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Prolog

In einem abgelegenen Gasthaus etwa zwanzig Meilen vor Corona

 

Die Kerze flackerte. Ihr schwacher Schein erhellte den Raum nur dürftig. Gerade genug, dass er die Zeilen auf dem Pergament vor sich lesen konnte.

»Nun, wie sieht es aus?«, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Haben wir ein Arrangement?«

Er zögerte. Um Zeit zu schinden, beugte er sich nach vorne, und überflog noch mal das Geschriebene.

»Sie verstehen sicher, dass ich heute noch andere Termine habe.«

Etwas blitzte im Schatten auf. Eine goldene Taschenuhr, die auf- und wieder zuklappte.

Zitternd griff er nach dem Federkiel, der in einem vorbereiteten Tintenfass ruhte. Die Luft im Raum schien zunehmend dünner und die Temperatur kühler zu werden. Dennoch rannen ihm Schweißtropfen die Schläfen hinunter. Tinte tropfte auf das vergilbte Schriftstück, als die Feder Millimeter über dem Papier stoppte.

Ein ungeduldiges Knurren erklang neben ihm, jagte eine Gänsehaut über seine Arme.

»Wenn Sie nicht unterschreiben wollen, werde ich jetzt gehen!« Der Schatten stieß sich von der Wand ab.

»Nein, warten Sie … warten Sie!«, rief er heiser und schluckte, um seine trockene Kehle zu befeuchten.

Ihm blieb keine Wahl. Er setzte die Feder auf und schrieb seinen Namen unter das Schriftstück. Erst langsam, dann immer schneller. Als der letzte Tintenstrich getan war, lehnte er sich schwer atmend zurück, als läge ein langer Marsch hinter ihm.

»Gut.« Die Gestalt trat vor. Ein schwarzer Handschuh griff nach dem Papier, rollte es sorgsam zusammen und steckte es in die Manteltasche.

»Wir sind fertig. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.« Die Gestalt hob den Zylinder zum Abschied, bevor sie das Zimmer verließ.

Sobald sein Besuch fort war, atmete er tief durch. Hatte er richtig entschieden? Zu spät, sich darüber zu sorgen.

Es gab kein Zurück mehr.

 

 

 

 

 

Besuch

50 Jahre später

 

Endlich begann der Frühling. Die Zierkirschen blühten in den Gärten Coronas, das Gras gewann seine grüne Farbe zurück und die Sonne vertrieb die winterliche Kälte. Ich atmete den süßen Blütenduft ein und genoss die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Solch eine Gelegenheit bot sich mir selten. Ich wollte jeden Augenblick davon auskosten. Zufrieden lehnte ich mich gegen eine der Steinsäulen des Balkons und beobachtete zwei Kohlmeisen, die zwitschernd auf den Ästen der Bäume umhertollten. So lange, bis ein dunkler Schatten sie aufschreckte.

Ein Rabe flog krächzend über ihre Köpfe hinweg und ließ die beiden Meisen panisch die Flucht ergreifen. Der schwarze Vogel nahm eine Kurve, steuerte auf mich zu und landete auf dem Geländer zwischen den Blumentöpfen. Vorbei war es mit der Ruhe. Am Bein des Raben steckte ein Zettel in einem silbernen Behälter. Als ich danach griff, hackte der Vogel mit seinem Schnabel zu.

»Biest!«, fluchte ich, ignorierte die blutende Wunde an meinem Finger und rollte den Zettel auseinander.

Er enthielt eine einzige Zeile.

»Er denkt wohl, er kann uns überrumpeln«, murmelte ich, während ich dem Balkon den Rücken kehrte und zurück ins Haus lief. Mit eiligen Schritten durchquerte ich den langen Flur des ersten Stocks, erreichte das Erdgeschoss mit dem Teesalon. Lord und Lady Hampton schauten verwundert auf, als ich in das Zimmer stürmte.

»Nanu, Graf Chevaliez, wieder einmal auf dem Sprung?«, fragte der Lord amüsiert.

Ich nickte ihm kurz zu, bevor ich die nächste Tür aufzog und den Salon verließ. Mir blieb keine Zeit, mich über Nichtigkeiten zu unterhalten.

Trotzdem entging mir Lady Hamptons Bemerkung nicht, die sie an den Lord richtete. »Er sieht in letzter Zeit furchtbar blass aus. Hoffentlich wird er nicht krank.«

Ein kleines Lächeln entlockten mir ihre Worte. Meine Blässe kam von keiner Krankheit. Es lag lediglich am Sonnenmangel. Aber Lady Hampton war stets um mich besorgt.

Ich bog in die Bibliothek ein, lief einige Reihen ab, bis zu einer Nische im hinteren Teil des Raums. Versteckt zwischen zwei Regalen lag ein schwer sichtbarer Durchgang. Nur wenn man direkt davorstand, bemerkte man ihn. Ein gut gewählter Platz.

Vor mir erstreckte sich der vertraute Anblick des dunklen Flurs mit Kerzenhaltern, der vertäfelten Wand aus Ebenholz und dem weinroten Teppich. Meine Schritte waren das einzige Geräusch auf dem Gang. Zumindest bis ich mich der schweren Eichentür näherte, die am anderen Ende lag. Dahinter polterte es heftig, ehe ein leiser Aufschrei erklang.

»A-aber, Mylord«, stotterte jemand.

Den Lärm im Zimmer ignorierend, klopfte ich und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

Eine Person, der Kleidung nach einer der vorstehenden Kammerdiener, stolperte an mir vorbei gegen die Wand. Der Stuhl, auf dem er zuvor gesessen haben musste, lag umgekippt am Boden. Der Mann in einfachem Anzug sank an der Wand in sich zusammen und starrte mit schreckgeweiteten Augen zu der Person, die sich vor ihm aufbaute.

»Solch ein Verhalten dulde ich nicht«, zischte Arien mit scharfer Stimme.

»Es war nur ein Versehen, Mylord. Es wird nie wieder vorkommen!«

»Dieser fatale Fehler sollte dir erst gar nicht unterlaufen, wenn dir dein Kopf lieb ist! Das Personal ist von mir sorgfältig ausgesucht worden, in dem Wissen, dass niemand über unseren Aufenthaltsort spricht. Du kannst nicht eigenmächtig neue Leute einstellen, die Klatsch und Tratsch verbreiten!«

Der Kammerdiener presste sich so sehr gegen die Wand, als versuche er, hindurchzugleiten. »Sie wurden angewiesen zu schweigen. Niemand hat darüber gesprochen! Sie haben mein Wort, Mylord.«

»Ich traue nur den Menschen, die ich selbst zuvor bis ins kleinste Detail überprüft habe!«

»Arien«, unterbrach ich die Unterredung.

Arien drehte den Kopf in meine Richtung. Kalte dunkelblaue Augen richteten sich auf mich. »Miron. Ich hoffe, es ist wichtig.«

Ich nickte, die hilfesuchenden Blicke des Herren an der Wand ignorierend.

»Verschwinde! Wir sind für heute fertig, Richat.« Arien drehte sich auf dem Absatz um, ging zurück zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf den Sessel dahinter.

»Sehr wohl, Mylord. Vielen Dank.«

Auf allen vieren kroch Richat zur Tür. Sobald er in den Flur gelangt war, hörte ich, wie er davonrannte.

»Überprüfe das neue Personal einfach. Wenn es so weiter geht, haben wir bald keins mehr«, merkte ich an.

Arien stieß einen Laut aus, als wolle er lachen, und lehnte sich zurück. Ein amüsierter Ausdruck lag in seinen Augen, als er den Kopf zur Seite legte und auf einer Hand aufstützte.

»Du weißt, warum ich so streng bin. Er hat die Regeln nicht befolgt, also musste ich ihn zurechtweisen. Hattest du etwa Mitleid?«

»Nur eine Feststellung«, entgegnete ich ungerührt und schob Arien die Nachricht des Raben über den Schreibtisch zu.

»Wie es aussieht, hat unser bevorstehender Besuch seine Pläne geändert. Der vereinbarte Treffpunkt ist noch nicht fertig vorbereitet.«

Stirnrunzelnd nahm Arien den Zettel entgegen und las ihn durch. »Wenn dieser Mann meint, er kann uns überlisten, ist er ein Dummkopf.« Seine Mundwinkel zuckten. »Anscheinend mag er Überraschungen. Dann werden wir ihm eine bereiten. Der Empfang findet hier statt. Die Vorbereitungen müssen sofort beginnen.«

Ich zog eine Augenbraue nach oben. »Bist du sicher? Gerade hast du Richat noch mit dem Strick gedroht, falls unser Aufenthaltsort bekannt wird. Außerdem hast du selbst die Regel aufgestellt, dass in diesem Haus kein Besuch empfangen wird.«

»Ich habe nicht gesagt, dass unser Gast wieder gehen wird.« Ariens Augen glühten. »Du kennst das Stichwort?«

Was hatte ich auch anderes erwartet?

