kann dir nur so viel sagen“, fing Jeldrik nach scheinbar endlosen Sekunden des Schweigens endlich an zu sprechen. „da ich ein Halbwesen bin, habe ich mehr Kraft, als normale Dämonen und mehr Sinne. Ich wurde aus zwei dynamischen Mächten, sagen wir mal geschaffen. Die meisten Exyus – so nennen wir Vollblutdämonen – und sogar Zyona treten uns mit sehr viel Respekt gegenüber, aber dieser Abschaum von Da-“, er räusperte sich. Seine Stimme hatte plötzlich einen bitteren Ton angenommen. „…der Zyona weiß etwas über uns, was ihm Vorteile verschafft. Bedeutende.“ Jeldrik schlug die Zähne zusammen und sah in die Ferne.
Zyona, Exyus. Mir schwirrte der Kopf. Welcher normale Mensch kam bei diesem Wesen-Wirrwarr schon mit? Ach, halt – verzeih. Jeldrik war ja überhaupt kein Mensch. Er war ein… ein…tja, was war er? Ein Zy-us?
„Er hat uns in der Hand“, flüsterte Jeldrik kaum hörbar und ballte die Hände zur Faust.
„Wenn… Du sagtest doch, dass ihr immense Kräfte habt. Stärker als die Dämonen seid. Ich meine, hat der… der ‚Zyona‘ keine Angst, dass…?“ Ich boxte die Faust in meine andere Handfläche und gab ein dumpfes Geräusch von mir. Die Frage, was er denn über sie wusste, unterdrückte ich mühsam.
Jeldrik kicherte kurz über meine lächerliche Imitation der Gewalt.
„Das sollte er. Brauch er aber nicht“, seufzte er dann. „Uns ist es untersagt unseres Gleichen zu töten. Und wird dann ebenso mit ... dem Tod bestraft.“
„Aber ihr seid doch stärker. Ihr könntet euch doch wehren, wenn sie es vor hätten oder?“, entgegnete ich verständnislos. Wo war das Problem?
„Keiner legt sich mit dem Regent an“, sagte er sachlich und sah mir dabei bestimmt in die Augen.
Seine Augen schimmerten leicht im sachten Licht des Mondes. Vielleicht sollte es mir Sorgen machen, dass ein Geschöpf der Finsternis mich dermaßen einfach in seinen Bann ziehen konnte. Aber im Gegenteil. Ich genoss seinen Blick, den ich einst hasste.
„Ist dir eigentlich klar, dass du mich gerade zu einem Mord überreden wolltest?“, fragte er schmunzelnd und ich zuckte zusammen.
So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Jeldrik sah wohl das Entsetzen, das sich unmissverständlich auf meinem Gesicht ausgebreitet hatte, denn er gluckste leise.
„Dann hätten wir das Thema wohl abgeschlossen“, schlussfolgerte er auf mein Schweigen und sah fast… erleichtert aus. ‚Abgeschlossen’ traf es meiner Meinung nach jedoch überhaupt nicht. Mir kam es vor, als ob ich nur die Einleitung in ein Buch, welches dicker als die Bibel war, erhalten hätte – und selbst diese gekürzt wurde.
Ich wäre nicht Eveline Travis, wenn ich es bei seinen kargen Antworten belassen hätte. Aber wie es das Schicksal wollte klingelte just in diesem Moment mein Handy.
Eigentlich hatte ich nicht vor, ran zu gehen. Stattdessen wollte ich meinen Kopf, der nur so vor Fragen sprudelte, Antworten liefern, sobald das Klingeln endlich verklungen war. Doch Jeldrik stöhnte genervt und deutete mit dem Kopf auf meine Hosentasche, die mit ihrem Stoff etwas Viereckiges verbarg. Eine lautlose Aufforderung das Gespräch anzunehmen.
„Ja, Tyler?!“, murrte ich genervt ins Telefon, als ich es widerwillig doch aus der Hosentasche gezogen und den Namen auf dem Display gelesen hatte. Warum rief er auch immer in den ungünstigsten Momenten an? Wenigstens hatte ich jetzt keine Mascara zur Hand, die ich mir ins Auge befördern konnte…
„Das wird wohl doch langsam zur Gewohnheit mit dem freundlichen Umgangston, mh?“, mutmaßte er und lachte neckisch. Ich überging seine Stichelei, um das Gespräch kurz zu halten.
„Was gibt es?“
„Ist Jeldrik bei dir?“, gab er eine Gegenfrage zurück.
Ich stockte. War es unmoralisch, nein zu sagen, obwohl er genau vor mir saß? Tyler war sicher die Ruhe um mich herum aufgefallen. Was würde er denken, wenn ich mich zusammen mit Jeldrik ohne Abschied von der Party entfernt hatte? Ich kannte die Antwort und entschied mich kurzerhand für Nein.
„Nein. Weshalb?“, wollte ich dennoch wissen.
„Weil er mich abzulösen hat“, kurze Pause. „Und ich möchte jetzt auch gehen.“ Damit entriss er mir den spannenden Roman endgültig.
„Oh“, machte ich monoton und fügte dann zögerlich hinzu, nachdem ich Jeldrik geringzeitig nachdenklich angesehen hatte: „Aber ich weiß, wo er ist und… ich denke… er kann mich auch nach Hause fahren.“
So leicht kam Jeldrik mir nicht davon. Ich würde schon noch Möglichkeiten finden, ihn mit meinen Fragen zu löchern.
Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, schwieg dann jedoch und wandte seinen Blick mit einem frustrierten Seufzen von mir ab.
„Oh. Na gut…“, Tyler klang unsicher. „Dann… dann kann ich ja jetzt nach Hause fahren, oder?“
Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Ja, natürlich. Spricht doch nichts dagegen, oder?“
„Ja…ja hast Recht“, stammelte er und legte auf.
Kopfschüttelnd schob ich mein Handy zu und wieder in meine Hosentasche.
Jeldrik sah sich über die Schultern in Richtung Norden zum Festgelage, als ich meinen Blick wieder ihm zuwandte.
„Du musst Tyler jetzt ablösen“, brach ich schließlich die Stille und schnaubte resigniert. Ich musste mich dem Schicksal wohl oder übel – vorerst – ergeben.
Jeldrik nickte schwach, immer noch zum Strand blickend. „Ich weiß.“, sagte er gedämpft ohne mich anzusehen.
Ich war schon – wenn auch widerwillig – im Begriff aufzustehen, doch noch ehe ich mich versah, hatte mich eine Hand an den Schultern wieder zurück auf den Stein gedrückt und verweilte auch weiterhin dort. Warmer Atem mit süßlichem Geruch strömte mir ins Gesicht, während die Hand von meinen Schultern über meinen nackten Arm glitt und an meiner Hand verharrte.
„Versprich mir, dass…“, Jeldrik zögerte. „Das klingt jetzt abgedroschen, aber…“ Er strich mir die Haare aus dem Gesicht, welche mir inzwischen strähnig vor die Augen gefallen waren und sah mich fast schmerzerfüllt an. „Du musst mir vertrauen.“, bat er mich dann schließlich eindringlich und seufzte.
Ich konnte nicht mehr als nervös „Okay“ zu piepsen und war unheimlich dankbar dafür, dass das Mondlicht zu schwach war um meine Röte im Gesicht sichtbar zu machen.
Jeldrik nahm seine Hand von meiner, streckte sie mir aber unmittelbar nachdem er sich erhoben hatte wieder entgegen. Es hatte mich unheimlich flatterig gemacht, sein Gesicht so nah vor meinem zu wissen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Stimmbänder – und vor allem meine Seele selbst – sich wieder soweit beruhigt hatten, dass ich sprechen konnte, also nahm ich sie ohne Umschweifen und ließ mich von ihm zurück zum Fest ziehen.
Einem dämonischen Engel vertrauen… Ha! Sehr ironisch! Aber ich tat es.
Er ließ meine Hand auch dann nicht los, als wir unabdingbar leider doch den Weg zwischen die Büsche eingeschlagen hatten und in Sichtweite der tanzenden Meute waren. Und ich wäre nicht Eveline Travis, wenn ich ihm spätestens jetzt nicht meine Hand entzogen hätte. Tja… aber anscheinend schien ich wirklich nicht Eveline Travis zu sein, denn aus unerklärlichen Gründen ‚konnte’ ich seine Hand nicht los lassen. Ich hätte Jeldrik Wadim wegen fahrlässiger Freiheitsberaubung anzeigen können.
Einige bekannte Gesichter hatten ihre Blicke schon bevor Jeldrik und ich ins Licht der Fackeln traten, erstaunt auf uns gerichtet – oder viel mehr auf unsere Hände. Manche hatten sogar aufgehört zu tanzen und tuschelten ungehalten. Die Presse wäre nichts gegen diese sensationsgierige Masse.
„Und eine Anzeige wegen Nötigung“, erweiterte ich meine Liste seiner Strafen so laut, dass nur Jeldrik es hören konnte. Widererwarten schien er sofort zu wissen, was ich meinte, drückte leicht meine Hand und kicherte gesellig.
Ohne jede Bemühung bahnte er uns einen Weg mitten durch die wild tanzenden Leute direkt zur Bühne. So geschenkt verlief es aber nur, weil sie uns ohnehin Platz machten, auch wenn nur deshalb, um uns besser begaffen zu können. Jeder, bis auf eine…
Christi bewegte sich nicht vom Fleck, als unser Weg unmittelbar ihren Tanzbereich kreuzte. Mit verschränkten Armen stand sie wie ein Türsteher vor Jeldrik und mir und schien mich in Gedanken zu erstechen. Als ihr wütender Blick in Jeldriks Gesicht wanderte, seufzte dieser genervt.
„Was läuft denn hier?“, fragte sie mit einem scheinheiligen Lächeln auf den Lippen. Mir war bis dato noch nie aufgefallen wie unangenehm schrill ihre Stimme klang.
„Siehst du doch. WIR laufen hier. Und jetzt mach Platz, Christi, ich muss spielen“, ließ er so distanziert verlauten, dass in mir ein düsteres Lächeln hervorgerufen wurde.
Christi ließ entrüstet und mit offenem Mund die Arme neben ihren Körper sinken, dachte jedoch nicht daran aus dem Weg zu gehen, sodass Jeldrik wiederholt genervt stöhnte und sie sanft beiseiteschob.
Mit mir an der Hand drängte er sich ohne sie noch eines Blickes zu würdigen an ihr vorbei und ich meinte, ihn ebenso düster lächeln zu sehen wie ich es gerade getan hatte.
Es war unmanierlich, ich weiß, aber ich kam nicht umhin sie siegessicher anzulächeln. Sie quittierte es mit einem Blick, der hätte töten können, wenn sie die nötigen Fähigkeiten dazu gehabt hätte.
Dean und die restliche Band hielt die Menge momentan nur instrumental in Stimmung. Wie es schien war Tyler bereits nach Hause gefahren. Wenn die Band angefangen hätte zu singen, so wusste ich, wäre es in eine dilettantische Version des Ballermanns ausgeartet. Blamabel.
Als wir uns endlich soweit vorgedrängt hatten, dass wir vor der Bühne standen, umfasste Jeldrik meine Taille und hob mich mit einer erstaunlichen Leichtigkeit auf den Rand der Bühne. Ebenso geschmeidig schwang er sich wenig später auf die Bühne, schnappte sich die E-Gitarre, die an einer der massigen Boxen lehnte und ging auf direktem Wege zur Bühnenmitte vor ein vereinsamtes Mikrofon.
Probeweise tippte er gegen dieses, begrüßte dann das Getümmel und die Band sprang in einen anderen Takt über. Ich war darauf gefasst gewesen, dass Jeldriks Stimme – die ohnehin schon bezaubernd klang – mir mindestens genauso Gänsehaut bereiten würde wie die von dem Sänger der Band FM Static Trevor McNevan. Aber ich hatte mich geirrt. Sie klang besser. Weicher und irgendwie schmeichelnd.
Gewohnheitsgemäß schloss ich die Augen und gab mich die nächsten zwei Stunden dem Klang seiner Stimme hin…
Irgendwann legte die Band eine kurze Pause ein und Jeldrik hatte sich neben mir in die Hocke gesetzt.
„Hast du was dagegen, wenn wir sofort nach Hause gehen, wenn ich hier fertig bin?“, wollte er wissen und hatte sich noch ein Stück näher zu mir heran gelehnt, während Christi uns mit hasserfüllten Blicken strafte. Jeldrik schien es jedoch nicht einmal zu bemerken, erhob sich wieder nachdem ich den Kopf geschüttelt hatte und die Band spielte weiter.

Wie geplant verließen wir gegen halb vier nachts den Strand von Rock Hall durch die allseits bekannten Büsche. Nicht ohne neugierige Blicke im Rücken, versteht sich.
„Warte“, verlangte er kurz angebunden und rannte zu einem der Sträucher, die um uns lagen.
Achtlos zerrte er irgendein großes Vehikel, welches ich als Motorrad identifizieren konnte, aus dem Geheck und klopfte anerkennend auf dessen Sitz. Der Lack seines eher weniger vorhandenen Schutzblechs glänzte leicht. Selbst ich erkannte, dass seine Maschine nicht mehr alle Schutzbleche vorwies, die es einst besessen hatte.
Jeldrik trat erneut ins Gebüsch und brachte einen Helm, eine Motorradjacke und vermutlich einen Nierengurt zum Vorschein. Teilnahmslos hob ich eine Augenbraue und beobachtete ihn dabei wie er sich den Gurt umschnallte.
„Die hat auch schon so einiges mitgemacht, oder?“, fragte ich argwöhnisch und deutete auf das Stahl – und Kabelgewirr, welches nicht mehr von Schutzblech verborgen wurde. Ich konnte kein einziges Teil benennen. Jeldrik sah augenblicklich auf.
„Sie ist noch nicht fertig“, murrte er dann und es klang fast so, als ob er das Ding, das er eben noch so lieblos aus dem Gebüsch gezerrt hatte, verteidigen wollte.
„Und warum versteckst du dein Prachtstück in einem Busch voller kratzendem Gestrüpp?“, fragte ich und hob abermals die Augenbraue.
„Weil es hier viele gibt, die auf eine Suzuki GSX-R sehr erpicht sind“, erklärte er und seufzte genervt. Als ob das so selbstverständlich wäre!
„Und weil Stahl nicht so empfindlich gegen störrische Äste ist wie deine Haut. Kommst du jetzt?“, fragte er keck grinsend und hob mir die Jacke inklusive Helm entgegen.
Ich riss panisch die Augen auf. Ach du Schreck! Befand sich in dem Gebüsch nicht vielleicht auch noch ein Auto? Jetzt wurde auch mir klar, warum Jeldrik so skeptisch die Augenbrauen in die Höhe gezogen hatte, als ich Tyler sagte, er würde mich nach Hause fahren. Ich auf so einer Maschine? Ich schauderte. Jeldrik war selbst mit dem Auto schon ein unsittlicher Fahrer, wie ich gestern schon erfahren durfte. Wenn ich es mir Recht überlegte, wollte ich gar nicht erst wissen wie er sich auf einem Motorrad benahm. Mist, verdammter! Aber was blieb mir jetzt auch noch anderes übrig? Hättest mich ruhig vorwarnen können, dachte ich garstig.
Ungeduldig wedelte Jeldrik mit seinem Equipment herum und schwang sich dann schon mal auf seine Maschine. Ich stand noch eine Weile reglos da und starrte ihn an. Hin und her gerissen, ob ich mir nicht lieber doch eine andere Mitfahrgelegenheit suchen sollte, kaute ich nervös auf meiner Unterlippe.
„Eveline, komm jetzt. Oder ist es dir lieber, wenn ich dich fliege?“, drängte er und verdrehte die Augen. Fliegen? Wollte er mich jetzt…? Ach, Moment. Das konnte er theoretisch ja wahrhaftig tun. Doch sein Verhalten der letzten beiden Stunden war so menschlich gewesen, dass ich schier vergaß, was er wirklich war. Gedanklich schlug ich mir die Hand vor den Kopf.
Geistesgegenwärtig schüttelte ich den Kopf und machte taumelnde Schritte auf Jeldrik und seine Maschine zu. Mit zittrigen Händen nahm ich ihm erst die Jacke und dann den Helm aus den Händen. Den Helm zwischen die Beine geklemmt, schlüpfte ich umständlich in die Motorradjacke. Sie war mir mindestens fünf Größen zu groß, wenn nicht sogar mehr. Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen wie lächerlich das aussah. Und schwer war sie! Mir war es ein Rätsel wie Biker solch bleierne Jacken tragen und gleichzeitig das Gleichgewicht halten konnten.
Jeldrik zog den Helm zwischen meinen Beinen hervor und drückte ihn mir auf den Kopf. Seine Finger fanden abermals unumgänglich Kontakt zu meiner Haut, als er die Riemen des Helms unterhalb meines Kinns zu Recht zog. Ausgerechnet am Hals – meine feinbesaitete Stelle! Ich kniff die Augen zusammen und biss mir auf die Unterlippe, um das Kichern zu unterdrücken.
„Empfindlich?“, schmunzelte Jeldrik leise, doch werkelte erbarmungslos weiter in der Nähe meines Halses herum. Ich antwortete ihm nicht. Denn ich wusste, dass, wenn ich jetzt den Mund aufmachte, meine Selbstbeherrschung den Bach runter fließen würde. Oh, bitte lass es schnell vorbei sein, betete ich in Gedanken.
Als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, legte Jeldrik gegen alle Erwartungen seine Hand an meinen Hals und kraulte mir provokant den Nacken. Das war es dann mit meiner Selbstdisziplin.
Erschrocken quiekte ich laut auf und sprang instinktiv ein paar Schritte zurück. Und Jeldrik? Tja, er lachte ungehalten.
„Ihr Menschen seit so amüsant!“, brüllte er und hielt sich die Hand an den Bauch.
Meine Augen wurden schmal und ich war drauf und dran – Dämon hin oder her – ihm an den Hals zuspringen. Doch gutmütig wie es manchmal war, verkniff ich mir sogar einen kratzbürstigen Kommentar und machte keine Anstalten mich hinter ihn auf seine Kawasaki zu schwingen, obgleich ich keine Ahnung hatte, ob der Sozius-Sitzplatz meinen kurzen Beinen überhaupt gerecht kam.
Zu meinem Glück – und meiner größten Zufriedenheit – konnte ich mich auch ohne nur das Heck mit dem Fuß zu streifen, hinter Jeldrik platzieren und legte ihm die Hände an die Seiten.
Seine Lachmuskeln verloren allmählich an Schwung und er ließ die Kawasaki mit einem Kickstart laut brummend an. Erschrocken schrie ich auf, als das Motorrad unter uns – wie es zu erwarten, aber ich dennoch nicht darauf gefasst war –zu beben begann. Reflexartig schlang ich gleichzeitig meine Arme um Jeldriks Mitte. Ich hörte ihn kichern und so was wie „Ich hätte dir eh geraten, dich besser fest zu halten“ über den lauten Motor hinweg rufen und er gab Gas. Die Reifen quietschten unter uns und fuhren dann mit einem Elan über den gekiesten Weg.

Wie ich es geahnt hatte, war sein Fahrstil auf zwei Rädern nicht weniger waghalsig als der auf vier. Sogar noch um einige Grade schlimmer. Nach weniger als 100 Metern hatte ich mein Gesicht an seiner Schulter verborgen und stellte mir vor, wie hinter uns nur noch Staubwolken zu sehen waren. Und ich hätte schwören können, dass es auch genauso aussah wie man es aus Actionfilmen kannte. Auf das Wissen, wie hoch die Tachonadel nach nur wenigen Sekunden gestiegen war, hatte ich gut und gerne verzichtet. Viel mehr machten mir aber noch die Kurven Angst, in welche sich Jeldrik meines Erachtens nach viel zu sehr reinlegte. Jedes Mal kämpfte ich mühsam gegen das Verlangen an, einen Fuß auf den Asphalt zu stellen, um uns vom Boden abzustoßen und uns somit wieder in die Gerade zu bringen. Aber ich wusste natürlich, dass ich damit nur das Gegenteil erreicht hätte. Und auch auf diese Erfahrung wollte ich dankbar verzichten.
Ich kann nicht sagen, wie erleichtert ich schlussendlich war, als Jeldrik eine viertel Stunde später vor meinem Haus den Motor ausschaltete und ich befreit gedanklich den Boden küsste, den ich nun wieder untern den Füßen spüren durfte. Auch wenn die Fahrt noch ein gewisses Schwindelgefühl nach sich zog und ich somit genauso unsicher auf dem Grund schwankte wie ich auch hinter Jeldrik saß.
Dass Jeldrik mich beim Arm nahm und behutsam zum Haus zog, als auch er von seiner Maschine gestiegen und wieder alles unter dem Sitz verstaut war, bewies mir, dass mein Wanken wohl offensichtlicher zu sein schien, als ich es vermutet hätte.
„Du bist ganz schön müde, oder?“, flüsterte er ungelenk, als ob er nichts Besseres zu sagen wüsste und zog mich neben sich auf den Treppenabsatz vor der Haustür. Müde, Ha! Ich wäre fit wie ein Turnschuh, wenn unser Renommist etwas mehr Rücksicht auf die weniger Geschwindigkeitsgewöhnten unter uns genommen hätte.
„Mh-mh“, machte ich und schüttelte leicht den Kopf. Mir war übel, ansonsten war mein Körper ausgeruht! Abgesehen von meinen Augenlidern… Ich gähnte herzhaft und Jeldrik schmunzelte. Na gut, ich wurde wahrhaftig langsam müde. Aber es gab einfach noch zu viele Fragen, die in meinem Kopf schwirrten. Bevor diese nicht beantwortet wären, könnte ich ohnehin nicht schlafen.
„Du, Jeldrik?“, fing ich vorsichtig an und bemühte mich fit zu klingen. Jeldrik legte sich die Hände in den Nacken, überkreuzte die Beine und lehnte sich gegen die hölzerne Haustür. „Mh?“, gab er dann von sich und schluckte hörbar.
„Wer… also…“, ich zögerte und biss mir wie schon so oft an diesem Abend auf die Unterlippe. Der Himmel war dicht bewölkt, selbst der Mond schien verschwunden zu sein, welcher mir heute schon mehrmals ehrenvollen Dienst erwiesen hatte. Zum Beispiel um die Konturen von Gestalten im Mondlicht besser erkennen zu können…
„Wie ist das denn bei euch? Ich meine, du und Phelim ihr seid hier und… na ja, scheint ein einigermaßen ‚normales’ Leben zu führen… Der Zyona auch?“
Ich hörte wie Jeldriks Zähne aufeinander schlugen. „Ein Nachleben“, verbesserte er mich scheinbar automatisch. WOW, ich hatte eine Antwort erhalten. Na ja, wenn auch nur indirekt… und eine weitere Frage dazu… Verflucht!
„Ein Nachleben?“
Er seufzte qualvoll. Kurz überlegte ich, ob er wohl besser sehen konnte als normale Menschen und ihm mein neugieriger Blick aufgefallen war, aber ich hatte keine weitere Gelegenheit weiter darüber zu grübeln.
Ich hörte, dass er sich bewegte. Augenblicke später blies mir warmer Atem ins Gesicht. Das beantwortete meinen Gedankengang.
„Keine Fragen“, hauchte er und ich schluckte hörbar, denn sein Atem war meinem Mund plötzlich näher als erwartet. Ein zarter, warmer Windhauch kitzelte mir über die Lippen und meine Nackenhärchen stellten sich auf.
Irgendwo läuteten die Kirchenglocken. Ich war in diesem Moment zu derangiert, als dass ich genau ausmachen konnte woher das Geläut kam, obgleich ich im Normalfall genau wusste wo sich die Kirche befand.
Nach dem vierten Schlag war eine kaum wahrnehmbare Pause, die Glocken nahmen einen tieferen Klang an und läuteten einmal… Zweimal.
Zittrig glitt mein Atem durch meine Lippen und meine Gedanken vernebelten sich zunehmend. Trotz, dass ich nur seine Konturen in der währenden Dunkelheit ausmachen konnte, machte mich die Tatsache oder eher die bloße Vermutung, sein Gesicht so nah vor meinem zu haben, schrecklich nervös. Ich blinzelte ein paarmal umnachtet, ehe ich die Augen schloss und abwartete, was geschehen würde. Zwischen uns herrschte prickelnde Elektrizität, sie durchfuhr mich wie ein schwacher Stromschlag. Die Sekunden verstrichen, nichts geschah. Obwohl das Kribbeln standhielt, wurde die Situation von Sekunde zu Sekunde unangenehmer. Enttäuschender.
Als ich schließlich blinzelnd meine Lider wieder öffnete, traf mein Blick auf flussgrüne, funkelnde Augen. Der Himmel hatte sich inzwischen Dunkeltürkis gefärbt, sodass ich Jeldrik einigermaßen erkennen konnte. Wie lang hatte ich denn vor ihm gesessen und absurd die Augen geschlossen gehalten? Sein Mund war leicht geöffnet, sein Blick sah seltsam leer und resigniert aus. Nur mit Mühen schaffte ich es, meinen Blick von ihm zu reißen und mich leise zu räuspern, während ich meinen Kopf abwandte.
Ein kühler Windhauch aus östlicher Richtung blies mir die Haare ins Gesicht und verursachte mir eine Gänsehaut. Ich schlotterte. Hotpants und Top erwiesen sich selbst im Hochsommer als äußerst unangebracht, was solch späte Stunden betraf. Was mir dummen Gans auch wieder reichlich früh einfiel. Ich seufzte.
„Ich glaube, für heute ist genug. Geh rein und schlaf dich aus“, meinte Jeldrik, der mich plötzlich mit gewissen Argwohn beäugte, aber beruhigender war als diese Leere eben. Ich nickte unsicher und rappelte mich dann unbeholfen von dem kalten Marmorboden auf.
Jeldrik tat es mir wenig später gleich, als ich den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche gefingert und ins Schloss gesteckt hatte und sprang den Treppenabsatz hinunter. Er war auf halbem Wege schon bei seinem Motorrad, als ich irritiert die Hand vom Schloss sinken ließ und ihm ängstlich nachsah.
„Nein, du…“, rief ich und er sah mich fragend an. „Du… Geh nicht“, bat ich und streckte ihm meine Hand entgegen. Jeldrik blieb noch eine Weile unschlüssig stehen. Seine Maschine stand vor unserem Gartentor am Straßenrand.
„Du kannst sie in unsere Garage stellen“, meinte ich, als ich sein Problem erkannt hatte und ließ die Hand zurück neben meinen Körper fallen. Er schien noch kurz zu überlegen, nickte dann aber und hüpfte auf seine Kawasaki zu, während ich mich wieder dem Haustürschloss widmete.
„Wo geht die Garage denn auf, Eve?“, hörte ich wenig später klar und deutlich seine Stimme, obwohl ich bereits im Korridor stand und auf ihn wartete.
Ach ja, klar. Unsere Garage öffnete sich nur auf einen Code.
„Warte“, rief ich und stolperte zurück nach draußen zur Garage. Jeldrik sah mich kurz verwirrt an, als ich um die Ecke bog und mich an einem weißen Kästchen, welches an der Hauswand angebracht war, zu schaffen machte. Schob dann jedoch wortlos sein Motorrad hinters Tor und folgte mir ins Haus und in mein Zimmer.
„Willkommen in meinem bescheidenen Reich“, flötete ich, als ich meine Zimmertür hinter ihm schloss.
Meine Wände waren hellviolett gestrichen und manchen Ecken wurden von schwarz aufgezeichneten Ranken geziert. Neben einem großen Metallschrank, der die gesamte westliche Wand einnahm, einem Schreibtisch vor dem einzigen – aber gigantischen – Fenster und meinem eisernen Himmelbett neben der Tür gestalteten grüne Pflanzen und graue Poster von Menschen in ihrer natürlichen Umgebung den Raum.
Jeldrik stieß einen anerkennenden Pfiff aus und steuerte aufs Bett zu. Mit einem lauten Seufzer ließ er sich quer auf es fallen und schloss die Augen. Die Situation war irgendwie ziemlich beklemmend. Außer Tyler und meinem Vater hatte noch nie jemand anderes Männliches auf meinem Bett gelegen. Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen und sah mich unsicher im Raum um.
Durchs Fenster konnte ich sehen, dass sich die Sonne am Horizont zum Aufbruch bereit machte und ich schnaubte unzufrieden. Wenn ich eines hasste, dann Licht beim Einschlafen.
„Ich… geh mich mal umziehen und so was“, stammelte ich. Jeldrik ließ die Augen geschlossen und nickte schwach.
Einen Moment stand ich noch zögernd im Raum, schnappte mir dann aber mein Schlaf-T-Shirt, welches ich morgens immer über meine Schreibtischstuhllehne schmiss und verließ eilig mein Zimmer.
Stöhnend lehnte ich mich von außen gegen meine Tür und widerstand dem Drang gegen sie zu schlagen. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, ihn noch mit rein zu schleppen? Ich lachte abfällig. Gar nichts, genau. Schnaubend fuhr ich mir durch die Haare und befahl meinen Beinen sich Richtung Bad zu bewegen.
Im Spiegel über dem Waschbecken sah mir ein Mädchen mit leichtem aprikofarbenem Teint entgegen. Um ihre Augen lagen dunkle Ringe von ihrer verschmierten Mascara. Die langen schwarzen Locken, sie sonst immer voluminös um ihr Gesicht lagen, klebten bis zu einer Delle knapp unterhalb des Kinns an ihrem Kopf. Vermutlich von dem Helm, den sie davor getragen hatte. Ihre schmalen Lippen sahen trocken aus.
„Kein Wunder, dass er dich nicht küssen wollte“, sagte ich zu dem Mädchen, das mein Spiegelbild war, seufzte und wendete den Blick von ihr ab.
Am Waschbeckenrand lagen noch verstreut meine Schminkutensilien von heute – nein, gestern Abend. Zerstreut wechselte ich immer wieder den Blick zwischen dem Mädchen vor mir und meiner Mascara. Es wäre albern sich jetzt vor dem Schlafengehen nach zu schminken, oder?
Kopfschüttelnd verwarf ich den Gedanken wieder und ließ alles in einer Schublade unter dem Waschbecken verschwinden, ehe ich mir einen Waschlappen schnappte und mein Gesicht von Kosmetik befreite.
Als ich zurück in mein Zimmer kam, brach die Sonne schon minimal hinterm Horizont hervor und hatte den Himmel in helles Orange getaucht.
Jeldriks Schuhe lagen vor meinem Bett, er lag mit dem Rücken zur Wand im hinten Teil meines Bettes und schnaufte friedlich. Er schlief. Ich blinzelte noch mal zum Fenster, ging dann aber auf Zehenspitzen, als ich mich entschlossen hatte, dass es zu laut gewesen wäre die Jalousien herunter zu lassen, zum Bett und legte mich eng vor ihn. Er schnaubte unruhig, legte dann wahrscheinlich unbewusst einen Arm um meine Mitte und nahm den Takt seines friedlichen Atmens wieder auf. Keine fünf Minuten später war auch ich im Land der Träume – obgleich ich mir nicht sicher sein konnte, ob ich das nicht schon die ganze Zeit gewesen war.

Kapitel 7 - Das mit der Drohung

Nerv tötendes, lautes Hämmern gegen meine Tür, quietschendes Knarren auf antikem Holzboden, dumpfes Gerede und schließlich die Tatsache, dass sich die Matratze neben mir senkte, weckten mich aus meinem Schlaf.
Die Haare klebten mir wild im Gesicht, trotz dass ich sie zuvor im Bad mit einem Haargummi zu bändigen versuchte. Brummend strich ich sie mir aus dem Gesicht, wobei sie nach wenigen Sekunden aber wieder in ihre alte Position verfielen.
Am Bettrand kicherte jemand und ich vernahm ein echohaftes Gemurmel. Jemand sprach zu mir.
„Linchen, aufwachen. Du musst arbeiten.“
Riley? Ich fuhr mir übers Gesicht und schob mir meine Hand unter den Kopf – um zu übermitteln, dass ich demonstrativ weiter schlafen wollte.
„Ging gestern wohl heiß her“, seufzte Riley und die Matratze neben mir erhob sich wieder. Gestern…? War da nicht was?
Erschrocken riss ich die Augen auf. Riley war hier und Jeldrik…
Ich tastete neben mich. Meine Hand landete auf kalter Matratze. Verwirrt setzte ich mich auf und sah neben mich. Zu meiner Erleichterung und mit irgendwie gewissem Wehmut stellte ich fest, dass das Bett neben mir leer war.
Riley zog die Augenbrauen gen Himmel und betrachtete mich mit einem fragenden Blick. Blinzelnd sah ich ihm entgegen. Die Sonne strahlte inzwischen mit voller Intensität in mein Zimmer und mir erbarmungslos ins Gesicht. Murrend hob ich mir den Arm vor die Augen und ließ mich zurück in meine Kissen fallen.
„Hey, nein! Vergiss es, Eveline! Du musst für Mel einspringen“, rief Riley plötzlich etwas grantig und rüttelte mir im selben Moment den Arm vom Gesicht.
„Warum?“, murrte ich genervt und setzte mich widerwillig wieder in die Senkrechte. Riley grinste zufrieden und zog mir die Decke von den Beinen.
„Mel hat die Grippe“, er zuckte die Schultern. „Als sie angerufen hat, hab ich gesagt, dass du für sie einspringen kannst.“
„Ach. Ich wusste gar nicht, dass ich mich zum Bereitschaftsdienst gemeldet habe“, knurrte ich und schwang mich mühsam aus dem Bett.
Riley,  besagte Mel und ich halfen in einem Lokal namens ‚Cliffi’s’ aus. Riley hatte damals während seiner Ausbildung zum Arztassistent die alte verwitwete Dame Mrs. Cliff kennen gelernt, welche das inzwischen in die Jahre gekommene Lokal besaß. Sie war zu der Zeit ziemlich verzweifelt gewesen, da sie nicht wusste wie sie das Lebenswerk ihres verstorbenen Mannes allein auf den Beinen halten sollte. Nach dessen Tod, hatten einige ihrer Angestellten gekündigt, weil sie nicht daran glaubten, dass es das ‚Cliffi’s’ unter ihrer Führung noch lange machen würde. Aus Mitleid hatte Riley ohne es nötig zu haben angefangen bei ihr nebenher auszuhelfen. Kurze Zeit später war auch ich beigesprungen – im Gegensatz zu ihm hatte ich einen Nebenjob allemal nötig. Mel kam erst vor einiger Zeit dazu. Kennen tat ich sie kaum. Dass sie eine erfolglose Schriftstellerin ohne Schulabschluss war und deshalb diesen Job als Köchin unbedingt brauchte, war auch schon alles was ich über sie wusste.

Ungerührt zuckte Riley die Schultern. „Jetzt weißt du es“, war alles was er dazu zu sagen wusste und gab mir mit einem Tippen gegen seine imaginäre Armbanduhr zu verstehen, dass ich in die Gänge kommen sollte.
Grummelnd hievte ich mich aus dem Bett und scheuchte Riley zur Tür hinaus, um mich in Alltagskleidung zu werfen. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, lehnte ich mich von Innen dagegen und heftete meinen Blick auf das leere Bett.
Bislang hatte ich Kylie immer ausgelacht, als sie mich nach Dingen gefragt hatte zu denen es keinen Anlass gab. Aber jetzt konnte ich die Verwirrung, ob etwas real geschehen war oder eben nur in Traum, ganz gut nachvollziehen. Die Tatsache, dass das Bett, welches gestern noch von einem schicken Dämon mit Engelsgen geziert wurde, nun leer war, trug nicht unbedingt dazu bei, dass ich der Konfusion in meinem Kopf Klarheit verschaffen konnte. Andererseits… sprach das nicht eher für die Traumtheorie?
Seufzend strich ich mir die Haare hinters Ohr und machte mich daran aus meinem Kleiderschrank etwas Brauchbares zu ziehen, ehe ich mich ins Bad begab.
Aus dem Spiegel sah mich dasselbe blasse Gesicht an wie heute Nacht. Obwohl die schwarzen Ringe um ihre Augen verschwunden waren sah sie nicht wahrlich freundlicher aus. Da nutzte es auch nichts, wenn man von dem Gestrüpp – anders konnte man es nicht nennen – auf ihrem Kopf absah. Wieder ein Punkt, der die Traumtheorie bestätigen wollte. Unsanft riss ich mir den Haargummi aus den Haaren, um ihn – nachdem ich sie mühsam durchgekämmt bekam – fester um die Haare zu ziehen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit vor dem Spiegel und zwei duzend Wolken Haarspray konnte ich mich wieder einigermaßen als Mensch erkenntlich zeigen.
Riley saß in der Küche mit einer Karotte – ja, wirklich – bewaffnet und tippte mit den Fingern im Takt eines Liedes, das vermutlich in seinem Kopf spielte, auf dem Esstisch herum, als ich zu ihm nach unten geschlendert kam.
Ungläubig zog ich eine Augenbraue in die Höhe, während ich zusah wie Riley genüsslich an seiner Karotte nagte.
„Was?!“, murrte er mit vollem Mund und ihr hörte die Karotte zwischen seinen Zähnen knacken.
Das fragte er noch? War ja nicht jeden Tag der Fall, dass jemand ungeschälte Karotten an meinem Esstisch verzerrte.
„Du hast eben so lange gebraucht und die Karotten haben mich dazu verführt sie zu essen“, entgegnete er Schulter zuckend, als ich auch die andere Augenbraue gen Himmel gezogen hatte.
Lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Lass uns gehen“, sagte ich und verdrehte die Augen, während ich mich schon in Richtung Haustür begab.

Vielleicht wäre es klüger gewesen, wenn ich zum ‚Cliffi’s’ gefahren wäre. Das hätte uns sicher einiges an Zeit gespart. Im Gegensatz zu Jeldrik, hielt sich Riley nämlich ziemlich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Das soll nicht heißen, dass mir Jeldriks Fahrstil lieber war, aber so peinlich genau wie Riley es war, war es wirklich ermüdend. Zudem, dass ich in dieser Nacht nicht länger als vier Stunden schlafen durfte. Jeldriks Fahrstil hätte mich ermuntert – mit Sicherheit –, aber so hing ich träge im Sitz von Rileys silbernem Dacia Logan Pickup und bemühte mich darum, die Augen offen zu halten.
Ich war dankbar, dass, als wir in die letzte Einfahrt zum ‚Cliffi’s’ einbogen, jemand hinter uns ungeduldig hupte und mich somit so erschreckte, dass ich unverzüglich wieder wach gerüttelt wurde – wenn auch etwas unsanft.
Das ‚Cliffi’s’ war – wie auch so viele andere Gebäude in dieser Kleinstadt – ein veraltetes Backsteinhaus, eingepfercht zwischen zwei weiteren. Eine schlichte Steintreppe, geziert von einem einzigen Blumentopf mit blauen Lupinen, führte zum Eingang über das und einem anliegenden Fenster ein typisches Kneipenschild mit der Aufschrift ‚Richards Cliffi’s Restaurant’ hing. Das Schild war inzwischen vergilbt und manche Buchstaben konnte man nur noch erahnen, aber der Anblick war mir zu vertraut, als dass ich es als schäbig bezeichnen würde.
Mrs. Cliff lehnte bereits an einem der tragenden Holzbalken neben dem Tresen, das an jene aus Westernkneipen erinnerte und lächelte uns freundlich an, als wir den Raum betraten. Wie gewohnt war die etwas pummelige Frau völlig in schwarz gekleidet. Einzig der fliederfarbene Schal um ihren Hals und die langen weißen Haare, die sie stets offen trug, ließen davon ausschließen, dass sie eine Nonne sei. Jede Wette, ansonsten würde man sie für genau das halten.
„Hallo Mrs. Cliff“, begrüßte Riley sie herzlich und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Mel ist krank, aber Eveline springt für sie ein.“, erklärte er dann und Mrs. Cliff nickte mir zur Begrüßung zu, ehe sie ihm antwortete.
„Ja, ich weiß. Sie hat vorhin angerufen. Das arme Ding krächzt ja nur noch.“ Es war so ironisch, dass ausgerechnet sie das sagte. Ihre Stimme war schon lange nicht mehr viel mehr als ein Krächzen gewesen. Ob ihr das selbst wohl bewusst war?
An manchen Tischen saßen schon einige Gäste mit nicht mehr als einem Glas vor sich. Das waren aber auch nur die üblichen Stammgäste – Vertreter, die sich vor ihrer Arbeit noch einmal ihre Akten durchsahen, Bauern, die sich vor dem Mittagessen ein Bier gönnen, das ihre Frauen ihnen verweigerten und hin und wieder Jugendliche, welche nichts besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten als sich von einer alten Frau bedienen zu lassen – soweit wir noch nicht da waren.
„Tja, ich verschwinde jetzt mal nach oben zu meinem täglichen Mittagsschläfchen. Im Alter wird man eben doch noch wieder etwas Kind“, ließ sie verlauten und lachte, ehe sie um das Tresen lief und hinter einer Tür verschwand, hinter welcher sie die Treppe zu ihrer Wohnung befand, die sie oberhalb der Kneipe bewohnte.
„Ich muss jetzt aber nicht wirklich kochen, oder? Außer du mutest den Gästen Böses zu“, sagte ich ängstlich zu Riley, als mir bewusst wurde, dass ich Mel als Köchin ersetzen sollte.
Riley lachte milde. „Nein, deine Kochkünste traue ich den Gästen wirklich nicht zu“, neckte er mich, legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich hinters Tresen. „Du übernimmst meinen Job als Kellner und ich versuch mich in der Küche.“ Ethan sei Dank, wusste Riley von meinen miserablen Kocherfahrungen. Er wurde nur einmal Zeuge meiner fahrlässigen Lebensmittelvergiftungen, als mein Vater ihn zum Essen eingeladen hatte und ich ausnahmsweise beschloss den Herd zu übernehmen.
Ich lächelte ihn dankend an, während ich mir einen der schwarzen Schürze schnappte und mir umband. Er zwinkerte, nahm sich auch einen der Schürze, die an einem Holzbalken hingen und verschwand hinter der Schiebetür, welche zur Küche führte.
Ich war gerade dabei das wenige Geschirr, welches die ebenfalls minderen Gäste benutzt hatten, von Speiseresten zu befreien, als mich ein lauter Knall zusammenfahren ließ. Jemand hatte die Tür zur Kneipe mit einem Elan so dermaßen aufgestoßen, dass diese mit einem unüberhörbaren Scheppern mit einer der niedrigen Trennwände, die sich links und rechts neben dem Eingang befanden, kollidierte. Die Trennwände schwankten noch einige Sekunden, während ein großer schlanker Mann durch den Türrahmen trat und unverzüglich in meine Richtung stürmte. Die Wut war ihm nur allzu deutlich anzusehen, obwohl sein Gesicht mir hinter der Kapuze seines Sweatshirts, das er trug, verborgen blieb. Mühelos setzte er sich auf einen der hohen Barhocker und kratzte angespannt mit den Fingern über die furnierte  Anrichte des Tresens, sodass ich jede Sehne seines Handrückens sehen konnte.
Unsicher machte ich einen langsamen Schritt in seine Richtung, nachdem ich den Teller, den ich gerade bearbeiten wollte, in das bewässerte Spülbecken zurück gleiten gelassen hatte. Nervös presste ich meine Finger in den nassen Schwamm, als ich ihm noch einen Schritt näher gekommen war und hinterließ vom Spülbecken bis ich schließlich auf der anderen Seite des Tresens diesem Mann gegenüberstand, eine Spur aus Spülwassertropfen.
„Kann… Kann ich Ihnen was… anbieten?“, fragte ich leise und biss mir auf die Unterlippe. Wirklich leise. Es war mir im ersten Moment schleierhaft, wie er mich überhaupt hatte verstehen können, aber er hatte.
Unverzüglich nahm er einen Blick von der Anrichte und sein Kopf schnellte so abrupt in meine Richtung, dass ihm die Kapuze vom Kopf fiel. Ich erstarrte und ließ den inzwischen ausgedrückten Schwamm auf den Boden fallen.
Phelims Locken fielen ihm anders als sonst wild in seine Stirn und unter ihnen sahen mich zwei graublaue Augen so vernichtend an, dass mich ein Schaudern überkam. Geringzeitig spielte ich mit dem Gedanken ihn einfach sitzen zu lassen und mich wieder meinem Spülbecken zu widmen, aber das wäre feige gewesen.
Ob er wohl meinetwegen so wütend war? Klar, warum sollte er mich sonst so hasserfüllt ansehen? Dumme Frage. Natürlich hatte Jeldrik seinem Bruder berichtet, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Und wahrscheinlich würde Phelim das nicht so locker nehmen wie sein Bruder – seinem Blick zufolge.
„Also?“, brachte ich über die Lippen, als er mich nach einigen Sekunden immer noch schweigend taxierte. Ich war selbst überrascht, wie locker meine Stimme klang.
Phelim richtete seinen Blick wieder auf die Anrichte. „Ja, ein normales Leben“, meinte ich ihn kaum hörbar murmeln zu hörn und er ballte die Hände zur Faust.
„Eveline“, seufzte er und ließ die Hände hinter dem Tresen verschwinden. „Das ist nichts gegen dich persönlich, aber…“
Phelim zögerte und holte noch einmal tief Luft, ehe er mich eindringlich ansah. „Lass. Uns. Zufrieden“, zischte er durch seine Zähne hin durch und betonte jedes einzelne Wort.
Mir klappte die Kinnlade runter. Hatte ich richtig gehört?
„Was…? Nein, ich…“, setzte ich zum Protest an, aber Phelims tiefes Knurren unterbrach mich. Keine Sekunde später war er aufgesprungen und hinter ihm fiel der Barhocker zu Boden. Parallel dazu hatte er mein Handgelenk gepackt, ich hörte ein klirrendes Zischen und schon drückte mir Phelim einen scharfen sichelähnlichen Finger an die Pulsader.
„Mein Bruder mag vielleicht die Güte gehabt zu haben, dich am Leben zu lassen, Travis“, sein Gesicht war inzwischen meinem so Nahe gekommen, dass ich es nicht einmal wagte zu Atmen. „Aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich dem anschließe. Ein Mensch darf nichts von uns erfahren. Und wenn doch…“, er lächelte bitter und drückte die Klinge seines Fingers stärker gegen meine Ader. Ich schluckte hörbar.
„Ich töte dich nur meinem Bruder zuliebe nicht, Travis. Ein Wort egal zu wem und egal, ob er es dir glaubt oder nicht und du machst deinen letzten Atemzug“, flüsterte er bedrohlich und durchbohrte mich mit einem mahnenden Blick, wie ich ihn noch nie zuvor beim menschlichen Geschlecht erfahren hatte.
„Hey, was soll das?!“, brüllte plötzlich jemand hinter mir.
Phelim zuckte kurz zusammen, im gleichen Moment fuhr seine Sichel zurück, wobei die scharfen Klinge knapp neben meiner Ader meine Haut streifte und einen feinen Schnitt verursachten. Mechanisch drückte ich augenblicklich meine andere Hand dagegen und ignorierte den Schmerz, während ich zusah wie Phelim nach einem gefährlichen Schnauben in die Richtung der Person hinter mir, fluchtartig die Kneipe verließ.
„Freak“, stieß Riley hinter mir verächtlich aus. Er stand mit verschränkten Armen in der Tür zur Küche, als ich mich zu ihm umdrehte und unauffällig meine Hände hinter dem Rücken verschwinden ließ.
„Was wollte der von dir?“, fragte er und nickte mit dem Kopf zur Eingangstür.
Ich zuckte gleichgültig die Schulten, obgleich ich innerlich noch ganz aufgewühlt war vor Schrecken.
„War ´n Schulkamerad“, sagte ich leise und versuchte mich an einem Lächeln.
Riley hob ungläubig eine Augenbraue. „Ziemlich grob für einen einfachen Schulkameraden, findest du nicht? Was wollte er?“, wiederholte er seine Frage.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Was sollte ich Riley sagen? ‚Ach, er hat nur verlangt, dass ich niemandem erzähle, dass sie dämonische Engel sind und gedroht, dass er mich umbringt, falls ich es doch tue’? Er würde es mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben, aber Phelim hatte seine Worte deutlich gemacht. Außerdem hatte ich nicht vor die nächsten Jahre in einer Gummizelle mit ‚Hab-Mich-Lieb-Jacken’ zu verbringen.
„Seine Handgreiflichkeit blieb mir nicht verborgen, Lin“, wies er mich auf sein Wissen hin und ich seufzte genervt. Egal wie sehr ich mich anstrengte, ich schaffte es einfach nicht, dass meine Gehirnzellen eine plausible Ausrede zusammenbrachten.
„Ich weiß auch nicht“, sagte ich schlicht, wich seinem Blick aus und machte mich wieder daran, das Geschirr zu säubern.