»Ja.« Ich wandte mich zur Tür.

»Ach, und Miron …«

»Ja?«

Blitzschnell stand Arien auf, ergriff meinen Hemdkragen und zog mich über den halben Schreibtisch, sodass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Unsere Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt, und ich konnte seinen Duft einatmen, der mich immer an das Meer erinnerte. Einen Moment verharrten wir so. Dann packte Arien mein Handgelenk und begutachtete die Wunde an meinem Finger.

»Du solltest besser aufpassen. Raben können äußerst aggressiv sein.«

Ich warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Das weiß ich selbst.« Mit einem Ruck machte ich mich los, richtete mich auf und zupfte mein Hemd zurecht. »Es gibt viel zu tun. Ich gebe Darran Bescheid.«

Mit seinem Blick im Rücken verließ ich den Raum.

 

Gleich nach dem Gespräch sandte ich einen Boten mit der neuen Adresse zu unserem Gast. Im Haus trafen die Angestellten den ganzen Tag über sämtliche Vorbereitungen. Darren kümmerte sich wie immer vorbildlich um alles, sobald ich ihm die Nachricht von Arien überbrachte.

Der Nachmittag schritt voran und ging in den Abend über, und die Uhr schlug acht. Er müsste bald ankommen, wenn er die Nachricht erhalten hatte.

Blieb zu hoffen, dass heute Abend alles reibungslos verlief. Wenn wir nichts fanden, würde es schwierig werden, Gerechtigkeit walten zu lassen. Davon abgesehen konnten wir ihn nicht einfach wieder ziehen lassen.

Ich knöpfte den Bund meiner dunkellila Hose zu und schlüpfte in die dazugehörige Jacke. Um den Hals band ich die passende Schleife, und die schulterlangen Haare fasste ich zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammen. Zuletzt kamen die Stiefel. Einmal im Spiegel prüfen – gut, so konnte ich mich sehen lassen.

Es klopfte an meiner Tür, und Darran steckte den Kopf herein. »Mylord, die Kutsche des Gastes ist soeben im Hof vorgefahren.«

Er war also gekommen. Was für einen besseren Köder hätte Arien auch auswerfen können als unseren Wohnsitz?

»Danke, Darran. Gib bitte Arien Bescheid.«

»Sehr wohl.«

Bevor ich das Zimmer verließ, holte ich noch das Kästchen mit meinen treuen Begleitern aus der Schublade, um meinen Aufzug zu vervollständigen. Unter der Jacke in den ledernen Halterungen sah sie niemand. Ihr Gewicht gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Arien setzte alles auf eine Karte, und ich nahm mir vor, ihn nicht zu enttäuschen.

 

Als ich den Salon betrat, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass Lord und Lady Hampton den Gast empfangen hatten und munter mit ihm plauderten. Immerhin schien sich unser Besucher wohlzufühlen und keinen Verdacht zu schöpfen, so wie er entspannt in dem Sessel saß. Keinem von ihnen fiel meine Anwesenheit auf.

»Sie kommen also aus Ranov, Baron Tremec?«, fragte Lord Hampton interessiert. »Ich habe gehört, der Wein sei dort vortrefflich.«

Der Baron setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf. »In der Tat. Wir betreiben dort eine exklusive Eigenproduktion und verwenden nur die auserlesensten Trauben.«

»Vorzüglich! Sie müssen mir eine Flasche mitbringen, wenn Sie uns wieder besuchen.« Lord Hampton klatschte freudig in die Hände. Die kleine Angeberei des Barons schien ihn überhaupt nicht zu stören.

»Sehr gerne.« Der Baron neigte leicht den Kopf. »Ich muss zugeben, ich hatte eine andere Vorstellung von Ihnen. In den meisten Kreisen hieß es, Sie seien mürrisch und selten zu begeistern.«

»Ach wirklich?«, fragte Lord Hampton mit großen Augen.

Zeit, mich in die Unterhaltung einzuschalten. Zudem war es besser, wenn sich der Lord und die Lady so kurz wie möglich in der Nähe des Barons aufhielten.

»Guten Abend, Baron Tremec«, lenkte ich die Aufmerksamkeit auf mich und deutete eine leichte Verbeugung an.

»Ah, mein lieber Graf. Sie sind schon hier. Baron, das ist Graf Miron Chevaliez«, stellte mich Lady Hampton vor.

Bei dem verwirrten Gesichtsausdruck des Barons musste ich mir ein Grinsen verkneifen. Er fasste sich aber ziemlich schnell und erhob sich, um mir die Hand zu reichen.

»Verehrter Graf.« Sein Händedruck tat weh, als wolle er mich auf die Probe stellen. Dabei starrte er mich intensiv an. Normale Leute hätten diesen Blick als einschüchternd bezeichnet. Bei mir zeigte so etwas keine Wirkung.

»Vielen Dank, dass Sie den Baron so herzlich empfangen haben. Darf ich Sie bitten, sich zurückzuziehen?«, wandte ich mich an Lord und Lady Hampton.

Meine Worte schienen den Baron völlig durcheinanderzubringen. Seine dunklen Augen wanderten zwischen mir, dem Lord und der Lady hin und her.

»Ich verstehe nicht. Ich dachte, der Lord und die Lady …«

»Oh, das sind nicht der Herzog und seine Frau«, fiel ich ihm ins Wort. »Das hier sind Lord und Lady Hampton. Ihnen gehört dieses Anwesen.«

Der Baron presste die Lippen aufeinander, bevor er »Verstehe« murmelte.

»Es hat uns gefreut, Sie kennenzulernen. Wenn wir uns empfehlen dürfen?« Mit diesen Worten erhoben sich Lord und Lady Hampton und verließen mit einer Verbeugung den Salon.

»Möchten Sie sich nicht wieder setzen?«, fragte ich höflich und deutete auf den Sessel, auf dem Baron Tremec zuvor Platz genommen hatte.

Argwöhnisch folgte er meiner Aufforderung, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Sie sind also Graf Chevaliez.« Seine Stimme triefte vor Hohn. »Ich hatte etwas … anderes erwartet.«

»Oft haben wir von Menschen ein bestimmtes Bild – ohne sie zu kennen. Umso größer ist die Überraschung, wenn wir ihnen tatsächlich begegnen.« Ich nahm gegenüber des Barons Platz und ließ mir von einem Dienstmädchen Tee einschenken. Dabei wahrte ich eine entspannte Haltung.

»In der Tat«, pflichtete mir der Baron bei. Insbesondere, wenn ihnen ein Ruf wie der Ihre vorauseilt.«

Scheinbar neugierig schaute ich von der Tasse auf. »So? Was wird denn über mich gesagt?«, fragte ich lächelnd.

Baron Tremec lehnte sich mit einem Grunzen in seinen Sessel zurück. »Nachdem ich Sie gesehen habe, glaube ich nicht, dass an diesem Geschwätz etwas dran ist.«

»Wie Sie meinen.« Ich trank einen Schluck.

In diesem Moment ging die Tür hinter dem Baron auf, und Darran trat ein. »Ich darf ankündigen: Herzog Arien Nox Umbria.«

Tremec und ich erhoben uns, als Arien ins Zimmer trat, vollständig in Mitternachtsblau gekleidet.

»Guten Abend, verehrter Baron«, sagte Arien und fixierte unseren Gast. »Ich hatte Sie erst morgen Abend erwartet.«

Der Blick des Barons ähnelte dem, den er mir zugeworfen hatte. Nur lag diesmal eine Spur Unsicherheit darin.

»Es tut mir leid, falls ich Ihre Pläne durcheinandergebracht habe, Herzog. Geschäftliche Termine haben mich gezwungen, Ihnen früher meine Aufwartung zu machen. Doch wie ich sehe, scheinen Sie auf unangemeldete Gäste vorbereitet zu sein.«

Der Baron gab Arien die Hand, und beide blickten sich an. Ariens Augen waren wie immer kalt und berechnend. Dieses Blickduell konnte der Baron nicht gewinnen.

Nach der Begrüßung nahmen wir wieder Platz. Arien setzte sich in den Sessel neben mir, dem Baron gegenüber.

»Darf man fragen, wo Ihre Frau ist?«, erkundigte sich Baron Tremec. »Will sie Ihren Gast nicht begrüßen?« Er suchte nach einem Schlupfloch, um Arien bloßzustellen.

Meine Schultern spannten sich leicht an.

Darran beugte sich zu Arien vor. »Lady Lianne lässt ausrichten, dass sie sich nicht wohlfühlt und leider nicht am Empfang teilnehmen kann.« Darran sprach laut genug, dass ihn der Baron hören konnte.

Arien verdrehte die Augen. »Als ob sie sich jemals wirklich gut gefühlt hätte«, murmelte er, bevor er Baron Tremec antwortete: »Verzeihen Sie meiner Frau ihre Abwesenheit. Sie ist von klein auf sehr schwach und verlässt selten das Bett.«

»Wie schade. Ich hätte sie zu gerne kennengelernt.« Baron Tremec grinste dreckig und leckte sich über die Lippen.