(Einige Stunden zuvor)

Er lächelte zufrieden, als er den gleichmäßigen Atemzug des Mädchens in seinen Armen vernahm. Sie war schneller eingeschlafen als er es erwartet hatte. Aber es sollte ihm Recht sein. Diese Nacht hatte er schon zu viel Zeit verschwendet – um nicht zu sagen seine gesamte Zeit. Ebenso war seine Energie beinahe komplett aufgebraucht. Vorsichtig nahm er seine Hand von ihrer Taille und beugte sich über sie. In regelmäßigen kurzen Zeitabständen strömte immer wieder der köstlichen Duft ihrer Lebenskraft aus ihrem Mund. Zögernd öffnete auch er den Mund und sog den feinen Geschmack ihrer intensiven Energie ein. Er spürte, wie die Schwäche in seinem Körper langsam der neuen Kraft wich. Es seufzte zufrieden bei diesem vertrauten Gefühl. Unbewusst und vitalitätsbegierig war er ihrem Gesicht näher gekommen, damit nichts ihres wertvollen Atems sich mit dem Geschmack der staubigen Luft vermischte oder gar in ihr verloren ging. Durch sein nicht mehr enden wollendes Einatmen – oder Ziehen, er selbst wusste nicht einmal, ob man es Atmen nennen konnte, was er tat – ergab sich die Regelmäßigkeit ihrer Lunge und ließ ohne Halt deren Atem heraus strömen. Er seufzte wieder zufrieden und beugte sich so nahe zu ihrem Gesicht, dass sie beinahe Nase an Nase waren. Erst als erstmals ihr Atem zischend wurde, ließ er erschrocken von ihr ab und blies ihr vorsichtshalber einen Teil ihres eigenen Atems zurück in den Mund. Obwohl er praktisch gezwungen war, Menschen so nahe zu kommen & es auch jede Nacht tat, war er mit diesem Mädchen eine komplett andere Sache gewesen. Er wusste noch nicht warum, aber aus irgendwelchen Gründen wollte er dem Mädchen nicht den Atem rauben, obgleich sie momentan seine einzige Energiequelle war. Normalerweise hatte er geplant, diese Nacht einigen Menschen ein Teil ihrer Lebenskraft zu stehlen. Niemals hätte er damit gerechnet, dass seine Nacht bei diesem Mädchen enden würde.
Schmerzlich verzog er das Gesicht. Vorhin, als sich ihre Lippen erstmals so nahe waren, konnte er dem deliziösen Geschmack ihres Atems gerade so widerstehen, in der Versuchung ihr auf humane Art näher zu sein, obwohl er sich voll und ganz seinen Instinkten hingab. Seinen menschlichen Instinkten, die ihm nach seinem Tod vor allzu langer Zeit noch geblieben waren.
Ihr Atem hatte ungewöhnlich schnell, wieder ihren gewohnten Takt aufgenommen. Sie schlief vollkommen ruhig, trotz dass er sie soeben beinahe erstickt hätte. Aber selbst diese Tatsache, auch wenn sie ihn etwas beruhigte, änderte nichts an seinem Scham, sich der Schwäche hingegeben und ihr – ausgerechnet ‚ihr’ – Lebenskraft gestohlen zu haben.
Er betrachtete noch einmal ihre friedlichen, schönen Gesichtszüge, eher er wachsam über sie aus dem Bett stieg, ohne dass sich die Matratze unter ihnen bemerkbar senkte oder erhob.
Sacht fuhr er mit den Fingerspitzen die Kontur ihrer hohen Wangenknochen nach, dann, viel zu schnell für das menschliche Auge, hatte er das Fenster geöffnet und stand auf dessen Fensterbrett. Er hatte keinerlei Probleme, das Gleichgewicht auf der schmalen Fensterbank zu halten, während er das Fenster von außen wieder anlehnte, dann ohne weitere Umschweifen in 5 Meter tiefe sprang und geräuschlos und elegant wie eine Katze auf den Füßen landete.
Er sah noch einmal flüchtig zu dem Fenster nach oben, um sicher zu gehen, dass es auch wirklich angelehnt blieb, dann ging er Richtung Garage zum codegesichertem Öffnungsschalter. Freundlicherweise und ohne es zu wissen, hatte ihm das Mädchen ja die richtige Zahlenkombination verraten.
Grübelnd stand er wenige Minuten später vor seiner schwarzen Kawasaki Ninja. Sie jetzt anzulassen und mit ihr davon zu Brausen, hätte all seine Bemühungen, unbemerkt zu verschwinden, wieder zunichte gemacht. Andererseits… Inzwischen war die Sonne fast komplett am Horizont aufgestiegen. Bald werden die ersten Menschen erwachen und sich auf den Weg zur Arbeit machen und wahrscheinlich würde ihnen ein Mann in der Luft, der eine Kawasaki trägt und dazu auch noch Flügel auf dem Rücken hat, nicht entgehen. Menschen waren zwar ziemlich unaufmerksam, aber so zerstreut nun auch wieder nicht. Die dritte Möglichkeit bestand darin, sich einfach ‚nach Hause’ zu translozieren – jedoch ohne seine Maschine. Die Translokation war eine äußerst praktische Fähigkeit, die er nach seiner Wandlung zum Halbdämon ergattert hatte. Er musste einfach nur an den Ort denken, an dem er sein wollte und schon einmal gewesen war und Schwups – mit genügend Konzentration war er in Null Komma Nichts an diesem Ort.
‚Nein. Nicht ohne meine Maschine’, entschied er sich.
Er schnaubte verärgert, klappte dann aber den Ständer seiner Maschine nach oben und schob sie auf die Straße. Natürlich könnte er sie noch ein Stück weit vom Haus davon schieben und sie dann in sicherer Entfernung anlassen, aber er hatte schon genug Zeit verschwendet. 
Sein Bruder würde sicher schon auf ihn warten. Normalerweise waren sie immer vor Sonnenaufgang bei ihrem derzeitigen Wohnsitz und nachdem, was am Abend zuvor geschehen war, war – dafür würde er seine Hand ins Feuer legen – sein Bruder mit Sicherheit ziemlich besorgt um ihn. Dieser kannte nur zu gut das Temperament seines Bruders. Zu oft hatte er miterleben müssen, wie sein großer Bruder die Kontrolle verlor und sich voll und ganz auf seine Kraft verlies, egal wer ihm gegenüber gestanden hatte…
Von Gesetzen oder Einschränkungen hielten jedoch beide Brüder nicht besonders viel. Was einer der Gründe war, warum sie ihr Heimatvolk verließen. Sie träumten von Freiheit und, da waren sie sich sicher, nach diesem bitteren Auftrag würden sie nicht nur noch davon träumen.
Er fuhr auf direktem Wege zu der baufälligen alten Fabrik. Entlang dem Schotterweg am Chester River. Zeit um neue Lebensenergie zu tanken, blieb ihm nicht. Er musste an diesem Tag mit dem zu Recht kommen, was er von dem Mädchen bekommen hatte. Es widerstrebte ihm es ‚gestohlen’ zu nennen. Er fand es schrecklich lästig, sich jede Nacht menschliche Energien rauben zu müssen. Er selbst war seit aberhunderten Jahren nicht mehr dazu veranlagt. Zumindest nicht bis die Erlösung kommen würde. ‚Wenn’ sie denn kommen würde. Unter den Mythenwesen erzählte man sich, dass es so etwas wie den heiligen Gral geben sollte, deren Kristall sich im Herzen eines Menschen befand. Wenn er an irgendetwas glaubte oder respektierte, dann war es dieser erlösende Messias. Das Interesse an diversen Gesetzten, Sagen oder Verschwörungen der Mythenwelt hatten die beiden Brüder schon lange verloren.
Was der Messias wirklich bewirken würde, konnte jedoch niemand mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Manche glaubten, dass er Frieden zwischen den verschiedenen Mythenwesen bringen würde. Darüber rümpften die Brüder die Nase. Frieden zwischen den unterwürfigen Dämonen des Vé und den Kriegern des Gottes Wodan? Ha! Wovon träumten diese naiven Idioten? In der Mythologie würde der Krieg nie zu Ende sein. Zwar hielt der Waffenstillstand schon einige Jahrtausende an, aber nur Krieger wie er oder sein Bruder – Krieger, die ihn erlebt hatten - wussten, dass der Hass, der in diesem grausamen Krieg entstanden war, wohl niemals völlig behoben sein wird. Hass war vererbbar. Hass wird von Generation von Generation weiter gegeben. Niemals sollte man verzeihen. Man wollte nicht. Wie auch er und sein Bruder.
Andere hofften – hauptsächlich Wesen seiner Art –, dass er sie wortwörtlich ‚erlöse’ von ihren Qualen. Dass sie wieder selbstständig Leben können würden.
Forseti, der Gott des Rechts hatte einst in den Raum gestellt, dass der Messias die Welt von den Mythenwesen erlösen würde. Forseti glaubte, dass alle Mythenwesen menschlich werden und somit sofort zu Asche zerfallen würden. Kein Mensch könnte jemals ein vierstelliges Alter erreichen. Er und sein Bruder beschwichtigten diese Theorie und hofften auf diese – als einzige. Sie waren es schon lange Leid, tagtäglich den gleichen Lebensablauf durch zu machen. Ständige Schauspielerei – von wegen Menschlichkeit. Ewiges Leben war sehr ermüdend.
Vé dagegen war sich sicher, dass der Kristall des Grals Unmengen von Macht versprach. Einzig deshalb ließ er seine besten Dämonen nach ihm fanden. Er wollte ihn besitzen und die Herrschaft übernehmen. Das Vorhaben seines Herrn klang in seinen Augen, wie aus einem schlechten Fantasy-Roman. Äußerst melodramatisch. Er und sein Bruder führten diesen Auftrag nur aus, weil sie an ihre Theorie glaubten und ein Ende setzen wollten. Ganz gleich, wer darunter zu leiden hatte. In dieser Hinsicht waren die Brüder sehr kaltherzig.
Die Reifen quietschten auf der geteerten Auffahrt zum Fabrikgelände, als er vor einer metallischen Tür eine Vollbremsung einlegte. Achtlos und ohne sich die Mühe zu machen, den Schlüssel aus dem Zündschloss zu ziehen, lehnte er seine Maschine an die Gebäudewand, von der die Verkleidung inzwischen schon etwas abbröckelte. Er wusste nicht, wie viele Jahre das Gebäude schon unbetreten gewesen war, bevor er und sein Bruder kamen, aber es interessierte ihn auch gar nicht. Im war die Antwort ‚lange Zeit’ genug. Da die Fabrik von Dutzenden von Fichten, Birken oder einfach von Bäumen umsäumt war, schien sie ideal zu sein, wenn man keine unerwünschten Besucher haben wollte. Aller Höchstens streiften Wanderer oder Bauern, die sich nach einem neuen Stück Wald umschauten, durch das Fabrikgelände. Überaus praktisch für ihn und sein Bruder zum Energie tanken…Die Menschen erinnerten sich danach jedoch nicht einmal mehr, dass sie den Wald je betreten hatten. Ihm tat es fast Leid, denn meistens waren es dann jedes Mal die Selben die den Wald erkunden wollten. Er kam sich schäbig dabei vor, nicht einmal mehr zu wissen, wie unsagbar oft er dem alten Bauern Gris seine Lebensenergie geklaut hatte. Zwar wusste er, dass er mit jedem Male dem alten Mann einen Tag seines Lebens raubte, aber seine Aura in einer so unbesuchten Gegend war einfach jedes Mal zu verlockend gewesen. Wie oft er wohl noch von ihm nehmen konnte, bis er in seinen Armen starb? Hatte das Mädchen jetzt auch einen Tag verloren? Obwohl er nicht einmal richtig gezogen hatte?
Die Scharniere der metallenen Tür quietschten schrill, als er sie aufschob. Einige Meter unter ihm, konnte er die Stimmbänder von Ben Burnley schwingen hören. Gelegentlich hörte er ruhige Atemzüge seines Bruders. Eigentlich war es für sie völlig unnütz zu atmen, aber sie taten es aus Gewohnheit. Abgesehen davon würde es manch aufmerksamen Menschen auffallen.
Er seufzte noch einmal tief, ehe er den verdunkelten Korridor betrat und unnötigerweise nach seinem Bruder rief. Ihm war nur zu bewusst, dass sein Bruder bereits über seine Anwesenheit Kenntnis genommen hatte, als er noch mehr als 5 Kilometer entfernt über den Kies gebrettert war.
Es kam keine Antwort. Er schnaubte schloss die Tür hinter sich und begab sich widerwillig in den Keller, in dem sein Bruder es bevorzugte zu hausen. Ob er seinem Bruder von dem Mädchen erzählen sollte? Spätestens übermorgen würde es an der High School, die er schon allzu oft wiederholt hatte, sowieso die Runde machen, dass er angeblich eine Nacht mit ihr verbracht hatte. Er konnte ihm sagen, dass er diese Nacht mit ihr verplempert hatte, aber auch, dass sie über ihre Existenz Bescheid wusste? Wenn er fair sein wollte, dann sollte er ihn vermutlich einweihen.
Sein Bruder blickte nicht von dem flackernden Bildschirm des Fernsehers auf, der momentan als einzige Lichtquelle im kühlen Keller diente, als er die Treppen hinunter gestolpert und in der Tür stand.
„Wo warst du die ganze Nacht? Und den Morgen?“, fragte sein Bruder lethargisch  und starrte fortwährend zum Fernseher, als ob es ihn nur minder interessierte.
Er kannte seinen Bruder nur zu gut, um zu wissen, dass es nicht der Fall war. Innerlich brodelte sein Bruder vor Wut und es war einfach seine ruhige – gefährliche –  Art es zu zeigen. Nun ja, seinem Bruder gegenüber würde er wahrscheinlich nie gefährlich werden. Es war eher die väterliche Sorge. Sein Bruder war biologisch gesehen der Ältere von beiden, aber in der Mythenwelt begann nach dem ‚Erwachen’  eine neue Inventur, und da er knapp 35 Jahre vor seinem Bruder starb, war eigentlich er in der Mythenwelt der Ältere – und vor allem Erfahrenere.
Blindlings tastete er nach dem Lichtschalter neben der Tür und antwortete erst als die Neonlampe an der Decke nach einem kurzen Flackern erleuchtete.
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, oder? Außerdem weißt du doch was ich jede Nacht treibe. Genau das, was du tust.“ Vielleicht sollte er nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
Endlich blickte sein Bruder vom Bildschirm auf und musterte ihn eindringlich.
„Diese Nacht aber nicht“, sagte sein Bruder bestimmt und hob argwöhnisch eine Augenbraue. „Ich spüre deine geschwächte Aura, Bruder.“
Verflucht. Daran hatte er gar nicht gedacht. Er seufzte ergeben und ließ sich neben seinen Bruder auf das braune Ledersofa nieder. Einen Augenblick war nur das Surren der Neonlampe zu hören, während er überlegte, was er seinem Bruder erzählen konnte. Dieser hatte inzwischen seinen Oberkörper in seine Richtung gedreht und seinen Arm auf die Rückenlehne gelegt.
„Ich habe diese Nacht nicht nach dem Messiaskristall gesucht. Mir kam etwas dazwischen“, fing er zögerlich an zu erzählen.
„Das da wäre?“, drängte sein Verwandter.
„Erinnerst du dich an das Knacksen von Ästen, während wir zusammen mit dem Heuchler in der Luft waren? Das war Eveline Travis.“
„Ah ja? Und?“
Er blies Luft aus seinen Backen und zwang sich dazu, seinem Bruder in die Augen zu sehen.
„Sie hat uns gesehen.“

Kapitel 8 - Das mit der Inhumanität

 

Zu meiner großen Erleichterung, hatte Riley nicht weiter nach Phelims Aktion gefragt. Aber wozu brauchte es schon Worte, wenn er wusste, dass er viel effektiver vorgehen konnte? Nämlich indem er mich den Rest des Tages immer und immer wieder kritisch beäugte, was heißt beäugen, er ließ mich ja kaum noch aus den Augen in jeder freien Sekunde es ihm möglich war. Was meine Nervosität ungemein steigerte. Er wusste, dass es im Normalfall unter solch einer schweigsam skeptischen Maske seinerseits nicht viel brauchte, bis ich stöhnend kapituliert hätte. Aber wie sollte ich ihm das schon verübeln? Immerhin hatte er keine Ahnung, dass ich mit dieser Kapitulation mein Leben gleich mit riskieren würde, beziehungsweise mein Todesurteil unterschrieb.
Oh ja! Ich glaubte durchaus, dass Phelim seine Worte wahr machen würde, wenn ich die Dämlichkeit besäße, den Mund zu öffnen. Jeder der das unmenschliche und absolut kaltblütige Funkeln in seinen Augen gesehen hatte, würde keine Sekunde lang an der Wahrhaftigkeit seiner Drohung zweifeln. Ich erschauderte bei der Erinnerung daran und band mir die Schürze um meiner Taille ab. Riley noch eine schlichte Verabschiedung in die Küche werfend, verließ ich das Lokal. Er würde noch bis zum Feierabend den Herd übernehmen, während Mrs Cliff sich nach ihrem Mittagsschläfchen hinter die Bar stellte. Riley hatte mir zwar angeboten, seinen Pickup zu nehmen, aber der Gedanke, etwas an der frischen Luft zu gehen, kam mir gar nicht so ungelegen.
Die Spätnachmittagssonne wurde an diesem Tag von den tiefliegenden Wolken überdeckt. Erdrückend schwer weilten sie über Chestertown und ergaben das perfekte Abbild zu meiner Laune. Maryland war kein Staat, in dem es nicht selten regnete. Im Gegenteil. Ich fürchtete eher, dass Petrus sich meiner ausnahmsweise anpassen wollte. Aus welchen Gründen auch immer. Oder er hoffte einfach, seinem Puff gegen mich beugend, dass ich mich über die kleine Erfrischung ärgern würde wie auch zuletzt, als ich mich entschloss nachhause zu laufen.

Als die ersten, feinen Regentropfen auf mich nieder prasselten, hatte ich gerade die Hälfte der Strecke hinter mir gelassen. Ich befand mich im Stadtzentrum vor der alten Bibliothek stehend, die ich vergangene Woche schon aufgesucht hatte… Unabwendbar tauchte Jeldriks Gesicht vor meinem inneren Auge auf. Er hatte mich bei unserer ersten Begegnung mit fast genauso hassverzerrten Zügen angesehen wie Phelim. Fast. Denn immerhin hatte sein Blick noch etwas Menschliches, Verletzliches.
Einen letzten Blick in den grau beschirmten Himmel werfend, schritt ich zwei Stufen auf einmal nehmend die Steintreppe des in die Jahre gekommenen Gebäudes hinauf.
Schwache Windstöße der Ventilatoren an der Decke begrüßten mich, während hinter mir die Tür ächzend ins Schloss fiel.
Das gelbliche Licht der Stehlampe, die auf dem Informationstresen verweilte, ließ die Augenpartie der mit gesenktem Kopf dahinter sitzenden Bibliothekarin im Schatten verschwinden. Trotz, dass der Miefquirl sich Mühe gab, die stickige, heiße Sommerluft aus dem Raum zu verjagen, nötigten feine Staubpartikel in der bleiernen Wärme mancher Lunge ein kratziges Husten ab.  Eine Zeit lang beobachtete ich, wie die Frau im Sekunden-Takt immer wieder eine ihrer Strähnen hinters Ohr strich, diese aber sogleich wieder in ihr Gesicht fiel. Mühsam verkniff ich mir ein Kichern und den Kommentar, sie solle sich doch mal eine Haarklammer zulegen. Ich schüttelte süffisant den Kopf über ihr kleines Schauspiel und begab mich in die hintern Abteilungen des Regallabyrinths. Während ich durch die Buchreihen, die von uralten Aposteln bis hin zu modernen Krimis alles vorwies, schlenderte, gab ich mich dem vermischten Geruch von antiken Einbänden und frisch bedruckten Blättern hin, den ich warum auch immer so mochte.
Es dauerte nicht lange, bis ich die abgegriffene Ausgabe von Shakespeares Romeo und Juliet in der nach Erscheinungsjahr geordneten Reihe gefunden hatte. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich in die Stücke Williams vertiefte, während andere Dinge mich zu erschlagen drohten. Seine philosophisch verträumte und zugleich furchtbar realistische Ansicht der Welt hatte mich schon immer fasziniert. Und nicht selten, hatte er die Vielfalt seiner Person und Lebensperspektiven in seinen Stücken offen ausgebreitet. Ich fragte mich, wie er die Situation, in der ich mich befand, wohl interpretiert hätte. Vor allem, wie er meine Geschichte ausgehen lassen würde. Im Augenblick kam ich mir in aller Absurdität jedenfalls vor wie die schüchterne Ausgabe Romeos, dem der Zugang zu seiner Muse verweigert wird. Nur, dass ich mich nicht ganz traute, dieses Verbot zu umgehen. Ich seufzte. Bis jetzt war ich zumindest halbwegs erfolgreich darin gewesen, den Gedanken an Jeldrik und Phelim und alles was mit ihnen zusammenhing zu umgehen. Ob Jeldrik sich wohl Phelims Willen unterwarf? Oder wartete er ganz die Julia schon auf das nächste Treffen? Vielleicht aber beschloss der Capuletsvater Phelim das Verbot auch ohne das Wissen der Jeldrikversion Julias?
Erleichtert spürte ich, dass sowas wie Hohn in mir aufstieg. Ein Rettungsanker, nach dem ich hoffnungsvoll griff. Das Ganze war kompletter Irrsinn. Ich lachte bitter. Meine Shakespeare-Vergleiche waren genauso lächerlich, wie der Gedanke daran, dass Jeldrik sich in gewisser Weise von mir angezogen fühlen könnte. Oder warum hatte er sich heute Morgen klangheimlich aus dem Staub gemacht? Wahrscheinlich hatte er dann seinen Bruder auf mich gehetzt – ganz der jugendliche Mensch – damit er die Sache für ihn regelte. Ja, genau das passt zu den unkontrollierbaren Verhalten der heutigen Jugend. Mir wurde ein zusätzlicher Rettungsring zugeworfen und ich ignorierte, dass ich die analytische Denkweise eines siebzehnjährigen Sterblichen nicht bei den Wadims anwenden konnte, geflissentlich. Vielleicht war Phelims Drohung nur halb so beängstigend, wenn ich die ganze Sache aus der humanen Perspektive betrachtete? Immerhin war es nicht ungewöhnlich, dass es manchen des anderen Geschlechts sichtlich schwer fiel, seiner Verehrerin eine Abfuhr zu erteilen, oder?
Beruhigt stellte ich fest, dass mein natürlicher Menschenverstand reife Arbeit leistete. Er gab sein Bestes, meinen paradoxen Gedanken einigermaßen Klarheit zu verschaffen, selbst wenn er alles Irrationale dabei ignorierte und verdrängte.
„Love is a smoke made with the fume of sighs, being purged, a fire sparkling in lovers' eyes, being vexed,a sea nourished with lovers' tears. What is it else? A madness most discreet”, las ich im Flüsterton. Dem Wahnsinn mochte ich in der Tat nahe sein, aber konnte ich wirklich schon von Liebe sprechen? Doch ich konnte nicht weiter, darüber nachgrübeln.
„A choking gall and a preserving sweet“, beendete in diesem Moment jemand in meinem Rücken Romeos Zeile und ich hätte schwören können, dass sich Romeos Stimme mindestens genauso samten angehört haben musste. Das Buch war mir aus den Händen gerutscht und schlug mit einem dumpfen Knall auf, als ich die Stimme erkannte. Mit klopfendem Herz, das mir dabei beinah aus der Brust zu springen drohte, drehte ich mich um.

A fire sparkling in lovers' eyes.

Den Mund vor Überraschung leicht geöffnet, stand ich nur wenige Zentimeter vor Jeldrik und verfiel seiner Smaragdaugen würdig in eine Art Starre. Das Pochen in meinen Brustkorb hatte ausgesetzt und ich rechnete schon fast damit, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen, da weckte Jeldrik mich mit seinem leisen Kichern aus der Bewegungslosigkeit.
Während ich noch damit beschäftigt war, blinzelnd die Situation zu erfassen, trat er einen Schritt zurück und hob das Buch vom Teppichboden.
Ich schluckte einige Male überstürzt, verschluckte mich dabei und hustete ungehalten. Jeldrik hatte sich zwischenzeitlich wieder aufgerichtet mit dem Buch in der Hand und beobachtete schweigend.
„Alles in Ordnung?“, fragte er, als ich mich wieder beruhigt hatte und seine Stimme klang merkwürdig beklommen. Mit der Hand an meiner Kehle – mein Hals kratzte nach dieser Hustattacke ungemein – traf mein Blick tatsächlich auf ein Paar sorgenvolle Augen. Ich nickte ungestüm und wandte den Kopf ab.
„Romeo und Juliet?“ Jeldrik war mir zu einer der Leseecken gefolgt und hatte sich neben mich gesetzt. Steif, aber protestlos ließ ich es zu, hielt mein Schweigen jedoch bei.
Mit besinnlicher Miene fuhr er mit den Fingerkuppen die eingekerbten Schriftzüge des Buches nach.
„William Shakespeare“, sagte Jeldrik nach einer Weile und legte das Buch auf seinen Schoß. Er sprach den Namen aus als wäre er sein Mathelehrer und nicht einer der bedeutendsten Dramatiker der Welt. „Interessiert der dich?“
Wollte er jetzt wirklich anfangen, Smalltalk zu führen? Ich schob die Hände zwischen meine Schenkel. Nach allem, was ich die vergangene Nacht verdauen musste, nach dem Zusammentreffen mit Phelim und meinem chaotischen Gefühlswelt, saß er völlig formlos an meiner Seite und fragte nach meinen Interessen. Absurd! In meinem Inneren machte sich langsam aber sicher so etwas wie Wut breit und verscheuchte die unangebrachte Zerfahrenheit, die seine Anwesenheit mit mir anrichtete. Dankbar baute ich darauf auf, als mir einfiel, dass sich Jeldrik heute Morgen ohne ein Sterbenswörtchen vom Acker gemacht hatte. Und ich mir ehrlich gesagt immer noch den Kopf darüber zermarterte, ob ich das nicht doch nur geträumt hatte.
„Ein ziemlich trostlos verwirrter Mann, wenn du mich fragst“, fuhr Jeldrik fort, als ihm klar wurde, dass ich auf seine Frage nicht eingegangen war. Das war der Endstoß. Meine Wut übernahm die Oberhand.
„Tu ich aber nicht“, entgegnete ich bissig, nahm das Buch von seinem Schoß und ging oder besser lief damit zur Bibliothekarin. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Jeldrik noch einen Moment überrascht über meinen scharfen Ton sitzen blieb. Jedoch dauerte es nicht lang bis er mich wieder eingeholt hatte und mit langen Schritten an meiner Seite ging.
Die Bibliothekarin erschrak, als ich mein Buch etwas ungestüm auf die Theke knallte und das Leihregister raus zog. Aber das war mir egal. Ohne mich dafür zu entschuldigen oder überhaupt irgendein Wort, legte ich ihr das mit meiner Unterschrift versehrte Kärtchen hin und verließ das Gebäude. Natürlich nicht ohne das Wissen, Jeldrik hinter mir zu haben.
Ich hatte mich geirrt, was Petrus‘ Anpassung anging. Eigentlich hätte es jetzt in Strömen regnen und der Himmel rumoren müssen. Stattdessen hatten sich die Wolken wieder verzogen und gaben den Blick auf die immer tiefer sinkende Sonne und den rosaleuchtenden Himmel frei. Die Luft roch noch nach nassem Stein und der Regen hatte den Duft der Fliederbäume, die vereinzelt rumstanden, intensiver gemacht.
„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte Jeldrik, in seiner Stimme lag Intoleranz. Ich schnaubte. Am liebsten hätte ich garstig „DU!“ geschrien, immerhin fasste das am Besten zusammen, was mir denn ‚über die Leber gelaufen‘ war. Aber ich widerstand diesem Drang, setzte mich auf eine Stufe der Treppe und stellte eine Gegenfrage: „Wo warst du heute Morgen?“
„Bei dir. Aber das weißt du doch.“
„Als ich aufgewacht bin, meine ich.“
Jeldrik seufzte kaum hörbar, im nächsten Augenblick tauchten seine Knie links und rechts von mir auf. Er hatte sich zwei Stufen hinter mich gesetzt. Als er eine Hand auf meine Schulter legte, schüttelte ich sie rasch wieder ab. Er startete keinen zweiten Versuch.
„Ich bin nach Hause, als du eingeschlafen warst. Oder als was auch immer ich diese Bruchbude bezeichnen kann. Bist du deswegen so böse?“ Ich hörte das spöttische Lächeln in seiner Stimme. Nein, nicht deswegen war ich böse. Zumindest nicht nur. Mein Verstand krallte sich noch immer an die Theorie, in der Phelim mich für Jeldrik abserviert hatte. Zumindest hielt ich an dieser fest bis Mr. Wadim bestens gelaunt beginnen wollte Smalltalk zu führen. Ich seufzte ergeben. Wo war die Logik, wenn ich mit Theorien um mich schlug, wobei hinter mir jemand saß, der die Fakten kannte?
„Phelim war heute bei mir“, sagte ich deshalb und schlang die Arme um meinen Körper. Der Gedanke an Phelims Killerblick und seine…seine Sicheln schlich sich in mein Kopf und rief eine Gänsehaut hervor. Jeldrik schwieg einen kurzen Augenblick, dann seufzte er.
„Das habe ich mir schon gedacht, dass er das tun würde. Was hat er gesagt?“
„Dass…“, ich stockte. „Dass ich mich von dir fernhalten soll.“ Den Rest verschwieg ich ihm lieber. Warum war mir selbst nicht ganz bewusst. Irgendwas in mir sträubte sich dagegen, Jeldrik zu erzählen, dass sein Bruder mir mit meinem Tod gedroht hatte.
Jeldrik zögerte kurz. „Ich regle das“, sagte er schlicht. Seine Stimme klang jetzt verärgert. Wenn allein das schon den Zorn in ihm hervorrufen konnte, wie hätte er dann erst reagiert, wenn ich ihm den Rest auch erzählt hätte? Ich beschloss es für mich zu behalten. Das Letzte was ich wollte, war Phelim Ärger und besonders einen Grund mehr mich zu hassen zu bereiten.
Vor allem aber durchströmte mich plötzlich ein Gefühl von Erleichterung. Jeldrik hatte also nichts mit Phelims Besuch zutun. Doch dass er rein aus Sicherheit (dass ich auch ja niemand etwas erzählte) und nicht weil er es so wollte, seine Zeit bei mir verschwendete, stand noch immer zur Debatte.
Es war nicht leicht, Phelims Willen zu erfüllen, wenn Jeldrik sich hartnäckig an meine Verse heftete. Obwohl Jeldrik zwar meinte, er regle das, glaubte ich nicht, dass Phelim sich damit so leicht zufrieden gab. Immerhin hatte er seine Worte mehr als deutlich gemacht. Er wollte nicht, dass ich mich in Jeldriks Umfeld befand. Er wollte nicht, dass wir Freunde waren. Aber eigentlich… Was hatte ich schon zu befürchten? Immerhin hatte ich genau so einen dämonischen Zyona an meiner Seite, wie Phelim einer war. Sollte ich mich da diesem widersetzten, der sich unmittelbar in meiner Nähe befand und es scheinbar auch wollte, um dem, der es zu verhindern versucht und eindeutig der weniger freundliche war, einen Gefallen zu tun? Ich seufzte. Würde ich heut denn noch irgendeine Entscheidung treffen?
„Hey, was ist denn noch?“, fragte Jeldrik, dem mein Seufzen natürlich nicht entgangen war, in meine Überlegungen. Als ich weiterhin schwieg, fuhr er fort: „Phelim wird dir nichts tun. Außerdem hat er nicht über mich zu bestimmen. Ich kann meine eignen Entscheidungen treffen.“
Na wenigstens einer von uns, dachte ich. Er war eindeutig die Juliaversion, die sich ihrer Familie widersetzt. Ganz Shakespeare-getreu. Ich dagegen fürchtete mich immer noch vor dem Capulets-Cousin.
„Ich will nicht, dass du meinetwegen mit Phelim zoffst. Vielleicht ist es ja wirklich besser, wenn ich so tue, als wüsste ich nichts, als kenne ich dich nicht“, meinte ich und machte Anstalten aufzustehen. Aber Jeldrik packte mich am Handgelenk und zog mich zurück auf kalten Stein. Keinen Augenschlag später fand ich mich in seinen Armen wieder, seine Brust gegen meinen Rücken gepresst.
„Und ich will nicht, dass er über mich bestimmt“, flüsterte er. Mein Herz pochte wie wild. „Mir gefällt es in deiner Nähe. Und ich werde das nicht aufgeben, nur weil meinem Bruder das nicht passen mag.“
Ich schluckte und schwieg. Nicht nur weil ich dazu nichts zu sagen wusste, sondern auch weil ich mir sicher war, dass meine Stimme vor Aufregung gezittert hätte. Jeldriks warmen Körper so nah an mir zu spüren, seine Arme über mein Dekolleté geschlungen, weckte in mir so ein tiefes Verlangen, dass ich kaum noch Atmen konnte. Ohne weitere Gedanken zu verschwenden wandte ich mich und drehte mich soweit es seine Umarmung zuließ, zu ihm um.
Einen Augenblick herrschte zwischen uns eine genauso intensive Elektrizität wie vergangene Nacht. Doch als mein Blick in seine Augen wanderte, brach sie unverzüglich ab. Alles Warme war aus ihnen gewichen und er sah mich an, als habe ich mir so eben vor seinen Augen die Kehle aufgeschlitzt. Der smaragdgrüne Farbring wurde beunruhigend schnell von der Schwärze seiner Pupillen verschluckt. Mein Gesicht war nur ungefähr 20 Zentimeter von seinem entfernt, ich konnte in unregelmäßigen Abständen seinen Atem auf meinen Wangen spüren. Er kam stoßweise, nachdem er immer wieder unnatürlich scharf eingeatmet hatte.
„Alles… in Ordnung?“, fragte ich leise, bekam jedoch keine Antwort. Seine Umarmung, mit der er mich immer noch umfasst hielt, wurde enger. So eng, dass es mir kurz die Luft abdrückte und ich erschrocken keuchte, als er sie wieder lockerte. Bestürzt sah ich in seine Augen, die inzwischen jeden Glanz und jede Farbe verloren hatten. Unmenschlich leer und pechschwarz, sodass ich nicht mehr ausmachen konnte, wohin er blickte, starrten sie in die Ferne und ließen noch nicht einmal ein Blinzeln zu. Wenn ich gedacht hatte, dass Phelims Blick einem die Kehle abschnürte, hatte ich mich gewaltig geschnitten. So etwas Lebloses und Absonderliches hatte ich noch nie gesehen. Langsam meldete sich mein menschlicher Instinkt. Er schrie danach, aus der Sphäre dieses Wesens zu fliehen. Aber ich konnte nicht. So sehr die Stimmen in meinem Inneren auch brüllten, mein Körper entsprach einer absoluten Bewegungslosigkeit. Allein meinen Augenlieder und meine Mundwinkel zuckten noch, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich wollte aufschreien, um die Kreatur, was auch immer sie sein mochte, aus diesem Mann zu verscheuchen, der mich da unabdingbar umfangen hielt.
„Jeldrik!“, japste ich und versuchte zumindest meine Arme wieder in meine Gewalt zu bringen. Beim Aufruf seines Namens zuckte er noch nicht einmal mit der Wimper oder gab sonst irgendeine Regung von sich. Einzig sein Griff wurde wieder stärker, sodass ich wieder röchelte. In diesem Moment bekam ich endlich wieder meine Arme unter Kontrolle und wandte den Kopf ab. Zuerst versuchte ich mit aller Kraft seine Arme von mir zu zerren. Ich schrie beinahe vor Energieaufwand. Aber das war vergebens. Plötzlich fingen meine Augen an zu brennen und meiner Kehle entfleuchte ein Schluchzen, das sich mit dem Namen „Jeldrik“ verband. Alles was ich noch empfand war Angst, Konsternierung und Klaustrophobie.
„Jeldrik!“, presste ich noch einmal durch die Lippen. Dann fasste ich wieder nach seinem Arm,  bohrte meine Fingernägel so fest es eben ging in seinen Arm, um dann mit einer raschen Bewegung seine Haut aufzukratzen. Mit Erfolg.
Jeldrik zuckte in meinem Rücken leicht zusammen. Seine Umfassung lockerte sich und keine Sekunde später waren seine Arme ganz verschwunden. Ehe ich mir dessen bewusst werden konnte, stürzte er schon an mir vorbei die Treppen hinunter ohne ein weiteres Wort oder sich noch einmal umzudrehen.
Mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Erleichterung sah ich ihm nach bis mein Blick schließlich an einer alten Frau auf dem Gehsteig hängen blieb, welche mich mit vor Angst geweiteten Augen ansah. Es war Mrs. Cliff, bestückt mit zwei Einkaufstüten, die ihr nun plump aus den Händen fielen. Ich zog scharf die Luft ein. Wie viel hatte sie gesehen?
„Ha…Hallo Mrs…Cliff“, stammelte ich und stand mit wackligen Beinen auf. Als ich ihr näher kam, huschte ihr Blick zu meinen Händen. Erschrocken keuchte sie auf und ehe ich mich versah, hatte sie sich ihre beiden Tüten wieder geschnappt und rannte mit einer Schnelligkeit, die ich ihr gar nicht mehr zugetraut hätte, davon.
Verwirrt blieb ich stehen. Im gleichen Moment sackten mir die Beine weg und ich landete unsanft auf dem Asphalt.
Mein Atem zitterte, meine Augen füllten sich wieder mit Tränen und keinen Augenschlag später fand ich mich auf dem Boden schluchzend wieder. Was um alles in der Welt passierte hier eigentlich?! Was wollten diese…diese Exyus- oder Zyonamischlinge in Chestertown? Und warum, verdammt nochmal, lief gerade ich in deren Arme?!
Als ich mir die Hand vor den Mund legte, um die Schluchzer zu unterdrücken, spürte ich etwas Mürbes auf meinen Fingerspitzen. Verwirrt nahm ich die Hand von meinem Mund und untersuchte sie durch den wässrigen Schleier vor meinen Augen. Unter meinen Fingernägeln, außer unter dem am Daumen, erkannte ich blutige Hautfetzen. Die mussten von Jeldrik stammen. Kein Wunder, dass Mrs. Cliff vor mir geflüchtet war. Sie musste geglaubt haben, dass ich über sie als Nächstes herfiel, nachdem mein davoriges Opfer abgehauen war. Aber hatte sie nicht gesehen mit welcher Gewalt Jeldrik mich umfangen hielt? Glaubte sie wirklich, ich würde wie eine Furie nun auf sie losgehen? Ich lachte bitter, was ziemlich merkwürdig klang im Zusammenspiel mit den Schluchzern.
Was für eine groteske Welt war das eigentlich? In welchem irrwitzigen Stück spielte ich hier mit? Und wer hatte mir die Rolle der wahnsinnigen Göre zugeteilt? Shakespeare vielleicht? Das war einfach alles zu viel für mich!
Tränenvergießend zog ich die Beine an, legte die Arme auf die Knie und verbarg mein Gesicht darin.
Keine Ahnung, wie lang ich vor der Bibliothek saß und leise vor mich hin heulte. Irgendwann stupste mich jemand an und ich schlug erschrocken die Hand aus.
„Spinnst du, Kind?!“, rief die getroffene Bibliothekarin, hob den Büchereischlüssel vom Boden, den ich hier wohl ausgeschlagen hatte und ging einen anklagenden Blick in meine Richtung werfend davon.
Bescheuerte Kuh, dachte ich und wischte mir die getrockneten Tränen von den Wangen. Inzwischen dämmerte es und die archaischen Straßenlaternen beleuchteten nur schwach die Gehwege. Aus einem naheliegenden Busch hörte ich eine Grille zirpen und irgendwo brausten die Autos über die Straßen. Natürliche Laute, wie ich zufrieden feststellte. Umständlich rappelte ich mich auf die Beine und sah mich um. Auf der drittletzten Stufe lag noch immer das Buch und der Gang dorthin, rief unschöne Erinnerungen hoch. Doch widererwarten verspürte ich nicht nur Furcht davon, sondern… Sorge. Inzwischen hatte ich den Schock wohl schon soweit überwunden, dass mein Bewusstsein Platz für andere Fragen schaffte. Zum Beispiel, was da mit Jeldrik geschehen war. Warum es geschehen war und ob er das bewusst tat. Wo mochte er wohl hingegangen sein?
Ich seufzte tief und eine Welle von Gefühl erfasste mich, die ich nicht wirklich zuordnen konnte. Mit dem Buch unterm Arm geklemmt, beschloss ich nachhause zu gehen.

Wie ich es nicht anders angenommen hatte, erwartete mich zu Hause – abgesehen von meiner eingerahmten Mutter – niemand. Durch den Anrufbeantworter erfuhr ich, dass Ethan heute länger arbeiten müsse. Außerdem hatte Kylie den Befehl drauf gesprochen, ich solle sie sofort anrufen sobald ich den Apparat abgehört habe. Sie klang wütend, aber ich wusste, dass diese Wut nicht mir galt. Ansonsten hätte sie gleich das Band vollgemeckert. Ich beschloss, dass, was auch immer Kylie so notwendiges zu erzählen hatte, ich Kylie morgen anrufen würde und ging hoch in mein Zimmer. Für so etwas hatte ich heute keine Nerven mehr. Und von Phelim, der bei diesem Gespräch bestimmt nicht ausgefallen wäre, wollte ich erst recht nichts hören. Ich wollte nur noch schlafen.
Doch kaum dass ich mich in mein Bett verkrochen hatte – im Versuch, die Außenwelt auszuschließen – klingelte irgendein Volltrottl an meiner Haustür Sturm. Ich murrte genervt und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Gerade als ich zufrieden feststellte, dass, wer auch immer es war, nach einer Weile aufgegeben hatte, fing plötzlich auch noch an mein Handy zu bimmeln. Ein Blick auf das Display verriet mir, dass Kylie dieser Volltrottl war.
„Was?!“
„Wo zur Hölle bist du, Eveline Travis?!“, fragte Kylie aufgebracht durchs Telefon. Ich hörte ihre Stimme echohaft, weil ich das Fenster gekippt hatte und Kylies Stimme so mit unverblümt von meiner Haustür in mein Zimmer drang.
„Im Bett“, murrte ich und schlug mir widerwillig die Decke von den Beinen. Es wäre ohnehin erfolglos geblieben, wenn ich den Versuch gestartet hätte, Kylie zu vertreiben. Wenn sie erst mal vor meinem Haus stand, dann stand sie da bis ich ihr auf machen würde.
„Mach mir auf. Sofort“, kam da auch schon der unauschlagbare Befehl. Ich schob das Handy zu, schlüpfte in die nächstbeste Jogginghose, die mir in die Hände kam und tapste zum Korridor hinunter.
Um Kylie zu demonstrieren wie müde ich doch war (und natürlich um klar zu stellen, dass sie deswegen auf keine lange Bleibe einrichten soll) öffnete ich ihr gähnend die Haustür. Diese jedoch sah mir noch nicht einmal ins Gesicht, sondern drängte sich sogleich an mir vorbei ins Hausinnere.
Wortlos streifte sie sich ihre Boots von den Füßen und ging in die Küche. Ich blieb noch einen Augenblick verwirrt stehen, dann eilte ich ihr mit nackten Füßen hinterher.
Kylie hatte inzwischen ein Tablett aus dem Regal gezogen, auf dem ein Glas Nutella stand. Gerade strebte sie zielsicher auf den Kühlschrank zu und zauberte eine Weinflasche heraus. Ich verdrehte die Augen. Wenn Kylie das vor hatte nachdem es aussah, nämlich Nutella löffeln und Wein trinken, war eine Krisensitzung angesagt.
Keine fünf Minuten später saßen wir mit vollen Weingläsern bewaffnet in unserem Wohnzimmer – das Nutellaglas griffbereit.
Als mich Kylie weitere geschlagene fünf Minuten anschwieg, mich jedoch dabei immer abwechselnd von bedauernd zu ernst anschaute, hatte sie meine Neugierde für sich gewonnen.
Ich seufzte. „ Also. Was gibt es so Wichtiges, dass es nicht bis morgen Zeit hat?“
Kylie presste die Lippen zusammen, griff dann nach dem Nutellaglas und ich rechnete schon damit, dass sie jetzt erst einmal eine halbe Stunden heulen würde bevor sie mit der Sprache rausrückt, aber widererwarten drückte sie das Glas mir in die Hand.
„Ähm. Kylie?“ Verwirrt stellte ich das Glas zurück auf das Tablett. „Jetzt sprich endlich. Du machst mich ganz kirre mit deiner Schweigen-der-Lämmer-Nachahmung.“
Kylie atmete tief durch und zappelte einige Male unruhig auf meinem Sofa rum bis sie schließlich mit dem Oberkörper zu mir gedreht neben mir kniete.
„Ich war heute Nachmittag mit Tyler im Eiscafé und-“
„Was machst du mit Ty im Café?“, unterbrach ich sie. Ich sah ich Kylies Gesicht die Andeutung eines Lächeln, aber es verschwand schnell wieder.
„Erzähl ich dir ein anderes Mal, ok? Jedenfalls-“
„Nein!“, unterbrach ich sie schon wieder und grinste nun breit. „Du und Ty? Wie kommt´s denn dazu?“ Ich war überrascht, aber freute mich unglaublich über ihr Glück. Kurz vergas ich sogar, dass Kylie mir Frustfutter unter die Nase gehalten hatte. Und das konnte ja unmöglich der Grund sein.
Kylie seufzte genervt. „Lin, das ist eine andere Geschichte. Deswegen bin ich nicht hier und jetzt hör mir endlich mal zu.“
Als ich gehorsam schwieg und Kylie sich sicher war, dass sie ungestört weiter reden konnte, fuhr sie fort: „Wir waren also im Café und du glaubst nicht mit wem Christi im Schlepptau im Café saß.“
Kylie blickte mich erwartungsvoll an, wie sie es immer tat, wenn sie hoffte, ich würde von selbst drauf kommen. Als ich jedoch ahnungslos die Schultern zuckte, blieb ihr keine andere Wahl.
„Jeldrik. Und glaub mir, es sah nicht gerade so aus als hätten sie sich zufällig getroffen.“ Sie rümpfte die Nase. „Sogar als Christi uns demonstrativ zu gewunken hat, hat er noch nicht mal nachgesehen wem. Er konnte gar nicht die Augen von ihr nehmen.“
Ein leichtes Ziepen meldete sich in meiner Brustgegend. „Und?“, entgegnete ich scheinbar gleichgültig und zuckte die Schultern.
Kylie blinzelte ungläubig und legte den Kopf schief. „Tu nicht so als interessiere dich das nicht.“
„Wenn es aber so ist?“, log ich. Warum es Kylie eingestehen, wenn ich es nicht einmal mir selbst gestattete? Tunlichst stellte ich ein ausdruckloses Gesicht zur Schau und verschränkte die Arme. Kylie hob noch immer nicht überzeugt die Augenbraue. Ohne den Blick von mir zu wenden, sprach sie weiter: „Irgendwann sind sie gemeinsam zu den Toiletten gegangen. Oder besser gesagt hatte Jeldrik sie gescheucht. Als Christi ein paar Minuten nach ihm raus kam, sah sie ziemlich benebelt aus.“
Nun verschränkte auch Kylie die Arme und wartete auf meine Reaktion. So sehr ich mich auch bemüht hätte, als ich mir ausmalte, was genau da in den Toiletten passiert sein könnte, war es aus mit der Selbstbeherrschung. Mit voller Wucht stach das imaginäre Messer in mein Herz.
„Na und?“, piepste ich. Kylie sah mich mitfühlend an, sie hatte das Zittern in meiner Stimme bemerkt und ahnte wohl den Schluchzer, den ich noch in meinem Hals verbarg.
Jeldrik hatte mich belogen.
Christi ging ihm auf die Nerven? Pah! Das hatte Kylie heute ja gesehen! Ihm gefällt es in meiner Nähe? Wie naiv war ich denn bitteschön, dass mich das wirklich berührt hatte? Wie konnte ich mir bloß Sorgen machen, wenn ich hinterher erfuhr, dass er sich nach unserem Zusammentreffen mit Christi vergnügte?! Vielleicht auch schon davor?
Ich konnte den Schluchzer nicht mehr unterdrücken. Unaufhaltsam kämpfte er sich seinen Weg in meinen Hals hinauf. Schließlich entfleuchte er mir und mit ihm ein Tränenguss. Es dauerte nicht lange, da spürte ich Kylies Arme um mich. Beruhigend streichelte sie mir den Rücken und ließ mich schimpfen, auch wenn sie nur die Hälfte von dem, was ich sagte, verstand. Was aber auch so beabsichtigt war.