Mein Blick verfinsterte sich, aber ich sagte keinen Ton.

Arien ignorierte sein Verhalten. »Wie verlief Ihre Reise?«, erkundigte er sich stattdessen.

»Sehr angenehm, vielen Dank, Herzog.«

Arien war zum lockeren Geplänkel übergegangen. Die Reise des Barons – mein Stichwort.

»Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Rasch erhob ich mich aus dem Sessel. Arien und der Baron nickten mir zu, bevor ich aus dem Salon verschwand. Erst als ich draußen auf dem Flur stand, entspannte ich mich etwas. Kurz nach mir trat Darran aus der Tür.

»Bist du soweit? Dann los. Wir beginnen mit der Kutsche«, sagte ich.

Urteil

Darran schritt mit einem Kerzenleuchter voraus. Damit uns niemand bemerkte, nahmen wir den Personalausgang in den Hof. Arien hatte die meisten Wachen außerhalb des Hauses abgezogen, um Tremec in Sicherheit zu wiegen. Die Kutsche des Barons stand unweit des Haupteingangs. Außer dem Kutscher und einem Kammerdiener schien sie unbewacht zu sein. Sonst hatte ich kein Personal des Barons gesehen. Entweder war er unglaublich leichtsinnig oder sich seiner Sache sehr sicher.

Ich bedeutete Darran zu warten und schlich im Schatten des Anwesens auf die Kutsche zu. Der langbärtige Kutscher schlief, nur der Kammerdiener hielt aufmerksam Wache mit einer Laterne in der Hand.

Lautlos bewegte ich mich auf ihn zu, bis der Ärmel meines Jacketts im Vorbeigehen sachte die Blätter eines Buschs streifte. Der Kammerdiener wirbelte herum. Uns trennten nur noch ein paar Meter, sodass er mich trotz der Dunkelheit entdeckte.

»Ich kann dich sehen. Komm raus!«, rief der Mann.

Ich unterdrückte einen Fluch. Solche Fehler unterliefen mir selten. Es half nichts, ich musste mich zeigen. Also trat ich aus dem Schatten in den Lichtschein.

Der Kammerdiener blinzelte mich überrascht an, bevor er lächelte. »Ich hatte vermutet, dass ein Dieb um das Haus schleicht.« Er legte mir die Hand auf den Kopf, als sei ich ein kleines Kind. Zugegeben war ich nicht besonders groß, aber diese Geste hatte etwas Anmaßendes. »Da habe ich mich wohl getäuscht.«

»Verzeihen Sie, falls ich Ihnen Angst eingejagt habe.«

»Aber nicht doch.« Seine Hand strich von meinem Kopf hinunter zu meiner Wange. »Ein hübscher junger Mann, mit so weicher Haut und dazu noch gut gekleidet. Wer könnte da von einem Dieb ausgehen.«

Ich erschauderte, als sein Daumen an meiner Haut entlangfuhr. Etwas stimmte nicht – und ein Blick in seine Pupillen verriet mir, was genau hier falsch war.

»Eigentlich habe ich ein Buch gesucht, das ich heute Mittag verloren habe«, log ich.

»Vielleicht kann ich dir beim Suchen helfen?«

Ich setzte eine freudige Miene auf. »Würden Sie das? Ich danke Ihnen vielmals.« Zusammen begaben wir uns in den Schatten des Anwesens, weg von der Kutsche.

»Irgendwo hier habe ich es verloren«, sagte ich und tat, als suchte ich den Boden ab.

Der Kammerdiener folgte mir dicht. Sein Atem strich über meinen Nacken. Seine Nähe löste immer mehr Unbehagen in mir aus. Ich gab vor, mich nach ihm umzudrehen, schielte aber an ihm vorbei. Die Kutsche befand sich weit genug weg.

»Da gibt es noch etwas, was ich Ihnen gerne sagen würde«, setzte ich an und tastete unter mein Jackett nach einem der vertrauten Griffe.

»Was denn?«, wollte der Kammerdiener wissen.

Ich drehte mich um. Er stand so nah, dass ich sein Parfum riechen konnte. »Ich mag keine Verbrecher, die mir zu dicht auf den Leib rücken!«

Blitzschnell zuckte meine Hand unter dem Jackett hervor. Bevor der Kammerdiener reagieren konnte, durchbohrte die Klinge sein Herz. Blut breitete sich auf seinem weißen Hemd aus, als er mit aufgerissenen Augen auf die Knie fiel und schließlich zur Seite kippte, wo er mit einem dumpfen Aufschlag am Boden liegen blieb.

Einen Moment schaute ich auf ihn hinunter. Doch der Anblick seines toten zerfallenden Körpers löste nichts in mir aus. Die Klinge wischte ich an seiner Kleidung ab, drehte mich um und ließ ihn dort liegen. Das Bedauern für meine Opfer war schon seit langer Zeit verschwunden.

An der Kutsche wartete Darran auf mich. Der Mann mit dem langen Bart schlief nicht mehr auf seinem Platz. Von ihm fehlte jede Spur. Der Wind wehte mir stattdessen feinen Staub entgegen, durch den ich laut Niesen musste. Tremecs zweiter Mann würde uns also ebenfalls keine Probleme mehr breiten.

Ich öffnete die Kutschentür und spähte hinein. Bis auf die gepolsterten Sitzbänke war sie vollkommen leer. Zur Sicherheit tastete ich die Polster ab und klopfte auf den Holzboden, um mögliche Hohlräume zu erkennen. Lediglich die Sitzbank ließ sich anheben, deren einziger Inhalt aus Büchern und Landkarten bestand. Das erwies sich somit als Griff ins Leere. Als Nächstes untersuchte ich das Gepäck.

»Eine sehr große Kiste, dafür dass er nur eine kurze Reise gemacht haben soll«, stellte ich fest.

Kein Schloss. Zugegeben wäre es für normale Diebe sicher schwer, jemanden wie Tremec auszurauben, dennoch fand ich es etwas leichtsinnig, gar keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen zu haben. Ein weiteres Indiz für mich, dass sich der Baron seiner Sache sehr sicher sein musste. Wie auch immer – das machte unsere Arbeit nur leichter.

Darran hob den Deckel an. Achtlos warf ich die sich darin befindenden Kleidungsstücke auf den Boden. Tremec schien kein ordentlicher Mann zu sein, so zerwühlt wie die Kleidung in der Truhe lag.

Als sie leer war, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und beugte mich in die Truhe, um auch hier den Boden abzuklopfen – klein zu sein, barg nicht nur Vorteile. Dieses Mal fand ich, wonach ich suchte. Das Holz klang dumpf. Darunter befand sich sicher noch ein Hohlraum.

In einer der Ecken entdeckte ich einen Mechanismus, der den Boden löste, sodass er sich herausheben ließ. Allerdings erwies es sich als schwierig, denn der Boden schien nicht korrekt eingesetzt worden zu sein und klemmte.

»Hilf mir, Darran«, forderte ich ihn auf. Zusammen hievten wir das Zwischenstück nach oben und stellten es ab.

»Wie wir vermutet haben«, murmelte ich, als ich erneut einen Blick hineinwarf.

Am Grund der Truhe lag in Embryohaltung ein junge Frau, vollkommen nackt und mit Wunden übersät. Blut war in dünnen Rinnsalen aus den Wunden an ihrem Hals über ihre Schultern und Arme gelaufen. Es musste auch noch ausgetreten sein, als sie längst in der Kiste lag, denn es verklebte ihre feinen Haare zu dicken Strähnen. Verwunderlich, dass sie zu dieser Zeit überhaupt noch Blut in den Adern gehabt hatte. Vorsichtig tastete ich nach ihrem Puls. Für dieses Mädchen kam jede Hilfe zu spät. Lange schien es jedoch noch nicht tot zu sein.

»Zum größten Teil wurde sie ausgesaugt«, seufzte ich. »Hol sie raus, Darran. Das ist der Beweis, den wir brauchen.«

Darran hievte das Mädchen aus der Truhe. »Soll ich sie in den Keller bringen? Dort wird die Verwesung langsamer einsetzen dank der kühlen Temperatur.«

»Mach das. Ich werde zurückgehen.«

 

»Da haben Sie sich eine lange Pause gegönnt«, bemerkte der Baron, als ich in den Salon zurückkehrte. »Wohl noch einen kleinen Abstecher zu einer Dame gemacht, was?« Der Baron grinste mich breit an.

»Ich entschuldige meine vorübergehende Abwesenheit«, ging ich nicht weiter auf seine Aussage ein. Die gute Laune würde ihm gleich vergehen. Mein Blick suchte Ariens, und ich nickte kaum merklich, bevor ich Platz nahm.

»Nun denn, ich denke, es ist Zeit, übers Geschäftliche zu sprechen.« Arien setzte die Teetasse ab. Sein Ton ließ den lachenden Baron verstummen.