Kapitel 9 - Das, in dem der Liebe Last mich zum Sinken bringt

Nachdem ich am Montagmorgen Ewigkeiten zwischen ‚Mich den Tatsachen stellen‘ und ‚Schwänzen – tu mir selbst das nicht an‘ geschwankt hatte und langsamer fuhr als Riley, fand ich mich schließlich doch irgendwann auf dem Schülerparkplatz wieder.
Den Sonntag hatte ich größtenteils im Bett verbracht. Hauptsächlich deshalb, weil ich die halbe Nacht damit beschäftigt war, Kylies Sweatshirt voll zu heulen. Als irgendwann mein Vater nach Hause kam, schaffte sie es irgendwie ihn davon abzuhalten zu mir ins Wohnzimmer zu sehen. Keine Ahnung wie, aber ich war ihr dafür sehr dankbar. Das Letzte was ich brauchte war ein übernächtigter Vater mit plötzlichem Anflug von Bekümmernis(weil ich weiß, dass das natürlich sowieso nur geheuchelt wäre und er in Wahrheit ununterbrochen sein Bett herbei sehnen würde). Kylie war erst gegangen, als man draußen die ersten Krähen den Morgen ansagen hörte. Und das auch nur, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ich meinen Springbrunnen wieder verschlossen hatte.
Während ich also ausstieg, mir meine Tasche über die Schulter hängte und mich auf den Weg zum Matheunterricht machte, hielt ich mir im Geiste einen bestärkenden Vortrag und machte mich auf das Schlimmste gefasst.
Da meine Augen sofort zu brennen begannen, sobald ich auch nur an ihn dachte, wollte ich mir erst gar nicht ausmalen, wie es sein würde, wenn der Albtraum, den ich mir im Kopf zusammen gebastelt hatte, Realität wurde. Der, in dem Jeldrik schmachtend und flirtend neben Christi hockt, während ich glatt unbeachtet bleibe und auf meinen neuen Platz(dank ihm ganz hinten im Klassenzimmer) zu marschiere.
Doch als ich all meinen Mut zusammengefasst hatte und Woobers Klassenzimmer trat, war weder eine Spur von Jeldrik noch von Christi zu sehen. Kylie saß strahlend an ihrem üblichen Platz und deute auf das freie Schulpult neben sich. Den, den sich Jeldrik letzte Stunde unter den Nagel gerissen hatte. Ich erwiderte ihr Lächeln müde, während ich den Schmerz in meiner Brust unterdrückte und mich neben ihr nieder ließ. Obwohl ich es mir nie hatte eingestehen wollen – seit Samstagabend war es schlicht und ergreifend unmöglich, Jeldrik als einfachen Schulkameraden abzustempeln. Ich kam nicht um ein Selbstgeständnis umhin. Nämlich, dass ich verliebt war. Verliebt bis über beide Ohren in einen attraktiven Lügner, der mehr Mythos als Mensch war. In einen dämonischen Zyona, der sich für selbstsüchtige Zicken interessierte.
Ich war gerade aus einem Traum erwacht, als ich mir dessen bewusst wurde. Draußen war es noch stockdunkel; keine Anzeichen dafür, dass bald der Tag die Nacht aufsuchen würde. Es war ein „FSK 18“-Traum (so nannte Kylie immer Träume, die nicht ganz jugendfrei verliefen) mit einem „Touch of Horror“:

Ich sah Jeldrik oberkörperfrei auf mich zu kommen, auf seinem Rücken ragten grau-blaue Flügel, wie ich sie am Chesapeake Bay schon erkannt hatte. Doch viel interessanter war der Ausdruck auf seinem Gesicht. Er lief so langsam auf mich zu, dass ich genügend Zeit hatte jede Haltung seiner Züge zu deuten. Die Lippen hatte er zu einem schmalen Strich zusammengepresst, der sich in seinen Winkeln lüstern gen Himmel zog. Seine Haut war aschfahl unter den blutigen Schlieren, die sich über seinen gesamten Körper zogen, und dennoch reiner und anziehender als es jede Marmorbrust sein könnte. Als er näher war, konnte ich dank der für ihn unüblich hellen Haut eine rosa schimmernde Narbe, die sich vom Ohr bis vor eine heraus quirlende Ader abzeichnete, erkennen. Seine Augen hob ich mir bis zum Schluss auf. Es war nicht das gewöhnliche Smaragdgrün, das den Farbring um seine Pupillen ausfüllte. Die Farbe hatte sich in kaltes, helles fast Jadegrün verwandelt. Sie schienen zu leuchten, aber ob das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen war, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. So skurril und unheimlich sein Anblick auch sein mochte, so wunderschön und verführerisch war er gleichermaßen. Wir befanden uns auf flachem Grund; nichts als schwarze, verkokelte Erde, aus der hier und da nackte Geäste ragten und transparenter Rauch empor stieg. Als hätte eine Bombe oder so etwas Ähnliches eingeschlagen und alles verwüstet. Ich sah wie Jeldriks Lächeln kurz breiter wurde, er die Augen verdrehte und stehen blieb; keine Millisekunde später, wie aus dem Nichts, schlug plötzlich eine riesen Flammenzunge nach ihm aus.
Seine Gestalt verschwand hinter der üppigen Feuerwand, die kurz darauf zwar wieder verschwand, aber eine ebenso große, schwarze Rauchwolke hinterließ, die keine Sicht zuließ.  Voller Panik schrie ich auf, sank auf die Knie und ich wusste, dass ich heulte. Obwohl ich seltsamerweise plötzlich weder sehen noch etwas riechen oder schmecken konnte - selbst der stickige Rauch, der zumindest stickig hätte sein müssen, kratzte nicht in meiner Kehle – brannten die salzigen Tränen wie Säure auf meinen Wangen. Der Rauch war einfach zu dicht, als ob ich etwas hätte sehen können, als ob ich ihn hätte sehen können. Obgleich ich mir nicht sicher war, ob ich ihn überhaupt hätte so sehen wollen. So erfasst und verunstaltet von den Flammen. Aber ich saß nicht lange auf der rußigen Erde. Es dauerte nur eine Minute nach dem Flammenwurf, als sich eine warme, feuchte Hand auf meiner Schulter spürte und kurz darauf einen Arm, der sich um meine Mitte geschlungen hatte. Keine Ahnung woher, aber ich wusste sofort, dass der Körper an meinem Rücken seiner war. Augenblicklich wand ich mich in seinem Arm bis ich sein Gesicht vor meinem hatte. Unsere Augen trafen unverzüglich auf einander. Das Jadegrün war intensiver geworden, doch wärmer und menschlicher. Es lag Sehnsucht, Liebe und Schmerz, den ich nicht auslegen konnte, in seinem Blick. Seine andere Hand, die eben noch auf meiner Schulter geruht hatte, strich über mein Rücken und verschmierte mein Trägertop mit Blut. Meine Hand wanderte zu seiner mit purpurroter Flüssigkeit beschmutzten Wange, hier und da waren auch dunkle, rußige Flecken. Aber keine Brandwunden. Dafür spürte ich leichte Unebenheiten unter meinen Fingerspitzen, als ich über seine Schrammen strich. Während meine Augen sein gesamtes… - nun ja, man konnte nicht sagen entstellt, da keine der kleinen Wunden seiner Schönheit etwas vermochte – Gesicht untersuchte, blieb sein Blick an meinen Augen haften. Seine Hand strich nicht weiter über meinen Rücken, sondern hatte sich an das Ende meines Tops gekrallt; meine andere Hand lag auf seiner nackten Brust. Es fiel mir erstaunlich leicht, all das Blut auf seinem Gesicht und Körper zu ignorieren. Die Gewissheit zu missachten, dass dieser dickflüssige, warme Liquor keine Farbe war. Deshalb registrierte ich auch erst nicht, dass es in Massen zwischen meinen Fingern hinab floss. Doch noch bevor ich mich eines Besseren besinnen konnte, wurde seine Umarmung plötzlich enger. Meine Hand drückte jetzt gegen seine und meine Brust oder besser wurde dagegen gedrückt. Er schloss mich so fest in seine Arme, dass ich das Gefühl bekam, er wolle mit mir verschmelzen. Warme Nässe breitet sich von seiner Brust auf meinen Körper aus. Vorsichtig zog ich meine Hand zwischen unseren Leibern hervor und fuhr ihm damit durchs Haar. Weder ihm noch mir machte es etwas aus, dass ich somit sein Haar einen Deut dunkler färbte. Außerdem hatte er auch keine Hemmungen mich mit seinen blutverschmierten Händen zu berühren. Sein Atem kitzelte an meinem Ohr und war ungewöhnlich  kalt im Gegensatz zu dem Rest seines von Blut überhitzten Körpers. „Salvesta ise“, raunte er in einer Sprache, die mir nicht bekannt war.
„Salvesta ise, salvesta ise“, wisperte er immer und immer wieder und vergrub dabei sein Gesicht in meinem Haar. Ich schlang die Arme um seinen Hals und legte meinen Kopf in seine Halsgrube. Jeldrik nahm das streicheln meines Rückens wieder auf, dieses Mal jedoch auf nackter Haut, und flüsterte dabei weiterhin diese Worte wie in Trance.
Dann sagte er es einmal lauter und deutlicher, während er mich ein Stück von sich schob. Aber nur, um mir ins Gesicht sehen zu können. Er legte mir eine Hand auf die Wange, ehe er zum Letzten mal in fremder Sprache wisperte: „Salevesta ise, Eve. Palun, joosta! Luba mulle.“ In seiner Stimme lag ein Flehen und Wehmut. Auch sein Blick sprach dies aus, der sich unverhohlen in meinen bohrte. Nach ein paar Sekunden Schweigen, wanderte seine Hand in meinen Nacken und zog meinen Kopf nur wenige Millimeter vor seinen. Einen letzten fragenden Blick in meine Augen werfend, senkte er vorsichtig seine Lippen auf meine. Gleichzeitig griff er mit beiden Händen nach dem Saum meines Tops und streifte es mir zwischen den Küssen über. Meine Haut prickelte. Aber ob vor Erregung oder wegen seinem warmen Blut, das inzwischen auch meinen Körper einhüllte, war mir nicht ganz klar…

Obgleich es nur ein Traum war, mein Herz pochte bei der Erinnerung daran, wie verrückt.
„Hey, Lin“, Kylie rüttelte leicht an meiner Schulter. „Alles in Ordnung?“
Kylie sah mit gerunzelter Stirn auf meine Schulter. Unbewusst hatte ich die Arme fest um mich geschlungen und die Finger gekrümmt.
„Du hast grad voll gezittert“, erklärte sie und nahm ihre Hand zurück. Ich zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab. Noch immer spürte ich das Blut in meinen Adern pulsieren und jede Phaser meines Körpers stand unter Strom. Realität und Traum waren wahrhaftig schwer zu unterscheiden. Natürlich war ich mir bewusst, dass das wirklich nur ein Traum war, aber nur, weil ich zitternd in meinem Bett erwachte. Wenn Träume weiterhin so lebensecht mein Inneres berühren, wie sollte ich dann noch den Faden zur Realität festhalten? Zumal ohnehin in meinem Leben einiges an Irrationalität plötzlich der Wirklichkeit zu entsprechen schien. Engel, Dämonen. Was auch immer. Ob Christi darüber Bescheid wusste?
In dem Moment räusperte sich jemand neben mir. Als ich hinüber linste, drückte sich gerade jemand zwischen mich und den Schulpult rechts von mir. Zuerst erkannte ich seinen Geruch. Ein süßer Duft mit einer Note von nassem Stein und Moos. Ich sah auf, aber er beachtete mich nicht eines Blickes. Stattdessen legte er beim Vorbeigehen unauffällig einen klein zusammengefalteten Zettel auf mein Pult. Kylie hatte es nicht bemerkt, sie war zu sehr damit beschäftigt, ihren finsteren Blick Jeldrik begleiten zu lassen bis er sich schließlich irgendwo setzte.
Die ersten 20 Minuten des Unterrichts hatte ich mich weitgehend im Griff und ließ den Zettel genau da liegen, wo er ihn hin hatte. Mehr unterließ ich aber nicht. Ich starrte ihn an, als würden darin die nächsten, richtigen Lottozahlen stehen. Irgendwann ging dann wie schon so oft die Neugierde mit mir durch und ich griff in dem Moment nach dem Stückchen Papier, in dem Kylie irgendetwas aus ihrer Tasche kramte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich unter der Tischplatte den Zettel auseinander faltete und Mr. Woober im Auge behielt. Nicht auszudenken, wenn er mich erwischen und laut vorlesen würde, was Jeldrik mir mitteilen wollte. So etwas versüßte regelmäßig seinen Tag. Zuletzt bereitete ihm ein Mädchen diese Freude, indem sie per Zettel mit ihrem Freund Schluss machen wollte. Äußerst erbärmlich, wenn ihr mich fragt. Seitdem hatte sie kein Typ mehr angesehen.
Einen letzten, prüfenden Blick auf des Lehrers Rücken werfend, glättete ich die letzte Falte aus dem Papier und warf einen Blick darauf.

Wir müssen reden. Nach Mathe an deinem Wagen. J.

Normalerweise hätte ich mich sofort nach dieser Stunde von Kylie mit irgendeiner Ausrede verabschiedet. Siedend heiß darauf, was Jeldrik mir wohl sagen würde, wäre ich unverzüglich zum Parkplatz gerannt. Aber ich konnte nicht. Und zwar nicht deshalb, weil Kylie mal wieder ihren üblichen Labermodus aktiviert hatte, sondern weil ich es schlicht und ergreifend nicht konnte. Ich war noch nicht in der Verfassung dazu, mir etwas erklären oder eher mich belügen zu lassen. Ich war nicht bereit mich ihm mit klaren Gedanken gegenüber zu stellen. Er hatte mich benutzt, um Christi eifersüchtig zu machen. Wobei ich es mir kaum vorstellen konnte, dass man mit mir jemanden wie Christi eifersüchtig machen konnte. Aber sein Plan schien wohl aufgegangen zu sein – nur dass ich blöderweise nebenbei sein kleines Geheimnis gelüftet hatte. Das ganze erschien einfach so abstrus, dass ich mich manchmal immer noch in einem bösen Traum gefangen glaubte. Was würde ich nur dafür geben, wenn dem so wäre.
Als ich in der Mittagspause zu unserem üblichen Lunchtisch kam, gab ich mir alle Mühe natürlich zu wirken, aber Kylie saß auf Tylers Schoss und die Beiden zeigten keinerlei Anstandsscheue was ihre Zuneigung für einander anbelangte. Völlig ungeniert knutschten sie vor der gesamten Schülerschaft miteinander rum. Nicht das ein turtelndes Paar auf dem Schulhof etwas Seltenes war, aber eines, dass seit Lebzeiten miteinander befreundet war, löste da schon viel mehr skeptisches Getuschel aus. Außerdem war es auch für mich schrecklich ungewohnt, meinen besten Freunden, die sich sonst so gern angefeixt hatten und der weibliche Teil geläufig neue Zielscheiben gehabt hatte,  beim Rummachen zuschauen zu müssen. Deswegen nahm ich den andern ihre Skepsis auch nicht übel, weil ich sie selbst hatte. Ich wusste nicht, ob die sprunghafte Kylie wirklich das Richtige für den einfühlsamen Tyler war. Wer weiß schon, ob das nicht nur eine sich ergebene Laune Kylies war? Ich meine, Phelim schien plötzlich vergessen zu sein, nachdem sich neue Türen geöffnet hatten. Oh mein Gott! Und wenn es irgendwann(was bei Kylie nur allzu kurz sein würde) zwischen ihnen aus ist und sie sich weigern weiter beide meine Freunde zu sein?! Ich ahnte Unheil.
Weder Tyler noch Kylie hoben den Kopf, als ich absichtlich meine Tasche auf den Tisch knallen ließ. Ich seufzte. Das Ganze roch ja jetzt schon nach unerträglichen Liebesschwüren und die „Nur noch du und ich“-Atmosphäre schien auch schon aktiv zu sein. Im Grunde fand ich so etwas(wie jedes andere normale Mädchen in meinem Alter auch) ja furchtbar romantisch, aber als Außenseiter war es eher lästig.
„Halloho!?“, begann ich deshalb mit betont genervtem Unterton. „Erde an Tylie! Ich bin auch noch da.“
Endlich ließen die Beiden von einander ab und sahen mich mit Schlafzimmerblick an. Kylies Wimperntusche war verschmiert und Tylers Oberlippe war über den Rand hinaus vom Küssen leicht errötet. Sah ziemlich banal aus und erinnerte eher an Zombies als an frisch Verliebte.
„Tylie?“, Kylie war die Erste, die wieder Worte fand. Einige Groupies vermischten doch immer die Namen ihres Lieblingsprominetenpaars, dass sowas wie „Zanessa“ entstand. Ich ignorierte ihre fragenden Blicke und schlug stattdessen ein anderes Thema an: „Hat eigentlich irgendeiner von euch bis jetzt irgendwas für unser Geschichtsprojekt getan?"
Kaum dass ich die Frage ausgesprochen hatte, antwortete mir jemand aus einer völlig anderen Richtung.
„Wie sollten sie mit den verunstalteten Büchern auch?“, brachte er ein nicht ganz so überzeugendes Argument. Mein Herz fing absurderweise beim Klang seiner Stimme sofort zu flattern an und überlagerte kurz all meine Sinne. Ich hatte mich jedoch erstaunlich schnell wieder unter Kontrolle, als ich registrierte, dass Jeldrik sich doch tatsächlich die Freiheit nahm, sich einfach neben mich zu setzen. In mir brodelte die Wut, das war spürbar, aber mein Herz machte sich auch nicht schlecht darin, die Kontrolle zu übernehmen.
Ehe ich einen gehässigen Kommentar los lassen konnte, der ihn garantiert wieder vertrieben hätte, legte er einen Stapel eingepackter Bücher auf den Tisch. Ich erkannte sofort um welche Bücher es sich hier handelte, aber aussprechen tat es Kylie: „Sind das die Bücher aus den Bibliothek?“
Jeldrik nickte und breitet sie auf dem Tisch aus. „Ich hoffe, dass das alle sind. Ich hab sie neu drucken lassen.“
Für diesen Satz erntete er drei Paar ungläubige Augen und offene Münder. Als er dies bemerkte, verbesserte er sich kichernd: „Ich meine, bestellen. Kriegt euch wieder ein.“
Kylie verdrehte stöhnend die Augen (ein klares Zeichen für ihre Verachtung seiner Anwesenheit) und schnappte sich anschließend ein paar von Tylers blonden Haarsträhnen, um daran herum zu zwirbeln. Tyler griff unterdessen nach einem der Bücher und befreite es aus der Klarsichtverpackung. So ganz angenehm war mir das Ganze ja nicht – immerhin hatte ich Jeldrik noch nicht einmal darum gebeten, sie mir zu ersetzen. Auch deshalb, weil ich es nicht einmal vorhatte – so kaputt waren sie auch wieder nicht gewesen. Aber anscheinend beschädigt genug, dass Jeldrik sich verpflichtet fühlte, sie mir zu erstatten. Wie auch immer. In mir machte sich gerade jedenfalls Unbehaglichkeit breit. Wie entsetzlich naiv von mir, geglaubt zu haben, er wolle sich für seine Unsittlichkeit mir gegenüber entschuldigen. Wie es aussah, wollte er mir einfach nur diese Bücher überreichen und die Sache damit quasi beenden. Ich war nicht gekommen. Wenn das jetzt nicht voll mal so rüber kam, als wolle ich es nicht wahrhaben. Aber was wollte ich denn eigentlich nicht wahr haben? Ich meine zu mehr als Händchen halten und Kuscheln kam es nicht. Kein Kuss, keine intimeren Berührungen. Nada. Wie sollte er etwas beenden wollen, was noch nicht mal wirklich angefangen hatte? Mir schwirrte der Kopf. Und ihn so nah neben mir zu wissen, trug nicht unbedingt dazu bei die Konfusion in meinem Kopf zu beseitigen.
Mein Blick haftete immer noch geistesverloren auf einem der Bucheinbände, deshalb bemerkte ich auch nicht, dass um mich herum wieder einigermaßen die Normalität eingetreten war. Zumindest die Normalität, an die ich mich ab heute wohl zu gewöhnen hatte: Tylie-Soap. Jeldrik saß jedoch nach wie vor neben mir und als ich Schwergemüts in seine Richtung linste, sah er mich  ganz offen und eindringlich an. Und das kam meiner Vorstellung von Normalität nicht gerecht. Sein Blick hatte etwas Bittendes und gleichzeitig etwas Forderndes. Ich wandte den Blick schnell wieder ab. Jetzt hatte mich der Mut vollends verlassen. So einschüchternd wie jetzt war er mir noch nie begegnet. Ich hatte doch tatsächlich unwillkürlich meine Hände zwischen die Schenkel geschoben, wie ich es als kleines Kind immer getan hatte, wenn mir etwas unangenehm war.
Um Kylie und Tyler nicht bei ihrem Geschmuse zugucken, vor allem aber um nicht Jeldrik ansehen zu müssen, ließ ich meinen Blick über den Pausenhof schweifen. Außerdem fühlte ich mich irgendwie beobachtet.
Es war ein milder Tag in Chestertown. Nicht übermäßig heiß, aber auch nicht so frisch, dass man nicht kurzärmlig rumschlendern konnte. Mehrere kleine Gruppen von Jugendlichen aus verschiedenen Stufen füllten den Hof aus. Einige von ihnen plapperten doch wahrhaftig ungeniert unter meinem Blick eindeutig über uns. Das erkannte ich daran, weil sie strikt zu unserem Tisch starrten. Ich schüttelte unbemerkt missbilligend den Kopf. Da durfte man sich ja wohl beobachtet fühlen.
Die Wand, durch die eine elektronische Schiebetür zur Cafeteria führte, bestand fast komplett aus Glas. Aber weil die Sonne darin die Bäume und uns selbst reflektierte, hatte ich dennoch keinen wirklichen Einblick ins Innere. Was ich gerade so erkennen konnte, waren die Schüler, die direkt an den Scheiben standen. Die meisten davon kehrten mir den Rücken zu und schenkten den Sonnenstrahlen keine Beachtung. Ich wollte gerade meinen Blick weiter gleiten lassen, als dieser bei einer Person reflexartig hängen blieb. Ein großer, schlaksiger Typ, halb mir zugewandt, sah mich direkt an und es war deutlich, dass in seinem Blick keinerlei Freundlichkeit lag, das erkannte ich, obwohl die schwarzen Locken wie immer beinahe seine Augen überdeckten. Völlig bewegungslos und keine Miene verziehend lehnte er an der Fensterfront und ihm war deutlich anzusehen, dass er nichts als Abscheu für mich übrig hatte. In angesichts seines Anblicks stellten sich augenblicklich meine Nackenhärchen. All meine Sinne schalteten automatisch auf Rot. Er hatte mir bedeutet, was geschehen würde, würde ich mich ihm wiedersetzen. Ich hatte mir hoch und heilig versprochen, seinem Willen nachzukommen und was tat ich? Ich saß seelenruhig in aller Öffentlichkeit neben meinem Todesurteil.
Meine Kehle schnürte sich zusammen, als Phelim aus seiner Starre erwachte und den Finger auf die Innenseite seines Armes legte. Mit einer raschen, kaum erkennbaren Bewegung fuhr er über seine Pulsader und war verschwunden.
Mit offenem Mund starrte ich auf den leeren Platz, auf dem gerade noch Phelim gestanden hatte. Unfähig auch nur einen klaren Gedanke zu fassen, schnappte ich mir meine Tasche, erhob mich schweigend und rannte kopflos davon. Alles was ich wusste war, dass ich weg musste.
Es dauerte nicht lang bis ich Schritte hinter mir hörte. Ich brachte ein weinerliches Laut über die Lippen und spornte meine Beine an, schneller zu laufen.
„Hey, Eve!“, ich erkannte sofort seine Stimme. Obwohl ich erleichtert war, dass es nicht Phelims war, dachte nicht daran stehen zu bleiben. „Wo willst denn hin? Warte doch!“
„Lass mich doch einfach in Ruhe, ok?“, rief ich und hatte Mühe, den dicken Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. Das Ok kam energischer als beabsichtigt, aber der kleine Energieschub, der mein zorniger Laut mich sich brachte, tat unheimlich gut.
Zu meiner Überraschung stoppten die Schritte hinter mich abrupt und auch alle anderen Geräusche gerieten immer mehr in den Hintergrund, während ich einfach nur das tat, was meinem Instinkt entsprach.

Ich war nicht eher stehen geblieben, bevor ich nicht vor meiner Haustür stand. Ich durchlief  mehrere rote Ampeln, erntete einige unschöne Worte von verärgerten Fahrern und lief fast einen kleinen Jungen um. Ich war die ganzen 3 Kilometer nach Hause gerannt, während mein Wagen noch auf dem Schülerparkplatz stand. Ich hatte es irgendwie nicht über mich gebracht, stehen zu bleiben, einen Blick nach hinten zu riskieren. Zumal fühlte ich mich merkwürdigerweise vollgetankt mit mir fremder Energie. Jeder Teil meines Körpers fühlte sich vertraulich leicht an. Deshalb keuchte ich auch nicht einmal vor Erschöpfung, als ich den Korridor unseres Hauses betrat und an der Tür Innenseite zu Boden glitt.
Ich begriff die Welt einfach nicht mehr. Im einen Moment fühle ich mich einer völlig normalen Teenager-Liebeskummerkriese gegenübergestellt und im nächsten war an etwas Normales nicht im Entferntesten zu denken. Eigentlich zu überhaupt keinem Zeitpunkt, aber ab und an schien sich meine Verdrängungskunst wohl doch bewährt zu machen. Aber trotz allem Paranormalem, wollte ich irgendwie gar nicht, dass er mich in Ruhe ließ. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wohl, dass musste ich schon zugeben. Es gab niemand anderen, der mir so viel Sicherheit und Sorglosigkeit bescherte wie er. Nur leider hielten diese nur so lange an bis er wieder aus meinem Umfeld verschwand. Und wenn er dann erst einmal weg war, schlugen all diese irrational beklommenen Dinge mit einer einzigen Welle auf mich ein.
Meine Sicht wurde mit einem Mal glasiger und der Schluchzer in meinem Hals boxte schon eine ganze Weile gegen meinen Lymphknoten. Warum meinen Kummer noch länger unterdrücken? Mich selbst zu belügen brachte doch sowieso nichts mehr, da konnte ich genauso gut jetzt alles unbeobachtet raus lassen. 
Ich ließ gerade meinen Kopf auf die herangezogenen Knie fallen, als ich zwischen meinen leisen Schluchzern immer näher kommende Schritte wahrnahm. Na großartig, so viel zu ‚unbeobachtet‘. Warum hatte Ethan ausgerechnet heute seinen freien Tag?
Aber es war nicht Ethan, der sich neben mich niederließ und den Arm um mich legte.
„Hey, Linchen. Bscht“, redete Riley beruhigend auf mich ein. „Alles wird gut.“
Eigentlich dachte ich, würde jetzt der Teil beginnen, indem ich mich langsam wieder beruhigte, dankbar für seine tröstenden Worte. Aber das „Alles wird gut“ war mehr als ich in meinem jetzigen, nervlichen Zustand ertragen konnte. Mit einem verächtlichen Schnauben, hob ich den Kopf und schüttelte gleichzeitig seinen Arm von meiner Schulter.
„Wird es das?“, fragte ich schroff. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da redest? Nichts wird gut. Kann es gar nicht!“
Ich sah in Rileys mitfühlendes Gesicht und sofort tat es mir leid, dass ich ihn gerade so angefahren hatte. Immerhin hatte er es nur gut gemeint. Wie zur Wiedergutmachung lehnte ich mich an seine Schulter und schluchzte noch ein paar Mal ausgiebig. Riley entgegnete nichts mehr, sondern wuschelte mir als Zeichen seiner Vergebung durch die Haare, dann wartete er weiterhin schweigend darauf, dass ich mich beruhigte. Irgendwie fand ich es jetzt gar nicht so schlecht, dass er hier war. Ich hatte zwar keine Ahnung wie er hier rein gekommen war  und was er hier suchte, aber das war im Moment gleichbedeutend. Er fühlte sich an wie der große Bruder, den ich nie hatte. Allein seine Gegenwart wirkte tröstlich auf mich und ich war echt froh, dass er anscheinend nicht vor hatte, mich nach meinem Problem zu fragen.
Nachdem ich eine halbe Ewigkeit ihm die Ohren vollgeschluchzt hatte, zog er mich vom Boden auf und führte mich ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch stand bereits eine Kanne Kaffee und daneben eine Tasse, die nur noch halb gefüllt war. Riley schien also schon eine ganze Weile hier zu sein. Seltsam.
Ich setzte mich neben Riley im Schneidersitz auf die Sofa und griff nach seiner Kaffeetasse. Ohne zu fragen, trank ich zwei, drei kräftige Schlucke daraus und stellte sie zurück in sein Untertässchen. Sofort fühlte ich mich etwas besser. Der zweite Energieschub heute, wenn auch spürbar schwächer als der Erste.
„Willst du mir erzählen was los ist?“, stellte Riley nun doch die Frage, von der ich vor wenigen Minuten noch überzeugt gewesen war, er würde sie nicht aufgreifen.
Ich seufzte und griff doch wieder nach der Tasse, weil ich mich mit ihr in der Hand irgendwie wohler fühlte.
„Eigentlich nicht“, krächzte ich. Oh mein Gott. Meine Stimme hörte sich nach dem ganzen Geheule fast so an, als wäre ich das erste Mädchen im Stimmbruch. Riley, verwunderlicher Weise ganz der Gentleman, äußerte sich nicht dazu, sondern gab Antwort als wäre daran nichts Ungewöhnliches.
„Vielleicht würde es aber helfen“, sagte er, während einem Schulterzucken, schraubte den Deckel der Kanne locker und trank aus dem Kannenhals. Wenn mein Vater oder Kylie hier gewesen wäre, sie hätten empört nach ihrer Brust gegriffen und Tyler hätte darüber gelacht. Ich jedoch kannte ihn inzwischen so gut, dass ich an manchen seiner Eigenarten nichts Merkwürdiges mehr fand. Als er die Kanne wieder abgesetzt hatte, sah er mich ermutigend an. „Hey, komm schon. Du weißt, du kannst mir alles erzählen.“
Genau das war ja der Punkt. Ich konnte eben nicht! Und zwar nicht, weil ich ihm nicht traute, sondern weil ich Angst hatte. Angst vor seiner Reaktion und viel größere Angst vor dem, was Phelim davon halten würde, wenn er es zu Ohren bekommt.
Ich überlegte krampfhaft welchen Teil der Geschichte ich ihm erzählen konnte, ohne ihn oder mich selbst damit ins Verderben zu stürzen. Kurzerhand entschied ich mich für das klassische Liebeschaos unter Teenager. Jetzt machten sich die Donnerstagabende vor dem Fernseher doch noch bezahlt.
Ich erzählte Riley, was vor und was nach diesem Adlerkampf gewesen war, dass wir uns super verstanden haben, von Christi und dass er mich nach Hause gefahren hatte und noch etwas blieb. Eben all das, was meiner Meinung nach noch nach typischem Teenagerverfahren klang. Hier und da baute ich noch einige wirksame Szenen, die ich mal in irgendwelchen Teenieromanzen gesehen hatte, mit ein, damit das Ganze nachvollziehbarer wurde, ohne die mythischen Details.
„Der Liebe Last bringt mich zum Sinken“, zitierte ich am Ende meiner Geschichte eine Zeile Romeos. Und war selbst beeindruckt von dieser kleinen Feststellung. Riley schwieg noch eine Weile, ehe er etwas dazu zu sagen hatte. Allgemein hatte es während meines gesamten Vortrags nicht eine kleine Unterbrechung von ihm gegeben.
Riley verkrampfte sich plötzlich auf der Sofa und fragte mit starrem Blick auf den Fernseher: „Hat er einen Bruder namens Phelim?“
In dem Moment fiel mir siedend heiß ein, dass Jeldrik ja schon mal erwähnt hatte, er und Riley würden sich kennen. Oh Mist.
„Du wirst ihm doch nichts erzählen, was ich gesagt habe, oder?“, wollte ich Riley ermahnen und mir fiel ein Stein vom Herzen, als dieser energisch den Kopf schüttelte.
„Ganz bestimmt nicht. Und du bist sicher, dass eure Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhen?“
Ich runzelte verärgert die Stirn. „Hab ich mir gerade etwa umsonst den Mund fusselig geredet? Warum sollte ich dann heulen, wenn dem so wäre?“
Riley nickte und er sah fast etwas enttäuscht aus. Er war enttäuscht, dass ich in der Liebe Pech hatte? Fast lächelte ich.
„Und er hat dich nur ausgenutzt, um Christi zu ärgern, meinst du? Gab es nie irgendwelche merkwürdigen oder magischen Momente?“
Jetzt wurde mir das aber echt langsam zu sehr Kreuzverhör. Ich hatte doch alles Notwendige erzählt! Merkwürdige Momente gab es ja eigentlich nur noch, seit ich diesem Kerl begegnet war. Aber das brauchte und durfte Riley nicht wissen!
„Was tut das noch zur Sache?“, sagte ich deshalb trotzig. „Da läuft nichts mehr. Nix. Nada! Ich war nur Nutz zum Zweck, verstehst du?“
Und schon wieder machte sich ein Kloß in meinem Hals bemerkbar. Aber diesmal schluckte ich ihn mit Leichtigkeit runter. Diese mir undefinierbare Energie machte sich plötzlich wieder in mir breit und überlagerte jede andere Emotion. Rileys Blick klärte sich plötzlich und er drehte ruckartig seinen Kopf in meine Richtung, als habe ich ihm so eben die schlimmsten Ausdrücke an den Kopf geworfen.

Kapitel 10 - Das mit dem Verräter

Riley hatte die Augen weit geöffnet, sie waren plötzlich unnatürlich hell und deren Pupillen schienen in dessen Leuchten fast unterzugehen.
„Was war das?“, zischte er brüsk zwischen den Zähnen hindurch, ließ mich dabei jedoch nicht aus den Augen. Überrascht von seiner plötzlichen Feindseligkeit, zuckte ich nur hilflos die Schultern. Was hatte er denn auf einmal? In mir schrie absurderweise alles danach, aber jetzt den Mund zu halten oder noch besser davon zu laufen. Aber mein Verstand arbeitete dagegen an. Warum sollte ich auch vor Riley fliehen? Er war doch niemals eine Bedrohung für mich. Jedoch war mir die Schärfe in seinem Blick alles andere als vertraut. Unmerklich rutschte ich ein paar Zentimeter näher an die Armlehne. Die negativen Schwingungen in diesem Raum waren regelrecht spürbar. Völlig ahnungslos sah ich dem entgeisterten Riley entgegen und langsam aber sicher bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Weil er schwieg. Er sagte keinen Ton! Stattdessen fixierte er mein Innerstes, so kam es mir zumindest vor. Als glaubte er, durch meine Augen irgendetwas zu erkennen. Trotz all dem Unbehagen, das sich in mir breit machte, schien die Energie in mir nicht zu schwinden. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass sie gerade wegen meiner Angst zu steigen begann. Keine Ahnung, woher dieser Machtandrang auf einmal kam, aber ich fühlte mich unwahrscheinlich stark damit.
Mit gemilderter Schwermut, rückte ich wieder ein bisschen näher und schnipste ein-, zweimal vor seinem Gesicht herum.
„Halloho? Riley? Alles in Ordnung?"
Zu schnell, als dass ich es hatte kommen sehen, hatte er mich an den Schultern in die Polster der Couch gedrückt und beugte sich mit seinen noch immer in Trance wirkendem Blick gefährlich nah über mein Gesicht. Ich quiekte erschrocken auf. Mein Herz beschleunigte in angsterregender Geschwindigkeit seinen Gang, mein Blut überschlug sich. Was um alles in der Welt hatte er denn jetzt? Wollte er mich wahrhaftig so überfallen küssen? Aber ich wollte Riley nicht küssen! Keuchend versuchte ich, ihn von mir zu drücken, aber es stellte sich als gar nicht so einfach heraus, wenn man die Oberarme umklammert bekam. Aber so sehr ich mich auch bemühte, Riley wich kein Stück zurück! Als habe er völlig den Verstand verloren, sah er auf mich herab und kam mechanisch meinen Lippen immer näher. Langsam stiegen die Tränen in mir wieder auf. Oh, bitte! Hatte ich heute nicht schon genug geheult? Leise wimmernd presste ich die Lippen aufeinander. Im selben Moment, huschte Rileys Blick zu meinen verschlossenen Lippen. Mit einem unmenschlichen Knurren seinerseits, schnellte seine Hand zu meinen Lippen und er presste mit aller Gewalt seinen Daumen dazwischen.

Gerade als ich in seinen Finger beißen wollte, verfärbten sich die Ränder seiner Augen dunkel und viele feine, blaue Äderchen traten zum Vorschein. Vor Angst erstarrt, sah ich wehrlos zu, wie sein leblosaussehendes Antlitz meinem immer näher kam. All meine Gelenke schienen wie vereist zu sein, ich war unfähig auch nur eines davon unter meine Kontrolle zu bringen, um Riley beispielsweise in seine Heiligtümer zu treten. Allein meine Tränendrüsen brachten noch genug Kraft auf, um in Massen Flüssigkeiten frei zu lassen. Vielleicht waren sie aber auch zu schwach, um sie zurückzuhalten.
Kurz vor meinen Lippen hielt Riley unvermittelt inne und atmete so tief ein, dass er mir den Atem buchstäblich aus der Lunge raubte. Ich schob dies zuerst auf eine kurze Sekunde des Schreckens, indem ich die Luft angehalten hatte. Aber wider meiner Erwartungen zog sich die Sekunde in unerträgliche Längen. ‚Tief einatmen‘ war untertrieben im Vergleich zu seinem nie mehr enden wollendem Zug. Mittlerweile rang ich wirklich um Luft, aber mir blieb nichts anderes übrig, als ihn gewähren zu lassen. Zu mehr als ihn einfach nur wie ein erschrockenes Häschen an zu starren, war ich einfach nicht in der Lage. Mein kleiner Energieschub hatte sich verflüchtigt. Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so schwach gefühlt wie jetzt.

 

Ungehalten folgte er dem plötzlichen Andrang an Energie. Noch nie hatte er eine so mächtige Aura gespürt. Das Mädchen, sein Bruder; alles war vergessen, während er völlig berauscht von seiner Entdeckungen ihre Spur verfolgte. Der Funken Hoffnung, den er schon längst für erloschen gehalten hatte, artete nun in eine kraftvolle Flamme aus und überlagerte all seine Gedanken. Er scherte sich nicht um die schimpfende Mutter, dessen Sohn er unbemerkt umgerannt hatte. Auch die Tatsache, dass ihn beinahe ein Auto angefahren hatte, ließ ihn völlig kalt. Nicht, dass so etwas ihn ernsthaft verletzt hätte, aber den Schaden am Auto hätte er sicherlich ersetzen dürfen und dazu war er finanziell momentan einfach nicht in der Lage. Es war dank der dynamischen Energie der Aura überhaupt kein Problem ihr zu folgen. An jeder Straßenecke stach diese am deutlichsten heraus, wobei er ganz nebenbei nicht einmal überprüfte an welchen Straßenecken er sich denn eigentlich befand. Sein Gedanken waren nur von einem einzigen Willen gefangen: Die Energiequelle zu finden. Normalerweise suchte er nur nachts nach seinem Messias. Aus dem Grund, da sich die Energie der Menschen im Schlaf um ein vielfaches erholte und stärker ausgeprägt war, als wenn sie sie verschwendeten. Aber man kann sich manche Schicksalsfügungen eben nicht aussuchen. Obwohl er sich diesmal ganz sicher war, sie gefunden zu haben, rief er nicht nach seinem Bruder. Wie oft hatte er sich schon dabei geirrt und seinen Bruder unnötig von seinem Job abgelenkt. Dieses Mal wollte er sich lieber vorher vergewissern.
Seine Sinne verrieten ihm, dass er auf dem richtigen Weg war – er konnte die Energie immer deutlicher spüren. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er unmittelbar nah an seinem Ziel war. In ihm kribbelte alles. Er war tatsächlich furchtbar aufgeregt, wenn er die Aussicht in Betracht zog, dass das ewige Rumgeschleiche mit dem Messias endlich ein Ende finden würde. Endlich frei sein; entlastet von allem Unheil und Leid. Auch wenn das heißen würde, dass er dieses Mädchen verlassen musste. Mit gewissem Wehmut, stellte er fest, dass das ihm eigentlich lang nicht so gleichgültig war, wie er vorgab. Was aber wenn sich seine Theorie nicht erfüllte? Wenn der Messias, die Menschen nicht von den lästigen Unwesen befreite? Wenn sich Vés Glaube bewahrheitete und die ganze Suche keinen Sinn für ihn gehabt hatte? Er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Es sprach zu viel für die Theorie seines Bruders. Wie sollte ein einfacher Seelenkristall einem auch überdimensionale Kräfte verleihen?
Die Aura war jetzt ganz nah – keine 500 Meter mehr – und er beschleunigte seinen Gang. Ganz kurz wurden seine Sinne von dem intensiven Geruch der Fliederbäume, an denen er gerade vorbei sprintete, benebelt, aber er hatte sich schnell wieder im Griff. Sogar seine Energie nahm durch die mächtigen Schwingungen jener Aura zu.
Plötzlich kreuzte seinen Weg ein niedriger Zaun und dahinter lag ein ungestrichenes Backsteinhaus, in dem sich diese Aura befinden müsste. Als er erkannte wessen Haus das war, war er unheimlich froh darüber, seinen Bruder nicht informiert zu haben.

 

Mit der Zeit war ich nicht einmal mehr in der Lage die Augen offen zu halten, obwohl eine Stimme in mir panisch schrie: „Ich werde erdrosselt“, „Ich ersticke“ oder einfach nur „Hilfe!“. Naja, erdrosselt wurde ich ja genau genommen nicht. Mein Hals lag völlig frei und außer sein Daumen meine Lippen, berührte er mich nicht einmal. Das Schwindelgefühl in meinem Kopf nahm drastisch zu und verlangte nach Sauerstoff. Meine Lunge fühlte sich an wie ein durchgelegenes Kissen, als hätte man sie einfach platt gedrückt. Außerdem hatte ich einen seltsamen Druck im Brustkorb, der meine Panik nicht unbedingt linderte.
Die Tränen rollten immer noch ungehalten an meinen Schläfen hinab und verarbeiteten das Kissen unter meinem Kopf wahrscheinlich zu einem Schwamm. Immer wieder riss ich zwanghaft meinen Augen auf, um jedes Mal in dieselben toten Augen zu sehen, von denen ich unmöglich glauben konnte, dass es Rileys waren. Das war mein Ende. Das verriet mir die weiße Kluft, die sich immer weiter vor Rileys Gesicht aufmachte. Ich hatte nur noch einen Gedanken: Du wirst sterben und niemand wird je erfahren wodurch. Du wirst eines Mythos wegen sterben. Phelims Auftragsnehmer eventuell? Ich wollte nicht sterben!
In dem Moment, als ich mir absolut sicher war, Riley würde mir jetzt den letzten Luftzug aus dem Hals saugen, hörte ich wie ein Fenster eingeschlagen wurde. Keine Sekunden später flog Riley im hohen Bogen von mir und krachte mit einem dumpfen Knall irgendwo gegen. Wogegen konnte ich allerdings nicht sagen, da ich zu sehr mit Husten und Atmen beschäftigt war. Mein Hals fühlte sich furchtbar ausgedörrt an und jedes Schlucken tat weh, aber ich war in meinem Leben nicht so erleichtert über Halsschmerzen gewesen.
Während mehrerem Räuspern und zwanghaftem Husten, rappelte ich mich zum Sitzen auf, um mich nach meinem Retter umzusehen. Das Erste was ich entdeckte, war ein verwirrt dreinschauender Riley in Mitten von Büchern und Regalbrettern, die er bei seinem Sturz mit hinunter gerissen hatte. Zwei Meter neben mir stand Jeldrik in leicht geneigter Position, die Hände zu zwei bedrohlichen Fäusten geballt. Mein Herz schlug sofort drei Takte schneller, aber diesmal nicht vor Angst.
Seine Aufmerksamkeit galt voll und ganz Riley, der nun leise röchelnd auf die Beine kam. Sein Blick hatte sich wieder geklärt, seine Augenfarbe war jedoch noch immer heller als sonst. Intuitiv drückte ich mich tiefer in die Polster und schlang die Arme um mich.
„Wadim…“, Riley griff sich in den Nacken und tat so als müsse er ihn sich wieder einrenken. „Ich wollte gerade Mittag machen. Warum störst du mich nur immer zu?“
Seine Stimme hatte einen offensiven Klang angenommen, wie ich ihn zwar noch nie von ihm gehört hatte, er mir dennoch bekannt vorkam. Hohn und List waren deutlich herauszuhören und machte es mir unbegreiflich, wie diese sich solang unter einem Arztkittel hatten verbergen können. Ich konnte förmlich spüren, wie eine imaginäre Hand mir auf den Hinterkopf schlug, als mir bewusst wurde, wessen Stimme da aus Rileys Mund drang. Er war es gewesen! Er war es damals in Rock Hall gewesen gegen den Jeldrik und Phelim zu kämpfen hatten.
Ungeachtet dessen, dass er soeben beinahe für mein Ableben gesorgt hatte, bäumte sich in mir aus noch unbekannten Gründen Hass gegen Riley auf. Hass wie ich ihn noch nie gefühlt hatte, geschweige denn sehen konnte. Als würde über mir eine Nebelmaschine hängen, schleierte mich ein dunkelvioletter Rauch ein, der so viel Dynamik mit sich brachte, dass ich glaubte erst geboren worden zu sein. Zu meinem Erstaunen schien er sogar beinah fassbar zu sein, jedenfalls spürte ich das sachte Streicheln eines leichten Luftzugs über meine Arme und Wangen gleiten. Jede Sehne, jeder Muskel und jede Phaser fühlte ich plötzlich so dermaßen bekräftigt an, dass ich völlig überwältigt von dem Energierausch alles um mich herum vergaß. Riley und Jeldrik waren kaum mehr als dünenhafte Schatten vor meinen Augen, die die Transparenz des Rauches verrieten. Er war jedoch nicht durchlässig genug, um ihre Gesichter zu erkennen. Bemerkten sie den Rauch auch? Oder spielte sich das alles vor meinem inneren Auge ab?
Doch ehe ich weiter darüber nachgrübeln konnte, verschwand er plötzlich wieder und klärte meine Sicht. Jeldrik sah Riley noch immer verbissen an, während Riley völlig Herr seiner selbst sich imaginären Staub von den Klamotten klopfte. Ihr absolutes Desinteresse an mir, ließ mich darauf schließen, dass dieser seltsame Nebel für sie wohl unsichtbar geblieben war.
„Immerhin mach ich auch nichts anderes als du, nicht wahr?“, fuhr Riley fort und blickte nun doch zu ihm auf. Mit einem hinterlistigem Lächeln im Gesicht, huschte sein Blick auch rasch zu mir, ehe er weiter sprach: „Sag bloß, du bist selbst noch nie auf die Idee gekommen, ihre Energie zu kosten. Ich bitte dich, in der Hinsicht bist du doch auch nicht viel besser als ich.“ Er lachte abfällig und schloss die Augen. „Wenn man in Betracht zieht, was du für eine linke Tour abziehst, könnte man sogar sagen, dass du kein Stück besser bist…“
„Halt endlich die Klappe und verschwinde, ehe ich mich verliere“, unterbrach Jeldrik seinen Redeschwall und ich konnte förmlich selbst spüren, wie sich Jeldriks Fingernägel in seine Handflächen bohrten. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen; er hatte den Kopf abgewandt.
„Du verträgst wohl die Wahrheit nicht, was? Weiß deine kleine Freundin hier denn was du so treibst…? In deiner Freizeit?“ Auf Rileys Lippen schlich sich wieder dieses triumphierende Lächeln. Dass er über mich sprach als würde er mich nicht kennen („deine kleine Freundin hier“ - Warum konnte er nicht einfach meinen Namen verwenden?), brachte mich noch mehr in Fahrt, so dass ich für Jeldrik antwortete: „Ich weiß was er ist, falls du das meinst. Und ich denke, ich weiß auch was du bist, Riley.“
Riley schenkte mir einen mitleidigen Blick, der fast ehrlich hätte sein können, wenn er im nächsten Moment nicht abermals schelmisch gegrinst hätte.
„Sein und Tun sind zwei unterschiedliche Dinge, Linchen.“
Ich warf Jeldrik einen fragenden Blick zu, doch ehe er ihn hätte bemerken können, stieß er plötzlich einen wütenden Laut aus. Keine Sekunden später, knallte Riley erneut gegen das Bücherregal in seinem Rücken, sodass es dieses nun seine letzten Bücher kostete. Jeldrik stand keinen Meter mit dem Rücken zu mir von ihm entfernt, sofort bereit zu einem wiederholten Angriff. Rileys Gestalt blieb mir dadurch hinter Jeldriks Körper verborgen.
Einige Sekunden herrschte Stille. Einzig Jeldriks bedrohliches Schnauben, das hätte von einem Stier stammen können, war zu hören. Riley tat keinen Mucks, nicht einmal während dem Aufprall hatte er einen einzigen Ton von sich gegeben. Die Spannung jedoch war regelrecht spürbar. Nicht nur da ich eine Gänsehaut bekam, nein. Jeldriks angespannter Rücken verriet mir, dass das gerade nur der Anfang war und vertrieb die leise Befürchtung, die sich auf Rileys Stillschweigen hin anbahnen wollte.
„Linchen“, hörte ich nach gefühlten Minuten wieder Rileys Stimme. „Weißt du eigentlich, dass das ziemlich ablenkend wirkt, wenn du ständig deine Stimmung zwischen Angst und Wut wechselst?“
Ehe ich hätte fragen, gar darüber nachdenken können, ertönte dieses altbekannte metallische Zischen als würde jemand seine Messer wetzen. Im scheinbar selben Moment, da Rileys dolchbesetzte Hand hinter Jeldriks Körper auftauchte, berstete sie krallenartige Risse in sein Hemd auf seinem Rücken, von dessen Ränder sich unverzüglich rote Flüssigkeit ausbreitete. Mein Schreckensschrei stellte Rileys widerlich frohlockendes Gelächter in den Schatten. 
„Was habe ich gesagt?“, Riley blickte auf Jeldrik hinab, der wie ein Vorhang vor ihm auf die Knie gefallen war. Er zog die Augenbrauen empor und schüttelte geringschätzig den Kopf. „Wir sehen uns, Linchen. Ich richte deinem Vater schöne Grüße aus, ja?“, meinte er noch mit einem falschen Lächeln im Gesicht, ehe der Wind hörbar wurde, als zwei schneeweiße Flügel Rileys Shirt von seinem Körper riss. Dann – viel zu schnell, um mehr als nur Schlieren zu sehen – sprang er aus der zerbrochenen Terrassentür.

Ich sah ihm nicht nach, stattdessen stürzte ich auf dem am Boden knieenden Jeldrik zu, sogleich Riley den Raum verlassen hatte.
Er stütze sich mit beiden Armen vom Boden ab. Dadurch dass er den Kopf hängen ließ, fielen seine Haare gerade so bis zur Mitte seines Gesichts und verbargen mir seine Mimik.
„Lass gut sein“, stöhnte Jeldrik, als ich mich hinter ihn setzte und ihm vorsichtig das Hemd aus der Hose ziehen wollte. Um ehrlich zu sein, ich hatte große Mühe ihm nicht auch noch auf den Rücken zu speien – die Rückseite seines vorhin noch weißen Hemds war fast komplett von Blut getränkt, so dass man sogar seinen metallischen Geruch wahrnahm.
„Aber, das…das sieht schlimm aus.“
Das sieht schlimm aus war leicht untertrieben. Ein Kratzer färbte jedenfalls kein Hemd ein.
„Eveline, ehrlich. Das verheilt doch eh gleich wieder.“
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Jeldrik den Kopf wieder hob und über seine Schulter versuchte mich anzusehen. Doch ich beachtete weder seinen Protest noch seinen Versuch mich zu überzeugen, stattdessen zerrte ich weiter an seinem Hemd bis ich den Saum zu fassen bekam. Meine Finger zitterten, als ich es behutsam nach oben stülpte und mich auf einen nicht sehr reizenden Anblick gefasst machte. Doch kaum hatte ich es zehn Zentimeter weit nach oben geschafft, zuckte Jeldrik plötzlich zusammen und sein leises Stöhnen ließ mich den zusammengeknüllten Saum fallen lassen. Umso mehr ich sein Hemd nach oben stülpen wollte desto enger und schwieriger wurde es, dabei nicht seine Haut oder gar seine Wunden – wo immer sie genau sein mochten – nicht zu streifen.
Unsicher biss ich mir auf die Unterlippe und wischte mir das Blut von den Händen, das ich zwangsläufig seinem Hemd ausgewringt hatte.
 „Du musst es ausziehen“, murmelte ich und krabbelte um ihn herum bis ich vor ihm kniete. Ich wagte es nicht ihm ins Gesicht zu gucken, während meine Finger zaghaft nach dem obersten Knopf seines Hemdes griffen. Das Wissen, dass sein Blick auf mir ruhte, war ohnehin schon genug, um mich nervös und das Aufknöpfen eines Hemdes zu einer richtigen Herausforderung zu machen.
Ohne ein weiteres Wort seiner- oder meinerseits hatte ich es schlussendlich doch irgendwie geschafft, sein Hemd bis zum Saum aufzuknöpfen. Es war wahnsinnig schwer gewesen, nicht ins Schmachten zugeraten, während ich dafür sorgte, dass das Hemd immer und immer mehr Blick auf seine Brust und seinen gelinde trainierten, aber doch betörenden Bauch freigab.
Meinen Blick immer noch auf Jeldriks nackten Oberkörper gerichtet, der wie hinter Bühnenvorhängen zwischen seinem Hemd hindurchschaute, fing Jeldrik plötzlich an zu kichern.
Ich verzog das Gesicht. Ich hatte es doch getan. Geschmachtet.
„Und nun? War’s das?“, fragte er, noch immer ein neckisches Lächeln im Gesicht. Selbst für meine Verhältnisse, schoss mir jetzt wie schon so oft in seiner Gegenwart mit beeindruckender Geschwindigkeit die Röte ins Gesicht. Ich blinzelte ein paar Mal, ehe ich den Kragen seines Hemdes nahm, um ihm es von den Schultern zu streifen und überging somit mit einem leisen Räuspern eine direkte Antwort. Jeldrik ließ es kommentarlos geschehen und schlüpfte gehorsam aus den Ärmeln, als ich ihn dazu aufforderte. Das blutverschmierte Hemd lag ich einfach neben uns, bevor ich mich wieder hinter ihn positionierte mit dem Vorhaben, seine Wunde zu versorgen. Oder zumindest zu desinfizieren oder sowas. Er mochte zwar ein… ein Dämonmischling sein, aber vielleicht schloss sein „Selbstheiler“ ja Bakterien mit ein?
Es war absurd was ich tat, irgendwie wusste ich das schon selbst, aber ich glaube, irgendetwas in mir, wollte etwas völlig natürliches, menschliches mit ihm erleben. So etwas wie Fürsorge, obwohl ich mir dessen Bewusst war, dass es nicht lange dauern würde, bis seine Wunde von selbst verheilt war.
Wenngleich es nicht anders zu erwarten war, sog ich scharf die Luft ein, als ich auf seinem Rücken nicht mehr als zwei circa 20 cm lange Narben und Rückstände von fast getrocknetem Blut ausmachen konnte. Das was ich für eine Wunde gehalten hatte, sah jetzt nach einer vier Wochen alten Fleischwunde aus. Wenigstens war sie noch zu rot, als dass man sie für verheilt erklären konnte. Ehrlich gesagt, erleichterte das meinen menschlichen Verstand etwas, wenn auch nur ein wenig.
Jeldrik rührte sich kein Stück, während meine Finger langsam den Weg zu seiner Haut fanden und behutsam die blutbekleckste Wunde nachzeichneten.
„Ich hab doch gesagt, dass es gleich verheilt ist“, sagte er leise und spannte seinen Rücken an. Ich zog meine Finger zurück. Für einen Augenblick raubte es mir den Atem, wie dadurch jeder Muskel zur Geltung kam.
Weil auf seine Worte hin, nichts als Stillschweigen von mir kam, hörte ich ihn seufzen und wenig später war er auf den Beinen. Als er sich umdrehte, mir die Hand hinstreckte und mich ansah, durchfuhr mich für eine Sekunde ein seltsamer Schmerz. Nichts körperlich Spürbares. Aber sein Blick, der von Zweifel sprach und doch irgendwie liebevoll war, versetzte mir einen kleinen Stich, mitten ins Herz.

Weil ich nicht wusste, woher seine Zweifel kamen.

Und weil sie mich an meine eigenen Zweifel erinnerte.

Er zog mich auf die Couch, als ich seine Hand nahm; sein Hemd ließ er liegen. Meine Hand ließ er weiterhin festumschlossen, obwohl er sich inzwischen neben mich gesetzt hatte und mich erwartungsvoll fixierte. Er wusste, dass mich etwas bedrückte und leider wusste er auch, wie er es aus mir heraus bringen konnte. Ich holte tief Luft, bevor ich die Frage abpfefferte, die mich am ehesten beschäftigte.
„Du fragst dich doch sicher, warum ich heute so… so seltsam war, oder?“, fing ich an und verzog das Gesicht, da ich mein Verhalten selbst als „seltsam“ beschrieben hatte, obwohl das doch ganz und gar berechtigt war!
Jeldrik tat es mir gleich, jedoch auf eine andere Art und Weise. Seine Mimik wirkte eher überrascht. Ich sah, wie er ganz leicht den Kopf schüttelte.
„Nein. Oder… eigentlich schon. Vorhin. Aber daran hatte ich im Moment gar nicht mehr gedacht.“ Er lachte. Es war ein erleichtertes Lachen, das war ganz klar zu hören. Ich fand dabei ganz und gar nicht, dass das ein Thema zum Lachen war.
„Warum lachst du?“, platze ich also einfach mit der Frage heraus, auf die ich eigentlich nicht hinaus wollte.
Jeldrik lachte immer noch, nur klang es inzwischen etwas entspannter.
„Na, wenn man in Betracht zieht, was du gerade mit angesehen hast, hätte ich mit anderen Fragen gerechnet.“
„Ich ziehe es vor, erst das Menschlichere zu besprechen“, plapperte ich und bereute meine Worte sofort, als Jeldriks Lachen verstummte und er die Stirn graus zog.
„Na dann“, er seufzte. „Schieß mal los mit dem menschlichen Zeugs.“
„Tut mir Leid, so war das nicht gemeint, ich…“, Jeldrik drückte meine Hand und lächelte.
„Is‘ okay. Ich versteh schon. Also, warum warst du heute so abweisend zu mir?“
Ich erwiderte sein Lächeln mit Mühe. Was mir sicher auch anzusehen war. Meine ganze Wut gegen ihn war im Moment verflogen; jetzt wo er neben mir saß, mich mit seinem charmanten Lächeln zum Schmelzen brachte… und mich ehrlich gestanden, völlig im Griff hatte. Ob ihm das bewusst war?
„Also ich… Kylie war noch bei mir. Vorgestern. Als du mit Christi Eis essen warst…“
Ich wandte kurz den Blick ab, sah ihm aber sofort wieder ins Gesicht, als er gefrustet stöhnte. Kopfschüttelnd blickte er mir in die Augen, ehe er auch meine andere Hand ergriff und sie fast in unsere Gesichtshöhe hob.
„Eve…“, sein Blick wurde warm. „Ich kann mir schon denken, was Kylie dir erzählt hat. Aber du musst mir glauben, da war nichts. Wirklich.“
Seine Augen konnten noch so treu und ehrlich funkeln. Dieser Satz bewirkte alles, aber ganz bestimmt nicht beruhigend. Brüsk zog ich meine Hände zurück und steckte sie zwischen meine Oberschenkel.
„Ehrlich, ja?“, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Kylie hat sich also alles nur ausgedacht. Dass du sie in die Toilette gedrängt hast und sie wenig später nach dir völlig neben der Spur sie wieder verlassen hat. Meine beste Freundin ist ja so eine Lügnerin.“ Meine Worte troffen vor Spott. Gleichzeitig wurde meine Sicht immer glasiger. Ich machte mir aber auch nicht einmal die Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Es tat so viel mehr weh, dass er auch noch versuchte mich zu belügen; das durfte er ruhig sehen.
„Eve, nein. Du verstehst mich völlig falsch“, sagte er hastig und nahm mein Gesicht in seine Hände, wobei er mir mit den Daumen meine Tränen auffing. „Du weißt, ich bin… ich bin nicht normal. Und ich würde dir auch gern alles über unsere Spezies erzählen, aber ich kann einfach nicht. Weil… ich dir keine Angst machen will, verstehst du? Und einiges was ich tue, tun muss würde dir ganz sicher Angst einjagen. Ich will nicht, dass du Angst vor mir hast, Eve. Nicht du.“
Was Jeldrik sagte, rief in mir wieder die Worte von Riley ins Gedächtnis.
„Sein und Tun sind zwei unterschiedliche Dinge“, sprach ich im Flüsterton meine Gedanken aus.
Jeldrik seufzte erst, nickte aber. „Genau. Du weißt was ich bin, kannst aber nichts damit anfangen. Und das, was ich gezwungen bin zu tun, findest du nicht in irgendwelchen Mysteryromanen“, er grinste halbherzig. „Und ich denke, als du Exyus oder Zyona in Google eingegeben hast und auch auf Suche gedrückt hättest, hättest du auch nichts rausfinden können.“
„Hast du mir etwa nachspioniert?!“, schoss es aus mir heraus, während mir im nächsten Augenblick sofort die Röte ins Gesicht schoss. Ich hatte diese Begriffe tatsächlich in Suchmaschinen eingegeben, jedoch brachte ich es nicht fertig auf „Suchen“ zu klicken. Ich hatte Angst vor dem Ergebnis.
Jeldrik antwortete nicht, sondern sah mich nur wieder mit jenem fragendem Blick an. Er brachte mich wieder auf das eigentliche Thema… auch wenn seine scheinbare Stalker-Aktion mir nicht ganz geheuer war. Also verschob ich die Frage danach auf ein anderes Mal.
„Wenn…wenn ich dir verspreche, mich nicht zu fürchten, dass ich dir vertraue… Sagst du mir dann, was du tun musst?“
Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine Falte und sein Blick nahm wieder diesen traurigen Ausdruck an.
„Ich weiß nicht, ob du mir sowas überhaupt versprechen kannst.“

Kapitel 11 - Das mit dem Energiedurst

„Ich halte grundsätzlich meine Versprechen“, versuchte ich ihn zu überzeugen.
Wenn es einen Grund für das ganze Dilemma gab, konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser schlimmer sein sollte als das Ereignis selbst. Was konnte bitte schlimmer sein, als belogen und betrogen zu werden? Nun gut. Was heißt betrogen. Im Grunde konnten seine Bett- beziehungsweise WC-Geschichten mir doch völlig egal sein, immerhin waren wir nicht einmal annähernd in so etwas wie einer Beziehung. Es war noch nicht einmal Thema gewesen; zu keinem Zeitpunkt. Trotzdem schien mein Schmerz in gewisser Weise auch seiner zu sein. Fühlte man mit jemandem mit, scherte man sich um jemandes Gefühle und Eindrücke, wenn man selbst nichts für ihn fühlte? Mein Herz machte bei diesem Gedanken einen kleinen Sprung. Vielleicht war es nie direkt Thema gewesen, aber irgendwie schienen unsere Gedanken und unser Herz über diese Angelegenheit schon diskutiert zu haben.
Jeldrik lächelte schwermütig, sah mir dabei jedoch nicht in die Augen. Stattdessen ergriff er wieder eine meiner Hände und legte seine andere in ihre Fläche. Seine Hand überstieg meine Fingerspitzen allenfalls einen Zentimeter. Sie hatte eine angenehme Wärme, die sich augenblicklich auf meinen kompletten Körper ausbreitete. Ebenso schnell nahm mein Herz das Doppelte seiner Frequenz an. Es pochte so anarchisch, dass es mir vorkam als wäre mein Brustkorb sein Boxring und meine Lunge sein Gegner.
Ohne den Blick von unseren Händen zu nehmen, ließ Jeldrik seine einige Millimeter nach unten rutschen, sodass sie ungefähr auf gleicher Höhe waren. Meine Fingerspitzen auf seinen, spreizte er immer wieder die Finger, wobei meine folgten. Es war ein einfaches, jedoch so unglaublich vertrautes und natürliches Gefühl, einen so unbeschwerten Moment mit Jeldrik zu erleben, so kurz er auch sein mochte. Als ich in sein Gesicht sah, war da zu meiner Überraschung derselbe hingerissene Ausdruck, den ich vor wenigen Augenblicken auch auf meinem gehabt haben musste. Mein selbstgefälliges Gekicher darauf, vertrieb es allerdings wieder.
Jeldriks Hand glitt nun vollständig von meiner, ehe er mir ins Gesicht blickte und ich es in seinem Mundwinkel kaum wahrnehmbar zucken sah.
„Bist du dir wirklich sicher, dass du es wissen willst?“, fragte er nach einem kurzen Zögern und verzog wieder die Stirn.
Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, nickte ich eifrig. In der nächsten erreichte sein Zögern jedoch auch mich. Was, wenn ich es wirklich nicht wissen wollte? Es musste ja einen Grund dafür geben, dass er sich so vor meiner Reaktion fürchtete. Kurz schlich sich der Gedanke ein, dass er vielleicht wie Vampire gezwungen war, Blut zu trinken und zu töten. Aber das erschien mir wiederum zu lächerlich, sodass ich ihn sofort wieder verwarf.
Jeldrik raufte sich gefrustet die Haare; ganz genau wie damals am Chesapeake Bay.
„Ich… ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wo ich anfangen soll“, meinte er und nahm seine Hand aus den Haaren, die sofort wieder in ihre alte Position verfielen.
„Was hast du vorhin geglaubt, hat Dakoté mit dir gemacht? Oder machen wollen?“
Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne, während ich überlegte, ob die Wahrheit zu lächerlich klang. Als Jeldrik ungeduldig eine Augenbraue hob, blieb mir leider keine Zeit, um mir andere Theorien einfallen zu lassen.
„Na ja, also als erstes hab ich gedacht, er…“, ich stockte. Es war nicht lächerlich, sondern überheblich, wenn man annahm geküsst wollen zu werden.
„Er…?“, wiederholte Jeldrik meinen letzten Satzbrocken. Die Ungeduld stand ihm mittlerweile ins Gesicht geschrieben. Es machte ganz den Anschein, als wolle er dieses Gespräch schnell hinter sich bringen.
„Ich dachte, er will mich umbringen.“
„Und was war dein zweiter Gedanke?“
Ich seufzte. „Das war mein zweiter Gedanke. Frag mich bitte nicht nach dem Ersten.“
Jeldrik verstand nicht gleich, das sah ich an seinem Gesichtsausdruck. Doch dann keine fünf Sekunden später konnte ich es mit dem Grinsen in seinem Gesicht förmlich Klick machen hörn.
„Muss ich nicht“, meinte er und schüttelte kichernd den Kopf. Mir blieb nichts anderes übrig als eine trotzige Grimasse aufzusetzen, während ich gleichzeitig gegen die Röte ankämpfte und „Das ist nicht witzig!“ zischte.
„Nein“, Jeldrik regulierte sein Halbmondgrinsen zu einer scheinbar strengen Linie. Ich sah ihm jedoch an, dass ihm das nicht ganz leicht gefallen war. „Nein, das ist es wirklich nicht“, sagte er, womit auch wieder der Ernst in seiner Stimme dominierte. „In gewisser Weise hast du ja Recht.“
„Riley wollte mich küssen?“
Kurz zuckte es wieder in seinem Mundwinkel, aber das verflog, als er antwortete: „Jein. Genau genommen, wollte er eher Zweiteres.“ 
Jetzt war ich vollends verwirrt. Wollte er mich nun küssen oder umbringen? Oder Beides? Mir stand die Verwirrung wohl ins Gesicht geschrieben, denn Jeldrik seufzte missmutig.
„Ich hab dir doch gesagt, es ist schwer zu erklären.“ Er lachte abfällig. „Abgesehen davon, ist es eigentlich sowieso verboten.“
Ich zog wieder die Lippe zwischen die Zähne und wartete ab.
„Aber da… da ich dich nicht… umbringen“, er spuckte das Wort „umbringen“ aus, als wäre es saure Milch, „will oder überhaupt kann, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Er wollte Energie tanken. Von dir, Eve.“
„Energie tanken?“, fragte ich und verzog das Gesicht. Hörte sich doch nicht einmal halb so schlimm an wie ich erwartet hatte. „Blut saugen“ hätte da eine ganz andere Wirkung auf mich gehabt. Und er machte so einen Aufruhr!
Er nickte. „Für uns seid ihr Menschen nicht mehr als eine Zapfsäule… die irgendwann auch leer wird“, er machte eine kurze Pause, in der er mir in die Augen blickte. „aber nicht nachgefüllt werden kann…Verstehst du?“
Ich brauchte eine Weile bis ich tatsächlich verstand.
Sie saugten uns aus.
Nur eben kein Blut sondern unsere Energie. Ich holte langsam Luft. Trotzdem klang meine Stimme dünn und unsicher, als ich sprach. „Du… also…Du musst… oh mein Gott…“ Allein der Gedanke war so grauenhaft, dass ich die Worte nur hervorstammeln konnte. „Du… Du tötest! Du musst… Hast du…“
„Schsch“ Jeldrik legte mir ganz sacht den Finger auf die Lippen, was ihm einen erschreckten Blick von mir einheimste. Den ich sofort wieder bereute, als er schmerzlich das Gesicht ver- und seine Hand zurückzog.
Einen Moment betrachtete er noch meine Finger, dessen Nägel sich unverblümt in meine Oberschenkel bohrten, ehe er antwortete.
„So würde ich es nicht ausdrücken. Wir müssen dabei nicht töten.“
„Aber Riley..., also, ich hab doch bemerkt, dass…“
Ich stockte, als Jeldrik wütend die Stirn runzelte und entsetzt den Mund einen Spalt weit öffnete.
„Dass es mit dir zu Ende ging? So weit war er also schon?“, fragte er aufgebracht und ließ seinen Blick über meinen Körper wandern. „Eveline, wie fühlst du dich?“ Er packte mein Handgelenk und fühlte mit Zeige- und Mittelfinger nach meinem Puls. Ehe ich auch nur zur Antwort ansetzen konnte, waren seine Finger auch schon wieder weg. Im scheinbar selben Moment legte er seine Hand auf meine Stirn. „Bist du müde?“
„Ich, äh…“ Ich war völlig überfordert von seiner plötzlichen Besorgnis, in der seltsamerweise auch Ärger mitschwang. „Mir geht es gut.“
Jeldriks Blick suchte meinen, wahrscheinlich wollte er sich vergewissern, dass ich auch die Wahrheit sprach. Erst dann löste sich der Zorn aus seinen Augen und er entspannte sich etwas.
„Müde?“, fragte er und ließ die Hand von meiner Stirn sinken. Ich schüttelte verworren den Kopf.
„Entschuldige“, Jeldrik nahm wieder meine Hand und verwebte seine Finger mit meinen. „Es… es kann passieren, dass wenn wir uns nicht unter Kontrolle haben, wir… wir nicht wissen, wann es genug ist und unser Opfer… töten.“
Er sah mich vorsichtig an und drückte meine Hand, um eine Reaktion aus mir hervorzulocken. Aber was hätte ich auch sagen sollen? Vielleicht nach einem Stellenwert fragen, ‚wie’ oft so was vorkam.
Als ich dennoch schwieg, sprach er weiter. „Mir ist das noch nicht-“ er stockte als besinne er sich eines Besseren, beendete dann aber doch seinen Satz. „Mir ist das noch nicht passiert. Aber…“
Sein Gesicht nahm einen unendlich traurigen Ausdruck an, als schäme er sich für etwas und wandte den Kopf ab.
Dieser Anblick zog mir augenblicklich das Herz zusammen.
Sein Schmerz war auch meiner.
Ohne darüber nachzudenken legte ich meine Hand auf seine, jene die immer noch meine andere Hand umschlossen hielt. Es fiel mir erstaunlich leicht, dabei nicht über das nachzudenken, was er mir eben erzählt hatte. Geschweige denn irgendwelche Zusammenhänge zu schließen.
Im Verdängen war ich schon immer ziemlich gut gewesen.
Jeldrik blickte fragend auf, sein Mund verzog sich für einen Moment zu einem lauen Lächeln. Indem ich es ihm gekonnter nachtat, glaubte ich ihm Mut machen zu können.
„Wir nehmen zwar keine Leben, Eve“, fuhr er schließlich fort, „aber Zeit. Meistens einen ganzen Tag. Und das jedes Mal, wenn wir unsere Gier stillen.“
Mein Verstand brauchte einen Augenblick bis er seine Worte realisierte. Hey, es war aber auch nicht gerade einfach, die Verhaltensweise von Wesen erklärt zu bekommen, von deren Existenz man bisweilen nie etwas gehört hatte.
Noch viel schwieriger war es aber auch daran zu glauben.
Ein Teil von mir wünschte sich nämlich heimlich, Jeldrik als geistig verwirrt abzustempeln und das Ganze als bloßen Humbug abzuhaken. Aber wie sollte ich vor etwas die Augen verschließen, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte?
Meine Hand glitt langsam von unseren ineinander Verwobenen, während mein gesunder Menschenverstand versuchte Mythen als Realität anzuerkennen.
„Sag doch was“, bat Jeldrik leise und hob einen Finger unter mein Kinn, um meinen Kopf anzuheben und damit ich ihn ansehen musste.
Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. Als ich aufsah begegnete ich Jeldriks flehendem und zugleich traurigem Blick, der bei mir wieder so viele Emotionen weckte, von denen ich keine einzige benennen konnte. Aber er half dabei, meinen wirren Gedanken ein wenig Struktur einzubläuen. Ich riss meinen Blick von ihm.
Jeldrik war real. Er saß vor mir; ich konnte ihn sehen, seine warme Haut auf meiner spüren. Das war menschlich.
Unbestritten war aber auch der Anblick, der mir am Chesapeake Bay und vor der Bibliothek bereitet wurde, real gewesen. Also ist die Kreatur, die in seinem Wesen steckt, es ebenfalls oder? Und das ist alles andere als menschlich. Folglich wird auch das, was er mir gerade über eben diese Kreatur in ihm offenbarte, der Wirklichkeit entsprechen. Aber konnte ich wirklich damit leben, dass er zwar keine Leben nahm, aber deren Dauer verkürzte? Und das womöglich jede Nacht?
Konnte ich andererseits aber überhaupt noch an mein altes Leben anknüpfen? Das Wissen, dass es Wesen wie ihn, dass es ihn gab, war jedenfalls unumgänglich da. Das Einzige, was ich wusste war, dass ich unmöglich so tun konnte, als kenne ich ihn – als gäbe es ihn nicht. Selbst wenn er irgendwann von hier verschwinden sollte: Es genügte aus zu wissen, dass er sich irgendwo auf dieser Erde befand.
„Du hast keine andere Wahl“, sagte ich ungelenk und es klang eher wie eine Frage, weil sich meine Stimme am Ende des Satzes etwas hob.
Jeldrik schüttelte den Kopf. „Nur die: qualvoll zu sterben.“
Ich seufzte. „Dann hab ich wohl auch keine.“
Jeldrik wandte den Kopf ab. Der Druck seiner Hände wurde schwächer, dann entzog er sie mir langsam vollends. Als er schließlich sprach, sah er mir weiterhin nicht ins Gesicht.
„Es wäre nicht fair von mir, jetzt schon eine Entscheidung von dir zu erwarten. Ich meine, ob du mich weiterhin in deiner Nähe haben willst oder nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du schon richtig begriffen hast, was ich bin oder was ich tue. Ich kann deine Zerfahrenheit jetzt nicht so ausnutzen.“
„Hab ich aber“, erwiderte ich trotzig. Es machte mich fast ein wenig beleidigt, wie er meine geistige Beschaffenheit einschätzte.
„Ich hab begriffen, dass du…“, ich suchte nach einem Wort, dass nicht so verletzend klang. „…nicht ganz menschlich bist. Ich habe begriffen, dass du um einen Tag zu überleben, einen Tag eines anderen Menschen opfern musst.“ Ich nahm seinen Kopf zwischen meine Hände und drehte ihn in meine Richtung. Obwohl er meinem Blick trotzdem auswich, sprach ich weiter. „Und ich habe begriffen, dass du das nicht böswillig tust. Reicht das nicht, um sagen zu können, ob ich noch was mit dir zu tun haben will oder nicht?“
Endlich sah er mir doch wieder ins Gesicht. Ich konnte Verständnislosigkeit und Überraschung in seinem Blick lesen, aber - gottlob - der traurige Ausdruck in seinen Augen war verschwunden. Sie glänzten nur wieder in diesem märchenhaften Smaragdgrün, das mich regelmäßig aus der Fassung brachte.
Vorsichtig nahm er meine Handgelenke und zog meine Hände von seinen Wangen, hielt sie aber weiterhin fest umschlossen.
„Bist du dir da sicher?“, fragte er, während seine Augen seine Skepsis widerspiegelten. Ich nickte langsam.
„Ich bin mir ganz sicher, Jeldrik.“  Obwohl ich mir ehrlich gesagt im ersten Moment nicht ganz sicher war, ob er nun das meinte, dass ich begriffen hatte oder dass er das nicht böswillig tat.
Dann lockerte er seine Hand um mein eines Handgelenk und legte sie an meine Wange.
„Wenn das so ist, dann bewundere ich deinen Mut.“ Er grinste. „Ich hab das damals nicht so einfach hingenommen.“
Müde erwiderte ich sein Lächeln und kämpfte gegen die Röte, die in mein Gesicht schießen wollte, an. Vergebens. Ich konnte beinah selbst spüren, wie Jeldriks Handfläche an meiner Wange wärmer wurde.
Jeldriks Grinsen wurde neckischer, ehe er ganz sacht und langsam seine Hand wieder zurückzog; das entging mir nicht. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Hitze in meinem Kopf mittlerweile sichtbar geworden war. Ich seufzte lautlos und wandte den Blick ab.
Obwohl für den Moment alles Bedeutsame geklärt war und ich wusste, dass ich mehr zu erfahren nicht erwarten durfte, sprudelte mein Kopf nun fast über vor Fragen. Zum Beispiel, wie genau dieses „Energie tanken“ funktionierte und ob die Menschen sich danach erinnern, dass sie angezapft wurden. Und wenn nicht, wie verbannte er das aus ihren Gedächtnissen? Waren sie während dem „Tanken“ im totalen Rausch wie Vampire beim Blutsaugen? Wie fühlt es sich an, wenn man spürt wie sich Energie in einem breit macht?  Was war der Grund für den Hass, den Riley und Jeldrik gegeneinander hegten? Dass sie sich nicht sonderlich gut leiden konnten, war unübersehbar. Und wie konnte ich solange übersehen, was Riley wirklich war? Was auch immer er sein mochte. Vor allem aber fragte ich mich – und das war nun wirklich albern – wie oft er schon Christis Energie gekostet hatte und wie weit ihr Körperkontakt dabei gegangen war…

Kapitel 12 - Das mit dem Zyonakuss

„Tyler, kannst du das nicht mal lassen?"
Vorwurfsvoll blickte Kylie ihren Freund an, der dicht neben ihr saß und gedankenverloren ihr Haar zwirbelte. Genervt schlug sie seinen Arm von ihrer Schulter und rückte ein paar Zentimeter ab. Tyler blickte sie verständnislos an, während Kylie seufzend die Augen in meine Richtung verdrehte.
Gedanklich schüttelte ich den Kopf über sie. Wie es nicht anders von der treuen Seele namens Tyler zu erwarten war, ließ er ihre Zickerei unkommentiert und grub stattdessen scheinbar unbeteiligt sein Handy aus der Hosentasche.
Als ich mir sicher war, dass er inzwischen auf das kleinen Display konzentriert war, schüttelte ich nicht nur gedanklich den Kopf über meine temperamentvolle Freundin. Mit leicht geöffnetem Mund und anklagender Miene sah ich sie an. Doch diese verdrehte nur abermals die Augen, überschlug ihre Beine und sah demonstrativ in eine andere Richtung.
Ungefähr so, wie es Jeldrik schon den ganzen Tag über gemacht hatte. Er hatte mir heute noch nicht einmal wirklich ins Gesicht gesehen und das obwohl er direkt neben mir saß. Mir kam es fast so vor, als wolle er etwas vor mir verbergen.
Falls das wirklich der Fall sein sollte, ging dieses Vorhaben wohl gründlich daneben. Mir entging nämlich ganz und gar nicht, dass ihn irgendetwas beschäftigte.
Seit dem Vorfall mit Riley war Jeldrik meinen besten Freunden gegenüber regelrecht aufgeblüht; verhielt sich wie ein ganz gewöhnlicher Jugendlicher. Und ich muss sagen, das gelang ihm ziemlich gut. Niemals würde jemand auf den Gedanken kommen, er könnte etwas anderes sein als er vorgab – vorausgesetzt man verbrachte nicht auch fast seine komplette Freizeit mit ihm. Er hatte es zeitweise sogar geschafft, dass ich völlig vergaß, dass er nicht das war, was unsereins als menschlich bezeichnen würde. Aber dann war der Unterricht zu Ende, Jeldrik chauffierte mich in halsbrecherischer Geschwindigkeit nach Hause und legte seine Maske ab.
Ich warf ihm unbemerkt einen Blick zu. Jeldrik hatte die Arme auf dem Tisch verschränkt; sein Gesichtsausdruck reserviert und weniger freundlich; den leeren Blick in weiter Ferne. Er saß völlig unbewegt da, fast wie eine Statue und das behagte mir ganz und gar nicht.
Vorsichtig kniff ich ihn in die Seite. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken drehte er seinen Kopf in meine Richtung und setzte einen fragenden Blick auf.
„Stimmt was nicht?“, fragte er im Flüsterton, nachdem er sich etwas zu mir herüber gebeugt hatte.
Ich zog die Augenbrauen zusammen. Das fragte er mich?
Ich schüttelte den Kopf. „Das wollte ich eigentlich gerade dich fragen“, gab ich leise zurück.
Jeldrik presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und winkte ab. Dann erhob er sich und wie es nicht anders zu erwarten war, klingelte es im nächsten Augenblick. Kommentarlos lud er mein Tablett auf sein Eigenes, nickte mir zu und brachte sie zu dem Tablettwagen, ehe er sich ohne mich ein weiteres Mal anzusehen auf den Weg zu seinem Unterricht machte.

„Warte mal… ich find mein Matheheft nicht“, klagte Kylie in der 5-Minuten-Pause vor unserer letzten Stunde und wühlte verzweifelt in ihrem Spint herum. Ich seufzte und lehnte mich gegen meinen Eigenen.
„In deinem Chaos würd ich auch nichts finden“, sagte ich spitz und sah ihr dabei zu, wie sie geradezu in ihr Fach schlüpfte. Gelegentlich wehten einige Blätter über ihren Kopf nach draußen und auch ein Buch fiel zu Boden. Ich verkniff mir ein Kichern.
Wir würden wohl wieder zu spät zu Coach Woobers Unterricht kommen. Wann wohl der Tag gekommen war, an dem ihm der Kragen platzte?
„Hab’s!“, jubelte Kylie und wedelte triumphierend mit einem ziemlich abgewetzten Heft herum. „Und das sogar noch vor dem Klingeln“, fuhr sie grinsend fort und klopfte sich theatralisch auf die Schulter.
Ich schüttelte kichernd den Kopf und machte mich ohne weiter zu warten auf den Weg zu Coach Woobers Klassenzimmer. Keine fünf Schritte später hatte Kylie mich jedoch wieder eingeholt und passte sich meinem Gang an.
„Wie läuft es eigentlich zwischen dir und Tyler?“, fragte ich sie und dachte dabei an ihre Szene in der Mittagspause.
Kylie schnaufte hörbar aus. „Gut“, meinte sie kleinlaut und sah starr geradeaus.
„Gut?“, wiederholte ich ungläubig und zwang sie zum Stehen. „Komm schon, Kylie. Erzähl das nach vorhin jemand anderem, aber nicht deiner besten Freundin.“
Sie verdrehte die Augen. „Du bist auch seine beste Freundin und ich möchte dich nicht von deiner Loyalität abbringen.“
„Wieso von meiner Loyalität abbringen? Ich hintergehe ihn doch nicht, wenn ich von meiner besten Freundin hören möchte, wie ihre Beziehung mit meinem besten Freund läuft.“
Kylie seufzte ergeben. „Na schön… Weißt du, Tyler ist ´n echt guter Kerl. Aber… irgendwie befürchte ich, ist er zu gut für mich. Ich meine, er ist jeden Tag bei mir und das nur selten mit leeren Händen. Er ruft immer an, ich hab mich bisher nur 2x von mir aus bei ihm gemeldet. Er macht alles, was ich will und mehr und sagt niemals Nein. Noch nicht einmal eifersüchtig ist er.“
Sie zuckte die Schultern. „Das mag ja alles nicht übel klingen. Aber irgendwie ist das mir einfach zu viel. Er ist mir zu… anhänglich, verstehst du? Gestern bestand er sogar darauf, dass er was zu essen kocht. Bei uns zuhause. Meine Mutter dachte schon, mir schmeckt ihr Essen nicht mehr und hab deshalb Tyler angeheuert.“
Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Du bist also sauer, weil er dich verwöhnen möchte?“
Kylie verdrehte die Augen. „Ich hab mir schon gedacht, dass du mich nicht verstehst.“
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte zum Unterricht. Sie reagierte auch nicht als ich sie rief. Baff sah ich ihr hinterher.
„Was ist denn los?“, meldete sich eine Stimme hinter mir und ich zuckte erschrocken zusammen.
Jeldrik kicherte nur gönnerhaft, legte seinen Arm um meine Schultern und schob mich zum Gehen voran.
„Das wenn ich wüsste“, murmelte ich und ging mit ihm zusammen zum Unterricht.

Jeldrik hatte netterweise wieder die Plätze mit mir getauscht. Aber wirklich etwas bringen tat es trotzdem nicht. Zwar hatten wir inzwischen mit einem anderen Thema (Trigonometrie) weitergemacht, aber auch das wollte mir nicht ganz einleuchten.
Fünfzehn Minuten vor Schulschluss legte ich gefrustet den Bleistift beiseite und räumte alles was mit Tangens, Kosinus oder Mathe überhaupt zutun hatte, von meinem Tisch.
„Wie lange noch?“, wisperte Kylie, die sich inzwischen scheinbar wieder eingekriegt hatte, und hatte vor meinem Beispiel zu folgen und zusammen zu packen. Ich wollte ihr gerade antworten, als der Coach mir zuvor kam.
„Ah. Wie ich sehe ist Fräulein Travis bereits fertig“, sagte er in vorgetäuschter Freude. Er wusste genauso gut wie ich, dass das ganz bestimmt nicht der Fall war. So gut konnte er mein mathematisches Denkvermögen inzwischen einschätzen.
„Wären Sie so freundlich und würden dem Rest der Klasse bitte auch zeigen, wie sie das gerechnet haben?“
Er lächelte mokant und streckte mir die Kreide entgegen. Als ich nicht sofort reagierte, wedelte er mit ihr herum und lockte mich spottend mit dem Finger zur Tafel. Ich verdrehte die Augen und begab mich widerwillig zu ihm.
„Also Miss Travis. Sie haben einen Berg auf halber Strecke bestiegen. In der Ferne sehen Sie einen Turm, der in 233m Luftlinie von Ihnen steht. Die Entfernung von Ihnen zur Turmspitze beträgt 270m. In welchem Winkel zur Turmspitze stehen Sie also?“
Ich schluckte. Keine Ahnung?
Nervös drehte ich die Kreide zwischen meinen Fingern und starrte mit leeren Gedanken die angegeben Zahlen an, in der Hoffnung, sie würden mir die Antworten selbst geben.
„30, 35 Grad“, rief jemand aus den Schülerreihen, woraufhin sich Coach Woober augenverdrehend wieder der Klasse zuwandte.
Abermals setzte er dieses ironische Lächeln auf. „Danke, das haben Sie wirklich schön ausgerechnet, Miss Travis.“
Im Klassenzimmer ertönte Gelächter. Jeldrik lehnte sich gelassen in seinem Stuhl zurück, grinste frech und sagte im gleichen sarkastischen Ton: „Gern geschehen, Coach.“
Coach Woober ging nicht weiter auf den Störenfried ein, sondern wandte sich wieder mir zu. „Da haben Sie aber nochmal Glück gehabt, meine Liebe. Das nächste Mal lass ich Sie nicht so ohne Weiteres davon kommen.“
„War das jetzt eine Drohung?“, hätte ich am liebsten gefragt, aber stattdessen nickte ich nur kleinlaut und ging zurück zu meinem Platz.

„Bild ich mir das ein oder fährst du heute noch wilder?“, motzte ich wenig später, als Jeldrik und ich uns auf dem Heimweg befanden. Eigentlich sollte mir inzwischen klar sein, dass es immer wieder aufs Neue ein fataler Fehler war, Jeldrik das Steuer zu überlassen.
Obwohl… Naja, ich glaube, er würde ohnehin nichts anderes akzeptieren.
Jeldrik riskierte einen kurzen Blick in meine Richtung. „Ich hab heute noch was vor“, meinte er dann klanglos.
Ich runzelte die Stirn. „Und… dürfte ich erfahren, was?“
Jeldrik umgriff das Lenkrad fester. „Meinen Bruder suchen.“
„Oh.“, brachte ich kleinlaut über die Lippen.
Er wollte also Phelim suchen. Der, der mir mit dem Tod gedroht hatte, wenn ich Jeldrik nicht in Ruhe lassen würde. Der, der keinen Hehl daraus machte, seine Abneigung mir gegenüber kundzutun. Ob er wohl akzeptiert hatte, dass weder ich noch Jeldrik seiner Forderung nachgegangen waren?
„Hast du eigentlich mit ihm gesprochen?“, sprach ich meinen nächsten Gedanken laut aus.
Jeldrik verlangsamte das Tempo und neigte den Kopf leicht in meine Richtung. „Gesprochen? Weswegen?“
„Na, du weißt schon. Er hält mich doch für eine Bedrohung. Ich sollte mich von dir fernhalten.“ Jeldrik hielt an, die Ampel leuchtete jedoch grün. Auffordernd sah ich ihn an. „Es ist grün. Fahr doch. Haben Zy…Zyus… etwa eine Rot-Grün-Schwäche?“
Jeldrik Gesichtsausdruck wurde kurz fragend, im nächsten Moment hellte er jedoch wieder auf und er lachte schallend. Ich lief rot an.
„Wie war das? Zy-Us?“ Er sah mich kopfschüttelnd an. Grinsend fügte er hinzu: „Kreativ. Aber nein. Mir ist schon bewusst, dass grün ist. Aber ich möchte dich ansehen, wenn ich mit dir spreche. Zwar könnte ich das auch während dem Fahren, aber ich glaub, dass würde dir nicht sonderlich gefallen.“
Irgendwie klang das gar nicht gut. Er möchte mich dabei ansehen. Was kam denn jetzt? Jeldriks Mundwinkel sanken wieder. „Apropos Phelim. Warum hast du mir eigentlich nicht gesagt, dass er dich sogar bedroht hat?“
„Hat er dir das selbst gesagt?“
Und ich dumme Gans, wollte ihm keinen Ärger machen.
Hinter uns kam ein Auto angefahren und hupte, bevor es uns überhaupt erreicht hatte.
„Nein. Aber ich hab deine Angst gerochen, immer wenn ich ihn erwähnt hab. Das hat mir schon zu denken gegeben. Und du hast’s mir jetzt bestätigt.“
Oh ja, ich dumme Gans. Jetzt hatte ich Phelim doch in was reingeritten. „Naja, also direkt bedroht kann man’s nicht nennen, also-“, versuchte ich es runter zu spielen, aber Jeldrik unterbrach mich.
„Eve, ich rieche es. Auch jetzt“, meinte er und brachte das Hupen zum Schweigen, indem er weiterfuhr.
„Momentmal. Du riechst es? Was soll das heißen?“, fragte ich ungläubig. Er roch meine Angst? War das jetzt wörtlich zu nehmen oder nur eine Metapher?
„Ich rieche die Gefühle der Menschen. Deine inzwischen besonders intensiv, weil ich dich kenne.“
Gefühle riechen? Alle Gefühle auch noch? Roch er denn auch, was ich für ihn fühlte? Jetzt grub sich die Röte in mir wieder aus.
„Ich rieche es, wenn du skeptisch bist oder auf etwas keine Lust hast. Oder im Stress bist oder traurig. Aber auch wenn du dich wohl fühlst.“, er lächelte und legte seine Hand auf mein Knie. „Das rieche ich übrigens am meisten dann, wenn du mich in deiner Nähe weißt. Das riecht nach Flieder.“
Und jetzt war mal wieder alles zu spät. Ich hörte das Blut in meinem Ohr rauschen, während sich ein Großteil davon auf in meinen Kopf machte.
„Das muss dir nicht peinlich sein“, sagte er zärtlich und seine Hand wanderte zu meinen erröteten Wangen. „Ich fühle mich auch wohl in deiner Nähe."
Ich erwiderte nichts. Konnte es gar nicht. Irgendwie war es mir im Moment zu viel, wie Jeldrik auch noch seine Gefühle offen darlegte. Ich fühlte mich bedrängt. Als müsste ich jetzt dasselbe tun.
Jeldrik zog seine Hand zurück. „Weißt du was? Vielleicht solltest du mir beim Suchen helfen. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn wir dieses Problem zu dritt bewältigen.“
Augenblicklich wurde mir wieder ganz anders. Ich sollte mich freiwillig Phelim gegenüber stellen und ein auf Problembewältigung machen? Jeldriks Hand kam zurück und legte sich diesmal in meine. „Hey, keine Angst. Ich beschütze dich schon, wenn’s nötig ist. Aber Phelim muss kapieren, dass du meine Sache bist.“
Er drückte leicht meine Hand und wir fuhren an meinem Haus vorbei.
„Wo zur Hölle fahren wir hin?“
Verwundert blickte ich hinter mich, wo die kleine Stadt Chestertown am Horizont immer kleiner wurde. Jeldrik hatte den Wagen auf einen schmalen Schotterweg gelenkt und ich fühlte jedes kleine Schlagloch mit meinem Wagen mit. Oh nein, ich war nicht begeistert, dass mein kostbarer Alpha Romeo dermaßen gequält wurde.
„Wenn mein Auto nur einen Kratzer hat – ich mach dich allein dafür verantwortlich“, moserte ich und drückte mich tiefer in den Beifahrersitz. Es tat mir in den Ohren weh, wie der Kies gegen den Lack meines Autos spratzte.
„Reg dich ab“, meinte Jeldrik beschwichtigend. „Was glaubst du, wie oft ich hier schon langgefahren bin, ohne dass mein Gefährt je irgendwelche Schäden davon getragen hat. Du Landei. Wie würdest du erst reagieren, wenn ich durch den Wald fahren würde.“
„Du willst durch den Wald fahren?“, fragte ich aufgebracht und meine Hand wanderte schon zur Handbremse.
„Eve, nein, beruhige dich. Findest du nicht, dass du es ein bisschen übertreibst mit deiner Fürsorge für den hier?“, fragte Jeldrik amüsiert und schlug mit der flachen Hand leicht aufs Armaturenbrett.
„Nein. Das ist kein Geländewagen“, erwiderte ich trotzig und verschränkte die Arme. Er hatte ja keine Ahnung, welche Eskapaden ich über mich ergehen lassen musste, um meinen Alpha überhaupt zu bekommen. Mein Dad war nicht begeistert davon gewesen, dass ich als Erstwagen gleich ein für meine Verhältnisse so teures Auto verlangte. Es hatte mich schon einiges an Überzeugungskraft gekostet und einige Versprechen abverlangt. Eines davon war, dass ich den Wagen wie mein Augapfel behüten würde und er nie auch nur einen Kratzer davon trug. Und Jeldrik brachte dieses Versprechen gerade ziemlich ins Wanken.
Jeldrik lachte neben mir leise und drückte unverschämt provokant auch noch aufs Gas.
„Okay. Das reicht!“, rief ich ernsthaft erzürnt und zog die Handbremse. Der Wagen stockte kurz, schlitterte einige Meter über den polternden Weg und fuhr dann einfach in gemäßigtem Tempo weiter. Ich schnaubte verärgert.
Der immer noch leise schmunzelnde Jeldrik löste die Handbremse wieder und kommentierte meine Aktion mit einem süffisanten: „Das hat dem Wagen aber auch nicht gut getan.“
Jeldrik hielt zu meiner Erleichterung und zu seinem Glück, jedoch das Tempo bei, das die Handbreme herbeigeführt hatte.
Wohin wir fuhren, wusste ich allerdings immer noch nicht. Was wollte Jeldrik hier? Wir fuhren einen einsamen Schotterweg seitwärts des Chester Rivers entlang. Widerwillen musste ich an irgendwelche zweitklassigen Krimis denken, in denen junge Mädchen aufs Land verschleppt werden.
„Jeldrik. Jetzt wirklich. Wohin fahren wir?“, stellte ich nun die Frage, die mir schon auf der Zunge lag seit wir Chestertown hinter uns gelassen hatten.
Jeldrik druckste noch einen Moment herum, ehe er mit der Antwort rausrückte. „Zu… zu mir. Zu Phelims und meinem derzeitigen Wohnsitz.“
Er warf einen abschätzen Blick in meine Richtung, dann bog er in eine Abzweigung ein, die auf direktem Weg zum Chester River und in eine kleine Baumsiedlung führte.
„Du hast gesagt, kein Wald!“, protestierte ich, als Jeldrik den Wagen durch die Bäume chauffierte, die gefährlich weit über den Schotterweg gewachsen waren.
Jeldrik erwiderte jedoch nichts und fuhr weiter den schmalen von Bäumen umsähten Weg entlang bis er sich irgendwann abrupt zu einem großen, geteerten Hof weitete. So ziemlich in der Mitte des Hofes stand ein mittelgroßes Gebäude, das für meinen Geschmack recht baufällig aussah. An einigen Stellen war der Putz der Wände schon großzügig abgeblättert. Es sah absolut nicht so aus, als ob irgendjemand noch Gebrauch von dem alten Fabrikgelände machte.
Während ich mich misstrauisch umsah, steuerte Jeldrik den Wagen direkt vor das Gebäude und machte schließlich vor einer großen metallischen Tür Halt.
„Nii hea! Hier wären wir“, sagte Jeldrik, als er mir wenig später schwungvoll die Beifahrertür öffnete und mir seine Hand entgegenstreckte. Als würde er mich jetzt in eine prachtvolle Villa führen und nicht in dieses heruntergekommene Fabrikgebäude. Aber ich wollte nicht wählerisch sein und so ergriff ich seine Hand und ließ mich von ihm ins Gebäude führen.
„Phelim müsste schon wissen, dass wir kommen, wenn er denn hier ist.“, meinte er trocken, während hinter uns die schwere Metalltür quietschend ins Schloss fiel. Jeldriks Worte hallten in der Finsternis wieder, die sich um uns gelegt hatte, als die Tür zufiel. Blind griff ich mit meiner freien Hand nach Jeldriks Arm und stolperte ihm unbeholfen hinterher. Er hätte mir ruhig sagen können, dass die Beleuchtung in seinem „Heim“ ziemlich dürftig war. Zumindest ein Feuerzeug hätte er mir raten können. Aber nein, darüber hatte er mich wortwörtlich im Schwarzen gelassen. Ich konnte nicht einmal die eigene Hand vor Augen sehen.
Da knackste es auf einmal und vor uns drang aus einem schmalen Spalt schwach etwas Licht heraus. Jeldrik öffnete die Tür vollends und dahinter führte eine Steintreppe hinab in den Keller, wo das Licht herkam.
Ich löste meine Hand von Jeldriks Arm und wollte dankend der kleinen Lichtquelle entgegen laufen, als Jeldrik mich jedoch zurückhielt.
„Er ist nicht da. Komm, lass uns zurück“, sagte er bestimmt und stieß die Tür wieder zu. Sofort war ich wieder verloren in dieser Dunkelheit und suchte nach Jeldriks Arm. Als ich ihn fand, zog ich unwirsch an seinem dünnen Pullover.
„Ich will trotzdem da runter. Du wirst ja wohl nicht hier in dieser dunklen Halle hausen oder? Ich will sehen, wo du schläfst“, wand ich ein.
Für einen Augenblick blieb es still. Jeldrik schien erst darüber nachdenken zu müssen. Verbarg er denn etwas?
„Da unten ist es auch nicht viel gemütlicher als hier, glaub mir. Ein altes Ledersofa, eine Matratze und ein Satellitenfernseher. Wirklich nicht sehenswert“, mit diesen Worten umfasste er meine Hand fester und zog mich voran durch die Finsternis.
„Verbirgst du etwas?“, platze ich mit meiner Vermutung heraus.
„Denkst du denn, dass ich abgesehen von meinem Sein was zu verbergen hab?“
Ich wollte gerade zur Antwort ansetzen, da quietschte bereits die metallische Tür, die uns nach draußen führte. Kurz blendete mich die Sonne und ich hob mir die Hand wie einen Schirm vor die Augen.
Als sich meine Augen wieder an das helle Licht gewohnt hatten, sah ich mich nochmal ausgiebig im Hof um. Tannen, Fichten, Birken und einigen Baumarten, die ich nicht benennen konnte, verbargen dieses kleine heruntergekommene Gebäude. Mir fiel jedoch eine schmale Lücke am Rande des Hofes auf, die direkt zum Chester River führte. Ich konnte sein Wasser durch die Zweige hindurch in der Sonne schimmern sehen.
„Hast du Lust zu baden?“, fragte Jeldrik plötzlich und drückte leicht meine Hand. Er war wohl meinem Blick gefolgt. Seine Augen glänzten erwartungsvoll, als ich den Kopf in seine Richtung drehte und lächelnd nickte.
„Lust schon. Aber… wir haben doch gar keine Badesachen dabei“, sagte ich ehrlich enttäuscht und wollte schon den Wagen ansteuern. Aber Jeldrik rührte sich nicht vom Fleck. Verwundert sah ich ihn an.
„Bitte“, meinte er missbilligend und hob eine seiner dichten, schmalen Augenbrauen.
Ehe ich protestieren konnte zog er mich in Richtung der schmalen Geästlücke und schlüpfte mit mir an der Hand auf die andere Seite der dichten Baumwand.
Der Geruch des süßen Wassers kitzelte mich schon leicht in der Nase seit wir aus dem Wagen gestiegen waren, aber jetzt, da wir quasi direkt davor standen erfasste sein Geruch meine ganze Wahrnehmung. Die Sonne reflektierte die Wasseroberfläche in den schillersten Blau- und Grüntönen und ergab ein bezauberndes Gesamtbild. Von der saftigen, grünen Wiese aus wurde ein langer, aber schmaler Steg aus dunklem Holz über dem Wasser errichtet. Obwohl auch dieser ziemlich brüchig aussah, passte er perfekt ins Bild und trug zu dieser Idylle bei.
„Schön, oder?“, fragte Jeldrik leise und lächelte mich an. Ehe ich eine Antwort geben konnte, ließ er meine Hand los und zog sich das dunkelblaue Shirt über den Kopf.
„Sch…schön“, stotterte ich im ganzen Ausmaß meiner Intelligenz. „Ja.“
Es war ja so eine Zumutung, sich mir mit nacktem Oberkörper gegenüber zu stellen und eine vernünftige Antwort zu erwarten. Jeldriks Oberkörper… der war reine Provokation! Auch wenn es nicht das erste Mal war, dass ich ihn bewundern durfte; dieser Anblick raubte mir augenblicklich den Atem. Zu meinem Glück bemerkte Jeldrik diesmal jedoch ausnahmsweise nicht, dass ich ihn anschmachtete. Zu meinem Übel jedoch deshalb, weil er damit beschäftigt war, den Gürtel zu lockern und seine Hose aufzuknöpfen.
Wenn ich klug gewesen wäre, wäre das meine Gelegenheit gewesen, mich umzudrehen und abzuwarten bis ich ihn ins Wasser steigen hörte. Aber soweit dachte mein lüsterner Teenager-Verstand leider nicht. Als er sich bückte um aus seiner Jeans zu schlüpfen, bildete sich an seinem muskulösen Bauch nicht einmal eine Falte. Ich verzog die Augenbrauen. Sah irgendwie unnatürlich aus…
„Is‘ ganz schön anstrengend, wenn man dabei auch noch gut aussehen will“, meinte Jeldrik plötzlich und zog sich auf einem Bein stehend, einen Strümpfe aus.
„Wobei?“, fragte ich scheinbar beiläufig und bewunderte inzwischen die gesunde, leichte Bräune seiner Haut.
„Vergessen?“, keck grinsend richtete er sich nun auf und kam auf mich zu. „Ich rieche zwar nicht, wo du hinguckst, aber in welche Richtung deine Gedanken ungefähr gehen.“ Jeldrik streifte mir meinen kurzärmligen Cardigan von den Schultern, ehe er weiter sprach. „Um es mal jugendfrei auszudrücken: Dir hat gefallen, was du gesehen hast.“
Mir klappte der Mund auf, aber ich war nicht lange außer Stande etwas zu sagen.
„Mein Gott, diese… Gabe geht mir jetzt schon gewaltig auf die Nerven.“
Er lachte nur und schmiss meinen Cardigan zu seinen Klamotten.
„Ich hätte gut ohne das Wissen weiterleben können, dass du immer weißt, was ich grad fühl‘“, gottlob ich hatte mein Temperament wieder gefunden.
„Entschuldige meine Offenheit, Milady“, erwiderte er schmunzelnd und griff nach dem Saum meines Tops.
Er wollte es mir gerade über den Kopf ziehen, aber ich packte seine Handgelenke und drückte sie wieder nach unten.
„Abgesehen davon, dass ich das auch sehr gut allein hinbekommen würde, macht es meinem Top bestimmt nichts aus, nass zu werden“, sagte ich schnippisch und ließ seine Handgelenke wieder los, als er mein Top freigab. Jeldrik warf beschwichtigend die Hände in die Höhe und ging ein paar Schritte zurück.
„Meinetwegen“, war alles was er dazu sagte.
Ich ignorierte seinen neckenden Ton und machte mich daran, den Reißverschluss meiner Hose zu öffnen. Gott sei Dank hatte ich mich heute nicht für einen String, sondern für einen schlichten schwarzen Hipster entschieden.
Jeldrik beobachtete amüsiert wie ich mir ungelenk die Hose von den Beinen streifte. Ich verdrehte die Augen – der Kerl machte einem aber auch nichts einfach!
Ich schlüpfte aus meinen Ballerinas (zum Glück waren die ganz unkompliziert) und lief ohne Jeldrik noch einmal ins Gesicht zu sehen auf den Steg zu.
Jeldrik folgte mir und ich konnte das Grinsen in seinem Gesicht förmlich selbst spüren. Zugegeben: Ganz unbeachtet war ich nicht an ihm vorbei stolziert. Ich war eben auch nur eine heranwachsende Frau! Einen Blick auf seine milde trainierte Brust konnte ich mir einfach nicht untersagen. Und Jeldrik hatte das ganz genau bemerkt.
„Könnte ziemlich morsch sein“, meinte er dicht hinter mir und griff nach meinem Handgelenk, um mich nach hinten zu ziehen. „Lass mich besser vorgehen.“
Da war er schon an mir vorbei gegangen und betrat leichtfüßig den Steg.
„Oh, bitte!“, sagte ich im selben missbilligenden Ton wie er vorhin und tänzelte ihm hinterher.
Knack.
„Whow“, gab ich erschrocken von mir, als ich den Boden unter meinem linken Fuß zu verlieren drohte. War doch diese verflixte Holzlatte tatsächlich unter meinem Gewicht zusammengebrochen!
Schneller als man hätte bis zwei zählen können, war Jeldrik an meiner Seite und packte mich am Ellenbogen. Dadurch verhinderte er, dass mein linkes Bein in diesem spreiselgefährdet Loch verschwinden konnte.
„Ich hab doch gesagt: Könnte morsch sein!“, sagte er streng wie es ein Vater hätte sagen können. Aber das Väterliche verschwand, als er mir den Arm um die Taille legte und mich mit sich an die Spitze des Steges zog.
„Kälteschock gefällig?“, fragte er, als wir vorne angekommen waren.
"Was…? Oh nein!“
Keine Chance.
Bevor ich mich hätte wehren können, lud Jeldrik mich lachend auf seine Arme und sprang. Panisch schlang ich im letzen Moment noch die Arme um seinen Hals und brachte seinen und meinen Kopf auf die gleiche Höhe.
Das eiskalte Wasser nahm mir für eine Sekunde den Atem und spritze uns um die Köpfe. Widererwarten waren wir nicht untergetaucht. Jeldrik konnte scheinbar an dieses Stelle des Flusses noch stehen, wenn auch knapp.
Das Tosen des Wassers hatte sich schnell gelegt und Jeldriks Arme unter meinem Körper verschwanden. Durch die Leichtigkeit des Wassers schwebte mein Körper nur ganz langsam in eine aufrechte Position, allerdings hatte ich nicht ganz die Größe von Jeldrik. Hätte ich mich also auch von Jeldriks Hals gelöst, wäre ich jetzt mich Sicherheit halbköpfig unter Wasser.
„Meine Füße erreichen den Boden nicht“, seufzte ich kleinlaut und sah Jeldrik anklagend ins Gesicht.
„Ach wirklich?“, meinte er gespielt schockiert, jedoch nahm sein Schmunzeln ihm an Ernsthaftigkeit. Ich verengte die Augen.
„Tja, Eve. Das tut mir natürlich leid für dich“, meinte er bedauernd. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, die Zweideutigkeit in seiner Stimme zu erkennen, da löste er meinen Griff um seinen Hals.
Einen Augenschlag später fand ich mich unter Wasser wieder, Jeldriks Hände verdächtig an meine Schultern. Mein Verstand hatte gerade noch rechtzeitig reagiert, um Luft zu holen.
Langsam glitten seine Hände meinen Arm entlang und als ich die Augen öffnete, sah ich Jeldriks lächelndes Gesicht im Vordergrund des grünlich blauen Dunkels.
Hielt er überhaupt die Luft an? Zumindest sah es nicht so aus, als ob er Luft in seinen Wangen speichern würde.Sein Grinsen wurde breiter, als seine Hand über meine Wangen strich. Was mich an meinen eigenen gespeicherten Sauerstoff erinnerte. Meine Backen hatte im Gegensatz zu seinen wahrscheinlich schon Hamsterqualitäten angenommen.
Ich verdrehte die Augen (so gut es eben unter Wasser ging) und entließ die Luft ins Wasser. Vor meiner Nase stiegen kleine Blasen empor und mit ihnen tauchte ich zurück an die Oberfläche auf. Jeldrik tat es mir wenig später gleich, nur um einiges eleganter.
Da meine Fußspitzen den Grund nur streifen konnten, musste ich strampeln, um nicht sofort wieder unterzugehen. Jeldrik stimmte leise wieder in sein übliches melodisches Lachen ein. Mit einem unterdrückten Grinsen spritzte ich ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht. Er wehrte sich nicht.
Die Abendsonne strahlte warm auf unsere Köpfe und verhinderte, dass ich sofort zu schlottern anfing, obwohl das Wasser wirklich eisigkalt war.
Jeldriks Lächeln verebbte langsam, während er einen Schritt näher auf meine zappelnde Gestalt zukam.
Als er nah genug war, legte ich ihm ganz selbstverständlich, als wäre es nie anders gewesen, meine Hände auf die Schultern, um mehr Halt zu haben. Eine leichte Brise wehte über unsere Köpfe hinweg – der kalte Wind sorgte nun doch dafür, dass mich kurz ein leichtes Zittern erfasste. Oder… lag es vielleicht doch an etwas anderem?
Jeldrik wechselte einen raschen Blick mit mir, dann schlang er die Arme um meine Hüfte und zog mich ganz dicht an seine eigene. Sein muskulöser Oberkörper erfüllte meinen eigenen mit einer unheimlichen Wärme, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Meine Hände ruhten immer noch auf seinen Schultern, wie jetzt auch seine Stirn auf meiner. Sein Kopf verdeckte die untergehende Sonne am Horizont, deren Strahlen Jeldriks feuchte Haarspitzen glitzern ließen. Aus seinen Haaren tropfte Wasser auf mein Gesicht, aber mir kam es so vor, als würde das Wasser sofort, als es mit meiner Haut in Berührung kam, versiegen. Wie ein feuriger Wirbelsturm fegte eine Hitze durch meinen Körper, die so angenehm war, dass ich für einen Moment die Augen schloss.
Als ich sie wieder öffnete, blickte ich in ein Meer smaragdgrüner Tiefe. Der Farbton seiner Augen war matter als üblich, aber das nahm ihnen keineswegs an Schönheit. Ich schluckte leer, als Jeldriks Augen zeitweilig ein charmantes Lächeln erreichten.
Behutsam legte er einen Finger unter mein Kinn und hob es ganz sachte an, mit seiner anderen Hand hielt er mich immer noch oberhalb des Flussgrundes. Einen letzend fragenden Ausdruck im Blick, bettete er seine Lippen kühl auf meine.
Die Welt wich kurz zurück. Einen Moment schmeckte ich das süße Wasser des Flusses auf seinen Lippen, jedoch gab mir Jeldriks unglaublicher Atem keine Chance ihn wirklich wahrzunehmen. Das Gefühl seiner weichen, zarten Lippen auf meinen überdeckte all meine Sinne. Nicht, dass ich wirklich viele Vergleiche hatte, aber dieser Kuss, Jeldriks Kuss, war wohl einer jener Sorte, den man nur einmal in seinem Leben hat. So vollkommen, und sich einfach nur absolut richtig anfühlend.
Als er sich von meinen Lippen löste und mir in die Augen sah, schloss ich meine wieder und schlang meine Beine, die eben noch hilflos in der Schwerelosigkeit des Baches hingen, um seine Taille.
Der nächste Kuss war fordernder. Er drückte seine Lippen drängend auf meine, während seine Hand langsam meine rechte Seite hinunter glitt und an meinem Oberschenkel liegen blieb. Die Gänsehaut, die er damit hervorrief, bewirkte bei mir jedoch keineswegs Bewegungslosigkeit. Ich ließ meine Hände von seinen Schultern in seinen Nacken wandern, um die letzte Distanz, die meine Arme verursacht hatten, zwischen uns zu überbrücken.
Es war nicht von dieser Welt. Ich hatte das Gefühl, unsere Körper würden jeden Moment in einander verschmelzen.
Ich konnte seinen Herzschlag an meiner Brust spüren. Die Luft, die er ausatmete, atmete ich ein. Oh, dieser irre betörende Atem...
Immer wieder seufzte Jeldrik wohlig an meinen Lippen. Nichts um uns herum war noch von Bedeutung. Es gab nur noch ihn und mich. Dieses Gefühl, das seine unmittelbare Nähe in mir hervorrief… Es war mir unmöglich, es mit den richtigen Worten zu beschreiben. Ich fühlte mich… schwach und doch irgendwie so unglaublich sicher und unantastbar in seinen Armen. Seine Küsse, seine Berührungen,… Er selbst war einfach so atemberaubend gut in allem was er tat. Wirklich buchstäblich.Völlig in seinem Sog grub ich meine Hände in sein nasses Haar, während seine Linke wieder über meine Taille und weiter unter mein Top wanderte…
Momentmal.
Unter mein Top? Wo…?!
„Jeldrik…“, nuschelte ich an seinem Mund.
Ohne die Lippen von meinen zu nehmen, öffnete er die Augen.
Für einen Moment verschlug mir dieser Anblick die Sprache. Der matte Grünton war verschwunden. Stattdessen glänzte die Iris seiner Augen in einem strahlend satten Grün, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Zumindest nicht als Farbton einer Pupille.
Jeldrik sog scharf die Luft ein, als ich ungläubig blinzelte. Damit verblasste das Strahlen.
Er löste die Lippen von meinen und auch sonst alles andere und war in Nullkommanichts eineinhalb Meter von mir entfernt.
Verloren fing ich wieder zu strampeln an. Jeldrik schüttelte verworren den Kopf. „Ich…“, fing er an, aber weiter sprach er nicht. Anstelle davon betrachtete er mich betreten.
„Ja. Du hast mein Lieblingstop zerschunden!“, herrschte ich ihn an und hob demonstrierend die eine verfranzte Seite meines Oberteils. Jeldrik hatte tatsächlich, und ich vermute mal mit seinen Sichelnägeln, die Naht meines Tops von unterhalb meines Armes bis hin zum Saum aufgetrennt!
Für einen Augenblick stand Jeldrik noch wie versteinert da, dann sah er mich kurz völlig verblüfft an, als habe er es selbst erst jetzt bemerkt, kam wieder einen Schritt näher und ich konnte sehen wie er sich theatralisch ein Grinsen verkniff.
„Naja. Ich wollt dich ja vorhin schon davon entledigen. Aber du warst ja der Meinung, dass das Wasser deinem Top schon nicht schaden würde“, erklärte er schmunzelnd.Ich verengte die Augen. „Ja, ich sprach von dem Wasser. Aber wer hätte gedacht, dass eine dämonische Wasserratte mit Sichelnägeln ihm so gefährlich werden könnte?“
„Sichelnägel?“, sein Schmunzeln wurde lauter. „Schwertfinger. Der Begriff ist gängiger.“ Jeldrik zwinkerte keck. Ich schnaubte ärgerlich, zog mir ungeschickt das an meiner Haut klebende Top über den Kopf und warf es ihm ins Gesicht. „Mir doch scheissegal, eure Fachbegriffe.“
Kichernd nahm er sich das Top vom Kopf und warf es auf den Steg.
„Du hättest es so oder so ausziehen müssen, wenn du keine Erkältung willst“, er warf einen Blick in den Himmel.