»Und ich denke, es ist Zeit, dieses Spiel zu beenden«, sagte der Baron und richtete sich auf. »Obwohl ich gestehen muss, dass ich mich amüsiert habe.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Ariens Augen verengten sich.

»Es ist mir nicht bekannt, warum sich Herzog Umbria solche Possen ausdenkt. Aber er sollte sich langsam herbemühen, denn meine Zeit ist kostbar.«

»Ich sitze direkt vor Ihnen«, erwiderte Arien.

Der Gesichtsausdruck des Barons schwenkte von amüsiert zu ungeduldig um.

»Schluss jetzt mit dem Kindertheater. Ein Bengel wie du soll der Herzog sein? Lachhaft! Wie alt bist du? Zwölf?«

»Fünfzehn«, antwortete Arien ruhig.

»Und der Graf?«

»Vierzehn«, beantwortete ich seine Frage. Er konnte uns nicht entkommen. Vor meiner Rückkehr hatte ich alle Türen zum Salon verriegeln lassen.

»So, so, das sind der gefürchtete König der Unterwelt und sein schwarzer Ritter?« Der Baron brüllte los vor Lachen, sodass sein ganzer Körper bebte. Von einer Sekunde auf die andere schlug seine Stimmung in Zorn um. »Eure Scharrade könnt ihr leichtgläubigen Bürgern vorführen. Wo ist der echte Herzog?«

»Wenn Sie an meiner Wenigkeit zweifeln, kommen wir zur Sache: Baron Tremec, Sie werden von der Krone angeklagt, mehrere junge Frauen entführt und ermordet zu haben, und dieses Verbrechens als schuldig befunden.« Arien erhob sich.

»Was soll das heißen?« Der Baron sprang auf. »Dafür gibt es keinen Beweis!«

Allein seine Aufregung über diese Anschuldigung enttarnte ihn. Der Fisch zappelte bereits am Haken. Innerlich bereitete ich mich auf das vor, was jeden Augenblick passieren könnte.

»Wie wäre es als Bestätigung mit dem Mädchen, das wir ganz unten in Ihrer Truhe gefunden haben?«, sagte ich und stand ebenfalls auf.

Der Baron warf mir einen Blick zu, als wolle er mir den Kopf abreißen. Er holte Luft.

»Bemühen Sie sich nicht, Ihren Diener zu rufen. Er hat sich wortwörtlich in Staub aufgelöst.« Mit einem Ruck zog ich meine Silbermesser unter dem Jackett hervor. »Sie müssen wohl neues Personal einstellen.« Süßlich lächelte ich ihn an. Die Revanche für seine abfälligen Bemerkungen.

Das Zähneknirschen des Barons war im ganzen Zimmer zu vernehmen.

»Ich lass mich nicht von zwei Kindern zum Narren halten!« Seine Muskeln unter der Jacke spannten sich an, und ich erkannte das Bewegungsmuster.

»Arien, ducken!«, rief ich und warf mich vor ihn, als sich der Baron auf ihn stürzte.

Die Wucht seines Sprungs riss mich mit, und wir stießen den Sessel um, auf dem Arien kurz zuvor noch gesessen hatte, ehe wir auf dem Boden aufkamen. Tremec fackelte nicht lange. Mit einem kräftigen Ruck schleuderte er mich von sich, sodass ich quer durch das Zimmer flog und gegen die Wand knallte.

Die Messer glitten mir aus den Händen. Mir wurde schwarz vor Augen, als ich auf dem Parkett aufschlug, während Schmerzen durch meinen Rücken und die Arme zuckten. Warme Flüssigkeit rann mir den Hinterkopf hinunter, begleitet von einem eisernen Geruch. Blut.

Reiß dich zusammen! Unter Einsatz meiner gesamten Willenskraft schaffte ich es, mich aufzurichten, und bemühte mich, den Schmerz auszublenden. Ich schob meine Gedanken in eine Ecke meines Verstandes und konzentrierte mich allein auf meine Bewegungen. Der Versuch aufzustehen, scheiterte. Meine Beine gaben sofort nach, und mir war schwindelig. Nach mehreren Malen Blinzeln konnte ich endlich Umrisse erkennen.

Tremec zog seinen Degen, der an seinem Hosenbund befestigt war. Arien sprang instinktiv zurück und griff seinerseits nach dem Degen an seinem Gürtel. Gekonnt parierte er den Schlag, schnellte vor und stach die Klinge mit einer einzigen fließenden Bewegung in den unteren Bauch des Barons.

Ich wandte den Blick ab und krümmte mich auf dem Boden zusammen. Übelkeit überfiel mich, und ich würgte. Meine Sicht hatte sich nach wie vor nicht vollständig geklärt. Verdammt, ich sollte schnell auf die Beine kommen!

Tremec sank in sich zusammen. Er packte den Griff des Rapiers und zog es ruckartig aus seinem Bauch. Hasserfüllt drang ein Knurren aus seiner Kehle. »Nicht schlecht für ein Kind. Aber damit kannst du mich nicht besiegen.«

Auch wenn mein Kopf nicht ganz klar war, konnte ich die rote Iris um seine Pupille sehen. Die Reißzähne, die zwischen den Lippen hervorlugten. Wie ein Raubtier schnappte er nach Arien und erwischte seinen Arm, in den er sich verbiss.

Arien verzog das Gesicht, gab aber keinen Laut von sich. Es machte den Eindruck, als kämpfte er mit einem tollwütigen Hund statt mit einem Vampir. Blut begann durch den Stoff auf den Boden zu tropfen.

Mit einem weiteren Versuch kam ich auf die Beine. Mir war noch immer schlecht, aber mir blieb keine Zeit, darauf zu achten. Flink schnappte ich die Silberdolche vom Boden und machte einen Satz auf den Baron zu.

Tremec war so auf Arien fixiert, dass er mich nicht bemerkte. Zumindest bis ich ihn von hinten ansprang und ihm jeweils einen Dolch links und rechts in den Hals rammte. Röchelnd ließ er von Arien ab und wollte mich von sich werfen.

Arien kam mir zu Hilfe. Bevor der Baron nach mir greifen konnte, schlug er ihm beide Hände ab. Schreiend wirbelte Tremec herum, tobte wie ein Stier, versuchte weiterhin, mich abzuwerfen.

Dieses Mal ließ ich mich nicht so leicht abschütteln. Wie ein Klammeraffe schlang ich meine Beine um seinen Leib, drückte die Dolche tiefer in seinen Körper. Brandspuren bildeten sich, während die scharfen Klingen mühelos durch Gewebe, Sehnen und Knochen schnitten, bis ich seinen Kopf vom Rumpf getrennt hatte. Der Kopf des Barons fiel mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf den Teppich und kullerte zu Ariens Füßen.

Ich löste meine Beinklammer, und der Körper des Barons fiel schwer und leblos zu Boden, wie ein Sack Mehl.

»Das wäre erledigt«, sagte Arien, als hätte er soeben einen sachlichen Bericht beendet.

Erleichtert atmete ich auf. »Tremec wird in Zukunft weder junge Mädchen verschleppen, noch die Öffentlichkeit weiter auf sich aufmerksam machen.«

Der Körper des Vampirs begann, langsam zu Asche zu verfallen.

»Was für eine Sauerei«, bemerkte Arien, als er das Zimmer betrachtete. Vor allem der ausgelegte Teppich war von Blutspritzern in Mitleidenschaft gezogen worden.

Ich verstaute meine Waffen und stellte den Sessel auf, den der Baron und ich umgestoßen hatten.

»Darran!«

Kurz nach Ariens Ruf betrat der Butler den Salon. »Sie wünschen, Mylord?«

»Räum das auf! Ich will bis morgen früh keine Spuren mehr vorfinden.«

»Sehr wohl.«

»Es ist bereits kurz vor Mitternacht. Ich werde zu Bett gehen. Gute Nacht.« Arien schritt aus dem Zimmer. Als er an mir vorbei ging, raunte er mir zu: »Wir sehen uns später.«

Kaum hatte Arien den Saal verlassen, legte mir Darran eine Hand auf die Schulter.

»Soll ich nach dem Arzt schicken lassen, Mylord?«

»Schon gut, so schlimm ist es nicht. Sende Dr. Fermont zuerst zu Arien.«

»Wie Sie wünschen.«

»Ich werde mich auch zurückziehen. Gute Nacht, Darran.«

»Angenehme Ruhe, Mylord.«

Kurz vor der Tür drehte ich mich noch einmal um. »Darran?« Ich setzte ein Lächeln auf. »Danke.«

Darran verneigte sich höflich und nickte mir mit freundlichem Gesicht zu. »Stets zu Diensten, Graf Chevaliez.«

 

»Unverantwortlich!«, schimpfte Dr. Fermont, als er mir einen Verband um den Kopf wickelte. »Sie haben Glück, dass Sie mit einer Platzwunde davongekommen sind und der Herzog mit einer Bisswunde. Vampire sind oft blutrünstiger!«

»Nur, wenn ihre Opfer ahnungslos sind. Arien und ich wissen, worauf wir uns einlassen«, entgegnete ich gelassen und lehnte mich in den Stuhl zurück.

Seit einer geschlagenen halben Stunde saß ich hier und ließ mich verarzten. Die Schmerzen spürte ich mittlerweile kaum noch. Wieder einmal regte er sich zu sehr auf. Leise stieß ich einen Seufzer aus.

Dr. Fermont schnaubte verächtlich. »Eines Tages landet einer von Ihnen in Stücken auf meinem Tisch.«

Er überreagierte ganz eindeutig.

»Doktor, Sie haben einen Keller voller Chemikalien, mit denen Sie experimentieren. Soll ich Ihnen etwa jedes Mal sagen, dass Sie eines Tages in die Luft fliegen könnten?«, konterte ich.

»Ich führe diese Experimente durch, um Sie zu unterstützen. Dank meiner Erfindungen können Sie sich gegen jedwede Art der Myraner verteidigen.« Um sicher zu sein, dass der Verband hielt, befestigte er ihn doppelt.

»Dafür sind wir Ihnen auch sehr dankbar. Ich meinte damit, dass es immer ein Risiko geben wird.«

Dr. Fermont rückte seine Brille zurecht und strich sich durch das dunkelbraune zerzauste Haar. Unter seinen braunen Augen lagen Schatten. Wahrscheinlich schlief er zu wenig und verbrachte zu viel Zeit in seinem Labor.

»Sie sollten auf sich selbst achten. Sie haben Augenringe«, merkte ich an.

Ein mildes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Vielen Dank für Ihre Sorge.« Er stieß die Luft aus und fuhr ruhiger fort: »Sie beide sind so jung. Ihr Leben liegt noch vor Ihnen. Es ist eine Schande, dass der Kaiser die Sache nicht selbst in die Hand nimmt.« Er verstaute den restlichen Verband und die Untersuchungsinstrumente in seiner Arzttasche.

»Es ist, wie es ist. Daran können wir nichts ändern.«

»Die Menschen sollten Ihnen dankbar sein, dass Sie sie beschützen.«

»Die Menschen wissen nichts von den Myranern. Und so soll es bleiben. Dafür sind Arien und ich da.«

Das war schließlich unsere Aufgabe. Auch wenn niemand davon wusste, erfüllte es mich mit Stolz, meine Stadt zu schützen. Für Frieden und Sicherheit zu sorgen.

»Wie auch immer. Für die nächsten Tage verordne ich Ihnen Bettruhe.«

Ich sprang auf. »Unmöglich! Was, wenn es einen dringenden Vorfall gibt?«, protestierte ich, während ich die Hände in die Hüften stemmte.

»Das kann warten. Sie müssen sich erholen! Und der Herzog ebenso. Das ist eine ärztliche Anweisung, verstanden?«

Es machte keinen Sinn, mit dem Doktor verhandeln zu wollen – in dieser Sache gab er nicht nach. Also lenkte ich ein.

»In Ordnung«, sagte ich, kreuzte dabei jedoch die Finger hinter dem Rücken. Auf keinen Fall saß ich zu Hause, während dort draußen gefährliche Monster, die wir Myraner nannten, ihr Unwesen trieben.

»Ich warne Sie, ich kenne Ihren Dickkopf! Meiden Sie anstrengende Aktivitäten.«

»Ich verspreche es Ihnen.« Einen Anflug von schlechtem Gewissen verspürte ich schon, aber ich konnte die Menschen und die Stadt nicht im Stich lassen, wenn sie mich brauchten.

Es klopfte an der Tür, und Veena, mein Zimmermädchen, betrat mit einer Schüssel warmen Wassers den Raum. Bei meinem Anblick stockte ihr der Atem.

»Ich habe gehört, dass es zu einem gefährlichen Kampf gekommen ist. Geht es Ihnen gut?«, fragte sie zaghaft.

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, versicherte ich ihr. »Der Baron ist ein wenig ausfällig geworden.«

Dr. Fermont verzog den Mund, sagte aber nichts dazu. »Ich empfehle mich. Schonen Sie sich!« Er nickte mit dem Kopf in meine Richtung und verließ das Zimmer.

Veena stellte die Schüssel auf dem Nachttisch ab. Ihre warmen braunen Augen ruhten auf mir wie die einer besorgten Mutter. In ihren Zopf hatte sie heute Krokusse geflochten.

»Sie sollten der Göttin danken, dass Sie mit einer leichten Verletzung davongekommen sind. Ich bin mir sicher, sie hat heute ihre schützende Hand über Sie und den Herzog gehalten.«

»Es war eine harmlose Auseinandersetzung.« Es gab keinen Grund, Veena zu beunruhigen. Sie wusste nichts von den Monstern dort draußen oder unserer Aufgabe. So sollte es bleiben. »Mach dir keine Sorgen. Hilf mir beim Entkleiden und waschen und bring mir bitte meine Nachtrobe.«

»Natürlich, sofort.«

Nachdem ich mich der blutigen Sachen entledigt und die restlichen Spuren auf meiner Haut beseitigt hatte, schlüpfte ich in das seidene Nachthemd, das mir Veena entgegenhielt.

»Danke. Das wäre alles für heute.«

Mit einem Knicks und einem letzten besorgten Blick verließ sie den Raum.

Die Bänder des Nachthemdes schnürte ich selbst zu, kämmte mir die Haare und öffnete dann die Verbindungstür zu Ariens Zimmer.

Arien saß in seinem Bett, den rechten Arm in einer Schlinge. Er war in ein Buch vertieft. Erst als ich mich auf die Bettkante setzte und unter die Decke kroch, hob er den Blick.

»Du kommst spät.«

»Ich hatte einen schimpfenden Doktor und ein besorgtes Zimmermädchen zu beruhigen. So was dauert.«

Arien klappte das Buch zu und legte es auf den Nachttisch.

Ich musterte den Verband. »Wie geht es deinem Arm?«

»Die Wunden sind nicht tief.«

Damit wollte Arien wohl andeuten, dass es ihm gutging.

»Wenigstens hören jetzt die Angriffe auf die Mädchen auf, und die Straßen von Corona sind wieder sicher«, murmelte ich vor mich hin.

»Tremec wird nicht der Letzte sein, dem die Gesetze der Unterwelt egal sind«, sagte Arien müde.

»Hm …« Ich zupfte am Ärmel meines Nachthemdes herum.

Damit hatte er recht. Es gab viele Wesen wie den Baron, die sich über die Regeln hinwegsetzten. Spätestens wenn die nächste Leiche auftauchte, würde der Kaiser nach uns verlangen, damit wir Ordnung schafften.

Für heute reichte es mir allerdings. Ich fühlte mich ausgelaugt und erschöpft. Es hatte uns einige Anstrengungen gekostet, den Baron hervorzulocken.

Als Arien ein loses Haar von meinem Ärmel zupfte, zuckte ich zusammen.

»Rot wie Feuer«, murmelte er, während er es betrachtete.

»Schwarz wie die Nacht«, sagte ich, ohne nachzudenken. Eine seiner schwarzen Strähnen fiel ihm in die Stirn.

Arien legte den Kopf schräg.

»Vergiss es«, fügte ich rasch hinzu.

»Schwarz und rot – wie passend für die Unterwelt«, sagte Arien und ließ das Haar zu Boden fallen. Er zog seinen verbundenen Arm aus der Schlinge und verschränkte beide Arme hinter dem Kopf, als er sich hinlegte.

Ich löschte die brennende Kerze auf dem Nachttisch, bevor ich es ihm gleichtat. Durch die Vorhänge fiel das fahle Licht des Mondes, sodass der Raum heute nicht ganz in Dunkelheit lag.

»Bereust du es?«, fragte Arien plötzlich.

»Was?«

»Mir deine Hilfe angeboten zu haben bei meinen Aufgaben.«

Für einen Augenblick überlegte ich, starrte den Baldachin über mir an. »Nein. Ich hab es schließlich seit meiner Kindheit gewusst. Also zumindest wusste ich, dass deine Familie gefährliche Angelegenheiten erledigt. Mit so was wie übernatürlichen Wesen habe ich dabei allerdings nicht gerechnet.«

Arien lachte leise. Etwas Seltenes bei ihm. »Wie wahr. Wer würde Fabelwesen für echt halten, ohne sie mit eigenen Augen gesehen zu haben? Doch wir sind einige der wenigen, die die Wahrheit kennen. Also fällt es uns zu, ihnen Einhalt zu gebieten, damit die Menschen in Corona weiterhin sicher leben können. Das ist seit Jahrhunderten die Pflicht meiner Familie.«

Seine Pflicht. Arien ließ sich nie etwas anmerken. Manchmal fragte ich mich, wie er selbst darüber dachte. Auch wenn es ihm zuwider wäre – weder er noch ich würden unserem Schicksal entkommen. Der Aufgabe, die Arien seit Geburt an auferlegt worden war.