Die Sonne war inzwischen verschwunden, der Himmel in ein dunkles Türkis getaucht. Nicht mehr lange und es würde Nacht werden. Mein Gott, wie lange hat unser erster Kuss denn angedauert? Oder Küsse… wie auch immer.
Die Luft war zwar noch warm, aber das Wasser ohne Jeldriks Berührung verdammt kalt. Fröstelnd schwamm ich auf den Steg zu. Gerade als ich mich an ihm hochstemmen wollte, ergriffen mich zwei strake Arme an den Hüften und halfen mir dabei. Kaum, dass ich auf dem Steg stand, war Jeldrik auch schon neben mir. Oder naja, eigentlich ja schon ein paar Schritte voraus.
„Diese Wahnsinnsschnelligkeit nervt auch“, brummte ich leise und trottete dem (wieder einmal) vor sich hin kichernden Jeldrik  hinterher.

Jeldrik hielt es nicht für nötig die Scheinwerfer anzuschalten, als wir den Schotterweg zurück nach Chestertown entlang fuhren. Trotz, dass es eine eigentlich warme Sommernacht war, war die Heizung zur Hälfte aufgedreht. Jeldriks und meine nassen Klamotten lagen zum Trocknen auf dem Armaturenbrett, während wir in Unterwäsche auf Handtüchern, die Jeldrik über die Sitze geworfen hatte (ja er hatte in dieser Bruchbude tatsächlich Handtücher gehabt!), saßen.
Wir hatten inzwischen schon fast die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht, ohne dass einer noch etwas gesagt hatte. Jeldrik hatte einfach nur schweigend beiden Hände am Lenkrad und tat so, als würde er sich voll aufs Fahren konzentrieren. Dabei war uns beiden mehr als klar, dass das gar nicht nötig war. Er hatte wieder die altbekannte Stellung von heute Vormittag eingenommen.
„Jeldrik was ist denn los? Du warst heut schon den ganzen Tag so nachdenklich“, fragte ich vorsichtig in die Stille.
Jeldrik warf mir einen raschen Blick zu, dann legte er seine Hand auf meine, eher er antwortete.
„Ich mach mir einfach nur Sorgen um meinen Bruder“, er lächelte und drückte meine Hand. „Das hat nichts mit dir zutun. Danke für… die Ablenkung vorhin.“
Ablenkung. Ich verzog beleidigt das Gesicht. „Ablenkung, ja? So nennst du das also.“
Mit meiner Hand unter seiner schaltete Jeldrik in den nächsten Gang. „Nein, natürlich nicht“, er verdrehte grinsend die Augen. „Das weißt du auch ganz genau.“
Er schaltete wieder einen Gang höher. „Apropos… Ist dir vorhin, als wir uns küssten, nichts seltsam vorgekommen?“
Meine Wangen wurden rot. Mussten wir jetzt wirklich darüber sprechen? Seltsam. Klar, kam es mir seltsam vor. Nicht nur das, sondern sogar einmalig.
„Also, ähm… sicher. Das war…“, stotterte ich und kämpfte dagegen an, die Hitze in meinem Kopf bis in meine Hand bemerkbar zu machen.
„Brauchst du unbedingt diese Bestätigung?“, fügte ich stöhnend hinzu und wollte ihm meine Hand entziehen. Doch Jeldrik hielt sie auf der Gangschaltung.
„Das meinte ich nicht. Als du meinen Namen gemurmelt hast und dann meine Augen… Hast du dich nicht schwach gefühlt? Oder untergeben?“
„Hätte ich das denn sollen?“, fragte ich verblüfft und verzog abermals das Gesicht. Was sollte denn das? Ob ich mich ihm untergeben gefühlt hatte… Aber hallo, das tat ich ja eigentlich schon, seitdem ich ihn das erste Mal gesehen hatte, aber das brauchte er ja nicht wissen.
„Wie hast du das gemacht…?“, murmelte er nachdenklich vor sich hin.
Also jetzt wurde mir das wirklich zu bunt. „So unwiderstehlich bist du auch wieder nicht“, bemäkelte ich ihn und fügte gedanklich hinzu, dass er mich zumindest noch nicht zur Willenlosigkeit getrieben hatte.
Jetzt drückte er wieder kurz leise lachend meine Hand. „Du verstehst mich falsch. Ich hab etwas getan zu diesem Zeitpunkt, das ich bereue und schief hätte gehen können.“
Ich zog verständnislos die Stirn kraus. Er seufzte. „Energie tanken. Erinnerst du dich? Ich habe kurz meinem Dämon nicht widerstehen können. Dein Atem so süß auf meiner Zunge…“
„Aber das habe ich doch auch“, sagte ich und legte ihm meine andere Hand auf. Hatte er noch nie zuvor jemanden geküsst? „Das ist ganz normal wenn man sich küsst-“ „Eve, bitte“, unterbrach er mich missbilligend lachend. „Glaubst du wirklich, ich wäre die letzten paar 100 Jahre meines Lebens ungeküsst geblieben? Ich kenne den Unterschied ausgezeichnet. Und ich habe versucht dir den Atem zu rauben. Im wahrsten Sinne des Wortes!“, er machte eine kurze Pause. „Aber irgendwie hast du dich dagegen gewehrt. Und anscheinend auch noch ohne es zu merken.“
Er sah mich grüblerisch an. Ich saß einfach nur da und sah ihn mit halboffenem Mund an. Was hätte ich denn auch sagen sollen? Das waren irgendwie ziemlich viele Informationen auf einmal gewesen. Zum einen, war mir noch nicht ganz bewusst gewesen, was für ein steinalter Greiß hier meine Hand hielt, indirekt gesagt bekommen, dass er schon eine Reihe von Mädchen hatte, wollte ich auch nicht und zum andern stellte ich für ihn jetzt wohl ein völlig fremdartiges Phänomen dar.
„Keine Ahnung“, antworte ich also über alle Maßen scharfsinnig.
„Werden wir schon noch rausfinden“, meinte er besonnen und biss die Zähne aufeinander, als wolle er es gar nicht.
Dann erreichten wir die erste Laterne Chestertowns und er knipste nun doch die Scheinwerfer an.

„Kann ich mir deinen Wagen bis morgen borgen? Ich hol dich dann morgen vor Unterrichtsbeginn ab“, fragte Jeldrik, als er vor meinem Haus Halt machte.
„Ähm, ja sicher. Aber warum?“
„Ich möchte noch ein bisschen durch die Stadt fahren. Vielleicht find ich Phelim ja da irgendwo.“
Ich nickte verständnisvoll. Dann nahm ich meine Klamotten vom Armaturenbrett und schlüpfte umständlich in sie hinein. Ich konnte ja schlecht nur in Unterwäsche bekleidet aus dem Wagen steigen. Was würden denn die Nachbarn und vor allen Dingen mein Vater dazu sagen?
Als ich fertig war, beugte sich Jeldrik über mich hinweg und öffnete die Beifahrertür. Er sah mir nicht nochmal ins Gesicht, bevor er mich auf die Stirn küsste und mir ein „Bis morgen“ ins Ohr hauchte. Als ich ihm mein Gesicht zuwenden wollte, saß er schon wieder vorschriftsgemäß vor seinem Lenkrad und sah auf die Straße.
„Bis morgen“, sagte ich leise und stieg enttäuscht aus dem Wagen. Dann eben kein Abschiedskuss.
Kaum, dass ich die Tür meines Alphas zugeschlagen hatte, hörte ich auch schon die Reifen quietschen und Jeldrik brauste in halsbrecherischer Geschwindigkeit davon. Ich seufzte leise.
„Bin zuhause“, rief ich beiläufig in unser Haus, sobald ich den Korridor betreten hatte. Wie es nicht anders zu erwarten war, bekam ich keine Antwort. Mr. Dr. Travis machte wohl wieder einmal Überstunden. Ich schüttelte genervt den Kopf und streifte mir die Ballerinas von den Füßen.
Mein Blick streifte dabei etwas dunkles Längliches auf dem Boden.
Die Feder.
Behutsam hob ich sie auf. An die hatte ich gar nicht mehr gedacht. Sie musste wohl von der Kommode geflogen sein… Ihre grauen Äste glänzten metallisch im Licht der Straßenlaternen, das durch die Fenster geworfen wurde. Durchaus keine gewöhnliche Feder. Pah und ich wollte in eines der schlauen Vogelbücher meiner Mutter nachsehen. Inzwischen wusste ich ganz genau zu welcher Gattung diese Feder gehörte…
Plötzlich raschelte etwas im anderen Eck des dunklen Hausgangs. Erschrocken fuhr ich zusammen, als mir jemand keine Sekunde später ans Ohr atmete.
„Hallo Eveline, meine Liebe.“

Phelim.

 

Kapitel 13 - Das, in dem die Lichter sterben

„Sag mal, wie … zuge…agen? … du solltest … nur ruhig stellen bis … haben … nicht ins Koma befördern!“
Undeutlich drangen Satzfetzen an mein Ohr. Der Kopf und vor allem das Gesicht dazu schmerzten wahnsinnig. Der Rest fühlte sich taub an. Oder besser gesagt, wagte ich es einfach nur nicht, mich zu bewegen oder gar die Augen zu öffnen. Zumal sich im Bereich der Augenpartie ohnehin ein mir völlig fremdes, quälendes Kribbeln regte. Wenn ich es mir recht überlegte, konnte ich mich wahrscheinlich nicht mal rühren, selbst wenn ich wollte. Aber im Moment hatte ich auch nicht das Verlangen danach. Ich fühlte mich schwach. Als hätte sich sämtliche Kraft in meinen Kopf verlagert, die ihn jetzt auf den Boden zwang. Oder worauf auch immer. Gut möglich, dass er auch einfach nur in der Luft hing, keine Ahnung. Ich war wie in Trance und hatte absolut kein Gefühl für irgendwas – sah man von den Schmerzen ab. Ich fragte mich bislang noch nicht einmal nach dem Warum, Wo oder Was. Das Einzige, was mich interessierte war, wieder in den Zustand der Bewusstlosigkeit zurückzukehren. Denn eines wusste ich sicher: Das, was sich hinter meinen geschlossenen Augenliedern abspielte, war nichts, worauf man sich freuen konnte.
„Los, schnapp dir den … mer und hol Wa… Sie hat lange genug ihren Sch…heits…laf gehalten“, hörte ich wieder jemanden sagen. Wäre ich bei vollem Verstand gewesen, hätte ich die Stimme wahrscheinlich sofort erkannt. Aber so rief ihr Klang bei mir einfach nur eine Gänsehaut hervor. Oder vielleicht war es auch der kühle Wind, der immer wieder in mein Gesicht und auf meine Arme peitschte. Und wie ich feststellen musste, durch meine noch feuchten Klamotten war er auch sonst überall spürbar.
Schmerzlich verzog ich das Gesicht, als plötzlich die zuletzt vergangenen Stunden über die Schwelle meines Bewusstseins drangen.
Ich hatte einen schönen Tag gehabt. Mit Jeldrik. Ich hatte seinen Atem spüren dürfen, seine Lippen. Mein Lieblingstop war zerrissen. Dann hatte er mich nachhause gefahren und dann…
Erschrocken riss ich die Augen auf und quiekte, als mich eiskaltes Wasser wie tausend Nadelstiche erfasste. Kurz erhaschte ich einen Blick auf zwei dunkelgekleidete Gestalten, hinter ihnen grauweiße Farbtupfer auf bläulichem Schwarz. Meine Sicht war jedoch noch leicht verschwommen, sodass ich ihre Gesichter nicht recht identifizieren konnte. Ich hatte auch versucht aufzuspringen, aber es ging nicht. Irgendwas hielt mich unsanft an meinen Handgelenken zurück. Meine Schultern hatten entsetzlich geknackt.
Es fiel mir nicht leicht, den Kopf zu heben und ihn auch noch zu drehen war die reinste Hürde. Die Skyline der beleuchteten Stadt war das Erste, das ich wirklich sehen konnte. Dann den dunkelblauen, sternenlosen Himmel darüber. In der Ferne blitzte es immer wieder hell auf. Es dauerte nur eine Sekunde bis ich verstand, wo ich mich befand, wo Phelim mich hingebracht hatte.
Ich war auf dem Dach des Chester River Hospital Centers. Bislang war ich immer gern hier gewesen, wegen der Aussicht von hier aus. Auch jetzt war sie atemberaubend fantastisch und ließ den Gedanken, dass es irgendwo auf der Welt nicht so romantisch sein könnte, kaum zu. Doch meine momentane Situation bewies mir das Gegenteil. Selbst an diesem Ort konnte man es nicht als romantisch bezeichnen, an den Handgelenken an einem Mauergeländer angekettet zu sein. Verzagt gab ich meiner Kraftlosigkeit nach und ließ den Kopf fallen, senkte den Blick auf die grauen Pflaster, auf denen ich saß.

„Sieh an, sieh an. Es lebt“, hörte ich jemanden spottend sagen.
Ich reagierte nicht sofort, sondern ließ weiter den Kopf hängen. Ich war mittlerweile wieder soweit bei Verstand, dass ich ganz genau wusste, zu wem diese Stimme gehörte.
„Mit mir hättest du nicht gerechnet, hab ich recht?“, fragte Riley in gespielt nettem Tonfall. Als ich wieder nicht antwortete, ergänzte er: „Oh. Phel, ich glaub sie hat ihre Sprache verloren.“
Mühsam hob ich den Kopf und begegnete Phelims ausdruckslosem Blick. Er verriet nichts, außer dass man wahrscheinlich Angst haben sollte. Und, oh ja, Angst hatte ich allemal. Trotzdem versuchte ich meinem eigenen Blick so viel Verachtung wie nur irgend möglich zu verleihen. Auf keinen Fall sollten sie Furcht in meinen Augen ablesen können. Meine jetzige Schwäche war schon so ersichtlich genug, als dass ich sie auch noch mit Tränen beglücken wollte. Obwohl ich jetzt wirklich am liebsten geheult hätte. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Thriller – entführt von zwei Banditen mit sarkastischem Tonfall in einer Nacht, die regnerisch zu werden drohte. Wie zur Bestätigung gab der Himmel ein weiches Grollen von sich.
„Trau dich nur. Ich hab sie dir nicht ausgesaugt. Versprochen, Linchen“, säuselte Riley. Ganz automatisch sah ich in seine Richtung und erfasste sofort das heuchlerische Grinsen in seinem Gesicht und die unnatürlich hellen Augen. Offensichtlich hatten die sich nicht mehr geändert seitdem ich ihm zuletzt begegnet war. Bei seinem Anblick fühlte sich meine Lunge sofort wieder ausgedörrt und zermalmt an. Ich schluckte leer und schloss die Hände klirrend um die Ketten, die mir eng um die Gelenke geschlungen waren.
„Was wollt ihr?“, krächzte ich. Zu mehr war ich nicht in der Lage zu sagen. Jedes Wort glich Kreten in meinem Hals.
„Sie fragt was wir wollen, hast du das gehört?“, erklärte er Phelim lachend, als hätte er es nicht selbst gehört. Nun huschte auch über Phelims Gesicht ein spöttisches Lächeln.
„Da hat mein Bruder aber gute Arbeit geleistet“, meldete sich nun auch Phelim zu Wort.
Gute Arbeit geleistet? Ich biss die Zähne zusammen. Was meinte er damit? Außerdem war diese Harmonie zwischen Riley und Phelim mehr als… bizarr. Als ich sie das Letzte mal zusammen gesehen hatte, wollten sie sich regelrecht die Flügel ausreisen und jetzt stehen sie vor mir und lächeln mich teamfähig an? Was für ein Film war das denn?
Riley fügte noch hinzu: „Das haben wir alle, Phel – ich finde, wir sind fantastische Schauspieler. Oder was denkst du, „"Eve"?“
Dieser Abschaum von Zyona wagte es, mich bei meinem Spitznamen von Jeldrik zu nennen?! Wie widerlich das bei ihm klang! Den eigentlichen Sinn seiner Worte erfasste ich erst später, vorerst ärgerte mich sein spottender Tonfall genug. Er passte einfach nicht zu dem Riley, den ich seit 2 Jahren kannte. Er war immer so freundlich, humorvoll und hilfsbereit gewesen… und jetzt?
Er hatte sein Trugbild wirklich perfekt aufrechtherhalten. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass sich hinter seiner Maske jemand völlig anderes, bösartiges verbergen könnte.
Aber was war mit Phelim? Und meinte Riley mit „wir“ auch Jeldrik?
Phelim fing an dämlich zu glucksen, während er sagte: „Schau doch mal, was sie für ein bestürztes Gesicht macht! Die versteht wohl gar nichts mehr…“
Dann hob er die Hand, und mit einem herben Zischen traten seine Schwertfinger anstelle seiner Nägel. Das belustigte Gesicht war einer ernsten, wilden Maske gewichen.
Abermals schluckte ich, obwohl mein Mund trockener gar nicht sein konnte.
Gemächlich wie eine Raubkatze kam er auf mich zu. Als er nah genug war, bückte er sich. Ganz vorsichtig nur setzte er die Spitze einer seiner Schwertfinger unter meinem Kinn an. Doch der leichte Druck mit dem er dagegenhielt, reichte aus, damit ich freiwillig den Kopf weiter anhob. Er brauchte mich kaum zu berühren und ich spürte die enorme Schärfe der Klingen. Da war bereits jetzt schon ein stechender Schmerz, als würde er mir eine Nadel ins Fleisch rammen.
„Dann sollten wir dich wohl langsam aufklären…“, fuhr Phelim in gespielt gütigem Ton fort. Langsam floss wieder Flüssigkeit in meinem Mund zusammen; kurz zog ich in Erwägung diese sofort in Phelims Gesicht, das aber auch zu verlockend nah war, zu befördern. Doch die scharfe Klinge unter meinem Kinn, riet mir davon ab. Tapfer versuchte ich meine Furcht und meinen Respekt vor diesen Kreaturen zu verscheuchen und stattdessen wieder meine Abscheu gegen sie über mich walten zu lassen. Scheinbar ungerührt verengte ich als Antwort die Augen.
Phelims Mundwinkel zuckten noch einmal kurz, dann verstärkte er dem Druck seines Fingers. Wahrscheinlich erwartete er, dass sich all meine Tapferkeit wieder in Luft auflösen und ich zu Winseln beginnen würde. Aber den Gefallen tat ich ihm nicht, obwohl alles in mir vor Angst zitterte und schrie. Er zog dieses Spiel 4 oder 5 Sekunden mit mir ab, ehe er mit einer raschen Bewegung seine Hand zurück zog.
Da bröckelte meine Fassade.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiepte ich auf und riss an den Ketten, die mich festhielten. Ich wollte meine Hand auf den Kratzer, der augenblicklich wahnsinnig zu brennen begann, drücken. Die Blutung stoppen.
Nicht, dass er all zu tief geschnitten hatte, aber es reichte aus, damit mir mein Blut in dünnen, roten Fäden den Hals hinunter kroch.
„Hoppla! Phelim, mit Messern spielt man doch nicht“, meinte Riley verstellt tadelnd. So langsam ging mir ihr anhaltender Sarkasmus auf die Eierstöcke. Herrgott nochmal, ich hatte schon verstanden, dass sie mich all die Zeit verarscht hatten! Zumindest Riley.
Phelim ignorierte Rileys Worte und ging einen Meter vor mir in die Hocke. Für eine Weile sah er mich einfach nur abwägend an, dann hob er seine Hand und strich mir meine nassen Haare, die mir strähnig ins Gesicht gefallen waren, hinters Ohr.
„Ein kleinwenig tust du mir ja schon leid“, sagte er dann im vielmehr ernsten Tonfall. „Woher solltest du auch ahnen, was auf dich zu kommen kann.“
Ich erwiderte nichts. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre nichts über meine Lippen gekommen. Was konnte ich dazu auch schon sagen? Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, worauf er hinaus wollte. Außerdem irritierte mich diese plötzliche Ehrlichkeit, auch wenn das was er sagte, wahrscheinlich keinesfalls nett gemeint war.
„Mein Bruder ist aber auch zu gut in allem was er tut. Selbst das klügste Mädchen auf Erden hätte wahrscheinlich keinen Chance gehabt“, redete er weiter und sah mir dabei unverwandt in die Augen. Keine Chance? Wogegen? Das Jeldrik in allerlei Hinsicht „gut“ (untertrieben gesagt) war, brauchte er mir nicht zu erzählen, aber wovon er im Moment sprach, verstand ich nicht. Doch das sollte nicht lange so bleiben.
„Vermutlich hat er dir nie erzählt, was wir hier suchen, oder? Ich meine Engel wie wir gehören doch nicht ohne Grund auf die Erde, nicht?“, bei dem Wort Engel zuckten seine Lippen amüsiert nach oben.
„Engel…“, ächzte ich verbittert. „Engel seid ihr beide ganz bestimmt nicht!“
Kaum hatte ich meinen Satz zu Ende gesprochen, tat sich hinter Phelim ein kurzer Wind auf und etwas stellte uns vollends in den Schatten. Mit einem lauen Luftzug behängte uns etwas wie ein heller Vorhang. Erschrocken huschte mein Blick hin und her, nicht auf so etwas gefasst.
Die Lichter der Stadt schienen wie erloschen, ich konnte sie nicht mehr sehen – eine Wand aus gräulichen Federn verwehrte mir gar den Anblick Chestertowns. Mit geweiteten Augen hob ich meinen Blick über Phelims Schulter.
Riley hatte sich direkt hinter hin positioniert und grinste mich triumphierend an. Da erkannte ich, dass er für die gefiederte Hülle um uns verantwortlich war. Aus seinem Rücken prangten zwei voluminöse, weiße Flügel, welche die Nacht jedoch eher grau aussehen ließ. Sie waren vergleichbar mit Flügeln der Tauben, doch in ihrer Pracht übertrafen sie die derer bei weitem.
„Bist du dir da sicher?“, fragte Riley und strich mit der Hand über sein Gefieder. Ich verengte die Augen und wich seinen heuchlerischen Augen aus.
„Ich muss gestehen, „Engel wie wir“ gibt es selten, Eveline. Ich verrate dir, warum wir hier sind. Ist dir Messias ein Begriff?“
Phelim ließ sich von Phelims Flügeln nicht irritieren, er hatte vielleicht noch nicht einmal den Blick aus meinem Gesicht genommen.
„Oder sagen wir lieber Erlöser“, redete Phelim weiter, ohne meine Antwort abzuwarten. „Ein Kind von Göttern… ähnlich wie bei Jesus, oder?“
Da schlich sich wieder ein amüsiertes Grinsen in sein Gesicht, während Riley hinter ihm spottend auflachte. „Auch unsereins hat ihre persönliche… nennen wir es Religion. Und jede Religion hat so ihre Legenden, Schöpfer und Erlöser. Unser Messias ist Legende und Erlöser zugleich. Man sagt - ich zitiere – „der Erlöser verfügt über einen übermächtigen Herzenskristall, der sich dem Wille der Welt unterwirft“. Zitat Ende… Das Herz des Erlösers nennen manche übrigens auch Gral, so ganz nebenbei erwähnt… Dem Wille der Welt… ein weit ausschweifender Begriff, findest du nicht?“
Warum erzählte er mir all das? Ich meine, natürlich war ich schon immer neugierig auf alles gewesen, was auch nur im Entferntesten mit Jeldriks Wesen zu tun hatte. Aber was nutzte mir dieses Gerede über ihre „Religion“? War das Ganze hier etwa seine Art Folter dafür, dass ich nicht auf ihn gehört und Jeldrik weiter getroffen hatte?
„Vielleicht ist es der Wille der Welt, sie vor allem Unheil zu befreien? Sie quasi „erlöst“ von Verbrechern, Mördern, Armut, Krieg, Co2… oder sonstigen bösartigen Geschöpfen? Aber ziemlich unwahrscheinlich, dass es einfach Puff macht und alle Unglückverteilenden tot umfallen, oder? Und vor allem ist es ja unsere Religion… somit müssten wir ja auch von der Welt verschwinden und „erlösen“ möchte ich nicht mit „sterben“ gleichsetzen. Die Erlösung soll ja uns zu Gunsten kommen. Vielleicht belohnt sie uns ja mit ewigem Leben?“, er gluckste entschuldigend. „Also nicht, dass wir nicht schon aberhunderte Jahre vom Leben haben, aber nun ja… nun mal nicht auf der Erde. Hat dir Jeldrik schon mal was von der Energie erzählt, die wir auf Erden benötigen? Von der menschlichen Energie?“
Ich nickte müde, obwohl ich nicht ganz sicher war, ob ich mich wirklich auch noch auf diese Art von Unterhaltung einlassen sollte. Aber er würde ohnehin weiterreden, egal ob ich auf ihn reagierte oder nicht.
„Schön, dass er mir das schon abgenommen hat. Also: Vielleicht erlöst unser Messias uns ja auch davon? Wär doch toll, wenn wir uns genauso unbeschwert hier aufhalten könnten wie ihr! Ohne euch ständig anzapfen zu müssen, meine ich. Auch wenn das Gefühl, satt zu werden wirklich nicht übel ist… wie auch immer. Die dritte Theorie: Der Besitzer des Kristalls entscheidet über den Willen der Welt. Das klingt doch interessant!“
„Der Besitzer… also der Erlöser selbst?“, dachte ich laut mit.
Aber Riley schüttelte lachend den Kopf. „Törichtes Ding! Der Erlöser ist nur solange Besitzer, wie sich der Kristall in seinem Herzen befindet. Dann kann jeder darüber verfügen, der ihn in seine Macht bringt.“
„Im Prinzip ist der Erlöser nur der Wächter über diese ungeheure Macht seines inneren Grals… Und Wächter kann man erschlagen und ihnen - verzeih, das klingt jetzt ziemlich brutal - das Herz ausreißen. Für uns ist sowas ziemlich einfach, weißt du?“
„Nein, weiß ich nicht. Aber wozu denn auch?“, antwortete ich schweratmend. „Warum erzählst du mir das? Was hat das mit mir zu tun?“
„Langsam, langsam!“, tadelte Phelim mich. „Das kommt noch. Ich will nur, dass du über alles Bescheid weißt, bevor wir dich zu Wodan schicken. Das heißt, wenn du soweit überhaupt kommst.“
Das Fragezeichen in meinem Kopf wurde immer größer. Ich verstand nicht ein Quäntchen von dem was er mir erzählte. Keinerlei Zusammenhänge zu mir und dieser Situation oder überhaupt. Langsam aber sicher machte mich meine Blindheit über all das noch wahnsinnig! Wer zur Hölle war Wodan? Etwa ihr Gebieter? Was wollte er von mir?
„Weiter im Text…“, unterbrach Phelim meine Gedankengänge, die orientierungslos hin und her schossen. „Wie ich schon sagte, dieser Messias ist wie bei Jesus ein Kind Gottes… In unserem Fall, wenn Götter ihren Samen verteilen oder ihre Gebärmutter zum Einsatz kommt. Ich denke, ich brauch dir nicht die Geschichte mit dem Bienchen und dem Blümchen verklickern, oder? Nein? Gut… Leider, leider ist das aber strengstens untersagt… also das Götter ein Kind gebären, nicht der Sex – das wäre ja grausam!“
Riley sog gespielt betroffen die Luft ein, als würde ihn diese Vorstellung körperlich schmerzen, ehe Phelim weitersprach. „Denn Wodan, dieser idiotische Göttervater, fürchtet sich natürlich davor, dass eine Gottheit geschaffen werden könnte, die ihn problemlos vom Thron schubst… deswegen hat er es verboten und alles in die Wege geleitet, damit es nie dazu kommt. Die meisten Götter respektieren seine Gesetze oder fürchten sich einfach zu sehr vor der Strafe, als dass sie es wagen dagegen zu verstoßen.“
Möglichst ausdruckslos, aber mit voller Konzentration beobachtete ich sein enthusiastisches Mienenspiel, während er mir diese Story erzählte. Schwieriger war es, seine Worte zu ordnen, während die Schmerzen in meinem Kopf einfach nicht nachließen. Im Gegenteil, ich hatte sogar das Gefühl, dass jeder Schmerz an meinem Körper von Sekunde zu Sekunde übermannender wurde.
Ach komm schon, Eveline… Reiß dich zusammen! Mitdenken! Es wird schon seinen Sinn haben, warum er dir all das erzählt, bläute ich mir ein. Er hatte diesen Wodan als idiotisch bezeichnet. Also war es wahrscheinlich doch nicht der, dem er diente.
„Bis auf deinen Gott“, schlussfolgerte ich. Es war eher eine bloße Vermutung, als eine Frage.
Phelim lächelte. „Nein, da liegst du gar nicht mal so falsch. Vé  lässt sich ganz bestimmt nicht von Wodan unterwerfen. Aber gegen das Gotteskindgesetz hat selbst er noch nicht verstoßen.“
Ich war es ja so leid, dass er nicht einfach Klartext sprechen konnte! Hinter jeder Antwort, zu der er mich führte, befand sich das nächste Rätsel. Ich seufzte innerlich und analysierte seine Worte. Ein neuer Name wurde erwähnt. Vé. Das musste jetzt aber der Name seines Herrn sein. Äußerst bedenklicher Name eines dunklen Lords, musste man schon sagen. Sein Name klang ja wie eine Fantasiefigur. So verzwickt und humorlos mein Standpunkt im Moment auch war, ich hatte wirklich Mühe, darüber nicht abwertend zu lachen. Wahrscheinlich war es zu meinem Glück, dass meine Angst dann doch einflussreicher zu sein schien.
„Komm zum Punkt“, forderte ich tonlos. Meine armen Stimmbänder. Ihre Kraft vergeudet für Phelims groteskes Spielchen. Warum fiel mir das Sprechen eigentlich so schwer? Was hatten die denn alles mit mir angestellt, als ich ohne Bewusstsein war? Irgendwas eingeflößt, dass ich nicht schreien konnte vielleicht?
„Sie wird ungeduldig. Wie niedlich. Erinnert mich ein bisschen an die Zeit, als ich dich kennen gelernt hab, Linchen“, meldete sich Riley wieder in seinem mittlerweile typischen sarkastischen Ton. Konnte er das nicht mal lassen?
„Nein. Sie hat doch recht. Wozu sie lange auf die Folter spannen?“, willigte Phelim meine Forderung ein. „Es gab aber tatsächlich einen Gott, nein - genaugenommen sogar zwei Götter - die dagegen verstoßen haben… Aber zu der Zeit des ersten Gottes, der seine Kinder in die Welt gesetzt hat, gab es diese Regelung noch nicht. Zum Glück, denn sonst wärst du uns liebenswerten Wadims wohl nie begegnet.“
Ich konnte nicht verhindern, dass diese Worte dann doch eine viel zu offensichtliche Reaktion meinerseits hervorrief. Meine Augen weiteten sich wahrscheinlich in diesem Moment golfballgroß.
Mein Mund klappte erstmal auf, nur um sich dann gleich wieder zu schließen, ehe ich etwas herausbrachte: „Du und Jeldrik… ihr. Ihr seid dieser Messias?“
Phelim lachte und schüttelte dann auf charmante Art und Weise bedauernd den Kopf. „Leider nicht. Wir sind nur Kinder einesgewöhnlichen Gottes. Aber der Messias, der sich jetzt, genau in diesem Augenblick und schon seit einigen Jahren auf Erden aufhält, wurde von einer Göttin geboren, die von gleich zwei Göttern an Macht bereichert wurde. Ein ziemliches Flittchen, findest du nicht? Eigentlich hätte sie nie ein Kind zur Welt bringen dürfen, aber in einem unaufmerksamen Moment ist es eben doch passiert. Sie hatte aber auch keine Ahnung, das arme Ding, das völlig unversehens immer und immer wieder auf der Erde verweilen musste.“
Das war einfach zu viel Information, die er da mir nichts, dir nichts ausplauderte. Ich meine bis vor ein paar Wochen war ich noch der festen Überzeugung gewesen, dass es auf der Erde außer Menschen und Tieren nichts anderes lebendiges gab – und er macht einen Mythos nach dem anderen zur Realität. Auch wenn ich nicht viel von seiner „Realität“ verstand.
„Ich weiß, ich weiß – das ist alles sehr schwer nachzuvollziehen“, sagte er dann entschuldigend, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Diese Göttin… nun sie ist die Gemahlin des Göttervaters, zumindest ist sie das jetzt. Zuvor gehörte sie nämlich eigentlich zu Vé… du musst wissen, Vé und Wodan, sowohl auch mein Vater sind Brüder und waren nicht schon immer verfeindet. Auch sie waren mal eine ganz normale…ja, „Familie“ gewesen, die das Wohl der Erde zu verantworten hatte. Aber auch Götter haben menschliche Schwächen. Wie zum Beispiel die Liebe oder die Eifersucht.“
Bei seinem letzten Satz blitzten seine Augen spöttisch auf und er gab mir einen Moment, um seine Worte zu verarbeiten, bevor er fortfuhr. „Frea, so heißt die Göttin, war einst Vé versprochen. Damals war sie eine ganz gewöhnliche Zyona gewesen, aber das bleibt bei keiner Gemahlin eines Gottes so. Bei euch ist bei einer Hochzeitszeremonie das Ja-Wort entscheidend. Bei uns der Bluttausch.“
Er verzog den Mund, gab eine Reihe perfekter weißer Zähne, die durch den Blitz, der gerade in diesem Moment in der Ferne erleuchtete, eindrucksvoll glänzten, Preis. Ich konnte mir fast schon zusammenreimen, was das mit dem Bluttausch auf sich hatte. Dazu besaß selbst ich genügend Fantasie.
„Das Blut... das Blut eines Gottes schafft neue Götter“, tippte ich an und erntete dadurch einen sanften Stoß gegen mein Kinn.
„Ganz genau. Gut mitgedacht, Eveline“, lobte mich Phelim. „Aber Tage bevor es soweit war, entschied sich die gute Frea um. Sie hatte nämlich plötzlich viel tiefgründiger eine Liebe für Wodan entdeckt, den sie dann schließlich auch heiratete, mit allem drum und dran. Was aber keiner wusste: Frea trug auch schon das Blut Vés in sich. Ganz im Rausch ihrer Leidenschaft ist es einfach schon vorher passiert. Und voilá: Da haben wir eine Zyona-Göttin durch das Blut zweier der mächtigsten Götter. Dass da auch nur mächtige Kinder entstehen können versteht sich natürlich von selbst.“
„Und sie hat ein Kind gezeugt. Mit… Wodan? Aber da verstieß er doch gegen seine eigene Regelung?“, warf ich ein. Meine Gehirnzellen arbeiteten auf Hochtouren. Immerhin machte es nicht den Eindruck, als ob wir bereits schon an dem springenden Punkt angekommen waren. Da bildete ich mir ein, wir gelangen da früher hin, wenn ich ehrliches Interesse aufbrachte.
„Oh, nein, nein, nein, nein. Nicht mit Wodan. Sondern mit einem Sterblichen. Wie bei Jeldrik und mir auch. Oder zumindest so ähnlich. Im Gegensatz zu unserem Vater, war Frea in menschlicher Gestalt und ihres Gottesdaseins nicht bewusst auf Erden und vollzog eine gewöhnliche Zeugung mit dem Sterblichen.“
Wenn unsere Köpfe vor Anstrengen dampfen könnten, wäre aus meinem jetzt pechschwarzer Rauch gestiegen. Mit „gewöhnlicher Zeugung“ konnte ich ja noch was anfangen, aber was es mit dem „im Gegensatz zu unserem Vater“ auf sich hatte… da wusste mein sachlicher Verstand keine Antwort drauf.
„Leider rennt die Zeit, Kleines. Ich kann dir nicht alle Fragen beantworten, da du mit den Antworten in ein paar Minuten eh nichts mehr anfangen kannst. Das wäre also reine Zeitverschwendung“, erklärte er mir fachmännisch und fasste sich bekennend an Kinn. „Ich glaube ich hab jetzt alles Bedeutsame erzählt, um Klartext zu sprechen. Nun… wir Zyona und Exyus sind auf der Erde, um nun diesen Messias zu finden. Frea ist schon längst gefunden, nur ihre Tochter, unsere Erlöserin hat sie tragischerweise zurückgelassen.“
„Jeldrik hat wirklich fantastische Arbeit geleistet, Linchen“, mischte sich Riley wieder ein und flatterte einmal wie ein aufgekratzter Vogel mit seiner Fiederpracht. „Er war es der dich gefunden und unseren Messias in Sicherheit gewogen hat.“
Phelim drehte sich ermahnend zu Riley um, sichtlich unzufrieden damit, dass er sich eingemischt hatte. Doch Riley kümmerte sich nicht sonderlich darum. „Du hast doch selbst gesagt, dass wir nun Klartext sprechen können, Phel! Außerdem kommt Donars Laune immer näher und so kann Vé uns nicht finden.“
„Ja, aber-“, begann Phelim, doch Rileys Zunge war zu flink. „Frea hieß in diesem Leben Fiona Havenburgh. Na sagt dir das was? RICHTIG! So hieß doch deine Mutter bevor sie deinen Vater geheiratet hat, nicht?“
„Und jetzt, zähle eins und eins zusammen, Eveline“, fügte Phelim hinzu und sah mir durchdringend in die Augen.
Ein und eins. In diesem Moment war das wohl die schwierigste Aufgabe meines ganzen Lebens. In meinem Kopf herrschte absolute Stille. Ich weigerte mich, zu verstehen. Ich starrte einfach nur stumm zurück. Versuchte mich nur auf den graubläulichen Schimmer seiner Augen zu konzentrieren, aber wirklich gelingen wollte mir das nicht. Es gab wohl nichts, was mich die Botschaft, die ich gerade bekommen hatte, je verdrängen lassen könnte.
Das Albernste (sofern man das überhaupt so nennen durfte) an der Situation war, dass ich den wesentlichen Punkt erstmal überging. Ihr Gespräch eben war so schnell verlaufen, dass ich nicht einmal die Gelegenheit dazu hatte, den ersten Schlag ins Gesicht zu verdauen. Jeldrik war eine Lüge gewesen. Das alles sollte eine Lüge gewesen sein. Eine hinterhältige, selbstgerechte Lüge? Ein Trick? Ein Trick, um den Messias „in Sicherheit zu wiegen“, wie es Riley so schön sagte? Den Messias… die Erlöserin… mich?!
„Phelim!“, schrie jemand jäh hinter Rileys Sichtschutz aus Federn. Ohne Umschweifen schwang Riley seine Flügel zurück, während Phelim mit einem sachten Lächeln den Blick von mir nahm, Richtung Geräuschquelle. Wie in Trance folgte ich seinem Blick, verschleiert durch die fadenscheinige Flüssigkeit, die mittlerweile von Himmel tröpfelte.
„Oh. Hey, Bruderherz! Wir haben schon mal ohne dich angefangen!“, hörte ich Phelims Stimme, aber erfasste nicht wirklich seine Worte. Jeldrik stand am anderen Ende der Dachterrasse, die Hände lässig in der Hosentasche, als überquere er lediglich den Schulhof. Sein Gesicht zu einer kühlen, distanzierten Maske verzerrt, die keinerlei Emotion zuließ.
„Wie ich sehen kann“, antwortete er schlicht und kam auf uns zu.
Es war wahr. Alles. Phelim hatte nicht gelogen, ebenso wenig wie Riley. Jeldrik war eine Lüge.
„Nein“, flüsterte ich, so leise, dass es unmöglich jemand hätte hören können. Dann noch einmal. Und noch einmal.
„NEEEEEIN!“
Und dann kam ein gellendes Kreischen, wie es keinen menschlichen Stimmbändern möglich sein könnte, über meine Lippen. Hoch, laut, kraftvoll. Sehr kraftvoll. Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr schwach, im Gegenteil. Der dunkelblaue Himmel zog sich immer weiter zu.
Es war als ob meine Seele von innen gegen seine Hülle rebellierte – schließlich austrat, unwahrscheinlich hell und haltlos.
Frei war. Um sich schlug und mich verteidigte.
Mich erlöste, während die Lichter der Nacht durch die Tränen des Himmels erloschen.

Kapitel 14 - Das mit der "Maailma Lunastaja"

Ich hörte nichts, ich sah nichts, ich spürte nichts. Abgesehen von der fremden Kraft und einer warmen, flüssigen Substanz auf meiner Zunge. Sie schmeckte salzig und irgendwie nach Kupfer. Aber sie störte mich nicht. Die ungeheure Energie, die sich in und um mich herum ausgebreitet hatte, vernebelte mir alle Sinne.
Ich wollte nichts hören, nichts sehen und nichts anderes spüren als die Wärme und die Sicherheit, die mir mein Innerstes versprach. Ich hatte jetzt Zeit es zu genießen.
Diese heuchlerische Ruhe.
So sehr ich mich auch bemühte, ignorieren konnte ich die Tatsache, dass das lediglich mein menschlicher Schutzmechanismus war, allerdings nicht. Einen kurzen Augenblick nur konnte ich mich hinter einer Fassade aus Frieden verstecken, doch die Realität zerrte mich unbarmherzig wieder vor die Scherben meines Lebens.
Vielleicht könnte man sagen, dass ich wahrhaftig in eine Art Trance flüchtete. Meiner Verzweiflung wegen womöglich, oder meines Entsetzen. Ja, Entsetzen traf es eher. Alles woran ich je geglaubt hatte, geriet ins Wanken, als ich Jeldrik begegnet war. Und mit ihm entstand jedoch auch das Vertrauen auf so vieles andere. Zum Beispiel der Glaube an das Schicksal, an das Glück. Und vor allem der Glaube in die Liebe.
Und jetzt?
Innerhalb der letzen viertel Stunde war all das in sich zusammengebrochen. Gnadenlos flammten die Gedanken, die mich auf den Boden der Tatsachen holten, auf. Ich sollte nicht länger auf einer grünen Weide mit der Wolke sieben über mir verweilen. Es war mir einfach nicht bestimmt mein Glück zu finden.
Das Schicksal hatte mich übel hintergangen. Wofür das alles? Erst hatte es mich, wie Phelim schon sagte, in Form von Jeldrik in Sicherheit gewogen – sollte das etwa eine Art Abschiedsgeschenk sein?
Wahrscheinlich bestand das Glück darin, dass ich überhaupt eines bekam.
Und was ist mit der Liebe? War mein Karma denn noch so freundlich, dass es wollte, dass ich wusste wie ein Herz schlägt, wenn es liebt? …bevor es mir dann im wahrsten Sinne des Wortes aus der Brust gerissen werden sollte?
War es überhaupt mein Herz? Oder war es vielmehr das Herz der Erde? Das Herz aller, die auf Erlösung warten?
Das alles war ja eine so ungeheure Täuschung gewesen. Alles. Alles. Alles!