Seit einem Jahr begleitete ich ihn auf diesem Weg. Seitdem hatte ich Mitleid und Moral hinter mir lassen müssen. Schmerz und Leid wurden zu meinem Alltag, in dem es kein Erbarmen gab. Myraner, die die Menschen bedrohten, zu beseitigen, war unsere Bestimmung. Manche Aufträge waren grausam, und ich stumpfte mit der Zeit mehr und mehr ab. Nur eines blieb. Die Albträume, die mich nachts oft quälten.

Zumindest schlief ich besser, wenn ich Arien neben mir wusste. Er hingegen hatte sein Bett lieber für sich, was ich respektierte. Aber Ariens Nähe spendete mir auf gewisse Weise Trost. Er vertrieb die schlechten Träume und ließ mich die Nacht heil überstehen. Heute würde ich nicht andauernd aus dem Schlaf schrecken, nach dem Messer unter dem Kissen tasten und jeden Schatten an der Wand verdächtigen.

Für heute fühlte ich mich sicher.

»Gute Nacht«, flüsterte ich leise, kuschelte mich in mein Kissen und schloss die Augen.

»Gute Nacht, Lianne.«

Heimkehr

 

»Mylady … Mylady!«

Ich schreckte aus dem Schlaf, griff instinktiv nach dem Dolch unter meinem Kopfkissen und hielt ihn der Person an die Kehle, die sich über mich beugte.

»Haben Sie schlecht geträumt?«

Mein Atem beruhigte sich, als ich Darran erkannte.

»Besser als sonst«, wich ich seiner Frage aus und platzierte die Waffe wieder unter dem Kopfkissen. Ariens Seite war bereits verlassen.

»Wie spät ist es?«

Darran warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »Neun Uhr, Mylady. Wenn Sie bitte aufstehen und sich ankleiden würden? Der Herzog hat eine Kutsche für Sie vorbereiten lassen.«

»Eine Kutsche?« Gab es wieder Arbeit für mich?

Veena eilte durch die Verbindungstür ins Zimmer, meinen Morgenmantel über dem Arm.

»Einen schönen guten Morgen, Lady Lianne«, begrüßte sie mich. »Fühlen Sie sich heute besser?«

»Es ging mir nicht schlecht«, erwiderte ich und stieg aus dem Bett. »Danke für deine Sorge«, setzte ich hinzu, als ich Veenas leicht entrüsteten Blick bemerkte.

Sie half mir in den Morgenmantel und folgte mir zurück in meine Gemächer. Eine Schüssel mit frischem Wasser stand bereit. Ich schöpfte welches in meine Hände und wusch mir das Gesicht. Dabei spürte ich, dass mich Veena beobachtete.

»Wenn du etwas sagen möchtest, nur zu«, forderte ich sie auf.

Veena zögerte, und auf ihre Wangen trat ein Hauch von Rosa.

»Nun, Mylady, ich habe mich gefragt, ob ich unter dem Personal wieder verbreiten soll, dass ihre Beziehung mit dem Herzog … gut läuft«, fragte sie, und ich sah ihr an, dass ihr diese Frage sichtlich unangenehm war.

Ich nickte zustimmend. »Ja, mach das bitte.«

»Dann werde ich das gleich erledigen.« Veena verschwand mit einem Knicks zur Tür hinaus.

Das Personal durfte zwar nichts über unser Zuhause ausplaudern, aber es gab anderen Klatsch, den sie liebend gern verbreiteten. Dass das Gerücht herumging, Arien und ich teilten nicht das Bett miteinander, und es unnötigen Tratsch über unsere Ehe gab – darauf konnte ich verzichten. Schon allein deshalb, weil für mich andere Dinge im Vordergrund standen.

Nicht, dass mich Arien seit der Hochzeit auch nur einmal angerührt hätte, aber das musste ja niemand wissen. Es reichte aus, von Zeit zu Zeit im selben Bett zu liegen. Ehrlich gesagt, war ich froh darum. Ich wüsste nicht, wie ich damit umgehen sollte, würde Arien eines Tages von mir verlangen, mit ihm zu schlafen. Er genoss meinen Respekt und mein Vertrauen. Aber Liebe? So etwas gab es zwischen uns nicht. Manchmal fühlte es sich eher wie ein Arbeitsverhältnis an. Er war mein Vorgesetzter, ich führte seine Befehle aus. Die Ehe war eine Nebensächlichkeit.

Allein der Gedanke wir würden … ich schob das Thema beiseite.

Das Frühstück stand fertig vorbereitet auf dem Tisch vor dem offenen Balkonfenster. Ebenfalls eine Seltenheit. Für gewöhnlich frühstückte ich mit Lord und Lady Hampton. Arien musste diese Anweisungen erteilt haben. Also setzte ich mich auf einen der beiden Stühle und nahm mir ein frisch gebackenes Brötchen. Eine sanfte Brise wehte von draußen herein und trug den Duft der Blüten in das Zimmer. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Die Sonnenstrahlen wärmten den Raum. Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete einmal tief ein. Nichts mehr erinnerte an die Ereignisse der letzten Nacht.

Nach einer halben Stunde kam Veena zurück, um meine Kleidung für den Tag vorzubereiten. Zu meiner Überraschung legte sie mir ein Kleid anstatt der üblichen Hosen zurecht.

Für mich, die die meiste Zeit als Graf Miron Chevaliez statt als Herzogin unterwegs war, ein seltener Anblick. Veena, Darran, Dr. Fermont kannten neben Arien als Einzige mein Geheimnis, und wenn ich verkleidet, aber wir unter uns waren, wurde ich von ihnen mit Lady Lianne angesprochen.

Aus dem Grund, da ich meistens wie ein Junge aussah, ließ ich meine Haare nie länger als bis zu den Schultern wachsen. Außerdem ersparte mir diese Identität ebenfalls viel Spott und Klatsch, denn für eine Dame meines Standes wäre es verpönt, in Hosen herumzulaufen und mit Messern zu kämpfen.

Ich tat es aber nicht nur deshalb, sondern auch, um meine Familie nicht unnötig zu ängstigen. Lieber erhielt ich das Gerücht aufrecht, dass ich kränklich und bei schwacher Gesundheit wäre. Das verhinderte neugierige Fragen, warum ich mich nie als Herzogin zeigte.

Kleider hatten aber auch einen Vorteil – nämlich, dass ich mir nicht die Brust binden musste, auch wenn ich nicht viel vorzuweisen hatte. Sicher war sicher.

Ich musterte das Kleid in hellem Blau mit einem weiten Rock, langen Ärmeln mit Stickereien und einer eng geschnittenen Taille.

Außerdem eine Kutsche nur für mich. Arien schien nicht mitzukommen. Und ebenso konnte es kein neuer Auftrag vom Kaiser sein, wenn ich mich als Lady Lianne einkleiden sollte.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich Veena.

Ein wissendes Lächeln huschte über Veenas Züge. »Der Herzog hält sich an die Anweisungen des Doktors und gönnt Ihnen eine Pause.«

Das reichte, um zu ahnen, was hier vor sich ging. Der Morgen erschien mir auf einmal viel heller als zuvor, und ich schlang die Reste meines Frühstücks hinunter, um mich rasch anziehen zu können. Summend zog ich mir das Nachthemd über den Kopf. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich sie zuletzt gesehen hatte.

»Nimm mir bitte den Verband ab«, bat ich, nachdem ich in das Kleid geschlüpft war und mir Veena die Knöpfe am Rücken geschlossen hatte.

»Aber Ihre Wunde ist noch nicht verheilt«, protestierte Veena.

»Das ist egal. Ich werde meine Familie nicht besuchen, um ihnen mit einer Verletzung Sorgen zu bereiten.«

Das fehlte noch. Mit einem Verband nach Hause zu kommen. Großvater und Becky einen Grund zu geben, zu glauben, mir ginge es nicht gut. Oder noch schlimmer: Großvater Verdacht schöpfen lassen, dass ich mein Versprechen nicht einhielt. Er würde sicher keine Nacht mehr ruhig schlafen können.

Veena öffnete den Mund, doch die Worte fanden nicht den Weg über ihre Lippen, ehe sie sie zusammenbiss und vorsichtig den Verband löste.

»Sieht man es?«, wollte ich wissen.

Veena schüttelte den Kopf. »Die Wunde wird von Ihren Haaren verdeckt.«

Zufrieden nickte ich, nahm die weißen Spitzenhandschuhe von der Kommode und ließ mir von Veena das Collier aus Saphiren und Diamanten anlegen, dazu die passenden Ohrringe. Veena flocht mir die Haare, die sie anschließend mit feinen Nadeln zusammensteckte. Zuletzt trug sie Rouge, Lippenbalsam und ein wenig Wimperntusche auf. Nach einem kurzen Blick in den Spiegel erhob ich mich.