 

 Jäh öffnete ich die Augen und fand mich auf dem Dach des Krankenhauses wieder.
Das Erste, was ich wahrnahm war, dass meine Handgelenke nicht länger angekettet waren. Schlapp lagen meine Arme neben meinem Körper. Ich spürte die kalten, feuchten Pflaster auf meiner Wange und meinem nackten Bauch. Meine Knie brannten leicht, wahrscheinlich hatte ich sie mir aufgeschürft, aber das war nicht weiter wichtig.
Vielmehr irritierte mich die Tatsache, dass es still war. Still und dunkel.
Meine Sicht war erst noch leicht verzerrt, aber selbst als sie sich wieder aufklärte, spendete nur die matte Glühbirne an dem Container, durch den man ins Innere des Krankenhauses kam, etwas Licht. Es beleuchtete gerade so die Tür und eine kleine verirrte Motte, die immer wieder mit einem leisen Zischen gegen die Birne flog. Pfing. Pfing. Pfing…
Für eine ganze Weile waren das und der prasselnde Regen das einzige Geräusch in meiner Nähe. Ich blieb einfach nur auf den Pflastern liegen und ließ mir von dem Regen das Blut abwaschen.
Mein Blut, meinen Schmerz, meine Erinnerung.
Ich fühlte mich taub und eigentlich überhaupt nicht mehr lebendig, aber dass ich wieder sehen, riechen und hören konnte, bewies mir das Gegenteil.
Ich presste noch einmal fest die Augen zusammen, ehe ich mich aufraffte und mit Hilfe meiner Arme aufsetzte.
Meine Haare hingen mir in nassen Strähnen vor den Augen, aber ich brauchte meine Arme, um aufrecht bleiben zu können. Sie zitterten schon ganz von der Last meines Gewichts, dass sie stützen mussten.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und der tiefschwarze Schleier tat sich schläfrig auf.
Ich war nicht allein.
Weiter rechts von dem Container konnte ich eine Gestalt, die nur um eine Nuance dunkler war als die Nacht, auf dem Boden liegen sehen. Sie regte sich allerdings nicht und erst war ich mir auch gar nicht sicher, ob das nicht einfach nur irgendein Haufen alter Aluwärmdecken war.
Als ich soweit es ging um mich sah, entdeckte ich in einigen Metern Entfernung noch zwei weitere solcher Gestalten, jedoch lagen auch sie völlig leb- und wahllos übereinander.
Es war noch nicht vorbei. Mir stockte angsterfüllt der Atem.
Ich war eine noch größere Idiotin, als ich dachte, wenn ich wirklich die Annahme hatte, dass sie sich einfach so in Luft aufgelöst hatten oder besser noch alles nur ein böser Traum gewesen war. 
Wachsam, ohne überhaupt zu atmen als könnte sie das wecken, versuchte ich aufzustehen.
Ich musste hier weg. So schnell und leise es ging. Meine Intuition schrie beinahe mit einem Megafon danach.
Auf wackligen Beinen schlich ich barfuß dem energielosen Licht entgegen. Meiner Schuhe hatte ich mich vorsichtshalber entledigt, da hätte ich ja gleich zum Container hüpfen können. Dank dem Regen hörte ich nicht einmal meine eigenen Schritte.
Immer wieder drehte ich den Kopf, um sicher zu gehen, dass sich keiner der Gestalten bewegt hatte. Wieso lagen sie eigentlich da?
War ich das gewesen?
Ich blieb stehen und richtete den Blick zögernd auf den Körper, der sich mir am nächsten befand. Jeldriks Körper, da war ich mir sicher.
Gleichmäßig entwich mir die Luft aus den Lungen, doch mein Herz verlor seinen Rhythmus. Er hatte mich benutzt, hintergangen und dann ausgeliefert, aber ich konnte mich trotzdem nicht dagegen wehren, wie sich meine Seele und mein Herz nach ihm verzerrten. Ihn liebten.
Hätten meine Augen nicht angefangen zu brennen, hätte ich gedacht, dass es Regentropfen waren, die da lautlos meinen Wangen hinunter flossen. Doch der belegende Kloß in meinem Hals belehrte mich eines Besseren.
Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber das war auch gar nicht nötig. Viel zu sehr hatte sich sein perfektes Ebenbild vor mein inneres Auge eingebrannt, wie keines andere. Sein Lächeln, das kleine Muttermal, diese unwirklich schönen, grünen Augen… Niemals hätte ich gedacht, dass solche Augen lügen konnten.
Das Seltsame war, dass ich nach außen hin meinem Kummer in Form meiner Tränen freien Lauf ließ, aber in meinem Inneren klammerte ich mich stur an diese Taubheit, die das unmöglich glauben wollte. Ihr tat es sogar auf gewisse Weise leid, ihn in diesen bewusstlosen Zustand befördert zu haben. Obgleich ich mir nicht sicher sein konnte, wer oder was mich befreit hatte.
Plötzlich mischte sich ein leises Röcheln in das Prasseln des Regens. Scharf sog ich die Luft ein, als ich zwei schimmernde, kleine Flecken, da wo ich Jeldriks Kopf vermutete, wahrnahm. Mein Körper spannte sich an, ich wagte es nicht eine Phaser zu bewegen, auch nur den kleinsten Laut von mir zu geben.
Vielleicht war er ja aber noch zu benommen, als dass er sich sofort orientieren konnte?
Wenn dem so war, musste ich meinem Körper schnellstens befehlen wieder in die Gänge zu kommen.
Zögernd bewegte ich mich weiter auf das Licht zu. Langsamen Schrittes und mit wachsamem Blick auf Jeldrik, als wäre er eine wilde Raubkatze. Bloß keine hektischen Bewegungen.
Nach und nach folgte dem Röcheln ein Räuspern, ich meinte sogar die dunkle Gestalt zucken zu sehen.
Meine Schritte wurden schneller. Nur noch fünf Meter. Zur Hölle nochmal, ich musste hier schnellstens weg!
„Eve…“, durschnitt schwach Jeldriks Stimme das Trommeln des Regens.
Mein Herz zog sich für den Bruchteil einer Sekunde zusammen, aber ich hielt nicht an, sondern presste die Lider zusammen. Halb blind steuerte ich weiter dem Licht entgegen.
„Eve!“, hörte ich ihn nochmal sagen, diesmal kräftiger. Bevor ich überhaupt eine Reaktion darauf hätte geben können, packte er mich an den Hüften und presste mich rücklings gegen seine Brust. Keine Sekunde später spürte ich etwas kaltes Hartes unter meinem Kinn. Es war eine Frage der Zeit bis mir klar wurde, dass ich es erneut mit einem Schwertfinger zu tun hatte.
„Wo willst du denn hin, Lunastaja?“, hauchte eine Stimme an meinem Ohr, die eindeutig nicht Jeldriks war.
Panisch zuckte mein Blick hin und her und blieb schließlich an der dunklen Gestalt rechts vom Container hängen. Jeldrik hatte sich auf die Arme gestützt und sah mit weit geöffneten Augen zu uns herüber. Eine Chance, mich auch nach Riley umzusehen, hatte ich nicht – wenn ich nur geschluckt hätte, wäre eine nächste Schnittwunde an meinem Hals aufgeklafft.
„Die Welt retten, vielleicht?“, tauchte auch schon Riley vor mir auf. „Keine Sorge, das übernehmen wir schon.“
„Wir brauch dazu nur den Kristall der Lunastaja, nachdem du uns schon so wunderbar seine Macht demonstriert hast“, erklärte Phelim wie selbstverständlich weiter. Schon wieder dieses seltsame Wort. Was oder wer zur Hölle war Lunastaja? Etwa ich? Nannten sie so ihren Messias?
Mit einem Schlag verschwand plötzlich die Klinge an meinem Hals und tauchte an meiner Hüfte wieder auf. Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein vor Schmerz erfüllter Laut entwich, als er mit einem raschen Ruck meine Haut und mein Top aufriss.
„Ups. Sorry, eigentlich wollte ich dich nur Packen“, meinte Phelim so ernst, dass ich ihm seine Entschuldigung fast abgekauft hätte. Im nächsten Moment zerrte er mich an meiner blutenden Hüfte rückwärts zurück zum Geländer der Dachterrasse. Stur stellte ich mich dagegen, doch es war sinnlos. Mühelos zog Phelim mich immer weiter weg von dem Container und somit von meiner Freiheit.
Verzweifelt schloss ich die Augen und konzentrierte mich nur auf mich selbst, meine Seele. Versuchte vergeblich alles andere um mich herum auszuschalten und diesen verdammten Messias in mir wieder zu finden. Er musste mich doch retten können! Mich beschützen! Denn es war bestimmt nicht das Beste für die Welt, wenn alle Macht in die Hände dieser Intriganten fiel! Mein Gott, verteidige dich doch! Verteidige deine Hülle, verteidige mich!
Unrettbare und zugleich zornige  Laute kamen immer wieder über meine Lippen. Hin und wieder war auch der ein oder andere Schluchzer dabei, bis ich schließlich richtig zu heulen anfing und wild um mich schlug und strampelte. Das konnte doch alles nicht so enden!
Doch egal wie sehr ich mich gegen sie sträubte, sie zogen und zerrten so mühelos an mir, als wäre ich lediglich eine Puppe. Phelim verzog scheinbar nicht einmal eine einzige Miene, als ich mit meinem Fuß wiederholte Male auf sein Schienbein traf.
Der Regen vermischte sich mit den Tränen auf meinem Gesicht und meine Augen brannten höllisch, als auch noch meine Mascara ihren Weg in sie fand. Mein ganzer Körper kam mir vor wie ein einziger Frack aus Schmerz, sowohl seelisch als auch was meine Wunden betraf. Doch ich wollte nicht aufgeben.
Als sich Phelims Griff um mich löste, versuchte ich direkt mich loszureißen und zurück zum Container zu laufen, doch Riley war zu schnell um mich herumgewirbelt und drängte mich an den Schultern zurück zum Geländer, wo er mich schließlich auch zu Boden drückte.
„Sie hat die Ketten zertrümmert, verdammte Scheiße!“, fluchte Phelim neben mir und packte mich im nächsten Moment am Hals. „Dann muss es eben auch so gehen… Riley, wie weit ist das Gewitter?“
Meine Atmung ging unregelmäßig schnell und als ich meine Hände abwehrend um seine Handgelenke schloss, röchelte ich auch. Er drückte mir die Kehle zu, vermutlich war das auch genau sein Plan.
Riley sagte etwas, aber ich konnte ihn nicht mehr recht verstehen – es hörte sich an, als wäre ich unter Wasser. Wie durch einen langen Tunnel sah ich Jeldrik in mein Blickfeld laufen. Er stand einfach nur da und sah mich an. Völlig ausdruckslos, ohne jegliche Emotionen in den Zügen.
Leise wisperte ich seinen Namen, während meine Sicht immer mehr an Schärfe verlor, wie meine Lunge an Luft.
„Phelim, die Wolken sind jetzt über uns!“, hörte ich Rileys Stimme, gefolgt von einem Donner. Der Druck um meinen Hals verstärkte sich abermals bis ich schließlich sank.

„Geht zurück!“, riss mich jemand schrill wieder aus meiner Benommenheit. Sehr lange war es mir wohl nicht vergönnt, mich in absolute Stille zu flüchten.
Durch meine Sehnen floss wieder eine unbekannte Stärke, jedoch unterschied sie sich von der, die mich vorhin erlöste. Zwar fühlte mich nur noch halb so schwach, aber bewegen konnte ich mich dennoch nicht. Sie war mehr mental vorhanden, kurbelte meine Nerven an und zwang mich dazu, die Augen zu öffnen. Dabei wünschte ich mir nichts mehr als in eine tiefen, ruhigen Schlaf abzusinken – es war unerträglich wie unerbittlich mein Körper ständig die Stimmung wechselte. Ich wusste selbst schon nicht mehr, wozu ich eigentlich in der Lage war.
Meine Augenlider flatterten durchdrungen, ehe ich sie schließlich ganz öffnete.
Jeldrik war aus meinem Sichtfeld verschwunden. Jemand versperrte mir die Sicht auf überhaupt irgendetwas vor mir. Phelim stand auf Weite meiner Knien. Eine Hand zum Himmel erhoben, den Blick auf mich gerichtet.
„Eines noch, Lunastaja. Richte Wodan schöne Grüße aus“, seine Lippen formten sich zu einem fiesen Lächeln, „auch von Fiona, hab ich mir vorhin von ihr sagen lassen.“
Kaum, dass er den Namen meiner Mutter ausgesprochen hatte, drängte sich in mir der Impuls auf, Phelim den Aufenthaltsort meiner Mutter auszuprügeln, aber mein Gelenke gehorchte mir noch immer nicht. Wie konnte das sein?
„Was hast du mit mir gemacht?“, wollte ich wissen, obwohl die Frage nach meiner Mutter viel schwerer auf meiner Zunge lag. „Meine Mutter ist tot! Was redest du da für ein Dreck?!“
Auch wenn ich körperlich null Energie aufbringen konnte, der Zorn in meiner Stimme war unüberhörbar.
„Du bist genau so naiv und töricht wie deine Mutter“, höhnte er und schüttelte den Kopf. „Muss ich mich den wirklich noch deutlicher ausdrücken? Du bist diese Erlöserin, unsere Maailma Lunastaja! Du hast den Messias in dir! Du wurdest von einer mächtigen Göttin geboren! Und Götter sterben nicht!“
Er lachte, als wäre ich ein kleines Kind, das ihm die Welt erklären will. Ich verkrampfte meine Finger. Ehrlich gesagt kam ich mir auch fast wie eines vor. Ich hatte doch keine Ahnung von all diesen Dingen. Woher denn auch?!
Nachdenklich verzog ich das Gesicht. Götter sterben nicht, meine Mutter war eine Göttin… meine Mutter… lebte?!
„Wo ist sie?“, fragte ich geradewegs hinaus und blickte Phelim herausfordernd an.
Der grinste nur und warf einen Blick gen Himmel. Apathisch folgte ich seinem Blick.
Was zur Hölle…?
Er hatte die Handfläche parallel zum Himmel, als wolle er ihn berühren, was natürlich hypothetisch unmöglich war. Aber scheinbar wollte der Himmel ihn berühren. Aus seiner Hand sprühten gelegentlich kleine Funken und immer wieder war ein leises Knistern zu hören. Laut genug, dass es selbst meine menschlichen Ohren erreichte. Durch die Dunkelheit, die uns einhüllte, sah es aus, als würden von Sekunden zu Sekunde immer mehr Glühwürmchen aus seiner Hand steigen. Sehr flinke Glühwürmchen.
Phelims Grinsen wurde bei diesem Anblick breiter, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder voll mir zuwandte.
„Du wirst ihr schon noch früh genug begegnen, keine Sorge“, versprach er. Kaum hatte er seinen Satz zu Ende gesprochen schoss ein heller Pfeil auf seine Hand hinab, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall.
Erschrocken schrie ich auf. Rechnete damit, dass Phelim zu Boden sank und zu zittern begann, wie bei Stromschlägen üblich. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen schloss er seine Hand zur Faust und streckte sie mir entgegen.
„Nägemiseni, Armas“, säuselte er in einer mir nicht bekannten Fremdsprache und löste den ersten Finger aus seiner Faust.

 

Es knisterte.
Riley kicherte.
Wieder ein Knistern, diesmal lauter.
Ein weiterer Finger war nicht mehr gekrümmt.
Um Phelims Faust tanzten willkürlich und unruhig lauter kleine Blitze. Bei jedem Finger der sich löste ein paar mehr. 
Plötzlich wurde mir bewusst, was geschehen würde.
Einzig allein sein Mittel- und Zeigefinger hielten die Blitze noch davon ab, auf mich einzuschlagen.
Ich wusste, dass es keine gewöhnlichen Stromschläge sein würden. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich da keinerlei Zweifel.
Es war zu Ende. Viel zu spät war mir aufgefallen, dass Phelims Hand direkt auf meine linke Brust zielte. Ich hatte verloren. Schreien hatte keinen Zweck mehr. Wer hätte mich bei diesem Gewitter auch hören sollen? Bestenfalls hielt man meine Schreie für das Pfeifen des Windes.
Ich hätte es bestreiten können, dass ich ihre Lunastaja war. Bestreiten, dass meine Mutter Fiona war oder von mir aus auch Frea. Wirklich daran glauben konnte ich ja wahrhaftig nicht. Aber diese Energie, die ich vorhin ausstrahlte, sprach leider eine andere Sprache. Es war aussichtslos.
All die Jahre über war ich in dem Glauben, dass ich ein ganz gewöhnliches Mädchen wär. Ein gewöhnlicher Mensch wie jeder andere auch. Aber ich wurde unbarmherzig auf den Boden der Tatsachen gerissen. Tatsachen, die die Menschheit als Mythos abstempeln würden, hätten sie denn je von Zyona oder Exyus gehört.
Das musste doch alles nur ein schrecklicher Traum sein. Ich schlief. Es musste einfach so sein! Ich schlief! Und das schon seit ich das Wort Zyona zum ersten Mal gehört hatte. Mein Leben konnte nicht so plötzlich eine Wendung gemacht haben.
„Beenden wir es“, drängte Riley ungeduldig und starrte mich mit wildem Blick an.
Phelim lachte, während ich gebannt auf seine Faust starrte. Ohne eine weitere Vorwarnung, gab er seine Handfläche frei. 
Ein letztes Mal holte ich Luft und presste die Augen zusammen, als sich das grelle Licht der Blitze gegen mich wendete, bevor sie mich trafen.
Es war nicht so, dass irgendein Film vor meinem inneren Auge abgespielt wurde. Ich sah auch nicht meine Liebsten ein letztes Mal lächeln oder dergleichen. So etwas gibt es nicht. Damit umschrieb man einfach nur nett den Tod. Aber wenn es erst soweit war, gab es nichts, was man sich hätte schönreden können. Das war pure Heuchelei.

Kapitel 15 - Das mit der Bindung unserer Herzen

Mein Atem ging stoßweise. Meine Augen fest zusammengekniffen. Die Tränen zurückhaltend, wollte ich wenigstens in Würde sterben. Ich verbannte meine Angst und machte mich für das Licht bereit. Falls es sowas überhaupt gab.
Ich wartete auf den Schmerz. War auf einen Schmerz vorbereitet, wie er noch nie beschrieben wurde. Oder überhaupt beschrieben werden konnte.
Doch er blieb aus.
Zumindest fixierte er sich auf eine andere Stelle, als erwartet.
Verdammte Scheiße! Wie das weh tat! Ein scharfes Zischen regte sich an meinem Oberarm und eine mörderische Hitze direkt daneben. Als würde mir jemand frisch geschmiedetes Eisen auf die Haut drücken.
Ich konnte nicht verhindern, dass ich schmerzerfüllt aufschrie, als es an meinem Arm auch noch zu brodeln begann wie heißes Fett. Ich schrie nochmal. Konnte gar nicht anders.
Verdammt, sollte ich nicht sterben? Sollte das alles nicht ganz schnell vorbei gehen?
Dieser Schmerz… ich konnte einfach nicht aufhören zu schreien. Zu schreien und auf dem Boden zusammenzusacken. Die kalten Pflaster ersehnend. Aber sie gaben mir keine Milderung, nicht die Geringste. Im Gegenteil, eigentlich war der Boden beinahe genauso heiß, wie mein Arm. Verflucht, wie konnte Hitze nur so unendlich weh tun?

Keine Ahnung, wie lange ich da auf dem Boden lag und vor mich hin weinte, ohne irgendetwas von der Außenwelt mitzubekommen. Da war nur dieses Brennen und Zischen, das sich mir beharrlich in die Haut fraß und mich an gar nichts anderes denken ließ.
Jedenfalls kam es mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ich mal realisierte, dass da außer meinen Wehrufen noch ganz andere Laute waren.
Ich mochte es kaum für möglich halten, aber als der Schmerz tatsächlich nachließ, übertönten männliche Resonanzen mein Wimmern. Schwermütig zwang ich mich, meine Augenlider zu öffnen.
Als sich der typische kleine Nebel vor meinen Augen verzogen hatte, konnte ich auch nicht sehr viel mehr erkennen, als mit geschlossenen Augen. Aber das war ja keine Überraschung.
Ich sah Riley, der bewegungslos vor mir stand und zum Himmel blickte. Nein, dann ruckartig nach rechts. Es schepperte. Gleich im nächsten Moment wieder woanders hin.
Diesmal konnte ich seinem Blick jedoch auch folgen, als plötzlich zwei ineinander verschlungene Gestalten mit einem lauten Knall gegen den Container krachten.
Der Regen ließ langsam nach, so dass sein Vorhang aus Tropfen mir nicht mehr ganz so sehr den Blick in die Ferne erschwerte.
Sie lagen direkt im Strahl  der altersschwachen Glühbirne. Es war mir gar nicht möglich so schnell zu gucken, wie einer der Beiden jäh herumwirbelte und mit aller Kraft seinen Gegner zu Boden drückte.
Ich erkannte Jeldrik in der Gestalt, die da mit zwei absonderlich dunklen Flügeln auf dem Rücken über Phelim kniete. Das inzwischen viel zu bekannte metallische Zischen erklang, während Jeldriks Arm nach hinten schnellte, und dort aber verharrte.
Unter Phelims Körper rankten zwei tiefschwarz gefiederte Fittiche hervor. Einer davon lehnte an dem Eingang des Containers an. Schien geknickt zu sein. An einigen Stellen konnte ich eine dunkelrot schimmernde Flüssigkeit erkennen.
„Du hast doch total den Verstand verloren“, hörte ich dann undeutlich Phelims Stimme. Er blickte seinen Bruder dabei nicht an, sondern wandte seinen Kopf in unsere Richtung. Erst auf Riley, dann auf meine zusammengekrümmte Gestalt.
„Sie hat ihn dir genommen, Bruder“, fuhr er dann fort, den Blick eisern in meinem. „Ich versteh das. Ihre Macht ist so betörend und du bist zu jung, um den Unterschied zu bemerken.“
Ich konnte sehen wie Jeldrik den Kiefer zusammenpresste. An seinen Mundwinkeln klebte dieselbe rote Flüssigkeit. Ihr Blut. Sein dunkelblaues Shirt, das er am Fluss schon getragen hatte, war zerschlissen. In den Rissen konnte man dünne Schlieren von Blut erkennen, die sich wahrscheinlich über seinen ganzen Körper zogen. Wie lange hatte sie sich schon bekämpft? Und wieso? Konnte es denn sein, dass…?
„Was redest du?“, zischte Jeldrik durch zusammen gebissene Zähne. „Ich lebe länger in dieser Gestalt als du. Also komm mir nicht so!“
Jeldrik sah unheimlich bedrohlich aus, wie er sich da mit diesen exorbitanten Schwingen über Phelim stemmte. Seine Schwertfinger weit ausgefahren und auseinander gespreizt. Jederzeit bereit nach vorn zu schnellen und Phelim den Kopf abzudrehen. Seinem eigenen Bruder.
Irgendwie zweifelte ich in diesem Moment noch nicht einmal daran, ob man Jeldrik solche Tat zutrauen konnte. Er kam mir in diesem Moment so fremd vor. So wütend… so sicher… so gefährlich.
Phelims Blick richtete sich jetzt wieder auf Jeldrik. Ich konnte keinerlei Angst in seinen Augen sehen. Entweder glaubte er nicht daran, dass Jeldrik das Werk vollendete oder er hoffte…
„Willst du mich denn wirklich töten?“, begann Phelim plötzlich zu schreien. „Vernebelt sie dir denn so die Sinne? Willst du auf ewig in dieser gottverfluchten Gestalt weiter leben? Alles vergessen, nur um des Mädchens Willen? See on haige! Hör auf den Helden zu spielen und sieh der Tatsache ins Auge! Das Wohl der Erde verlangt nun mal Opfer! Und das Opfer ist die Lunastaja!“
Das Wohl der Erde? Die Lunastaja, übersetzt ich, sollte für das Wohl der Erde sterben? Aber… scherte sich den der dunkle Regent um den Wohlstand der Erde?
Aus Jeldriks Kehle grollte ein so tiefes Knurren, dass ich glaubte, er verwandelte sich jeden Moment in ein heißblütiges Ungeheuer.
„Wer sagt uns, dass ihr Tod schlagartig alle mythischen Wesen vernichten wird? WER?!“, brauste Jeldrik in einer so wilden Stimmlage auf, dass ich mich fragte, wer da aus ihm sprach. Es klang einfach nicht nach ihm. „Was, wenn Vé Recht hat? Wir würden alle ins Verderben schicken!“
Dann ließ Jeldrik seine Hand gen Boden krachen.
Ich schrie unwillkürlich und schloss die Augen. Das wollte ich nicht sehen.
Mein Kopf malte sich ohnehin diese schreckliche Szene selbst aus. Rot. Eine riesige Lache. Da, wo Phelims Hals endete.
Doch widererwarten hörte ich nur ein ächzendes Scherben und einen Schluchzer, der ausnahmsweise nicht von mir stammte. Überrascht sprangen meine Lider wieder auf.
Jeldrik hatte sich näher zu Phelims Körper gebeugt, die Schwertfinger lagen in einer Grube gerissenen Steins. Nur einen Zentimeter neben Phelims Kopf.
Phelims Blick lag immer noch völlig nüchtern auf dem seines Angreifers. Keine Furcht. Kein Entsetzen. Keine Erwartung.
„Das Risiko müssen wir eben eingehen“, sagte er ruhig und legte seine Hand auf Jeldriks Kopf. Zauste ihm durchs Haar. Brüderlich und nicht als wäre Phelim gerade knapp seinem Tod entgangen.
„Aber…“, schluchzte Jeldrik und ließ seine Schwertfinger ächzend über den Stein kratzen. Pure Verzweiflung beherrschte seine Stimme.
„Tut mir leid“, murmelte Phelim kaum wahrnehmbar. Dann richtete er an Riley einen Blick, der anders wie Jeldriks Stimme voller Entschlossenheit war, und nickte.
Wankelmütig hob ich den Kopf, um auch selbst Riley ansehen zu können.
Ich erschrak, als ich bemerkte, dass er mich bereits fixierte und so wie es aussah, nicht erst seit gerade. Forsch und mit starrem Blick, der nicht mehr lebendig aussah. Sie funkelten drohend hinter den braunen Locken, die ihm vor die Stirn fielen und der Regen dunkler und länger aussehen ließ als sie es eigentlich waren.
Die Arme in einem schwachen Winkel steif von sich gestreckt. Ich hörte wieder dieses Knistern, nur klang es diesmal etwas anders. Als stünde ich neben einem Lagerfeuer, strahlte er eine Hitze ab, die die Luft dick werden zu lassen schien. Ein Blick auf seine zu Fäusten geballten Hände verriet mir, dass er Ähnliches wie Phelim auf Lager hatte.
Dann passierte alles so schnell, dass mir gerademal die Zeit blieb, um verängstigt nach Luft zu schnappen.
Anders als Phelim verschwendete Riley keine Zeit. Seine Hand schoss mit einem Schlag auf. Nicht Finger für Finger, um meinen Puls in die Höhe schießen zu lassen.
Die Hitze stieg ins Unerträgliche, während ich nur kurz einen Blick auf die Flammenzunge, die nach mir ausschlug, erhaschen konnte.
Salevesta ise, Eve. Palun, joosta! Luba mulle, schlich unerwartet Jeldriks Stimme in meine Gedanken. Die Worte kamen mir bekannt vor, obwohl ich noch nicht einmal sagen konnte, welche Sprache das war. So vertraut…
Auf einmal wusste ich, was sie bedeuteten.
Plötzlich wurde ich mit unsanfter Wucht gegen die Mauer hinter mir geschleudert. Erschrocken sprangen meine Augen wieder auf. Ich rankte nach Luft, als mein Rücken gnadenlos auf den harten Widerstand stieß. Irgendetwas quetschte mir die Brust und erdrückte mit einer bleiernen Schwere meinen gesamten Oberkörper.
Dann erregte ein unterdrücktes Stöhnen direkt vor mir meine Aufmerksamkeit.
„Eve…“, stöhnte es auf. Sehr gepresst und ziemlich leise im Gegensatz zu dem undefinierbaren Rauschen, das jetzt Überhand übernommen hatte. Was zum…?!
Erst jetzt erkannte ich, dass ich von dunklen Federn umhüllt war. Dass ich eingepfercht war.
Zwischen der Mauer. Flügeln. Und Jeldriks Körper.
„Jeldrik, du.. Nein“, keuchte ich auf und zögerte keine Sekunde meine Arme mit aller Gewalt um seine Hüfte zu schlingen. Er brauchte nichts zu sagen. Was er da tat, erklärte alles Weitere. Als meine Fingerspitzen hinter Jeldriks Körper hervorkrochen, bekam ich sofort das Gefühl, als berühre ich eine heiße Herdplatte. Doch ich ließ mich davon nicht aufhalten. Selbst als meine gesamten Arme zu Prickeln und zu Tosen begannen, ich wieder diese unergründliche Schmerzen erlitt, zog ich sie nicht zurück. Ich schloss einfach nur die Augen und vergrub mein Gesicht in der Grube zwischen seinen Schulterblättern.
Er schützte mich vor Rileys Angriff. Was auch immer er bewirkt haben sollte, ich fühlte mich nicht, als würde ich gleich mein Ableben bestreiten.
Zwar hatte ich einen kupfrigen Geruch in der Nase und irgendwie auch in der Lunge, aber mich hielt nichts davon ab, Jeldrik in diesen Sekunden so nahe zu sein. Selbst wenn es meine letzten Sekunden sein sollten, so bereute ich sie nicht. Denn er war hier.
Er, von dem ich wusste, dass er mich aufrichtig liebte. Mehr als sich selbst. Mehr als das, was er war oder sein könnte. Mehr als seine eigene Freiheit. Mehr als sein Leben.
Wie salzige Säure rannen mir die Tränen von den Wangen. Welche Schmerzen er auf sich nahm… meine Schmerzen. Rileys ganze Energie lastete auf Jeldriks Körper. So stark, dass selbst ich davon noch betroffen war. Und dennoch… dennoch spürte ich wie sich seine Hand im Moment des Leids noch warm und feucht auf meine legte.
Warm und feucht… ich brauchte nicht darüber nachzudenken, was das sein könnte. Immerhin roch und spürte ich es schon an seinem Shirt. Schmeckte es.
Hinter mir begann die Mauer zu ächzen und nachzugeben. Jeldrik und ich ruckten um mindestens einen Zentimeter nach hinten. Gruben einen Abdruck unserer Körper in die Mauer. Wahrscheinlich würde sie bald in sich zusammenbrechen und uns in die Freiheit schicken. Doch das beunruhigte mich nicht. Ich war bei ihm.
Ich hatte auch nicht das Gefühl, als würde er sich gegen diesen Gedanken sträuben. Ich hatte eher das Gefühl, als ob unsere Geister im Einklang waren, miteinander verschmolzen. Diese Seelen dasselbe spürten. Sein Blut mich einkleidete und mich mit ihm verband. Es war das Absurdeste, was man in diesen Umständen entsprechend sagen konnte, aber ich glaubte, dass das der Moment war, in dem unsere Herzen im selben Takt schlugen. Der Moment, indem ich mich ihm näher fühlte als je jemandem zuvor. Und dabei sprach ich nicht, vom Körperlichen, obwohl enger kaum noch möglich war.
Wahrscheinlich war das jetzt dieser bittersüße Abschied von dem allewelt immerzu sprach. Nur dass dieser hier sich gewaltig davon unterschied, was sie sich darunter vorstellten. Sie nahmen Wörter in den Mund, deren Bedeutung sie sich nicht im Klaren waren. Doch ich, erfuhr es nun am eigenen Leib. Er und ich.

Undeutlich vernahm ich zwischen dem Rauschen nach einer Zeit Schreie. Ich erkannte die Stimme, jedoch scherte ich mich nicht darum. Letztendlich war es ja doch sein Plan gewesen.
Ich starb, daran hatte ich keine Zweifel. Und genau das wollte er doch erreichen.
Noch einmal ächzte die Mauer in meinem Rücken. Lauter und dann plötzlich mehrmals hintereinander, während uns Rileys Energie mit ihr immer weiter nachhinten drängte.
Noch ein Ächzen, es krachte.
Dann löste sich eine Lawine aus Splittern und Staub aus. Unser Rückhalt vor der endgültigen Freiheit gab nach und katapultierte uns in bodenlose Atmosphäre.
Für einen kurzen Augenblick schienen wir wie schwerelos zu sein. Kein Druck von keiner Richtung. Das ätzende Gefühl an meinen Armen ließ nach und wich einem Luftzug, der mir die Haare ins Gesicht wehte.
Ich spürte wie Jeldrik sich in meiner Umarmung wandte, sich zu mir drehen wollte. Ich hob den Kopf von seinem Rücken und warf einen Blick über seine Schulter, nur um ihn im nächsten Moment wieder abzuwenden. Ich erkannte zwei verzerrte Gestalten auf dem Boden des Hochhauses stehen. Sie wurden immer undeutlicher und transparenter. Und das nicht, weil sie mit der Dunkelheit verschmolzen. Sie… verschwanden.
Als sich Jeldriks Gesicht fast vor mir zeigte, schloss ich die Augen. Ich ahnte, welcher Anblick mich erwarten würde und so wollte ich ihn nicht das letzte Mal sehen.
Ich weiß, das war furchtbar egoistisch. Ich verwehrte ihm den letzten Blick in meine Augen. Aber ich konnte sie ihm einfach nicht offenbaren. Nicht, wenn ich wusste, dass sein Anblick ein weniger schöner sein würde. Ich hätte diese Schuld nicht ertragen. Dass er meinetwegen so von den Flammen erfasst verunstaltet wurde. Obgleich ich nicht daran glauben wollte, dass irgendetwas seiner Schönheit etwas vermöchten könnte. Selbst keine Brandwunden.

 Die Schwerelosigkeit verlor an ihrem Zauber. Unerbittlich erfasste uns eine Anziehung von unten. Unwillkürlich schnappte ich nach Luft, als die Schwerkraft uns zu sich zog, während Jeldriks Finger sich auf meine Schläfen legten und dann ihren Weg zu meinen Lippen fanden.
„Ma armastan sind, Eve“, wisperte er sanft, die Tatsache ignorierend, dass wir in unseren Tod flogen. „Ma armastan sind. Ich liebe dich.“
Von der Überraschung erfasst, schlug ich die Augen doch auf.
Ich hatte es gewusst… er hatte es mir gezeigt. Es jedoch zu hören war… ein unbeschreiblich beflügelndes Gefühl.
Mein Blick traf direkt in seinen, den ein leichtes Lächeln erreichte. Das Smaragdgrün war in ein intensives Jadegrün übergegangen und doch sah es warm und menschlich aus. Und von unglaublicher Schönheit.
Sein Gesicht,… selbst jetzt… mit einer feinen Wunde, die sich von seiner Stirn bis über die Augenbraue erzog, … raubte sein Anblick mir den Atem. Auch die gräulichen Aschflecken auf der Haut nahmen ihm keinen Deut meines Begehrens. Ich nahm sie als Narben unserer Liebe. Auch wenn uns jetzt womöglich das gemeinsame Leben genommen werden sollte; unsere Empfindungen für einander würde uns auf Ewig erhalten bleiben.
Ich hätte erleichtert sein können, dass er keine Brandwunden davon trug. Aber die Wärme, die sich von seinem Körper in Form eines dickflüssigen Liquides auf meinen Körper übertrug, versetzte meinem Gewissen einen zu unerbittlichen Hieb. Er hatte den Trank seines Herzens für mich geopfert. Vielleicht hatte meines sogar danach gedürstet. Wie konnte er mich lieben, nachdem ich ihm doch so viel Leid zuteilwerden ließ? 
Mein Puls hielt in keinen geregelten Takt mehr ein, seit er diese Worte über die Lippen gebracht hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt noch schlug.
Vor meine Augen drang sich ein milchiger Vorhang. Der Wind trieb mir die Tränen in die Augen. Zumindest dachte ich das im ersten Moment. Doch eigentlich war mir bewusst, dass es Tränen der Schuld und gleichzeitig jedoch auch Tränen der Freude waren. Weil ich ihn bei mir hatte. Ich versuchte mich an einem zaghaften Lächeln. Ich würde in angesichts meines Todes wenigstens in Glückseligkeit sterben.
„Ich… ich liebe dich auch“, schluchzte ich, während seine Arme meinen Körper umfassten. Mich genauso eng umschlungen hielten wie meine ihn.
„Ich weiß“, murmelte er, nur noch Millimeter von meinen Lippen entfernt. Dann bettete er seine Lippen sanft auf meine. Ich konnte ihn schmecken. Traumhaft süß und bitter zugleich. Sein Atem ließ meinen ganzen Körper erprickeln und lebendig werden. Meine Hände glitten über seinen Rücken, während unser Kuss im inniger wurde…
Der Wind, der mir alle Haare in die Höhe wehen ließ, wurde sanfter. Mein Haar wirbelte leicht um meinen Kopf herum. Kitzelte mein Gesicht und wahrscheinlich auch seines.
Und dann hatte uns die Schwerelosigkeit wieder.

Ich starb nicht. 

Kapitel 16 - Das mit der grenzenlosen Leidenschaft

„Jeldrik?“
Dunkelheit umgab mich. Undurchdringliche Dunkelheit. Ich sah noch nicht einmal die eigene Hand vor Augen.
„Jeldrik?“
Es war absolut windstill hier, aber furchtbar kalt. Und still auch. So still, dass ich mich diesen Namen nur Flüstern traute. Aber da ich ohnehin die einzige Geräuschquelle hier zu sein schien, war mehr wahrscheinlich auch gar nicht nötig.
Wo, verdammte Scheiße, war ich? Laut und klackernd begann ich einen Schritt vor den Nächsten zu setzen. Ich konnte nur hoffen, dass sich mir nicht unverhofft irgendwelche Gegenstände oder noch schlimmer Wesen in den Weg stellen würden. Doch meine Schritte hallten so laut, dass ich es schier ausschloss, dass sich überhaupt irgendwas in diesem Raum befand. Zumindest vermutete ich, dass ich in einen geschlossenen Raum war.
Ziellos tappte ich wortwörtlich im Dunkeln. Auf der Suche nach jemandem, von dem ich einzig und allein den Namen kannte. Es war mir einfach nicht möglich dazu ein Gesicht erscheinen zu lassen. Überhaupt bekam ich langsam das Gefühl, als würde dieser kahle, dunkle Raum meine eigenen Gedanken symbolisieren. Ebenso leer und ohne jegliche Erinnerungen. Mein Kopf war frei von allem. Ich wusste nicht einmal wer ich war, geschweige denn wie ich aussah oder wo ich herkam. Nichts. So sehr ich mich auch bemühte, in meinem Kopf hallte nur dieser Name. Und Gott weiß, woher ich überhaupt sicher sein konnte, dass es ein Name war.
Ich sprach ihn unzählige Male aus, ohne zu wissen, ob es überhaupt Sinn ergab. Wahrscheinlich eher nicht, wenn da niemand war, der mich hören konnte.
Seltsamerweise machte mir das noch nicht einmal Angst. Ich meine, völlig mutterseelenallein zu sein. Auch nicht, dass es hier nicht danach aussah, als ob es ein Entrinnen zum Tageslicht gab. Ich konnte ja auch ehrlich gesagt nicht einmal mehr genau sagen, wie die Welt aussah. Ich wusste lediglich, dass es sie gab.
Kein Schimmer, wie lang ich in diesem absoluten Schatten umherirrte. Aber offensichtlich hatte ich mein Zeitgefühl sowieso auch verloren. Es war so… bizarr reinweg gar nichts zu wissen. Andererseits kannte ich es zu diesem Zeitpunkt auch nicht anders. Sogar die Worte, um meine Gefühle und Gedanken richtig beschreiben zu können, fehlten mir.
Wie in Trance geisterte ich durch die stille Finsternis. Vollkommen leere Gedanken und mit Lippen, die stumpf immer wieder diesen Namen formten.

„Jeldrik, Jeldrik, Jeldrik.“

Erschrocken drehte ich mich einmal um die eigene Achse. Das war nicht meine Stimme gewesen. Auch wenn sie meiner ziemlich ähnlich klang. In dieser Stimme schwang so etwas wie Spott, der dann auch mit einem missbilligenden Zungenschnalzen bestärkt wurde, mit. Ich hatte die Stimme schon einmal irgendwo gehört – sie war mir auf absonderliche Art vertraut. Nur woher?
„Wer…wer ist da?“, verlangte ich zu erfahren und tastete blind um mich ins Leere. Es klang als stünde diese Frau neben mir.
„Finde deinen eigenen Weg, mein Kind“, flüsterte sie plötzlich ganz nah an meinem Ohr. Mechanisch zuckte ich zusammen und schlug um mich. Doch wieder war da nichts als Leere. „Das ist ja fast erbärmlich, wie du ihm hinterher heulst.“
Heulst? Aber ich… Irritiert fasste ich an meine Wange. An meine feuchte Wange. Ich weinte? Ich weinte!
„Wer ist da?“, wiederholte ich mich und war überrascht, dass zu meinen Tränen kein Schluchzer in meiner Stimme zu hören war. Woher wusste sie dann, dass ich weinte?
Ich hörte die gestaltlose Stimme seufzen. „Es enttäuscht mich, dass du das ernsthaft fragen musst, Eveline.“
Eveline? War ich diese Eveline? Eve… aber natürlich!
Mit einem Schlag stürzten all meine Erinnerungen wieder auf mich ein. Nicht sehr sanft, musste ich leider sagen. Einige davon bereiteten mir Schmerzen und die melodische Stimme dieser Frau bohrte sich besonders qualvoll in mein Herz. Sie stellte sogar mein Bewusstsein von Jeldrik getrennt zu sein in den Schatten.
„Maa… Mom?“, wisperte ich atemlos. Ich streckte die Arme aus, in der Hoffnung sie würden gleich den Körper meine Mutter umschlingen. Doch ich wurde enttäuscht.
„Geht doch“, sagte meine Mutter zufrieden, aber vorherrschend emotionslos. Ich ließ die Arme an meine Seiten sinken und drehte mich in die Richtung, in der ich sie vermutete. Es tat weh, sie nicht spüren zu können oder besser gesagt, dass sie dies nicht zu ließ. Sie war doch so herzlich. Wie hielt sie es denn aus, mir fern zu bleiben? War sie denn nun eigentlich tot? Träumte ich? Oder war ich doch auch tot?
„Bist du… Du bist doch…“, begann ich, doch ihr entmutigendes Lachen unterbrach mich.
„Tot? Nein, Eveline. Nur in deiner Welt bin ich gestorben. Aber genaugenommen kann ich gar nicht wirklich aufhören zu existieren. Keiner kann das.“
Plötzlich spürte ich etwas sanft über meine Wange streichen. Wieder tastete ich in der Dunkelheit, dieses Mal jedoch, um mich irgendworan festhalten zu können.
Sie war es. Sie ließ mich ihren Geruch war nehmen. Unverkennbar. Jeder kennt den Geruch seiner Mutter. Er hatte sich nicht verändert.
Zittrig holte ich Luft, ehe ich mich vorsichtig zu Boden gleiten ließ. „Wie meinst du das?“, fragte ich, um auf ihre letzten Worte anzusprechen.
„Denkst du denn, dass es außer auf Erden keine Lebewesen gibt?“, höhnte sie. Ich presste die Lippen zusammen. Sie höhnte. Das passte nicht zu ihr. „Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Unterwelt oder ein Himmelsreich. Sogar eine Zwischendimension, die für jedermann zugänglich ist. Und da lebe ich. Bin ich quieklebendig wie du siehst.“ Sie lachte entschuldigend. „Ach, nein. Verzeihung. Wie du hörst.“
„Wieso kann ich dich nicht sehen? Bin ich auch in der Zwischendimension?“
Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass sie jetzt nickte. Jäh erfasste mich ein warmer Luftzug, ehe sie wieder zu sprechen begann.
„Nicht wirklich, mein Schatz. Leider. Dein Geist ist nur zur Hälfte hier. Deswegen ist für dich auch nichts greifbar oder sichtbar“, erklärte sie, auf einmal ganz freundlich.
Es war verwirrend. Sie war verwirrend. Ich hatte keine Zweifel, dass es sich hierbei um meine Mutter handelte und doch war sie mir so fremd. Sie roch wie damals. Ihre Finger auf meiner Haut fühlten sich ganz genau so an wie ich sie in Erinnerung hatte und dennoch… sie war zynisch und dann auf einmal liebevoll und herzlich wie ich sie kannte. Und das änderte sich sekündlich. Sie wirkte nicht vertrauenswürdig oder gab mir das Gefühl von Geborgenheit, das bei einer Mutter normalerweise auftreten sollte.
„Auch für mich bist du nicht wirklich greifbar“, fuhr sie fort und klang dabei enttäuscht. „Ich kann zu dir sprechen. Ich kann dich sogar sehen. Du hast dich gerade mitten in einen Tisch gesetzt.“
Sie schwieg für einen Moment. „Sieht beunruhigend aus, aber beweist, dass du wirklich gar nichts von deiner Umgebung wahrnehmen kannst. Du bist einfach nur ein abstrakter Schemen in meinem Reich.“
Ich gab mir wirklich Mühe, zu verstehen, aber irgendwie leuchtete mir das Ganze nicht so wirklich ein. Befand ich mich also gar nicht in völliger Dunkelheit, sondern konnte nur nichts anderes wahrnehmen? War ich quasi ein Gespenst, das durch Gegenstände und vielleicht gar Wände gehen konnte? Das würde zumindest erklären, wieso ich in dieser Dunkelheit mit nichts zusammengestoßen war oder ich meine Mutter nicht in die Arme schließen konnte. Musste ich jetzt auf Ewig so verweilen?
„Es freut mich wirklich sehr, dass du mich mal besuchen kommst. Kylie durfte ich auch schon Hallo sagen.“
Irritiert kräuselte ich die Stirn. Was redete sie da plötzlich von „Besuchen“?
„Kylie? Wie kam Kylie denn hierher? Und wie kam ich eigentlich hierher?“, fragte ich und versuchte den Blick in ihre Richtung zu wenden. Warum konnte ich nichts sehen? Das war wirklich lästig. Auf einmal spürte ich kaum wahrnehmbar einen Finger an meinem Kinn, der meinen Kopf drehte.
„Hast du nicht gesagt, dass ich für dich auch nicht greifbar bin?“, schickte ich eine Frage hinterher.
„Ich sagte: nicht wirklich. Wenn ich mich anstrenge geht es. Aber nur für kurz. Egal“, winkte sie ab und nahm sich meine anderen Fragen vor. „Jeder Mensch, an dessen Erinnerung herum gepfuscht wird, findet sich erst einmal orientierungslos in der Zwischendimension wieder. Kylie bin ich schon öfter begegnet. Sie hat mir immer von dir erzählt.“ Ich meinte, sie lächeln zu hören.
„Wie meinst du das? An dessen Erinnerung herum gepfuscht wird?“
„Ich fürchte, dass darf ich dir nicht verraten, wenn du danach fragen musst. Ehrlich gesagt, wundert mich das auch ein bisschen.“
„Was wundert dich?“, sie sprach in Rätseln. Alle taten das immer. Konnten sie denn nicht einmal Klartext sprechen? Das ging mir langsam echt an die Substanz.
„Na, dass du mich fragen musst, wie ich das meine. Ich dachte, du wärst schon mehr über… all das im Bilde.“
Ich biss mir auf die Lippe. Natürlich war ich über mehr im Bilde als gewöhnliche Menschen. Aber wie weit war meine Mutter aufgeklärt? Ich konnte immerhin nicht mit Sicherheit sagen, wovon sie sprach. Andererseits war sie in einer Zwischendimension; wenn interessierte das hier schon? Und Phelim hatte von ihr gesprochen. Jäh flammte die Erinnerung an die vergangenen Stunden wieder in meinem Kopf auf. Natürlich wusste meine Mutter Bescheid. Sie war eine Göttin. Noch dazu eine Mächtige.
Ich konnte vollkommen offen sein. Über diese ganzen Abstrusitäten sprechen, die sich im Laufe der Wochen gesammelt hatten. Das hatte wirklich etwas Verlockendes.
„Das bin ich.“, beteuerte ich und war überrascht wie überzeugt ich davon klang. „Ich… ich weiß über diese Exyus und Zyona Bescheid. Ich… ich liebe sogar einen davon. Sehr. Ich-“
„Ja, ich weiß. Diesen Jeldrik vermutlich, nicht wahr?“, unterbrach sie mich und klang nicht sonderlich erfreut darüber.
Ich nickte. Sie meinte ja, dass sie mich sehen konnte. „Ist… ist das denn nicht okay?“
Sie sagte eine ganze Weil nichts, dann räusperte sie sich. „Nun ja. Er hat dich gerade um einige Tage deines Lebens beraubt. Er ist es auch, der gerade deine Erinnerung nach seinem Belieben neu ordnet. Entscheide selbst, ob das okay ist.“
Ich wollte gerade etwas erwidern. Wollte schimpfen, empört sein und meine Mutter fragen, woher sie das wusste und wie ich mich dagegen wehren konnte. Und ich hatte noch etliche mehr Fragen an sie und Sorgen, die ich mit ihr teilen wollte. Ich hätte ihr so vieles zu erzählen gewusst, doch ich bekam keine Chance dazu.
Ohne jegliche Vorwarnung, wurde ich von einer Art Sturm erfasst, der mich unsanft von meiner Mutter davon wehte. Ihr hörte den Wind in meinen Ohren pfeifen, die Luft, die durch den Druck aus meiner Lunge austrat. Dann versank ich wieder in Gedankenlosigkeit.

 

„Eve?“
Sanft und gleichmäßig spürte ich seinen Daumen über meine Wange streichen. „Bist du wach?“
Ich reagierte nicht. Es war nicht sehr leicht, jetzt nicht zornig die Stirn zu kräuseln oder seine Hand von meiner Stirn zu schlagen. Das entsprach meinem Gefühl im Moment wirklich sehr! Obwohl ich im Moment nicht genau wusste, warum ich sauer war. Weil er sich an meiner Erinnerung zu schaffen gemacht hatte oder weil er mich aus diesem wunderbaren Traum gerissen hatte? Hatte er sich denn wirklich an meiner Erinnerung rumgebastelt oder war das nur Bestandteil meines Traumes? Oder hatte ich gar nicht geträumt? Ich unterdrückte ein frustriertes Seufzen. Da wünschte ich mir doch dieses leere Gedächtnis aus meinem Traum zurück… oder von vorhin, wenn es Realität gewesen war.
„Ich weiß, dass du wach bist“, sagte er auf einmal leise. Ich hörte ihn lächeln, ehe er mich plötzlich ein wenig zur Seite schob und ich dann seinen warmen Körper neben mir spürte. Liebevoll legte er seinen Arm um mich, zog mich näher an sich heran und keinen Augenblick später spürte ich seine Lippen auf meiner Wange.
„Komm schon“, wisperte er in mein Ohr. „Als du schliefst, hast du die Augenlider nicht so krampfhaft zusammengepresst.“
Mist. Verärgert blies ich Luft aus meinen Wangen und schlug die Augen auf. Jeldrik stemmte den Kopf in einer Hand, während die andere an meinem Becken lag. Sein Blick lag ruhig auf mir, sein Gesicht im Schatten. Hinter ihm hörte ich die Neonröhren surren. Sein Kopf schütze mich davor, dass sie mir direkt in die Augen blenden konnten.
Der Kratzer, der seine Augenbrauen durchkreuzte, war noch immer sichtbar, aber sah bereits verkrustet und am Heilen aus. Die Ascheflecken aus seinem Gesicht waren verschwunden. Er trug jetzt ein dunkelgraues Shirt, aus dessen V-Ausschnitt ein weises Hemd luckte. Er wirkte nicht, als wäre er gerade knapp mit dem Leben davon gekommen, sondern eher wie jemand, der sich gerade ordentlich den Bauch vollgeschlagen hatte.
„Wie geht es dir?“, erkundigte er sich besorgt und strich mir mein Haar hinters Ohr. Oh, wie es mir geht? Großartig! Jetzt wo ich mich ja nicht mehr an die schlimmen, vergangenen Stunden erinnern kann! Wow, ich wusste gar nicht, dass ich gedanklich so sarkastisch sein konnte.
Augenblickchen mal. Ich dürfte doch dann eigentlich auch nicht wissen, was er aus meiner Erinnerung gelöscht hatte, oder? Ich dürfte mich an gar nichts mehr erinnern, was geschehen war, nachdem Jeldrik mich vor meiner Haustür abgesetzt hatte...
Ich nahm all meine Konzentration zusammen und ließ den Tag ab Sonnenuntergang Review passieren. Doch meine Konzentration war völlig unnötig gewesen. Ich erinnerte mich problemlos an jedes noch so unangenehme Detail bis…
Irritiert sah ich mich im Raum um. „Wie sind wir hierhergekommen?“
Wir befanden uns in dem kahlen Untergeschoss des alten Fabrikgeländes am Chester River. Munter ignorierte ich seine Frage über mein Wohlbefinden und sah ihm in die Augen. Diese glitten kurz ernüchtert über mein Gesicht.
„Wir sind geflogen. Erinnerst du dich nicht?“, fragte er. Seine Stimme klang fast hoffnungsvoll.
Misstrauisch schüttelte ich den Kopf und verengte die Augen, als ich eindeutig Erleichterung über seine Züge huschen sah.
„Was ist passiert?“
Jeldrik seufzte und strich mir wiederholt über die Wange. „Mein Bruder und Riley haben dich entführt. Sie wollten-“
„Du weißt ganz genau, dass ich das nicht meine“, unterbrach ich ihn erzürnt und schlug seine Hand von mir. „Was ist passiert, nachdem wir vom Dach gestürzt sind?“
Er öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder. „Höhenangst“, murmelte er und fuhr sich unstet durchs Haar. „Du hast doch Höhenangst und…“
Ich hob ungläubig die Augenbrauen. Er machte sich wirklich keinerlei Mühe mich nicht merken zu lassen, dass er gerade die billigste Ausrede überhaupt verlauten ließ.
„Jeldrik, du hattest… Energiemangel, nicht?“, erkundigte ich mich. Ich versuchte nicht vorwurfsvoll zu klingen. Eher sanft und verständnisvoll. Doch das erwies sich als gar nicht so einfach, wenn man eigentlich das Bedürfnis hegte, ihm büschelweise Haare vom Kopf zu reißen.
Jeldrik antwortete mir nicht. Stattdessen seufzte er und wollte sich von mir weg drehen, vielleicht sogar aufstehen. Doch das wusste ich zu verhindern. Als er gerade auf dem Rücken lag, schmiegte ich mich rasch an seine Brust. Er hatte keine andere Wahl, als so zu verharren. Es war ihm peinlich, dass sah ich ihm an der Nasenspitze an, die er gerade tunlichst von mir hielt.
Für einen Moment blieb es still, bis er dann schließlich zaghaft seinen Arm um mich und seine Wange an meinen Scheitel legte.
„Du hattest Angst vor mir.“
Er sagte es so leise, dass ich seine Worte fast nur erahnen konnte. Versöhnlich strich ich mit meiner flachen Hand über seine Brust. „Das glaub ich nicht.“
Ich spürte ihn nicken. „Doch. Es ist besser, dass du dich nicht daran erinnerst.“
Abermals seufzte ich entnervt und stoppte das Streicheln meiner Hand. „Ich möchte das nicht.“
Ich hob den Kopf und sah ihn an, meinen Vorwurf nicht mehr versteckend. „Ich möchte das selbst entscheiden, weißt du?“
„Ich bin sicher, ich weiß, wie du dich entschieden hättest.“
Er schluckte leer und wandte wieder sein Gesicht von mir ab. Er schien sich ja tatsächlich richtig dafür zu schämen. Konnte es denn wirklich so schlimm gewesen sein? Das bezweifelte ich sehr, vor allem da ich mich an Rileys Angriff sehr wohl erinnern konnte. Das hätte er mal ruhig aus meinem Gedächtnis löschen können.
"Du kannst, das... was du bist, nicht ewig vor mir verstecken", flüsterte ich, abermals darum bemüht nicht zeternd zu klingen. "Außerdem will ich mich an alles erinnern können, was auch nur im Entferntesten mit dir zutun hat." Mir stieg bei diesem Geständnis eine leichte Röte ins Gesicht. "Egal, ob schlecht oder gut."
Vorsichtig hob ich die Hand zu seinem Gesicht und fuhr seinen Kratzer nach. Jeldrik schloss die Augen, dann umfasste er meine Finger und küsste ihre Spitzen.
"Wenn du dich erinnern könntest, würdest du das anders sehen."
"Hör auf damit!", schnaufte ich wütend und entzog ihm meine Hand. "Warum versucht du immer meine Gedanken zu lesen? Das kannst du nicht! Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass du mich vielleicht gar nicht so gut kennst, wie du tust?!"
Er blickte mir kühl in die Augen und ließ seinen Arm von meiner Hüfte rutschen. "Das hab ich gar nicht nötig. Ich rieche doch sozusagen was du denkst oder besser gesagt, wie du dich fühlst. Und das war eindeutig der salzige Geruch deiner Angst."
Ich verdrehte die Augen, während ich mich von ihm drehte. Bildete er sich wirklich ein besser über mich Bescheid zu wissen als ich selbst?!
"Man hat nicht nur Angst, wenn man etwas tut, was man selbst nicht will. Ich habe doch gewusst, wie schwach du sein musst."
Ich hörte die Decken hinter mir rascheln, keinen Augenblick später spürte ich Jeldriks Atem in meinem Nacken. "Was willst du damit sagen?"
"Vielleicht hatte ich ja gar nichts dagegen, dass du meine Energie anzapfst, auch wenn ich Angst davor hatte. Vielleicht wollte ich dir helfen."
Einige Sekunden verstrichen, ohne dass einer von uns noch etwas sagte. Jeldrik legte wieder den Arm um mich und zog mich an sich heran. Seine Wange an meiner, sagte er: "Ich möchte nicht, dass du solche Bilder von mir im Kopf hast. Vor allem aber... es tut mir so leid, Eve..."
Nach diesen Worten spürte ich ihn auf einmal nicht mehr hinter mir. Irritiert setze ich mich auf und sah mich um.

Die Neonleuchten brannten in meinen Augen, die sich inzwischen schon an das Halbdunkel im Untergeschoss gewöhnt hatten. Deshalb entdeckte ich auch nicht sofort, dass sich Jeldrik neben beziehungsweise halb hinter der Couch verschanzt hatte. Lediglich sein Schatten verriet ihn.
Auf recht wackligen Beinen rappelte ich mich von der Matratze auf. Erst jetzt bemerkte ich, dass Jeldrik mich umgezogen haben musste. Jedenfalls trug ich über meiner Unterwäsche nur ein viel zu weites weises Hemd.
Jeldrik hatte die Beine angezogen, sein Augenpartie verborgen in seiner Armgrube. Ich kniete mich vor ihn, behielt meine Hände jedoch bei mir.
"Was tut dir leid?", fragte ich mit offenem Interesse. Ich wollte ihm lieber danken, dass ich ihm dabei helfen durfte, ihn am Leben zu erhalten. Wofür entschuldigte er sich also?
"Das mag vielleicht total dämlich und banal klingen", fuhr ich fort, als er mir nicht antworten wollte, "aber mir gefällt der Gedanke, dass meine Lebensenergie in dir steckt. Dass ein Teil von mir in dir ist."
Beschämt senkte ich den Kopf und zerknitterte den Saum des Hemdes. Erst als ich Jeldriks warme Hand auf meinen Schenkeln spürte, wagte ich es langsam den Blick zu heben.
Seine glasigen Augen versprachen ebenso viel Liebe wie auch Schmerz in ihnen lag. Unwillkürlich hielt ich die Luft an, als mein Herz von seinem Anblick so erheblich berührt wurde, dass es fast zu schlagen aufhörte. Zaghaft hob ich meinen Finger zu seinem Augenwinkel und fing die Träne auf. Ich hatte außer meinem Vater noch nie zuvor einen Mann weinen sehen. Seine Tränen verwirrten mich. Meine Neugierde trieb mich beinahe in den Wahnsinn. Was tat ihm so schrecklich leid, dass er sogar weinen musste? Meinetwegen...?
"Das ist wirklich total dämlich", sagte er mit einer Ernsthaftigkeit in seinen Augen, die nicht zu ihrem schmählichen Ausdruck passten. "Seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, ist ein Teil von dir ständig in mir."
Seine freie Hand wanderte an meine Wange. Bereitwillig legte ich meinen Kopf in seine Hand und schloss die Augen.
"Du bist mein Herz, Eveline Travis. Du hältst mich allein durch deine Existenz am Leben", er machte eine kurze Pause, in der ich seine Worte auf mich wirken ließ. "Aber die hab ich jetzt um nicht nur einen Tag gekürzt."
Als ich die Lider wieder öffnete, sah Jeldrik mir nicht mehr ins Gesicht. Betrübt blickte er auf den kalten Beton, auf dem wir saßen.
Mir war es egal. Mir war es wirklich egal, dass er mein Leben gekürzt hatte. Ein paar Tage... ich hätte schon an diesem Tag sterben können, wäre er nicht gewesen. Meine Energie - sie war seine Belohnung. Ich konnte ihm nicht länger böse sein. Auch wenn ich es immer noch nicht für richtig hielt, dass er mich meiner Erinnerung beraubt hatte. Doch ich spürte seinen Schmerz, als würde seine Berührung ihn in alle Phasern meines Körpers übertragen. Da war wieder dieses Gefühl der zweisamen Vollkommenheit.
Sein Leid war meines. Seine Tränen waren meine. Und seine Liebe... war bedingungslos und mit allem was er hatte, die meine. Jeder Zweifel an ihm war aus der Welt und einfach nur unvorstellbar geworden. Ich war mir ihm sicher. Mein Körper war sich ihm sicher. Mit diesem Bewusstsein gab ich all meinen Impulsen nach.
Meine Antwort bedurfte keiner Worte. Anstatt zu sprechen, griff ich nach seinem Hemdkragen und zog mich daran halb auf seinen Schoß. Seine Hand rutschte dabei weiter an meinem Schenkel hoch. Irritiert lenkte er seinen Blick wieder in meine Augen, die ihm jetzt so nahe waren, dass nur noch ein Blatt Papier zwischen unsere Nasenspitzen gepasst hätte.
Prickelnde Elektrizität wurde durch unsere unmittelbare Nähe freigesetzt und durchfuhr mich am ganzen Leib. Zittrig wurde dabei jedoch nur mein Atem. Auch seiner drang unregelmäßig an meine Lippen.

(Kommentar Autor: Hatte ich mir zu dieser Szene angehört : http://www.youtube.com/watch?v=d91WDAVNEiI&feature=bf_next&list=PL62C8CF43F5A2AA3D&lf=rellist)

Für einige Sekunden verharrten wir in dieser Position; erfasst von einer hitzigen Leidenschaft.
Jeldrik war der Erste, der sich wieder rührte. Sehnsuchtsvoll verdunkelten sich seine Augen, ehe er sie schloss und mich an den Hüften zu sich zog, unsere letzte Distanz überbrückte. Haltlos und hingebungsvoll betteten sich seine Lippen auf meine, wie sich auch seine Finger schier in mein nacktes Fleisch drängten. Meine eigenen Hände wussten ganz von selbst, was sie zutun hatten. Ich dachte nicht darüber nach, als ich ihm wahllos durchs Haar fuhr und meinen anderen Arm fest um seinen Hals schlang. Alles was ich in diesem Moment in Gedanken hatte war, dass es sich so vollkommen richtig anfühlte.
Ich spürte wie seine warmen Hände über meine Hüften unter mein Hemd wanderten. Ein kühler Luftzug, der mir eine Gänsehaut über die Haut jagte, erfasste meinen nackten Bauch, doch es war keinesfalls unangenehm.
Es war Jeldrik, der seine Lippen wieder von mir löste, jedoch nur, um sich dann meinen Hals entlang hinab bis zum Schlüsselbein zu küssen.
Meine Augenlider flatterten, meine Hände verkrampften sich in seinem Haar. Es war mir so fremd und doch fühlte es sich so unheimlich gut an, dass ich nicht anders konnte als zu kapitulieren.
Seine Berührungen erzogen sich immer weiter nach oben; schoben mein Hemd mit sich, dass sogar einige Knöpfe aufplatzten. Ich ließ es geschehen, bis seine Finger unter meinem Arm angekommen waren und dann zu dem obersten Knopf glitten, um ihn mit eigenen Händen zu öffnen.
Die weichen Hände an meinem Hals, lehnte er sich ein Stück zurück, um mir mit fragendem Blick in die Augen sehen zu können.
"Bist du dir sicher?", raunte er und schob dabei das Hemd schon ein bisschen von meinen Schultern. Er brauchte mir nicht zu erklären, was er meinte. Wahrscheinlich war ich mir noch nie in meinem Leben so sicher, wie jetzt. Ich nickte keuchend, während meine Finger schon ihren Weg zu dem Saum seines Shirts suchten. Den Blick noch immer wachsam auf mir, ließ er das Hemd schließlich von meinen Schultern gleiten.
Meine Finger beugten sich der Nervosität, was das Aufknöpfen seines Hemdes nicht besonders einfach gestaltete. Doch Jeldrik drängte mich nicht. Geduldig strich er mit der flachen Hand über meine nackte Haut, was sogar eine beruhigende Wirkung mit sich zog.
Ich drängte mich wieder dichter an ihn, als er sich das Hemd abstreifte und wir uns auch dem Rest unserer Kleidung entledigten.
Instinktiv verfolgte ich mit meinen Lippen die Konturen seiner Schultermuskelatur den Hals hinauf bis hin zum Ohr.
"Sei... zärtlich mit mir", flüsterte ich kaum hörbar, Hitze stieg ich meine Wangen. Als Antwort spürte ich, wie Jeldrik mit seinen Lippen verboten sacht meine Halsgrube streifte. Abermals drückte er seine Finger fest, aber wohltuend gegen meine Hüften. Ich wühlte wieder wild in seinem Haar, während unsere Leidenschaft ins Unermessliche stieg.
Unsere Körper erstarrten inmitten hingebungsvollen Eifers. Genossen diese hitzige Anziehungskraft, die zwischen uns herrschte. Zögerten den Moment hinaus, in dem sie schließlich miteinander verschmelzen sollten.
Einen letzten bebenden Atemzug holend, bewiesen wir uns letztlich unsere Liebe.

Kapitel 17 - Das mit dem zweiten Tod

Warm und gleichmäßig blies mir sein Atem entgegen und erfüllte mich jedesmal mit Wohlgefallen.
Seine Gesichtszüge waren völlig entspannt und ließen den Gedanken an Übel auf Allerwelt nicht zu. Fast wie die eines schlafenden Kindes.
Doch er schlief nicht.
Dies verriet mir das monotone, sanfte Streichen über meinen Rücken, das von seinen Fingern ausging.
Für einen kleinen Moment schloss ich die Augen und gab mich seiner sanften Berührung hin als wäre sie eine prickelnde Wärme, dich mich umhüllte.
Was genau genommen nicht einmal so abwegig war. Der kalte Betonboden, auf dem wir lagen, war nicht länger kalt. Zwar war der kühle Kontrast zu unseren Körpern noch spürbar, jedoch war er eher eine willkommene Abwechslung zu der Hitze, die nach wie vor in mir tobte. Ob es ihm wohl genauso erging?
Nichts fühlte sich im Moment so an, wie ich es erwartet hätte. Ich meine, die ganzen Empfindungen nach dem berühmt berüchtigten „Ersten Mal“. Ich spürte nicht diese gewisse Erleichterung oder mich ein Stück weit reifer als zuvor. Auch nicht durcheinander oder, ja… unbehaglich. Was eigentlich nicht verwunderlich gewesen wäre, immerhin lag ich hier so wie Gott mich schuf neben einem Halbgott(buchstäblich!).
Nein, nichts war so wie erwartet. Es war besser. Viel besser. Ich war nicht erleichtert, „es“ hinter mir zu haben. Ich hatte mich schließlich bereit dazu gefühlt und spürte keinen Augenblick lang so etwas wie Hilflosigkeit. Selbst reifer kam ich mir nicht vor. Mir war, als wäre es nie anders gewesen mit uns. Als hätten diese bestimmten Empfindungen schon von Anfang an zwischen uns existiert.
Eines jedoch traf auf jeden Fall zu: Wir waren anders. Das „Wir“ war anders geworden. Vertrauter und auf eine bizarre Art und Weise fühlte ich mich mit ihm verbunden.
Ich stütze mein Kinn auf meiner Hand, die auf seiner Brust ruhte und fuhr mit der Anderen durch sein aufgewühltes Haar. Der Haaransatz war noch kaum merklich feucht und glitzerte schwach im Licht der Neonleuchte, was den zarten Rostrotschimmer noch mehr betonte. Ich war immer wieder fasziniert von dem übergangslosen Farbgefecht aus Dunkelbraun und Rot…


„Hatte deine Mutter dieselbe Haarfarbe wie du?“, überlegte ich laut und zwirbelte eine seiner längeren Haarsträhnen.
Jeldrik öffnete nicht die Augen, als er mir antwortete. „Rot. Ihre Haare waren eher ziemlich rot.“
„Und dein Vater?“
Seine Berührungen an meinem Rücken erstarrten und er verzog den Mund. Als Lächeln konnte man es jedoch nicht ganz bezeichnen. „Die waren schon grau, als ich ihn zum ersten Mal sah.“
Ich zog die Stirn kraus. Mir wurde plötzlich bewusst, wie wenig ich eigentlich von ihm und seiner Herkunft wusste… Wenn ich das nicht schnellst möglich ändern musste. Ich wollte alles von ihm wissen. Ausnahmslos.
„Als du ihn zum ersten Mal gesehen hast? Wie meinst du das?“, hakte ich nach.
Seit Adamsapfel bewegte sich sichtbar, als er schluckte und den Kopf von mir drehte. Er gab eine feine, blasse Linie frei, die sich von der Mitte seines Halses bis zu dessen linke Seite zog. Ich hielt die Luft an, als ich erkannte, dass das eine Narbe war. Jeldrik öffnete nun die Augen, sah jedoch in eine andere Richtung.
„Ich hab ihn erst nach meinem Tod kennen gelernt.“
Erschrocken stieß ich die Luft aus, die ich gerade angehalten hatte. „Nach deinem… wie bitte?“
Jeldrik grinste spöttisch und nahm das Streichen über meinen Rücken wieder auf. „Es wird dich wahrscheinlich ziemlich abtörnen, wenn ich dir verrate wie lange ich eigentlich schon tot bin.“ – sein Grinsen wurde breiter – „Du müsstest es gerade eigentlich mit einem verfaulten Kadaver getrieben haben. Oder nein, ich glaube selbst den würde es jetzt nicht mehr geben.“
Kurz geriet ich ins Stocken, ließ es mir aber nicht anmerken. Stattdessen schnaubte ich und schlug ihn mit der flachen Hand verärgert auf die Brust. Er zuckte kurz, gluckste aber vor sich hin. Wie konnte er jetzt nur etwas so Unromantisches sagen?
„Das war jetzt echt taktlos“, murrte ich, bettete meinen (jetzt roten) Kopf dann aber auf die Stelle, an der ich ihn geschlagen hatte. „Wie lange?“
Während Jeldriks Oberkörper vor Lachen noch leicht bebte, spürte ich seine Lippen auf meinem Scheitel. Dann ein sanftes Tätscheln auf meinem Rücken.
„Verrat es mir“, forderte ich und hob wieder den Kopf in seine Richtung, um ihn ansehen zu können. Doch er blickte mir nur keck entgegen und schüttelte den Kopf. „Spielt das denn eine Rolle? Wenn ich behaupte, ich wäre schon über 1000 Jahre hinüber, würdest du dann deine Sachen holen und gehen?“
„Mh… also…“, ich tat so, als müsste ich darüber nachdenken, allerdings strafte Jeldrik mich mit einem spielerischen Kniff in meine Seite, der mich zum Kichern brachte.
Ich hielt seinem skeptischem Blick einen Augenblick stand, dann seufzte ich jedoch und sagte: „Abgesehen davon, dass ich gar nicht weiß, wo du meine Sachen hin hast… nein.“
Zufrieden wurde Jeldriks Blick wieder sanfter. Er hob seinen Kopf soweit, um meine Lippen mit seinen erreichen zu können und hauchte ein: „Also.“
Für diese Stunde hatte ich wohl verloren, aber ich nahm mir fest vor, das zu einem anderen Zeitpunkt aus ihm herauszuquetschen.
„Verrätst du mir dann wenigstens, woher die Narbe kommt?“, fragte ich. Meiner Stimme war deutlich anzuhören, dass ich hinter der Neugierde meine Besorgnis versteckte.
„Das ist ein Streifschuss von einem aus der polnischen Einheit gewesen“, erklärte er platt. „Die Kugel hat aber eine Arterie erwischt.“ Ich spürte wie er die Schultern hob. „Hat dann eben tödlich geendet.“
Er sprach über seinen Tod, als würde er mir gerade erzählen, wie sein erster Arbeitstag verlaufen war. Ich schwieg eine Weile. Mir war nie bewusst gewesen, dass Jeldrik nicht erst seit 18 Jahren, wie es in seinem Pass stand, lebte. Ich hatte es nie in Erwägung gezogen, dass mein persönlicher Mischmaschengel bereits seit aberhunderten von Jahren leben könnte. Seltsamerweise störte mich dieser Gedanke tatsächlich kein bisschen. Ich meine, es war nur eine Zahl. Seine Gestalt, sein Verstand und besonders sein Charakter waren so wie zum Zeitpunkt seines… Ablebens. Zumindest vermutete ich das bis auf die eine oder andere Erfahrung, die über die Jahre hinzukam.
„Wenn ich das richtig verstanden habe, hat Phelim gesagt, dass euer Vater eine Gott war…“, begann ich. Jeldrik verstand die unausgesprochene Frage.
„Ist. Er ist eine Gottheit. Phelim und ich sind Halbgötter. Meine Mutter war eine Sterbliche, mein Vater hat sie getötet, als wir noch sehr klein waren.“
Abermals war ich überrascht, wie tonlos und selbstverständlich Jeldrik über all dies redete. Und sogar von Dingen erzählte, nach denen ich gar nicht fragte, aber sehr persönlich waren. Als wäre es ganz normal, dass der Vater… „Wieso?“, brachte ich nur über die Lippen und bereute die Frage sofort, als Jeldrik plötzlich doch gequält seufzte. „Das wüsste ich auch gern.“

 Ich versuchte mein schlechtes Gewissen abzuschwächen, indem ich Jeldrik einen Kuss auf die nackte Haut drückte. Er erschauerte und zog mich enger an sich.
„Wie war das, als du… gestorben bist? Ich meine, wie bist du wieder hier gelandet?“, wechselte ich das Thema. Meine Neugierde war ohnehin gerade auf Hochtouren. Verschiedene Fragen hatte ich allemal auf Lager.
Er seufzte wieder, diesmal klang es jedoch eher entnervt. „Verlangst du jetzt wirklich von mir, dass ich dir alles erzähle? Du weißt, ich darf das eigentlich Menschen niemals erzählen.“
Ich schnaubte beleidigt und blickte ihn höhnisch an. „Als wäre ich ein gewöhnlicher Mensch.“
Darauf würde ich ein anderes Mal ohnehin noch genauer eingehen.
Jeldrik lächelte liebevoll und legte seine Lippen an meine Stirn. „Das bist du wirklich nicht.“
Augenverdrehend nahm ich meinen Kopf aus seiner Reichweite und murmelte: „Du weißt, was ich meine.“ Obwohl ich den romantischen Wink durchaus verstanden hatte.
Als Jeldrik nicht sofort antwortete, fügte ich hinzu: „Ich möchte einfach alles über dich wissen... Alles.“
Jeldrik ergab sich. „Die Seele eines jeden Menschen ladet nach seinem Tod in einer Art Zwischendimension, im sogenannten Bifröst. Von da an, wird man zum Götterpalast geführt.“
Plötzlich kam mir mein… Traum oder was auch immer das war wieder in den Sinn. Hatte meine Mutter nicht sowas ähnliches gesagt? Der Gedanke an ihre Stimme in meinem Ohr durchfuhr mich wie ein eisiger Stich. An ihre fremde kühle Stimme. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, um ihn davon frei zu bekommen.
„Und dann?“, forderte ich ihn auf weiterzuerzählen, nachdem er eine meiner Meinung nach zu lange Pause eingelegt hatte. Er zuckte die Schultern.
„Ich will dir nicht die ganze Spannung von dem Tod nehmen.“
„Gott! Hör auf so alltäglich darüber zu reden!“, schimpfte ich und setzte mich halb auf. Konnte er nicht mal ernst bleiben? Diese Art an ihm gerade, passte mir gar nicht. Jeldrik räusperte sich und drückte meine Schulter.
„Entschuldige. Dann wird man zu dem, was Phelim und ich sind.“ Pause. „Zyona.“
„Wie hat sich das angefühlt?“, mein Kopf dürstete nur so nach den ganzen Antworten, die bisher kein Mensch ergründen konnte. Das ewige Rätsel, was nach dem Tod geschah. Das alles wurde mir jetzt einfach so offenbart.
„Eigentlich so als hätte man gerade so richtig gut ausgeschlafen. Du übertrittst das Portal und dich überkommt so eine gewisse Trägheit und dann auf einmal fühlst du dich erfüllt und fit. Da gibt es keine großen Wandlungsprozesse. Zumindest im Normalfall nicht. Bei mir und Phelim war das anders. Durch unsere Halbgottheit bekamen wir höhere Kräfte als normale Zyona. Die Machtübergabe war aber mit einem kleinen stechenden Schmerz verbunden. Als hätte man tausend feine Nadeln auf meinen Kopf regnen lassen.“
Ich schluckte hörbar auf. Wenn Jeldrik als Halbgott schon von Schmerzen sprach, wie war es dann erst bei mir als… tja, was genau war ich denn nun eigentlich? Eine Supergöttin?
„Als ich gestorben bin, trat ich eigentlich von einem Krieg in den nächsten. Zu meiner Zeit herrschte Krieg in Estland. Der Livländische Krieg, wenn dir das was sagt.“ Innerlich strafte ich mich für mein Desinteresse an jeglicher Historie. Hätte ich in Geschichte besser aufgepasst, wäre das jetzt definitiv ein Tipp oder gar eine Antwort auf sein Alter gewesen. Der Livländische Krieg sagte mir somit so gut wie gar nichts, also erwiderte ich nur: „Du bist Estländer?“
Jeldrik nickte. „Ich komme aus Keila, um genau zu sein, aare.“
Stille.
„Das bedeutet sowas wie „Schatz“ in deiner Sprache“, erklärte er, als er das Fragezeichen über meinem Kopf bemerkte. Ich nickte und belohnte ihn mit einem wiederholten Kuss auf seine Brust.
„Jedenfalls war auch im Götterpalast Krieg angesagt. Ich kenne den genauen Grund bis heute nicht. Ich musste aber mitkämpfen und wollte es auch, nachdem ich erfahren hatte, dass er etwas mit dem Tod von Estephania Wadim zutun hatte… mit dem Tod meiner Mutter. Wie gesagt, eine gewöhnliche Sterbliche, die von Donar, meinem Vater, göttlich befruchtet wurde.“
„Wie -?“ begann ich zu fragen, aber Jeldrik unterbrach mich bestimmend: „Kehren wir zu unserer alten Regel zurück: Ich erzähle dir, was ich erzählen kann. Außerdem hab ich keine Ahnung, wie sowas funktioniert, um ehrlich zu sein.“
Ich nickte stumm und wartete darauf, dass er fortfuhr. Mann, diese bescheuerte Regel. „Wie gesagt, wir waren Halbgötter und somit eine große Hilfe für die anderen beteiligten Götter und Zyona. Mein Vater war einer der führenden Götter, gemeinsam mit Heimdall, Forseti und Wodan, der jetzt Göttervater ist. Wir dachten, wir kämpfen auf der richtigen Seite, aber erst nachdem der Krieg zu Ende war, wussten wir es besser. Der Krieg hielt 93 Jahre an.“
Jeldrik holte kurz tief Luft und gab mir Zeit, seine Worte zu verarbeiten. Gehorsam schluckte ich meine Frage, wer die anderen Götter denn waren, hinunter.
„Bevor du jetzt denkst, dass das verdammt lang ist, dann irrst du dich. Im Vergleich zu der Ewigkeit vergehen 93 Jahre ziemlich schnell.“
Über einen anderen Punkt hatte ich mehr nachgedacht, aber okay. „Wie dem auch sei: den Krieg führten wir gegen den, der jetzt Phelims und eigentlich auch mein Gebieter ist. Vé.“
„Eigentlich?“, schob ich jetzt doch eine Frage dazwischen. Er konnte nicht von mir erwarten, auf sowas nicht zu reagieren. Für welches Team spielte er denn nun? Er redete davon, auf der falschen Seite gespielt zu haben, aber allem Anschein nach war er den Exyus auch nicht wirklich gesinnt.
Jeldrik stöhnte und blickte mir tadelnd in die Augen. „Du bist unbezähmbar, weißt du das? Glaubst du denn, dass ich seine Befehle jetzt noch befolgen kann, nachdem ich weiß, dass einer davon lautet, dich ihm auszuliefern? In tausend kalten Wintern nicht!“
Nachdenklich bis ich mir auf die Lippe. „Wie geht es jetzt weiter?“
Ich hörte wie Jeldrik stöhnte. Als er sich ungelenk unter mir bewegte, verstand ich, dass er sich aufsetzen wollte. Bevor ich mich folgsam von ihm rollte, schnappte ich mir wieder das Hemd und umhüllte mich so gut es ging damit. Jeldrik schlüpfte in seine Jeans, als er mit betrübter Stimmte antwortete: „Erstmal mit Abwarten. Sie denken wahrscheinlich, dass sie uns umgebracht haben und gehen vor Wodan in Deckung. Es wird aber nicht lange dauern, bis sie uns wieder suchen werden und dann…“
Er machte eine Pause und sah mich an. „Was dann passiert, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht.“
„Geht das denn? Ich meine, du bist doch schon… tot?“, warf ich ein. Das Ganze war einfach in so vielen Aspekten widersprüchlich und… schlicht und ergreifend unlogisch.
Jeldrik setzte sich auf die verwetzte Couch und deutete mir, mich neben ihn zu setzen. Das Hemd fest um mich gezogen ließ ich mich gehorsam neben ihm nieder und kuschelte mich wieder an seine Seite, die er mir einladend frei räumte, indem er seinen Arm auf der Rückenlehne ablegte. 
Sein Kopf auf meinem Scheitel, sagte er: „Genau genommen schon. Ich weiß selbst nicht so recht, wie das funktionieren soll. Keiner von uns ist jemals den zweiten Tod gestorben.“ Er schwieg einen Moment, in dem er vermutlich über seine nächsten Worte nachdachte. „Ich hab dir doch mal erzählt, dass das unsereins verboten ist. Dass wir dann mit dem Selben bestraft werden. Im Krieg war das eben so, dass wir uns gegenseitig der Kräfte beraubt haben und nicht getötet. Dass heißt, dass wir abgesehen von diesem grässlichen Energiedurst keinerlei magische Kräfte mehr besitzen. Und da wir zu dem Zeitpunkt meist im Götterpalast sind, gibt es da keine Menschen mit Energie. Da wird der Götterpalast dann quasi zur Hölle für uns. Irgendwann vegetieren wir dann nur noch ausgeschöpft und durstig vor uns hin, sagen kaum ein Wort und sehen einen nur selten an. Aber daran sterben tun wir nicht. Ich hab also keine Ahnung wie das gehen soll. Was einen erwartet, wenn wir als Zyona sterben… darüber habe ich nie nachgedacht.“
„Und was hat das Ganze mit Wodan zutun? Ihr habt euch doch sonst nie verstecken müssen oder so.“, fragte ich, kaum dass er den Mund geschlossen hatte. Wann er meine Fragen wohl Leid wurde? Seine Geduld war echt bewundernswert.
„Im Grunde, kann er uns auch nicht so leicht finden. Ich könnte es dir als Art innerliches GPS-Gerät erklären, das aber nur Meldung gibt, wenn es den Geist aufgibt. Das heißt, er findet unsere ausgedörrten Körper, die es zu beseitigen gilt, bevor ein Mensch darauf aufmerksam wird und erkennt, dass wir eigentlich schon Jahrhunderte tot sind. Das wäre eine Katastrophe.“
Wenigstens eine Sache, die Sinn ergab.

 „Wie geht es eigentlich deinem Arm?“, fragte Jeldrik irgendwann und strich mir das Hemd von der linken Schulter.
„Wie soll es ihm – aua…!“
Es kam mir vor, als würde Jeldrik mit aller Kraft meinen Arm umgreifen, dabei stupste er nur leicht mit seinem Zeigefinger dagegen. Sofort nahm er seine Hände zurück. Viel zu weit für meinen Geschmack, denn er verschränkte sogar die Arme, aber anscheinend war er erschrocken. Das war ich aber auch. Ich meine, Schmerz war das letze Gefühl, was ich die vergangen drei Stunden zu spüren bekam. Irgendwie war der wohl untergegangen im Vergleich zur Jeldriks… Fürsorge. Jedenfalls hatte ich meine Wunden total vergessen. Als wären sie Kratzer oder so. War das denn möglich?
„Ich glaube, du verträgst noch eine Portion Morphium“, verkündete Jeldrik und verließ den Raum, bevor ich etwas erwidern konnte. Das beantwortete zumindest meine Frage: Ja, mit Morphium war das durchaus möglich.

 

***

Nachdem Jeldrik mich mit einer weiteren Ration Morphium versorgt hatte, ließ er sich leider nicht ausreden, mich sofort zu einem Arzt, vorzugsweise meinem Vater zu fahren. Mit den Worten, dass seine jahrhundertlange Erfahrungen ihn auch nicht zu einem Arzt mache, gab er mir frische Kleidung – was zur Hölle waren denn nun mit meinen Alten passiert? – , in die er mir sogar half. Offensichtlich weil er der Meinung war, dass es nicht schnell genug ging. Keine Ahnung, was ihn auf einmal zur Eile antrieb, aber ich fragte auch nicht danach. Um ehrlich zu sein, weil ich Angst hatte, die Antwort würde mir nicht gefallen. Es schien, als würde er mich plötzlich los werden wollen und diese Vermutung legte ich in Form meines Schmollens wenig später auch offen kund.
Ich sagte kein Wort, als Jeldrik mich vor dem alten Firmengebäude stehen ließ und um dessen Ecke bog. Ich hörte, wie er vermutlich eine Tür knarzend aufzog und kurz darauf ein Motor ertönte. Schnurrend erschien da die elegante Schnauze eines dunkelgrau glänzenden Wagens – ein Mustang. Unverkennbar.
Es ging nicht anders. Mir klappte die Kinnlade runter, als Jeldrik darin vorfuhr und sich ohne mich anzusehen über den Beifahrersitz beugte, um mir die Tür aufzuschwingen.
„Was ist?“, fragte er schließlich und sah mich dann doch an, als ich nicht sofort einstieg.
„Du… du fährst einen Mustang?“, es war mehr eine Feststellung als wie geplant eine Frage. Jeldrik zuckte die Schultern und klopfte dann auf den Beifahrersitz.
Ehrfürchtig kam ich näher, ließ mich darauf nieder und keine Sekunde später brachte er den Wagen ins Rollen.„Eins kapier ich nicht“, ließ ich verlauten, während wir den Schotterweg Richtung Chestertown nahmen. Jeldrik warf mir bloß einen raschen Blick zu. „Du lebst wortwörtlich in einer Bruchbude und fährst so ein Auto?“
„Ist so eine Schwäche von uns“, erklärte Jeldrik grinsend. „Fahrbare Untersätze, die wir uns eigentlich gar nicht leisten können. Oder was heißt eigentlich: Offiziell können wir sie uns auch nicht leisten.“
Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen und fragte in vorwurfsvollem Ton: „Was meinst du mit offiziell? Habt ihr den etwa geklaut?“
Bei dem letzten Wort ging meine Stimmlage etwas in die Höhe.
„Quatsch, nicht doch“, besänftigte er mich. „Er ist nur nicht angemeldet. Steuerhinterziehung also.“
Okay, besagte Besänftigung hielt nur für den Bruchteil einer Sekunde an. „Oh mein Gott. Mein Freund ist ein Betrüger. Ein Staatsbetrüger!“ Ich fasste mir an die Stirn. „Ich glaub’s nicht.“
„Übertreib nicht“, erwiderte Jeldrik und klang dabei fasst ein bisschen beleidigt. „Es gibt Schlimmeres, oder? Wir haben grad andere Probleme. Außerdem fahre ich deswegen ja auch so gut wie nie mit Sera.“
„Sera“, wiederholte ich ungläubig und schüttelte den Kopf. Er gab seinem Auto auch noch Namen. „Und wie heißt deine Suzuki?“
Eigentlich war das eine rhetorische Frage, quasi als Spott gemeint, aber er gab mir auch noch darauf eine Antwort: „Suki.“
Entnervt ließ ich meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe sinken und lauschte Jeldriks genügsamem Kichern. Er war einfach in jeder Hinsicht unglaublich.

 

***

Wir hatten Glück. Oder besser gesagt, Jeldrik hatte Glück. Meinem Empfinden entsprach etwas ganz Anderem. Der schwarze Wagen meines Vaters parkte vor dem Garagentor und hatte irgendwie eine drohende Wirkung auf mich. Was wahrscheinlich daran lag, dass ich wusste, es würde von dessen Besitzer Ärger geben. Ich war nie ohne Bescheid zu geben je nachts weggeblieben. Nie. Oh Mann, mir wurde erst bewusst, wie sauer Dad auf mich sein würde, als wir 200 Meter vor meinem Haus parkten. Diese Entfernung war übrigens nötig, weil Jeldrik den Mustang nicht vor meinem Vater Preis geben wollte. Das würde nur unnötig Fragen aufwerfen, meinte er.
Jeldrik legte mir beschützend die Hand auf den Rücken, als er mir ins Hausinnere folgte. Ich streifte mir die Slipper von den Füßen und zupfte nervös an dem kratzigen Pullover herum, den Jeldrik mir gegeben hatte. Erst dann traute ich mich in den Korridor zu rufen: „Dad? Bin wieder da.“
Als Antwort hörte ich nur das Rascheln von Papier. Ich wechselte einen kurzen Blick mit Jeldrik, dann gingen wir in die Küche.
Dort fanden wir schließlich auch meinen Dad vor. Er thronte auf dem ächzenden Holzstuhl hinter dem Esstisch wie ein verärgerter Scheich. Die Finger verschränkt auf seiner Zeitung blickte er uns mit ernster Miene entgegen.
„Hallo Sir. Wenn ich mich vorstellen darf: Ich bin Jeldrik Wadim“, verkündete Jeldrik unbeeindruckt und war auch schon um mich und den Tisch herum gelaufen, um meinem Vater höflich die Hand entgegen zu strecken. Mein Vater blickte überrumpelt und gleichermaßen missmutig zwischen seiner Hand und ihm hin und her.
„Hallo“, antwortete er trocken. „Und ich nehme an, Sie sind der Grund für das Verschwinden meiner Tochter.“
An der Art wie mein Vater Jeldrik Hand ergriff, erkannte ich schon, dass er sie fester als nötig drückte, aber wenn dem so war, ließ Jeldrik es sich nicht anmerken. „Vermutlich schon, Sir. Das tut mir leid.“
„Siehst aber nicht so aus.“, murrte mein Vater und erntete dadurch einen tadelnden Blick meinerseits.
„Ich hätte anrufen sollen, tut mir Leid. Aber…“, hilfesuchenden wanderten meine Augen zu Jeldrik. Kaum, dass er meinen Blick aufgeschnappt hatte, vollendete er meinen Satz: „Aber man hat nur schlechten Empfang außerhalb der Stadt.“
Das Jeldrik tatsächlich mit der Wahrheit rausrücken würde, hätte ich allerdings nicht gedacht. Außerhalb der Stadt! Meinem Vater war die Verblüffung oder vielleicht sogar Entrüstung, das konnte ich nicht so genau sagen, deutlich anzusehen.
„Was soll das heißen? Außerhalb der Stadt?“, wollte mein Vater sofort wissen. Mit halben Oberkörper wandte er sich Jeldrik zu und bohrten seinen Blick förmlich in den seinen. Aber dass Jeldrik sich einschüchtern ließ – keine Chance. „Wir haben ein kleines Anwesen am Stadtrand. In einer kleinen Waldlichtung.“
Erstaunlich wie nett und außerdem wahrheitsgemäß er das brüchige „Anwesen“ umschreiben konnte. Wüsste ich es nicht besser, würde ich mir ein schnuckliges Holzhäuschen vorstellen oder sowas in der Art. Irgendwas sagte mir, dass es meinem Vater ebenso ging.
„Aber, Sir…“, fuhr Jeldrik fort, noch ehe Dad weiter darauf eingehen konnte. „Ihrer Tochter ist da ein kleines Missgeschick unterlaufen.“
Mein Vater musterte mich, als ich um den Tisch herum ging und mich in Jeldriks wartende Armbeuge lehnte. Bereitwillig krempelte ich den viel zu weiten Ärmel meines Pullovers hoch. Einen letzten prüfenden Blick in das Gesicht meines Vaters und ich gab meine Wunde Preis. Dad Gesichtszüge verwandelten sich binnen Sekunden in die eines Arztes. Mit gerunzelter Stirn umgriff er meinen Arm und drehte ihn so, dass ich gezwungen war mich gleichzeitig wieder von Jeldrik weg zu drehen. 
„Ein kleines Missgeschick. Wie hast du denn das geschafft, Eveline?“, fragte mich mein Vater wenig später, als er sorgfältig jeden Zentimeter meiner Wunde mit einer übel riechenden Creme bedeckte. Jeldrik lümmelte zwischenzeitlich auf dem Sessel im Wohnzimmer und tat als würde er die Nachrichten verfolgen.
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Das Blut rauschte mir in den Ohren, als ich verzweifelt eine Lüge aus meinem Gedächtnis kramte: „Ich… also sie haben da so einen Kachelofen aus… Metall. Hab mich dagegen gelehnt und nicht gleich bemerkt wie heiß das ist.“
Wie alle meinen Lügen war diese einfach schlecht, aber diese war sogar für meine Verhältnisse absolut unglaubwürdig. Die Stirn meines Vater verengte sich noch mehr, als er sagte: „Du hast es nicht gemerkt? Wie kann man denn…?“ Plötzlich hielt er in der Bewegung inne, warf erst Jeldrik, dann mir einen empörten Blick zu und flüsterte: „Habt ihr etwa… was genommen?“
Zuerst kapierte ich nicht gleich, was er damit meinte, doch dann schüttelte ich hastig den Kopf. „Nein, nein, quatsch. Morphium, also…“, meine Worte überschlugen sich fast, als die Augen meines Vaters noch größer wurden. „Nein, also danach, nachdem ich mich verbrannt hab, nicht davor.“
Der Blick meines Vaters wurde einfach nicht mehr weicher. Ich wusste, er glaubte mir nicht ein einziges Wort, obwohl er ja die Wahrheit war! Also Letzteres zumindest.
„Wir haben nichts genommen, Dad. Wirklich nicht!“, beteuerte ich nochmal und legte so viel Kleinmädchenunschuld in meinen Augen, bis er schließlich wieder seine Eigenen auf meine Wunde richtete.
„Deine Mutter hatte denselben Blick drauf.“, murmelte er dann kleinlaut und lächelte halbherzig.
„Ich hab heute von ihr geträumt.“
Ich musste jetzt einfach darüber sprechen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jeldrik leicht den Kopf in unsere Richtung neigte. Eigentlich hatte ich gewusst, dass er die ganze Zeit mehr unserem Gespräch lauschte als den Nachrichten.
Mein Vater sah kurz von seiner Arbeit auf – eine stumme Aufforderung weiter zu reden.
„Aber es war komisch“, gestand ich. „Sie war komisch. So fremd, aber irgendwie eben… Mum.“ Gedankenverloren strich ich mit meiner freien Hand die Einkerbungen auf dem Holztisch nach. „Ich hab sie nicht sehen können. Aber hören und spüren. Aber mir blieb keine Zeit mich wirklich mit ihr zu unterhalten. Es fühlte sich so echt an als wär das nicht einfach nur ein Traum.“
„Mhm“, machte mein Vater nur und griff nach dem breiten Verband, der auf dem Tisch bereitlag. Ich beobachtete wie er die Rolle ein Stückweit aufzog und um meinen Arm wickelte. „Das gibt es. Also das Tote in unseren Träumen mit uns weiter kommunizieren können. Aber nur, wenn sie es wollen. Was hat sie gesagt?“
Ich schluckte trocken und überlegte fieberhaft, was ich darauf antworten sollte. Ach, dieses und jenes. Was nach dem Tod passiert und dass Jeldrik als Zyona vielleicht nicht der Richtige für mich wäre. Sowas eben. War ja schlecht das, was ich tatsächlich antworten konnte. Wobei er was Letzteres anging vielleicht sogar einer Meinung mit ihr war. Aber für Väter war ja kein Mann der Welt der Richtige für seine Tochter.
„Heilt es wieder?“, unterbrach in diesem Moment Jeldrik unser Gespräch und positionierte sich hinter mir. Er musste gespürt haben, dass ich auf diese Frage nicht antworten wollte. Dankend berührte ich seine Fingerspitzen, als ich spürte wie er seine Hand auf meine Schulter legte.
Mein Vater nickte stumm, dann verknotete er das Ende des Verbandes und zog meinen Ärmel nach unten. „Wird es, aber das kann dauern. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du sie schon mit Morphium versorgt hast…“
Nun sah mein Vater ihm doch wieder in die Augen. Vielsagend und tadelnd. Jeldrik verstärkte leicht den Griff um meine Schulter.
„Du weißt schon, dass der Besitz ohne ärztlichen Beleg gesetzwidrig ist?“, mahnte er und presste die Lippen aufeinander.
Und ich Schaf hatte doch zu viel gesagt. Hi Dad, das ist mein Freund, der ein Steuerhinterzieher ist und außerdem sowas wie Drogen zuhause hat. Ach und ehe ich es vergesse, ein Engel, der für das Regime der Finsternis arbeitet, ist er auch noch. Na, Mahlzeit. 

Kapitel 18 - Das mit einem Hauch von Normalität

„Er mag mich.“
Jeldrik behauptete das so trocken, dass ich für eine Millisekunde sogar glaubte, er meine das ernst. Doch das schelmische Grinsen, das auf seinen Lippen lag, ließ diese Annahme wieder verpuffen. Ich verzog das Gesicht zu einer belustigten Grimasse und schüttelte den Kopf. Jeldrik kicherte sich noch eine Weile über seinen eigenen Humor ins Fäustchen bis wir bei seinem Wagen angelangt waren.
In seinen Mundwinkeln zuckte es immer noch, als er die Beifahrertür ansteuerte und sogar auf dieser Seite einstieg. Ich zog eine Augenbraue in die Höhe und verschränkte die Arme.
„Was soll das denn werden?“, wollte ich wissen. Mit musternder Miene wartete ich seine Antwort ab. Doch Jeldrik grinste nur und deutete mir mit einem Klopfen auf das Lenkrad, hinter diesem Platz zu nehmen. Ich schüttelte energisch den Kopf.
„Ich?! Pah! Abgesehen davon, dass ich gar nicht mitkomme, werde ich mich bestimmt nicht hinter das Steuer einer Maserati setzen.“
„Eines Maseratis“, verbesserte er mich. Sein Lächeln schien jetzt beinah seine Wangen zu sprengen. Ich warf die Arme in die Luft.
„Nein, einer. Dein Auto heißt Sera. Ein weiblicher Name. Also!“, verteidigte ich mich, während ich gleichzeitig dabei zusehen musste, wie Jeldriks Brustkorb mal wieder zu beben begann. „Mein Gott, ist doch auch egal! Jedenfalls fahre ich sowieso nicht mit.“
Mir war sehr wohl bewusst, dass es diesen Namen auch in der männlichen Ausführung geben konnte und Jeldrik das sicher auch wusste, doch er behielt es für sich. Ich verschränkte wieder die Arme vor der Brust. Nebenbei erwähnt: ich hatte echt Mühe, nicht auch noch trotzig zu schmollen. Aber den verärgerten Blick in Jeldriks Richtung konnte ich mir keinesfalls verkneifen. Deswegen stieg Jeldrik auch widerwillig wieder aus dem Wagen. Bei mir angekommen, hauchte er mir versöhnlich einen Kuss auf die Stirn und fragte: „Wieso kommst du nicht mit? Ich meine,… du musst.“
Ich trat einen Schritt zurück, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können. „Ich muss zuhause bleiben. Wenn ich jetzt wieder verschwinde, handle ich mir allenfalls Hausarrest ein und deinem Ruf bei meinem Vater tut´s übrigens auch nicht gut.“
Jeldrik presste die Lippen aufeinander und warf einen Blick in den wolkenlosen Himmel. Eine leichte Brise wehte uns um die Köpfe und spielte mit unserem Haar, während sie gleichzeitig den Duft der Fliederbäume zu uns trug. Langsam sank Jeldriks nachdenklicher Blick wieder auf mich, ehe er antwortete: „Ich weiß nicht, ob ich es riskieren kann, dich allein zu lassen. Vor allem an so einen offensichtlichen Ort, ich meine… da kommen sie ja gleich drauf.“
„Oh. Ach so.“
Mehr fiel mir dazu beim besten Willen nicht ein. Mir war nicht einmal klar, wie ich dieses… verstrickte Problem – oder wie auch immer man es nennen wollte – hatte vergessen können. Seit wir bei mir zuhause waren, hatte ich die noch immer bestehende Gefahr komplett ausgeblendet. Ließ mich von dem beschützerischen Vatertheater ablenken.
Es war noch nicht vorbei. Das durfte ich nicht vergessen. Aber ich hatte nicht vor dazusitzen und abzuwarten, was als Nächstes geschehen würde. Wir mussten handeln. Um meiner Mutter Willen. Und angeblich auch um der Welt Willen.
Jeldrik seufzte und schien den Kummer von meinem Gesicht abgelesen zu haben, denn er strich mir sanft über die Wange. „Tut mir leid, dass ich dich gefunden habe“, sagte er leise.
Verständnislos sah ich zu ihm auf. Was redete er da?
„Wie bitte?“
„Nicht jetzt“, er schloss kurz die Augen und schluckte. „Du weißt so vieles nicht.“
Ich umgriff sein Handgelenk und drückte seinen Arm zurück an seine Seite. Wut loderte in mir auf. „Dann erklär es mir! Wie hast du dir das denn vorgestellt? Wie sollen wir das alles schaffen, wenn du mich so total im Schwarzen stehen lässt?“
In Jeldriks Augen zeichnete sich seine Überraschung klar ab. Für einen kleinen Moment schien er sogar sprachlos gewesen zu sein, so wie er nach meinen Fragen die Sekunden verstreichen ließ.
Dann seufzte er. „Ich weiß es nicht. Keine Ahnung…“
„Die Antwort hatte ich erwartet“, sagte ich. Mein Ton war wieder sanfter geworden. Das war kein Vorwurf. Eigentlich hatte ich ihn zuvor auch nicht so anfahren wollen.
„Es tut mir Leid, Eve. Wirklich.“
Jetzt war es an mir, ihm über die Wange zu streichen. Ich versuchte zu lächeln. Wie konnte ich auch erwarten, dass er mir all meine Fragen beantwortete, wenn er doch eigentlich genauso ratlos war wie ich? Selbst wenn er mich über alles aufklären würde, würde ich wahrscheinlich trotzdem keinen roten Faden finden. Sonst hätte er ihn bestimmt längst gefunden.
„Ich weiß nicht, wie lange es dauert bis sie merken, dass ich noch lebe und sie nichts zu befürchten haben. Ab da werden sie nicht lange fackeln. Alles was wir tun können, ist aufmerksam zu bleiben und abzuwarten.“
Bei dem Wort abwarten drehte sich mir der Magen um. „Abwarten? Worauf denn? Bis sie uns finden und nochmal versuchen mich, mir… den Messias an sich zu reißen?“
„Das werden sie nicht schaffen“, erwiderte Jeldrik, kaum dass ich meinen Satz beendet hatte. Jedes seiner Worte troff vor Überzeugung. Aber ich konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, woher er sie nahm. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“, fragte ich deshalb skeptisch.
Jeldrik antwortete mir nicht sofort. Stattdessen legte er seine Arme um mich, küsste meinen Scheitel und sagte: „Weil ich dich habe. Das hört sich für dich jetzt vielleicht furchtbar geschwollen an, aber mit dir fühle ich mich stark, Lunastaja… So stark, dass mir das Schicksal keine Angst einjagt. Irgendwas sagt mir, dass wir eine Lösung finden.“
Sanft hielt er meinen Kopf an seine Brust und ließ mich den Schlag seines Herzens hören, während er sprach. Ich konnte nicht anders, als stumm da zu stehen. Auch wenn sich mir bei dem Wort Lunastaja die Nackenhärchen aufstellten.
Jeldrik schob mich wieder ein Stück von sich. Allerdings nur so weit, um den Finger unter mein Kinn legen zu können, damit ich ihn ansah. Sein Blick lag warm auf mir, aber auch so fest, dass ich unmöglich meinen eigenen hätte abwenden können. „Erst seit ich dich liebe, weiß ich, dass ich immer noch lebe.“
Jetzt war es nicht mehr Jeldriks Herz, das ich klopfen hörte, sondern mein eigenes. Jeldrik nahm mein Gesicht in seine Hände und legte seine Lippen auf meine. Es war kein drängender Kuss, eher eine sanfte Berührung, doch sie reichte für diesen Augenblick aus, um ihn perfekt zu machen. Ich schloss die Augen und gab mich meinen Gefühlen hin. Ich liebte ihn. Dieses Mal konnte ich seine Worte nachvollziehen. Mir ging es genauso. Er hatte Gefühle in mir entfacht, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass es sie gab. Gefühle, die meinen Körper auf ihre ganz eigene Art neu belebt hatten.
Nach einer Weile, die mir viel zu kurz erschien, ließ er wieder von meinen Lippen ab.
„Dass deine Lippen sich noch genauso anfühlen, bis ich wieder zurück bin“, flüsterte er, ließ mein Gesicht los und wandte sich seinem Wagen zu. Ehe er einstieg, sah er mir noch einmal ins Gesicht und sagte: „Ich bin immer noch der Meinung, dass du besser mitkommen solltest.“
Aber ich schüttelte den Kopf. „Ich komm schon klar.“
Jeldrik presste die Lippen zusammen, nickte missmutig und stieg schließlich in seinen Maserati.
Bei aller Romantik - es war mehr als offensichtlich, dass er nicht überzeugt war. Doch wie konnte ich es ihm verübeln? Ich selbst war mir da ja auch nicht hundertprozentig sicher.