Das Mädchen, das mir aus grünen Augen entgegenblickte, erschien mir jedes Mal fremd. Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, Hosen zu tragen, sodass es sich merkwürdig anfühlte, in ein Kleid zu schlüpfen. Ungewohnt, ja geradezu fremdartig. Das kleine Mädchen, das sich über die hübschen Kleider ihres Großvaters freute, war lange verschwunden. Wehmut zerrte an meinem Inneren, wenn ich daran zurückdachte.

»Sie sehen wundervoll aus«, schwärmte Veena entzückt.

»Danke.« Die ganze Prozedur hatte eine knappe Stunde gedauert. Ich wusste, warum ich für gewöhnlich darauf verzichtete.

Bevor ich das Zimmer verließ, schlüpfte ich noch in meinen Frühlingsmantel und warf mir die Kapuze über den Kopf. Auf dem Gang begegneten Veena und ich niemandem. Arien hatte auf dem Anwesen nicht mehr Personal als nötig eingestellt, und manchmal wirkten die Flure dadurch ausgestorben. Für mich war das von Vorteil, denn so entging ich schaulustigen Blicken.

Wie angekündigt wartete im Hof eine Kutsche. Darran öffnete die Tür, als ich mit Veena hinaustrat, und half mir beim Einsteigen. Veena nahm mir gegenüber Platz. Darran bestieg den Kutschbock. Die Pferde setzten sich mit gemächlichem Schnauben in Bewegung und zogen die Kutsche aus dem Hof.

Ein letztes Mal warf ich durch das Fenster einen Blick auf das Hampton-Anwesen. Für eine Weile würde ich es zurücklassen. Obwohl ich mich unglaublich auf meine Familie freute, machte sich Unbehagen in mir breit. Arien kam zweifelsohne allein zurecht. Dennoch wollte ich unbedingt helfen, falls es Schwierigkeiten mit einem Myraner gab.

Veenas Hand legte sich auf meine, als sie sich vorbeugte. »Das werden sicher ein paar wundervolle Tage. Entspannen Sie sich etwas, Mylady. Das wird Ihnen guttun.« Sie verzog leicht das Gesicht, als die Kutsche kurz heftig schaukelte.

»Wahrscheinlich hast du recht. Ich sollte die Arbeit für diese Zeit vergessen.« Wenn es nur so leicht wäre.

Ich schlug die Kapuze nach hinten und starrte aus dem Fenster. Das Anwesen lag am Rande der Stadt auf einem großen Grundstück mit vielen Bäumen und Hecken, die es vor neugierigen Blicken schützte. Großvaters Anwesen lag fast am anderen Ende Coronas, ebenfalls etwas abseits.

Mir entging nicht, dass Veena während der Fahrt zunehmend blasser wurde. Ihre Hand wanderte zu ihrem Bauch.

»Geht es? Wenn wir anhalten sollen, sag Bescheid«, sagte ich.

»Vielen Dank, es ist noch nicht schlimm«, sagte Veena. Doch nach etwa fünfzehn weiteren Minuten klopfte ich gegen das Kutschendach und ließ Darran anhalten, weil ich befürchtete, dass sonst ein Unglück geschehen würde.

Wir befanden uns ganz oben auf einem grünen Hügel, bewachsen mit weißen Margeriten. Veena atmete ein paar Mal tief durch, und ihr Gesicht nahm wieder Farbe an.

»Ein wundervoller Ausblick, nicht wahr?«, sagte sie, als sie hinunter ins Tal schaute.

»Ja«, stimmte ich ihr zu. Von hier aus konnte ich fast die gesamte Stadt überblicken.

Mein Blick wanderte den Hang hinab. Über die vornehmen Anwesen der reichen Leute mit ihren prachtvollen Villen, bestückt mit Türmen oder Erkern und den Pavillons in den blühenden Gärten. Ein wundervoller Anblick im Frühling, wenn alles zu grünen begann. Friedlich wiegten sich die Bäume im Winde, und die Brise wirbelte Blütenblätter auf. Eine Weile bewunderte ich, wie sie durch die Luft tanzten. Dann schaute ich hinunter ins Tal, wo die Häuser der Bürger dicht an dicht standen. Rote und schwarze Dächer, verzierte Fassaden und dazwischen das Grün der Parks, das hier und dort aufleuchtete. Ich war stolz darauf, dass es unserer Stadt, unserem ganzen Land so gut ging und es den Leuten an nichts mangelte.

Im Zentrum ragte das Herzstück von Corona empor: der prachtvolle Tempel mit seiner großen Buntglaskuppel und der daran anschließende Marktplatz mit den vielseitigen Ständen und farbigen Planen. Verbunden durch zahlreiche Brücken unterteilten sieben Flüsse die Stadt in einzelne Viertel. Boote schipperten auf dem glitzernden Wasser hin und her. Ich folgte mit den Augen den Verläufen, bis die Flüsse ins Meer mündeten. In der Ferne konnte ich kleine Punkte mit weißen Segeln erkennen. Handelsschiffe, die den Hafen ansteuerten und neuen Reichtum nach Corona brachten.

Ein Stück vom Hafen entfernt erhob sich die grüne Insel der Göttin aus dem Meer, auf der die Priester und Priesterinnen lebten.

Es gab Tage, an denen wünschte ich mir, einfach an Bord eines der Schiffe zu gehen und Corona weit zurückzulassen. Die unbekannten Länder zu erforschen, die hinter dem Horizont warteten. Keine Aufträge mehr, keine Myraner, die in den Schatten lauerten. Nur das Meer, der raue Wind und ich am Bug eines schaukelnden Schiffes. Vor mir die endlose Weite, das Rauschen der Wellen in meinen Ohren und irgendwo in der Ferne ein unbekanntes Land.

Veena nieste neben mir, und meine Gedanken kehrten von diesem anderen Ich zu mir zurück. Die Möglichkeit, über die Meere zu segeln, lag für mich in unerreichbarer Entfernung. Mein Leben gehörte Arien und seiner Aufgabe, der er verpflichtet war. Bis zu meinem letzten Atemzug.

Ich wandte den Blick vom Meer ab. Je mehr ich es betrachtete, umso stärker wuchs die Sehnsucht in mir.

»Können wir weiterfahren?«, erkundigte ich mich bei Veena.

»Ja, es geht mir besser. Aber Sie sehen dafür etwas blass aus, Mylady.«

Mit schwerem Herzen verdrängte ich den Wunsch in die hintere Ecke, wo er hingehörte, und richtete mich etwas auf. »Es geht mir gut.«

»Wir hätten den Verband um Ihren Kopf nicht lösen sollen.« Veena knetete ihre Hände.

»Daran liegt es nicht«, versicherte ich ihr, bemüht, einen fröhlichen Eindruck zu machen, und stieg wieder in die Kutsche ein.

Veena folgte mir. Während der Fahrt dachte ich an Großvater, den ich bald wiedersehen würde. Und an Rebecca. Ob sie immer noch auf jede Gesellschaft eilte, um sich den neusten Klatsch der Stadt nicht entgehen zu lassen? Sicher löcherte sie mich mit tausenden Fragen, falls sie zu Hause war.

Mit diesen Gedanken vertrieb ich mir die Zeit, bis die Kutsche langsamer wurde und zum Stehen kam.

Das Portland Anwesen befand sich am östlichen Rand von Corona. Weit weg vom geschäftlichen Treiben der Stadt. Statt laute Menschenstimmen und Hufgetrappel hörte ich summende Bienen, als mir Darran aus der Kutsche half. Zeugen der Imkerei, mit der sich Großvater gerne beschäftigte. Selbst die Luft hier schien anders zu sein. Frischer und unbeschwerter, als sie bei uns jemals sein könnte. Zwei Eichhörnchen sprangen keckernd über den Weg und kletterten auf den nächsten der hoch gewachsenen Bäume.

Zusammen mit Veena ging ich über den Vorplatz auf die Villa zu. Ein plätschernder Springbrunnen mit klarem Wasser empfing uns. Dahinter bot sich mir ein vertrauter Anblick. Ein leicht verwittertes Gebäude, an dessen Mauern Efeuranken emporstrebten. Die helle Eichenholztür und die Säulen links und rechts davon stützten den Balkon. Damit die Sonne mich nicht blendete, hielt ich mir die Hand über die Augen, als ich nach oben blickte. Vom Geländer hing eine Farbenpracht von Blüten herab. Der Frühling gehörte bereits zu den warmen Jahreszeiten, und die Temperatur fiel selten in den einstelligen Bereich.

In mir breitete sich eine friedliche Ruhe aus. Ich vergaß die Myraner. Meine Pflichten wurden unwichtig. Mein Herz machte einen kleinen Satz, als ich die vertrauten Stufen des Eingangsbereichs hochstieg. Gleich! Gleich konnte ich Großvater in die Arme schließen, meine Schwester Rebecca ebenso. Ich konnte wieder durch den Garten wandern oder mir meine Zeit in Großvaters Arbeitszimmer mit den vielen Landkarten vertreiben. Ich war zu Hause!

Darran griff nach dem Türklopfer und schlug ihn zwei-, dreimal gegen das Holz. Binnen einer Minute wurde geöffnet.