 Wir konnten nur hoffen, dass sie noch immer im Glauben waren, sie hätten uns getötet.

***

In einem Punkt hatte er sie angelogen.
Natürlich stimmte es, dass er sich mit ihr so…  unantastbar fühlte, wie er erklärt hatte. Doch ob das auch der Wirklichkeit entsprach, wusste er nicht. Er hatte nie daran geglaubt, dass wahre Liebe stärker war als sonst irgendeine Macht auf Erden. Wie oft wurde ihm in seinen Jahrhunderten auch schon das Gegenteil bewiesen?
Selbst die Lunastaja befreite ihn nicht von der Überzeugung, dass das Schicksal sich nicht für Gefühle interessierte. Vor allem nicht für seine.
Und zum Schicksal gehörte auch das Karma – sein Karma würde versuchen all seine Untaten auszugleichen. Und von denen gab es einfach zu viele, als dass er in naher Zukunft etwas Glück erwarten konnte.
Er wusste, dass noch ein großer Sturm bevor stehen würde. Da war er sich so sicher wie die Sonne im Westen unterging. Und genauso sicher war er sich auch, dass Eve in diesem Moment in dieselbe Himmelsrichtung blickte.
Er seufzte, als er einen Blick in den Rückspiegel warf und sein Mädchen mit verschränkten Armen am Straßenrand stehen sah.
Sie hatte all das nicht verdient.
Vor allen Dingen hatte er sie nicht verdient. Kein Mädchen; keine Frau dieser Welt hatte das Unglück verdient, dass er im Grunde über sie gebracht hatte. Er war es selbst gewesen, der sich den Auftrag auferlegt hatte, die Frau, die er liebte, zu töten. Er war es, der seinen Bruder dazu ermutigt hatte, einzusteigen. Er war es, der sie letztendlich gefunden hatte. Er war es, der sie letztendlich Phelim und Riley ausgeliefert hatte.
Dabei spielte es keine Rolle, ob dies alles nun absichtlich geschehen war oder nicht.
Es stand außer Frage, dass er für all das verantwortlich war. Jede Sekunde nagte sein Gewissen an ihm – zerfraß ihn – und gleichermaßen auch der Schmerz, der seinen Ursprung in seinem Herzen hatte.
Wie sollte er das Blatt nur wenden?
Wie sollte er das Unvermeidbare verhindern?
Wie sollte er nur gegen seinen Bruder kämpfen?
Wie sollte er nur die Kraft aufbringen für seine Liebe alles zu riskieren?
Wie sollte er seine Liebste nur beschützen?
Wie?

Konnte er das alles denn überhaupt?

***

 

  „Jetzt komm schon, Lin. So krank kannst du gar nicht sein.“
Ich verdrehte die Augen und spielte mit dem Gedanken, den Hörer einfach wegzulegen und Kylie betteln zu lassen bis sie schwarz wurde. Doch ihre Argumente waren plausibel.
Kaum, dass ich mich von Jeldrik verabschiedet hatte und zurück ins Haus ging, meldete sich der Alltag in Form von dem klingelnden Telefon zurück. Kylie wollte unbedingt mal wieder in unser Stammcafé und zwar nur mit mir allein. Sie fand, dass unsere Freundschaft wegen unserer Beziehungen in letzter Zeit zu kurz käme. Tja. Sie hatte ja keine Ahnung, wie sehr ihr diese Tatsache eigentlich zugutekam. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn Kylie sich so oft wie üblich in den vergangen Wochen um mich herum bewegt hätte. Ich würde mir nie verzeihen, Kylie oder Tyler in Phelims und Riley Hände gespielt zu haben. Deswegen sträubte ich mich jetzt erstrecht dagegen, Kylie in meine Gefahrenzone zu bringen. Doch ohne ihr ganz unverblümt zu sagen, dass sie an meiner Seite vielleicht sterben könnte, hatte ich keine Chance sie abzuwimmeln. Und das ging nun wirklich nicht. Außerdem war ich eigentlich viel zu müde, um aus dem Haus zu gehen. Ich meine, hey, immerhin war ich vergangene Nacht von einem Hochhaus gefallen…
„Sieh mal: Du hast grad einen freundfreien Raum und ich auch. Wer weiß, wann sich das nächste Mal die Gelegenheit dazu ergibt? Dass wir mal wieder allein quatschen können, meine ich. Oder kannst du dich erinnern, wann wir zuletzt so richtig gequatscht haben?“
Kylies Überzeugungskunst wurden allmählich immer besser, aber auch ziemlich ausschweifend. Bald würde sie damit anfangen, wie es erst wäre, wenn wir erstmal die neugierigen Lauscherchen unserer Kinder um uns haben würden.
„Wir müssen das doch ausnutzen, solange wir können!“, sagte Kylie so auffordernd, dass ich mir sicher war, dass sich in ihrem Kopf gerade genau dieser Gedanke bildete.
Lächelnd stellte ich mir vor, wie Kylie sich und mich in ihrer Küche sitzen sah; um uns herum lauter Tylie‘s und Jeveline’s.
Ich seufzte. „Ich hab aber wirklich nicht lange Zeit“, sagte ich und ärgerte mich im nächsten Augenblick darüber, dass das irgendwie nach Nachgeben geklungen hatte. Natürlich war Kylie das auch aufgefallen…
Ehe ich noch etwas hinzufügen konnte, jubelte sie: „Na also, geht doch! Ich hol dich in 10 Minuten ab!“
Und sie hatte den Hörer in seine Halterung geknallt. Für einen Augenblick starrte ich noch auf mein eigenes Telefon, als wäre es daran schuld, was aus meinem Mund kam.
Mann, wie war das denn jetzt passiert? Oder naja, was wunderte ich mich überhaupt. Kylie nahm schon immer lieber die ganze Hand als nur den kleinen Finger. Das war sowohl in ihren Beziehungen so als auch in sonst allem Anderen. Und doch war ich Gans immer wieder so leichtsinnig und gab ihr die Gelegenheit dazu. Wäre ich nicht zu feige, hätte ich mich jetzt selbst geohrfeigt. Oder Kylie einfach nicht die Tür aufgemacht. Doch wahrscheinlich wäre das ohnehin sinnlos, denn so wie ich Kylie kannte, scheute sie sich nicht davor, sich über die Sicherheitsanlage selbst Eintritt zu verschaffen. Blöderweise hatte ich ihr einmal den Code verraten.
Schnaubend pfefferte ich das Telefon auf mein Bett. Mir blieb also  nichts anders übrig als mich für ein Kaffeekränzchen fertig zu machen.

Dafür, dass Kylie eigentlich die Unzuverlässigkeit in Person war, erschien sich ausgerechnet heute natürlich überpünktlich. Ich glaube nicht mal, dass sie mir überhaupt 10 Minuten Zeit gelassen hatte. Ob sie wohl befürchtet hatte, dass ich mich einfach aus dem Staub machen könnte? Mist, wieso war mir das nicht schon früher eingefallen?
Versteht mich nicht falsch, es war ja nicht so, dass ich keine Lust dazu hatte mit Kylie abzuhängen. Im Gegenteil! Ich sehnte mich im Moment nach nichts mehr als nach ein wenig Normalität. Aber höchstwahrscheinlich konnte ich mir das im Moment einfach nicht leisten.
Doch offensichtlich war ich egoistisch genug, um eine halbe Stunde später mit Kylie in unserem Stammcafé zu sitzen. Allerdings hielt mich mein Egoismus nicht davon ab, unruhig auf meinem Stuhl herumzurutschen und pausenlos durch den Raum und auf den Teil der Straße, den ich durch die Panoramafenster sehen konnte, zu spähen.
„Tut mir übrigens echt leid, dass ich dich letztens so angezickt hab´“, sagte Kylie, nachdem sie sich einen Löffel voll Milchschaum in den Mund geschoben hatte. Ich ließ von meinem paranoiaähnlichen Verhalten ab und widmete meine Aufmerksamkeit ausnahmsweise Kylie. Wann hatte sie mich denn angezickt?
Kylie schien das Fragezeichen auf meiner Stirn zu bemerken, denn sie senkte verblüfft den Kopf und erläuterte: „Letztens: vor Mathe.“
Ich brauchte noch einen Moment, um mich in mein noch – einigermaßen –normales Leben zurückzuversetzen, ehe der Groschen fiel.
„Ach, das“, ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Schon längst vergessen. Hat sich’s den zwischen euch wieder eingerenkt?“
Kylie begann seufzend in ihren Latte Macchiato herumzurühren. „Ich hab mich wieder eingerenkt.“
Ich ignorierte die Tatsache, dass Kylies Satz nicht gerade der grammatikalisch Sinnvollste war und machte ein besorgtes Gesicht, während ich darauf wartete, dass sie weiterredete.
„Du hattest ja irgendwie Recht. Es war echt blöd von mir, sauer auf ihn zu sein, weil er so gut zu mir ist. Aber…“, sie zuckte die Schultern. „Ich bin es einfach nicht gewöhnt, dass man sich so um eine Beziehung bemüht.“
„Okay… das klang jetzt wieder dämlich“, sagte ich geradewegs. Meine rechte Augenbraue zuckte dabei eine Etage höher.
„Ja, ja… Aber du weißt doch auch, wie meine Beziehungen bisher so waren“, sie lachte höhnisch auf. „Oder auch nicht waren, wenn ich da an Phelim denke.“
Bei dem Namen zuckte ich unwillkürlich zusammen. Gottlob, dass zwischen den Beiden nie mehr war. Er hätte sie sicherlich nur benutzt um,… Oh, verdammt.
„Kylie. Wie weit bist du eigentlich an Phelim ran gekommen?“, fragte ich. Meine Stimme klang dabei irgendwie ängstlich, was ich leider nicht verstecken konnte.
Aber das schien Kylie gar nicht weiter aufzufallen. Nun sah sie mich wieder an und stellte natürlich erst die altbewährte Gegenfrage: „Warum?“
Ach, ich hab mich grad nur gefragt, ob er dir ein paar Tage deines Lebens geklaut hat. Nicht weiter wichtig…  
„Na ja. Du hast mir nie erzählt, wie du von Phelim plötzlich auf Tyler gekommen bist“, waren dann aber doch die passenderen Worte.
„Oh mein Gott, stimmt!“, rief Kylie halblaut und schob ihr Glas weg. Dabei schwappte ein wenig ihres Latte Macchiatos über. „Siehst du! Ich hab doch gesagt: Vor lauter Beziehung, kommt unsere Freundschaft einfach zu kurz. Dass ich dir so wichtige Details noch nicht erzählt hab…“
Da war sie wieder. Die extrovertierte Kylie, wie sie plapperfreudiger gar nicht sein konnte. Ich hörte ihr schon nur noch mit halbem Ohr zu, da sie natürlich erst wieder um den heißen Brei herum reden musste, bevor sie zur Sache kam. Dabei verpasste ich fast, an der richtigen Stelle wieder einzusteigen.
„…nachdem mich also Phelim mitten in der Pampa einfach hat stehen lassen, kam plötzlich Tyler angefahren. Er ist sofort ausgestiegen und dachte schon Phelim hätte mir was getan, weil ich so benommen war… Vielleicht hatte ich auch wirklich zu viel getrunken und so kam eins zum…“
Mehr brauchte ich gar nicht zu hören. In meinem Inneren machte es ein Geräusch als hätte jemand meine liebste Porzellanpuppe fallen gelassen.
Dann war das also tatsächlich kein Traum gewesen? Ich dürfte eigentlich nicht so überrascht sein; meine Mutter hatte mir doch erzählt, dass Kylie auch schon bei ihr war. Nur konnte sich Kylie im Gegensatz zu mir wohl nicht daran erinnern. Jetzt stand endgültig fest, dass ich die Sache mit meiner Mum nicht meiner angeschlagenen Psyche zuschreiben konnte.
„Kylie“, fiel ich meiner Besten ins Wort. „Hattest du schon öfter solche Begegnungen mit Phelim?“
Kylie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, den Mund zu schließen, als ich ihr dazwischen redete. Doch als ich schließlich den Mund wieder zu machte, tat sie es mir gleich, anstatt mir zu antworten. Sie verschränkte die Arme und zog einen Schmollmund.
„Was?“, fragte ich leicht gereizt. Im Moment hatte ich echt keinen Kopf mehr für so ein Gehabe. Aber gut. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich mich ihrer Sicherheit wegen so verhielt. Und das machte sie mir auch sofort klar.
„Was war der letzte Satz, den ich gesagt hab?“, wollte sie wissen. Ihr Ton klang verärgert. Sie wusste bereits, dass ich darauf keine Antwort wusste. Angestrengt grub ich in meinem Unterbewusstsein nach dem Hintergrundgeräusch meiner Gedanken. Doch Kylie ließ mir zu wenig Zeit, als dass ich fündig werden konnte.
„Du hast mir gar nicht zugehört, oder? Die Phelim-Geschichte ist schon zweimal um die Ecke!“, sie seufzte. „Nein, ich bin eigentlich nur am Chesapeake Bay so wirklich an ihn ran gekommen. Sonst waren es irgendwie immer nur kurze Begegnungen im Schulhof… Oh! Und einmal in der Stadt.“
Ich war mir sicher, diese „kurzen Begegnungen“ waren nicht so kurz gewesen wie in Kylies Erinnerung.
„Was interessiert dich das eigentlich so genau?“, schickte Kylie eine Frage hinterher. „Hat er etwa was über mich gesagt?“
Die zweite Frage gefiel mir gar nicht. Sie klang viel zu hoffnungsvoll für meinen Geschmack. Am liebsten hätte ich ihr mit dem Finger gegen die Stirn geschnipst, aber ich tat es nicht.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht. Jeldrik wollte es wissen. Er fand… er fand den Gedanken an ein Doppel-Date nur nett.“
Innerlich schüttelte ich über mich selbst den Kopf und schnipste MIR gegen die Stirn. Auf so eine Idee würde Jeldrik in hundert Jahren nicht kommen. Ich glaubte, das kam sogar Kylie spanisch vor.
„Aber das können wir doch trotzdem! Tyler hätte bestimmt auch Lust!“, jubelte sie und klatschte in die Hände. Okay, ich korrigiere: Zumindest wenn sie genauer darüber nachgedacht hätte, hätte sie meine Lüge enttarnt.
Ich verzog den Mund zu einem – misslungenen – Lächeln und nahm einen kräftigen Schluck von meinem Karamell-Shake.
Kylie machte schon hundert Vorschläge darüber, wo und wann wir unser Doppel-Date haben könnten, während ich unauffällig mein Handy aus meiner Tasche kramte.

Ich musste unbedingt mit Jeldrik reden.

Kapitel 19 - Das mit den altbekannten Perlen

Anscheinend meinte es das Schicksal einmal gut mit mir.

Kaum hatte ich Jeldrik eine Nachricht geschickt, klingelte auch Kylies Handy. Die einzige Schwierigkeit dabei war also nur, einen enttäuschten Eindruck zu machen, als Kylie bedauerte, gehen zu müssen. Ihre Mutter hatte bald einige Hausbesuche und kam mit dem Aufräumen nicht hinterher oder irgendwie sowas. Diese Information war auch nicht weiter wichtig für mich.

Kylie verdrehte die Augen und presste die Lippen zusammen, während sie aufstand und ihr Handy zurück in ihre Hosentasche schob.

„Tut mir wirklich total Leid, Lin“, sagte sie zum x-ten Mal und zwang mich gleichzeitig dazu, mal wieder meine (nicht vorhandenen) Schauspielkünste zum Besten zu geben.

Ein Blick auf mein Handydisplay verriet mir, dass Jeldrik meine Nachricht inzwischen erhalten hatte. Bereits vor drei Minuten.

Plötzlich landete etwas klimpernd vor mir auf dem Tisch.

„Du bist doch so lieb, oder?“, fragte Kylie und deutete auf den Haufen Münzen. Ehe ich antworten konnte, hauchte sie mir einen Kuss auf die Wange und tänzelte zur Tür.

„Klar“, murmelte ich leicht perplex vor mich hin, obwohl mir bewusst war, dass sie mich nicht mehr hören konnte. Na, die Kellnerin würde sich bedanken.

Ich blieb noch eine Weile sitzen, rührte lustlos in meinem Milchshake und versuchte mein Handy und die Tür zum Cafe gleichzeitig im Auge zu behalten. Gerade entschied ich mich dafür, der Kellnerin das Geld hinzulegen und mich selbstständig auf die Suche nach Jeldrik zu machen, als ich auf der anderen Straßenseite einen mir allzu bekannten rostbraunen Punkt entdeckte.

Jeldrik.

Obwohl es im Moment wirklich wichtigeres gab, kam ich nicht umhin, dass es in meinem Bauch kurz kribbelte und ich mich danach sehnte, die Distanz zwischen uns schnellstmöglich zu überbrücken. Also stand ich ohne weitere Umschweifen auf und eilte zur Tür, während ich beobachtete, wie Jeldrik in einem Geschäft verschwand.

„Hey, Stop!“, rief plötzlich jemand und keine zwei Sekunden später, spürte ich, wie mich jemand am Arm zurückhielt.

„Das sind aber keine fünf Dollar, meine junge Dame.“

Wie ein mächtiger Bär bäumte sich die Kellnerin hinter mir auf, so dass ich mir beinahe vorkam wie in einem Comic. Da hatte ich doch glatt vergessen, meinen eigenen Shake zu bezahlen.

„Oh, ja. Natürlich“, sagte ich schnell, während ich schon in meiner Tasche nach meinem Gelbbeutel suchte. Hastig drückte ich ihr zehn Dollar in die Hand, murmelte etwas von Trinkgeld und stürmte aus dem Café.

Die Autos hupten wie wild, als ich ohne zu gucken über die Straße wirbelte. Wahrscheinlich bremsten einige von ihnen auch erst kurz vor mir, aber das bemerkte ich gar nicht. Mein Blick war nur auf die gläserne Tür gerichtet, hinter der Jeldrik eben verschwunden war. Als ich auf der anderen Seite angekommen war, wäre ich beinahe gegen eben diese Tür gerauscht - eine, die sich automatisch aufschob. Ich hasste solche Türen, die waren irgendwie immer viel zu reaktionslahm.

„Jeldrik!“, rief ich leicht atemlos. Erst mein Umfeld wahrzunehmen, ehe ich hier wie eine Irre rumkreischte, fiel mir leider zu spät ein. Einige Köpfe zwischen lauter funkelndem Zeug drehten sich mir zu und sahen mich an, als wäre ich gerade in eine Zeremonie geplatzt. Ich räusperte mich im selben Moment, in dem es auch der Mann hinter der Theke, auf der es auch reichlich glitzerte, tat.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?“, fragte er höflich und ließ das Armband in seiner Hand in eine Schatulle sinken.

Ehe ich antworten geschweige denn mich entschuldigen konnte, legte sich wie aus dem Nichts ein Arm um meine Taille.

„Ich übernehme das schon“, hörte ich Jeldriks Stimme neben mir. Erleichtert warf ich dem Mann, der jetzt galant nickte, noch einen entschuldigenden Blick zu, ehe ich ihn auf Jeldrik richtete. Ich hatte ihm noch nicht mal richtig in die Augen sehen können, da spürte ich schon seine warmen Lippen auf meinen. Und wie immer, war ich nicht länger Herr meiner Sinne, sondern gab mich dem lodernden Feuer in meinem Inneren hin, das diesmal jedoch viel zu schnell wieder erlosch. Jeldrik entging mein enttäuschter Laut, als er seinen Lippen von meinen löste, natürlich nicht.

„Hey, wir sind in der Öffentlichkeit“, tadelte er mich grinsend. Mann, würde ich es jemals schaffen, weiter zu atmen, wenn ich seinem Blick begegnete?

„Ich vergaß“, murmelte ich verlegen und drückte ihn in einen der Gänge des Juweliergeschäfts. Da fiel mir etwas auf.

„Hey, wart mal“, fasste ich meine Gedanken laut. „Ist das nicht das Geschäft in dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind?“

„Vor dem wir uns begegnet sind, ja“, verbesserte er mich und schnipste mir im nächsten Moment gegen die Stirn. Er musste mir nicht sagen, wofür das gewesen war, ich erinnerte mich auch so ungern daran, ohne dass er es aussprach. Aber ich klopfte ihm trotzdem auf die Brust.

„Was machst du denn überhaupt hier?“, fragte ich und blickte mich nochmal ehrfürchtig zwischen den teuer aussehenden, verglasten Regalen um. Auf den ersten Blick erkannte ich filigrane Ketten und Armkettchen in Gold und Silber darin. Einige von ihnen waren besetzt mit funkelten, bunten Steinchen – wahrscheinlich Smaragde, Saphire oder was die Diamantenwelt sonst noch so hergab. In anderen schimmerten sich Perlen zum Besten in allen möglichen Farben von Perlmutt. 

„Dasselbe sollte ich dich fragen“, entgegnete Jeldrik, dessen mahnender Blick mich beinahe unsichtbar werden ließ. Mist, ich hatte total vergessen, dass er mich zuhause in Sicherheit – sofern ich das überhaupt sein konnte – glaubte. Ich nahm meine Aufmerksamkeit von den eindrucksvollen Schmuckstücken und schenkte sie Jeldrik. Er war ohnehin das Eindrucksvollste in meinem Leben, das wollte ich nicht unnötig verärgern.

„Ach, du kennst doch Kylie“, sagte ich und machte dazu eine wegwerfende Handbewegung, als erklärte das alles. Doch Jeldrik schien nicht überzeugt beziehungsweise zufrieden mit dieser Antwort zu sein. Ich sah ihm an, dass er sich bereits Worte für eine Standpauke in seinem Kopf zu Recht legte, doch er kam nicht dazu, sie auf mich nieder zu rasseln.

„Mr. Wadim? Ich wäre dann soweit“, ertönte die Stimme des Herrn hinter der Theke. Jeldrik hob den Finger, was bedeutete, dass er noch nicht fertig mit mir war. Ich seufzte und folgte ihm zu dem ebenfalls verglasten Tresen.

„War nicht einfach, die wieder feinsäuberlich zusammenzusetzen“, erklärte er und brachte eine Perlenkette in Aprikofarben zum Vorschein.

Aber hallöchen, wir kennen uns doch, zwitscherte mein Gewissen.

Mit einer Ehrfurcht, die ich so noch nie bei ihm gesehen hatte, nahm Jeldrik ihm die Kette aus der Hand. Seine Augen studierten jede einzelne Perle, als hätte jede ihrer eigene, originelle Pracht. Meine brauchten etwas länger, um das zu erkennen und um zu erkennen, dass ein paar der antikwirkenden Perlen von Rissen geprägt waren.

„Die Kette würde natürlich neuer wirken, wenn ich die abgebrochenen Perlen einfach ersetzt hätte, aber…“, begann der Verkäufer mit verschränkten Händen auf dem Tresen und zuckte die Schultern, während Jeldrik mit dem Kopf schüttelte.

„Sie ist perfekt so“, ließ er mit einem freundlichen Lächeln an den Verkäufer verlauten und legte ihm ein Stück Papier vor die Finger. „Möchten Sie diesmal lieber eine Schatulle dafür?“, fragte der Verkäufer und bückte sich schon hinter seinen Tresen. Jeldrik warf mir einen amüsierten Blick zu, der mich sofort zur Tomate werden ließ, ehe er zustimmte: „Lieber ja, bevor die hier wieder meint, drauf treten zu müssen.“

Am liebsten wäre ich augenblicklich im Erdboden versunken, als sich der Verkäufer wieder aufrichtete und erstaunt fragte: „Ach? Dann war sie es also?“

Jeldrik nickte lachend, auch der Verkäufer stimmte mit ein. Großartig, meine Herren, macht euch nur über mich lustig. Jeldrik konnte von Glück sagen, dass hier zu viele Zeugen waren, als dass ich ihm einen Tritt in die Eingeweide verpasst hätte.

Als sich ihr Zwerchfell wieder soweit beruhigt hatte, dass sie reden konnten, schob der Mann Jeldrik ein schlichtes, schwarzes Etui über den Tresen.

„Da wurde sie grad erst feinsäuberlich poliert, da kommt Mr. Wadim schon wieder zerbrochen mit ihr zurück“, erzählte der Verkäufer belustigt und stemmte eine Hand in die Hüfte. Ihn schien es gar sehr zu freuen, die Übeltäterin persönlich anzutreffen. Beschämt betrachtete ich meine Zehen. Ich stand da wie ein kleines Mädchen, das gerade etwas furchtbar Naives gefragt hatte.

Jeldriks Brustkorb bebten neben mir noch leicht, während er die Kette ins Etui legte.

„Also, nochmal vielen Dank, Mr. Sessel. Bis bald“, sprach Jeldrik die befreienden, verabschiedenden Wörter aus, legte mir den Arm um die Schulter und führte mich nach draußen.

 

„Musste das denn sein?“, jammerte ich, sobald wir ins Freie getreten waren und schlug Jeldrik anschuldigend auf die Brust. Er trat einen Schritt von mir weg, hob die Schatulle von sich und lachte.

„Sehr witzig“, murrte ich und lief den Bordstein lang.

Ich wusste, das Jeldrik immer noch grinste, als ich seine Schritte hinter mir vernahm.

„Hey, wir waren noch nicht fertig, Lin“, stellte er zu meinem Bedauern fest, nachdem er mich eingeholt hatte. „Hatten wir nicht vereinbart, dass du zuhause bleibst?“

Ich seufzte, doch als ich Jeldriks Finger spürte, die sich mit meinen verbanden, verpuffte mein Groll.

„Ja, aber Kylie hat mir keine Wahl gelassen… quasi. Und es war auch gut, dass ich mich mit ihr getroffen hab“, ich zögerte, „Jeldrik, ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“

Jeldrik verkrampfte sich neben mir ein wenig, als er meinen ernsten Tonfall bemerkte.

„Na dann“, er drückte leicht meine Hand. „Schieß mal los.“

„Erst, wenn wir zuhause sind“, entschied ich und trieb ihn zur Eile an.

***

 

Kaum, dass wir in unserem Vorgarten standen, begann ich zu erzählen. Die Worte, die ich zu verkünden hatte, prickelten mir schon den ganzen Weg über auf der Zunge. Es war kindisch, aber ich wollte meine Verkündung spannend halten. Immerhin veränderte sich unsere komplette, brenzlige Lage ins Positive.

Ich erzählte Jeldrik ausnahmslos alles, was ich in jener Nacht geträumt hatte oder besser gesagt, was ich für einen Traum gehalten hatte. Auch, dass ich dank Kylie sicher sein konnte, dass es doch kein Traum war.

Jeldrik unterbrach mich kein einziges Mal. Geduldig hörte er mir zu bis ich zuende erzählt hatte.

„Das heißt, ich kann mit ihr in Kontakt treten, wenn du mich in… Trance versetzt oder wie man das nennen mag“, schlussfolgerte ich am Ende meiner Geschichte. Jeldrik sah das Funkeln in meinen Augen, meine Vorfreude, dass ich dank ihm in Kontakt mit meiner Mutter treten konnte, doch irgendwie schien er meine Freude nicht zu teilen. Er sah mich einfach nur mit gerunzelter Stirn an, sinnierte still über das, was ich ihm begreiflich machen wollte.

„Verstehst du denn nicht?“, redete ich weiter. „Vé mag sie zwar entführt haben, aber ich kann herausfinden, wohin er sie verschleppt hat. Wir können sie retten! Und dann mit ihrer Macht und meiner und deiner könnten wir es mit Vé und Phelim aufnehmen!“

Ich redete mich ganz in Rage. Der Teil meines Planes, war zwar auch für mich neu und zugeben vielleicht auch ein bisschen zu voreilig, aber ich wunderte mich eher darüber, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war. Plötzlich ergab alles einen Sinn und klang so einfach. Hätte ich doch nur länger in dieser seltsamen Zwischendimension verweilen können, dann wüsste ich bereits jetzt, wie ich meine Mutter retten konnte. Alles, was wir jetzt tun mussten war, mich wieder in diese Zwischendimension zu befördern und einen Plan mit meiner Mutter auszutüfteln. Das machte es fast lachhaft einfach.

„Jeldrik“, lachte ich. „Worauf warten wir noch?“

Mich überkam auf einmal eine solche Glückseligkeit. Ich glaubte, dass all das bald ein Ende finden würde. Natürlich würde es kein leichtes Unterfangen werden, sie zu finden geschweige denn sie zu befreien, aber einen Versuch war es allemal wert. Und ich kam einfach auf keinen Punkt, der gegen meinen Plan sprechen würde. Allerdings sollte ich bald lernen, dass mein Optimismus nicht gänzlich der Realität entsprach.

Jeldrik machte es mir nicht leicht, meine Freude weiterzuspinnen. Sein trauriger Blick nahm mir das Lachen aus dem Gesicht.

„Worauf warten wir noch?“, wiederholte ich mich, diesmal jedoch mit weitaus weniger Enthusiasmus in der Stimme.

Jeldrik schluckte hörbar und sah in den wolkenlosen Himmel. Als er seinen Blick wieder auf mich richtete, legte er seine Hand auf meine Wange.

„Tut mir leid, Eve. Aber ich kann das nicht“, erklärte er. „Das ist nicht so einfach, wie du dir das jetzt vorstellen magst. Längst nicht.“

Jetzt war auch der letzte Funken Freude und Hoffnung auf einen Schlag wieder verpufft. Ich begriff nicht, wie er sich jetzt weigern konnte. Wo wir doch der Lösung so einen wirklich bedeutsamen Schritt näher gekommen waren?

„Ich… ich versteh nicht. Wieso-“, er brachte mich zum Schweigen, als ich bemerkte, dass Jeldriks Augen mit jedem Wort glasiger geworden waren.

„Es.. es liegt an mir“, fuhr er fort, ich konnte das Zittern in seiner Stimme deutlich hören. Was war denn plötzlich in ihn gefahren? Doch ich fragte nicht nach, wartete einfach nur darauf, dass er weitersprach und versuchte ihn mit einem offenen Blick meinerseits dazu zu ermuntern.

 „Mir tut einfach alles leid. Wäre ich nicht gewesen…“, er brach ab. „Hätte ich doch nur besser darüber nachgedacht…“, er brach wieder ab und schloss die Augen. „Hätte ich ihr doch nur geholfen.“

Ein unbeholfenes Wirrwarr aus angefangen Sätzen kam jäh aus seinem Mund und jeder Teil davon verwirrte und stimmte mich gar misstrauischer. Es war ehrliches Bedauern, das aus ihm sprach. Und das machte mir Angst.

„Wovon redest du…? Was meinst du?“, unterbrach ich ihn und schüttelte mit zerstreutem Gesichtsausdruck den Kopf. Unwirsch fuhr ich ihm durch sein Haar, versuchte dabei zu lächeln. Er sollte nicht weiter reden. Irgendwie hörte es sich plötzlich nach etwas an, was ich nicht wissen wollte. Zumindest nicht jetzt.

Jeldrik stieß abermals Luft aus seinen Lungen, dann verzog auch er den Mund zu einem Lächeln, aber ich konnte es ihm nicht wirklich abkaufen.

„Ich komm schon klar. Da ist nichts, wofür du dich entschuldigen musst“, versuchte ich ihn zu überzeugen, obgleich ich selbst nicht einmal wusste, wovon er sprach, geschweige denn ich mir meiner Worte sicher war.

Er nahm seine Hand aus meinem Gesicht, setzte sich auf die Treppe vor meiner Haustür.

„Ich muss dir auch was erzählen“, sagte er dann kleinlaut, das Gesicht in seiner Armgrube verborgen.

Ich musste schlucken. Was auch immer es war, es würde meine bisherigen Vorstellungen erneut aus der Bahn werfen, da war ich mir sicher. Aber da musste ich jetzt durch.

Mit einem tiefen Seufzer, ließ ich mich neben ihn sinken und sagte leise: „Nur zu.“

Kapitel 20 - Das mit der Wahrheit

 

„Deine Mutter wird uns nicht helfen“, sagte Jeldrik bestimmt, nachdem er mich einige Minuten mit Stillschweigen gequält hatte.

Passend zu meinem Stimmungsumschwung, den Jeldriks Worte bewirkt hatten, zogen jetzt Wolken vor der Sonne auf.  

„Natürlich wird sie das“, beteuerte ich halbherzig, obwohl ich Jeldrik aus irgendeinem Grund sofort glaubte. „Ich kenne sie doch. Wir haben geredet.“

Ich hörte Jeldrik höhnisch auflachen, dann schüttelte er den Kopf und sprang auf. Als sich unsere Blicke trafen, erstarrten seine Züge für einen Augenblick, dann wich er meinem wieder aus. Doch ich hatte die Verzweiflung, seine Reue bereits darin gesehen.

Jeldrik stemmte die Hände in die Hüften, im gleichen Moment gaben die Wolken die Sonne wieder frei. Der Ausdruck in Jeldriks Gesicht wirkte jetzt abwesend; sein Blick in weite Ferne gerichtet. Auf etwas, das ich nicht sehen konnte. Und wahrscheinlich auch nicht wollte.

Ich zog meine Beine an. „Wieso wird sie uns nicht helfen?“

„Weil sie nicht mehr die ist, die sie mal war“, erklärte er schlicht, ohne jegliche Regung.

Ich schluckte, aber diese Antwort überraschte mich nicht.

Jäh kam mir Mums Stimme in den Sinn. Aber nicht die, die ich kannte, die so vertraut klang, sondern jene, welche ich in jüngster Vergangenheit gehört hatte. Ich konnte nicht abstreiten, dass mir zu dem Zeitpunkt schon aufgefallen war, dass sie etwas Befremdliches hatte. Konnte nicht leugnen, dass ich misstrauisch gewesen war.

Jeldriks Aussage war im Grunde nur eine Bestätigung für das, was ich schon längst insgeheim geahnt hatte. Und jetzt war der Moment gekommen, in dem ich mir das auch eingestehen musste.

Und auch er musste sich eingestehen, dass ich mich nicht länger mit der halben Geschichte zufrieden geben konnte. Er wusste, was mit meiner Mutter geschehen war, das war jetzt offensichtlich. Und er hatte mir nie etwas gesagt.

Ich war machtlos gegen die plötzliche Wut, die sich in mir aufbäumte. Warum hatte er mir nie etwas gesagt? Hierbei ging es schließlich um meine Mutter!

„Woher… woher weißt du das, Jeldrik?“, fragte ich dennoch gedämpft und blickte erwartungsvoll zu ihm hoch. Doch Jeldrik presste nur die Lippen aufeinander und sah um sich.

„Lass uns rein gehen“, sagte er dann und holte ohne weitere Umschweifen meinen Schlüsselbund aus meiner Tasche. Mit einer Selbstverständlichkeit, als habe er das immer so getan, legte er die Schlüssel auf das Sideboard, auf dem auch das Bild meiner Mutter stand und streifte sich die Schuhe dort ab, wo normalerweise die meines Vaters standen. Wie es schien war Dad wieder in die Klinik gefahren.

Jeldrik ging auf direktem Wege die Treppen hinauf und steuerte mein Zimmer an. Ich folgte ihm. Als er hinter uns die Tür geschlossen hatte, wies er auf mein Bett. „Du solltest dich setzen.“

Ich tat wie mir geheißen, auch wenn ich gerade wenig Lust hatte, seinen Anweisungen zu folgen. Aber umso schneller erfuhr ich das, was ich erfahren wollte. Ich zog mir die Decke über meine Beine wartete darauf, dass Jeldrik mit der Antwort zu der Frage, die ich ihm vor wenigen Minuten gestellt hatte, herausrückte. Doch stattdessen seufzte er nur, öffnete den Mund und schloss in im nächsten Moment wieder, nur um dann nochmals zu seufzen.

„Jeldrik“, setzte ich an, nachdem feststand, dass er den Anfang einfach nicht fand, „du warst dabei, oder?“

Abermals seufzte er und nickte. „Mehr als das.“

Er atmete tief durch und sah mich dabei eindringlich an. „Phelim und ich durften nie den Räten des göttlichen Regimes beiwohnen. Kurz bevor wir uns Vé angeschlossen hatten, war die Rede davon, ihn wieder anzugreifen, weil… also das weiß ich selbst nicht so genau. Wir hatten ihren Rat heimlich belauscht. Dabei kam auch der erste Krieg zur Sprache. So erfuhren wir, dass unser Vater für den Tod unserer Mutter verantwortlich war und dass das der eigentliche Auslöser des Krieges war. Das… das war natürlich ein Schock für uns. Ich meine, wir dachten knappe 400 Jahre lang, dass sie krankheitsbedingt ums Leben kam. Damals gab es noch keine Obduktionen oder dergleichen, die das genauer bestimmen konnten.“

Jeldrik gab mir eine kleine Pause, wahrscheinlich wartete er darauf, dass ich wie üblich Fragen dazwischen warf, aber dem war heute nicht so. Dass er mir gerade doch sein ungefähres Alter verraten hatte, ließ ich unkommentiert.

„Phelim wollte in den Rat platzen, wollte unseren Vater zur Rede stellen, aber das konnte ich verhindern. Donar hatte unsere Mutter getötet, damit Vé sie nicht haben konnte. Oder besser gesagt, dass er uns nicht finden konnte, wie wir aus dem Gespräch heraus hören konnten. Er wollte nicht, dass Vé durch uns mehr Macht besaß als er selbst und deswegen hat er unsere Mutter einfach getötet!“

Mit jedem Wort, das jetzt aus Jeldriks Mund kam, konnte ich seine Wut darüber steigen hören. Für einen Augenblick vergaß ich meine eigenen Anliegen und griff nach Jeldriks Jackenärmel, um ihn neben mich zu ziehen. Doch er wehrte ab.

„Du wirst mich wahrscheinlich gleich nicht mehr dort haben wollen“, sagte er ernst, sah mir dabei aber nicht ins Gesicht. Ich ließ von ihm ab.

„Wir wollten nicht länger bei einem Vater – bei einer ganzen Einheit bleiben, die uns jahrelang belogen hatte. Wir konnten nicht. Und aus dem Grund haben wir uns dazu entschieden, seinem Erzfeind das zu geben, was er durch den Tod unserer Mutter zu verhindern versuchte. Uns.“

Ich nickte, eines erschien mir jedoch nicht ganz logisch. „Aber war damit dann nicht der Tod eurer Mutter umsonst?“

Er zuckte die Schultern. „Das ist mir inzwischen auch klar, aber wir waren blind vor Zorn und dachten nur daran, unserem Vater zu schaden. Und wenn es sein musste auch dem ganzen Regime.“

Nun setzte Jeldrik sich doch neben mich, allerdings in gebührendem Abstand. An der Art wie er jetzt seufzte, erkannte ich, dass jetzt der Zeitpunkt kam, ab dem er mir die für mich wesentliche Geschichte erzählte.

„Du musst wissen, dass es uns Zyona leichter fällt, die Auren anderer Zyona aufzuspüren als Vés Exyus. Also kamen wir genau richtig. Er gab sich nicht damit zufrieden, uns auf seiner Seite zu haben. Nein, er wollte Frea trotzdem noch finden. Phelim und ich… wir haben Frea letztlich beinahe aufspüren können. Wir spürten ihre Anwesenheit hier in Maryland. So war es ein Leichtes für Vé zumindest mental mit ihr Kontakt aufzunehmen. Er drang in ihre Gedanken und erinnerte sie an ihr Dasein als Göttin. Frea wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis wir sie finden würden. Deshalb“, Jeldrik schluckte und richtet seinen Blick auf mich, „hat sie sich vermutlich umgebracht, um zu Wodan zu kommen und um dich zu schützen. Mit ihrer Erinnerung wurde ihr natürlich auch klar, was für ein mächtiges Kind sie in ihrem letzten Leben in die Welt gesetzt hatte. Sie wollte dich schützen vor Vé und seinem Regime.“

Die für mich wesentliche Geschichte, die er mir schon längst hätte erzählen müssen! Ich brauchte einige Augenblicke um zu verstehen, was er da gerade gesagt hatte. Er hatte Recht, als er sagte, dass ich ihn gleich nicht mehr bei mir haben wollte. Wie könnte ich auch jemanden bei mir dulden, der meine Mutter quasi zum ersten Schritt ihres Selbstmordes gedrängt hat?! Phelim und Jeldrik wollten meine Mutter aufspüren, sie mir wegnehmen und sie Vé ausliefern. Das hatte ich doch richtig verstanden, oder? Und genau das hatten sie im Endeffekt auch getan. Aber wusste ich das nicht schon längst? Hatte Phelim nicht genau das behauptet? Und ich, Schaf, hatte ihn für den Lügner gehalten.

„Als sie sich ertränkt hat, wanderte ihre Seele zum Bifröst“, unterbrach Jeldrik meine Gedankengänge. „Dort warteten Vé und ich bereits auf sie. Vé ist der Gott der Täuschung und besitzt die Gabe die Erinnerung eines jeden so zu verwischen wie es im gefällt. Das hat er auch bei Frea getan, ehe sie den Götterpalast erreichen konnte.“

„Und du hast dabei zugesehen“, es war mehr eine Feststellung denn eine Frage.

Jeldrik zögerte und rückte nun doch näher an mich heran. Ehe ich mich versah, hatte er meine Hände ergriffen und sah mich mit flehenden Augen an. Sie hatten einen verräterischen Glanz.

„Es… es tut mir so leid, Eveline. Das musst du mir glauben“, sagte, nein, schluchzte er beinahe. In dem Moment quoll sogar eine Träne aus seinem rechten Augenwinkel. „Hätte ich gewusst-“, er brach ab und schloss die Augen. „Hätte ich dich gekannt, dann-“

„Geh. Ich will dich nicht mehr sehen.“

Diesmal war ich es, die ihn unterbrach. Ich zog meine Hände zwischen seinen hervor und legte sie auf meinen Schoss. Erschrocken blickte er von seinen leeren Händen in mein Gesicht.

„Verschwinde, Jeldrik. Ich meine das ernst“, wies ich ihn tonlos an.

„Eveline…“

„HAU AB!“, brüllte ich ihm nun ins Gesicht und sprang wutentbrannt auf. Ich widerstand dem Drang, ihn am Kragen zu packen und auf direktem Wege aus meinem Fenster zu manövrieren, nur schwer. Jeldrik seufzte und wandte den Blick ab. Gerade als er den Mund öffnete, wurde die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen.

Vater. Im Augenwinkel sah ich, dass Jeldrik genauso erschrocken zusammenfuhr wie ich. Hatte er ihn nicht schon vorher bemerkt?

 Sein alarmierter Blick galt erst mir, dann entdeckte er Jeldrik auf meinem Bett und er straffte die Schultern. Binnen einer Millisekunde wechselte sein Gesichtsausdruck von alarmiert zu drohend.

„Was geht hier vor?“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Jeldrik brauchte ein paar Sekunden, bevor er zu einer Antwort ansetzten wollte, aber ich kam ihm zuvor.

„Ich will, dass er geht.“

Das ließ sich mein Dad nicht zweimal sagen. Zwar sah er mich kurz erstaunt an, dann hatte er Jeldrik aber schon am Handgelenk gepackt und auf die Beine gezogen.

Jeldriks Blick, den er mir zuwarf, war sowohl fassungslos als auch enttäuscht und immer noch glasig. Umso verärgerter wurde ich, als ich feststellte, dass mir dieser Anblick in der Brust wehtat.

„Du weißt genauso gut wie ich, dass wir das so nicht stehen lassen können“, sagte er trotz der Hand meines Vaters im Nacken. Dann ließ er sich widerstandslos von ihm aus meinem Zimmer schieben.

Kaum, dass sie um die Ecke gebogen waren, ließen meine Beine unter mir nach und ich ließ mich auf den Boden gleiten. Ich hörte, dass mein Dad im barschen Ton einige Worte an Jeldrik richtete, ehe die Haustür zugeschlagen wurde.

Ich fühlte mich furchtbar verraten. Und das ausgerechnet von der Person, der ich vor wenigen Minuten noch blindlings mein Leben in die Hände gelegt hätte. Jetzt musste ich feststellen, dass Jeldrik nicht besser war als sein Bruder. An seinen Händen klebte das Blut meiner Mutter. An den Händen, von denen ich mich überall berühren lassen hatte, die ich geküsst hatte, die perfekt in meine Eigenen gepasst hatten. Bei dem Gedanken entfleuchte mir ein Schluchzer, dann noch mal einer und noch einer. Bis ich mich schließlich zusammengekrümmt und mit Tränen nassem Gesicht auf dem Boden wiederfand. Mein Inneres fühlte sich taub an. Da, wo sonst mein Herz, meine Empfindungen für Jeldrik waren, war jetzt eine Art Loch, durch das mein Lebenswille pfiff.

 

Es war bereits dunkel, als jemand an meiner Tür klopfte und mein Dad den Kopf hereinstreckte. Inzwischen waren die Tränen versiegt. Die letzten Stunden hatte ich mich der Leere und dem Schmerz, der mir den Bauch zusammenzog, hingegeben.

„Liebeskummer?“, fragte Dad zögerlich und trat auf mich zu. Zum Glück tat er mir den Gefallen und ließ das Licht aus. Mit einem schwerfälligen Ächzen setzte er sich neben mich auf den Boden. Liebeskummer. Nein, als solchen war das, was ich jetzt durchmachte, nicht zu bezeichnen. Aber das konnte und wollte ich ihm nicht erzählen. Ich erhob mich etwas und rutschte näher an ihn heran, um meinen Kopf auf seinen Schoß zu legen. Dad ließ es bereitwillig geschehen, legte sogar seine Hand auf meinen Arm und strich mit deinem Daumen über die immer selbe Stelle. Mein armer Witwer hatte ja keinen Schimmer von den wahren Beweggründen zum Selbstmord meiner Mutter. Ich wusste, dass er sich insgeheim den Kopf darüber zermarterte, ob Mums Tod irgendwie seine Schuld war. Wie gern würde ich ihm diese Schuld nehmen, ihm die Wahrheit sagen. Aber das ging natürlich nicht. Wahrscheinlich würde ich ihn mit diesem Wissen nur noch in Gefahr bringen. Schon wenn er nur Jeldrik an den Kragen wöllte.

Dad räusperte sich, nachdem ich immer noch kein Wort gesagt hatte.

„Hat er… hat er dir denn etwas getan?“, wollte er in möglichst ruhigem Ton wissen, doch ich hörte seinen Zorn heraus. „Junge Männer in seinem Alter gehören eigentlich weggesperrt. Mit ihren Hormon-“

„Nein, hat er nicht“, unterbrach ich ihn schnell, als mir klar wurde, worauf er hinaus wollte. Ein paar Minuten verstrichen still. Scheinbar wusste mein Vater nicht, was man seiner Tochter am besten bei Liebeskummer riet. Aber ich wollte auch gar keine Weisheiten von ihm hören. Es war tröstend genug, dass er mir Gesellschaft leistete. Meiner Ähnlichkeit mit Mum wegen, vermied mein Vater es für gewöhnlich mehr Zeit mit mir in einem Raum zu sein als nötig. Ich hatte schon gar nicht damit gerechnet, dass er überhaupt zu mir hochkommen würde. Deswegen genügte es mir auch mehr als aus, dass ich ihn lediglich hinter mir schnaufen hörte.

„Wir sollten langsam ins Bett“, meinte Dad nach einer Weile und machte Anstalten aufzustehen. Nickend tat ich es ihm gleich. Als ich vor ihm stand, schaute er mir noch einmal ins Gesicht. Das Licht der Straßenlaternen, das von draußen durch mein Fenster brach, ließen mich seine in Falten gelegte Stirn sehen. Liebevoll strich er mir mit dem Handrücken über die Wange.

„Kein Junge der Welt ist es wert, dass meine schöne Tochter seinetwegen Tränen verliert“, sagte er, beugte sich vor, um mir einen väterlichen Kuss auf die Stirn zu geben und wünschte mir eine gute Nacht.

„Danke“, murmelte ich, ehe er mich anlächelte und mein Zimmer verließ.

Als ich ins Bad ging, um mich nachtfertig zu machen, blickte mir im Spiegel ein alles andere als schönes Mädchen entgegen. Rote Äderchen hatten sich um meine Pupillen gebildet, die von geschwollenen Augenlidern umrandet wurden. Über meine Wange zogen sich in schwarze Schlieren die Überreste meiner Mascara entlang. Schnaubend griff ich mir einen Waschlappen und begann grob über mein Gesicht zu fahren. Ich wollte mir diesen Tag einfach nur vom Gesicht waschen. Und die letzten paar Wochen am besten auch. 

Impressum

Texte: Sarah Hofmann
Bildmaterialien: Sarah Hofmann, Kim Rebekka Hofmann
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2013

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