Ulla stand in der Tür. Sie sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Beiges einfarbiges Kleid mit Schürze, und die Haare ordentlich nach oben gesteckt.

»Sie wünschen?«, fragte sie Darran.

Mir entwich ein Kichern. Ulla besaß kein besonders ausgeprägtes Personengedächtnis und vergaß Gesichter schnell, wenn sie ihr selten unter die Augen kamen.

Ulla lehnte sich an Darran vorbei, durch den Laut auf mich aufmerksam geworden. Einen Moment blinzelte sie ungläubig, dann fing ihr rundes Gesicht an zu strahlen.

»Lady Lianne! Was für eine Freude. Wir haben gar nicht mit Ihnen gerechnet!«, stieß sie hervor und knickste vor mir.

»Ich ehrlich gesagt auch nicht. Der Herzog hat mich heute Morgen damit überrascht.«

»Wie aufmerksam von ihm. Er scheint sich gut um Sie zu kümmern.« Ulla musterte mich von oben bis unten. »Und Sie sehen blendend aus, Mylady.«

Hinter ihr ertönte Fußgetrappel auf der Treppe. »Wer ist denn da? Ist es die Postkutsche?« Augenblicke später drängte sich Rebecca an Ulla vorbei, bevor diese überhaupt antworten konnte. Becky trug ein Kleid aus hellen Fliedertönen. Die schokoladenbraunen Haare fielen in langen Wellen über ihre Schultern.

»Schön dich zu sehen, Becky«, sagte ich und grinste meine Schwester an.

Ihre Augen wurden groß. Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie sicher gehen, dass sie sich nicht täuschte, bevor sie anfing, vor Freude zu kreischen.

»Lianne!« Rebecca fiel mir mit Schwung um den Hals und erdrückte mich fast. »Wie geht es dir? Man hört überhaupt nichts von dir. Was machst du die ganze Zeit? Du kommst nie zu Besuch. Ist der Herzog auch da?«

Becky lugte an mir vorbei. Enttäuschung trat auf ihr Gesicht, als sie Arien nirgends erspähen konnte.

»Du wirst wohl mit mir vorliebnehmen müssen«, sagte ich lächelnd.

»Wie ich sehe, sind Sie in guten Händen, Mylady«, mischte sich Darran ein. »Dann werde ich jetzt zum Anwesen zurückkehren und Sie in vier Tagen wieder abholen.«

Darran stieg die Stufen hinab, als ich ihm nacheilte und ihn am Arm packte. Ich lehnte mich leicht nach vorne, damit die anderen uns nicht hörten. »Darran? Arien geht es gut, oder?« Ich hatte mich gar nicht von ihm verabschiedet.

»Er ging heute Morgen voller Energie an die Arbeit«, antwortete Darran.

»Da bin ich erleichtert. Wenn etwas passiert – sag Arien, er soll mich sofort kontaktieren.«

»Ich werde es ihm ausrichten, Mylady. Genießen Sie Ihren Aufenthalt. Ich hoffe, Sie erholen sich gut.«

»Vielen Dank. Richte Arien Grüße von mir aus.«

Darran nickte elegant und schritt auf die Kutsche zu, von der das Personal eben die letzten Koffer holte.

Zum Abschied winkte ich ihm kurz hinterher, bevor die Kutsche wendete und den Weg entlangrollte.

»Komm, mach mit mir einen kleinen Spaziergang durch den Garten.« Becky erschien an meiner Seite und zerrte an meinem Arm.

»Lady Rebecca, lassen Sie Ihre Schwester doch erst einmal ins Haus kommen«, sagte Ulla kopfschüttelnd.

»Das kann sie später immer noch. Es ist herrliches Wetter. Da macht es viel mehr Freude, bei einem Spaziergang ein wenig zu Plaudern.«

Ich ahnte schon, dass Becky nur mit mir allein sein wollte, um mich mit noch mehr Fragen zu löchern. Innerlich wappnete ich mich schon einmal und legte mir einige ausweichende Antworten zurecht, falls es nötig wurde.

»Das ist schon in Ordnung, Ulla.« Ich entkam Rebecca so oder so nicht.

»Dann werde ich derweil das Gepäck auf Ihr Zimmer bringen«, sagte Veena und griff nach der Tasche, die ein Diener zuvor abgeladen hatte.

»Sehr gerne. Kommen Sie bitte hier entlang.« Ulla trat beiseite, um Veena einzulassen.

Zu mehr als einem Blick ins Haus kam ich nicht, da mich Rebecca in diesem Moment davonzerrte. Sie hakte sich bei mir unter, und wir liefen den Weg entlang, am Springbrunnen vorbei und Richtung Garten hinter dem Haus.
 

Ein Stück heile Welt

 

»Stell dir vor: Die Baronesse von Ena hat schon wieder geheiratet. Es ist ihr vierter Ehemann. Die hat einen Verschleiß … Und Harry Lennox ist immer noch auf der Suche nach einer Frau. Na, ob er bei seinem Aussehen eine finden wird, bezweifle ich.« Rebecca kicherte amüsiert, während sie die Falten ihres Kleides sorgfältig ordnete.

Gelegentlich nickte ich, um zu zeigen, dass ich zuhörte, verstand aber kein Wort. Ich kannte mich in der Gesellschaft zu wenig aus, um die Namen, die Rebecca in drei Sätzen aufzählte, zuordnen zu können.

»Ganz ehrlich, Lianne, komm zu diesen Festen! Ständig beschweren sich die Leute bei mir, dass sie nicht wissen, wo sie ihre Einladungen hinsenden sollen, weil keiner weiß, wo ihr wohnt. Nicht einmal ich weiß es. Ihr beide seid wie Phantome«, sagte Rebecca mit einem vorwurfsvollen Blick.

Kein Wunder, immerhin gehörte unser Anwesen offiziell den Hamptons. Arien wollte es so.

»Das ist keine Absicht. Es ist einfach notwendig. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen«, entschuldigte ich mich.

Becky schürzte die Lippen. »Seit eurer Hochzeit vor einem Jahr habe ich dich nicht mehr gesehen. Schreiben konnte ich dir auch nicht. Ich wusste nicht, wie es dir geht oder wie du dich in deinem neuen Zuhause fühlst. Ich höre nur das, was von Bediensteten an spärlichen Informationen verbreitet wird.« Sie seufzte tief und warf mir einen skeptischen Blick zu. »Ist der Herzog ein Spion des Kaisers oder so was?«

»Nein, also nicht wirklich. Aber er erledigt wichtige Geschäfte für den Kaiser.«

»Und was für welche?«, fragte Becky neugierig.

Innerlich rang ich die Hände. Ich liebte Becky sehr, aber ich konnte ihr darüber nichts erzählen. Es diente ihrer eigenen Sicherheit, wenn sie im Unklaren blieb.

»Das weiß ich nicht. Ich halte mich aus seinen Angelegenheiten heraus«, wich ich ihrer Frage aus, und sie machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Ich dachte, ich bekomme endlich mal Informationen aus erster Hand«, maulte sie.

»Wir sind kein Klatschthema für deine Gartenfeste.« Manchmal fragte ich mich, wer von uns beiden die Ältere war. Mit ihren sechzehn Jahren benahm sich Becky manchmal um einiges kindischer. Dafür liebte ich ihre Sorglosigkeit. Für sie gab es nichts Böses. Ihre Welt bestand aus prächtigen Festen und schönen Kleidern. Das sollte ihr niemand wegnehmen.

»Jaja, ich habe es begriffen. Dass der Herzog mit den Aufträgen des Kaisers beschäftigt ist, kann ich verstehen. Aber du? Ist es nicht langweilig nur in eurem Anwesen herumzusitzen? Die Gesellschaft will dich sehen.«

Selbst wenn ich es ihr zu erklären versuchte, Becky würde wohl nie nachvollziehen können, dass mir solche Dinge nichts bedeuteten.

»Tut mir leid, Becky. Ich … also … es war eine schwierige Zeit für mich.« Anders wusste ich es nicht zu umgehen. Was sollte ich auch antworten? Dass ich keine Zeit gehabt hatte, mir ein Kleid für den Frühlingsball auszusuchen, weil ich damit beschäftigt gewesen war, einen blutrünstigen Vampir auf unser Anwesen zu locken und ihn anschließend zu enthaupten?

Beckys Blick wurde weicher. »Ja, das kann ich mir vorstellen. Immerhin wurdet ihr wirklich früh verheiratet. Ich meine, nicht dass es unüblich ist, Ehen mit siebzehn oder achtzehn zu schließen. Aber es hat mich wirklich überrascht, als der Vater des Herzogs bereits letztes Jahr ausdrücklich darauf bestanden hat. Du warst immerhin erst dreizehn.«

»Mich hat es auch schockiert. Ich wusste zwar, dass der Tag kommt, aber nicht, dass ich innerhalb von zwei Wochen nach meinem Geburtstag vor dem Altar stehe«, sagte ich, als ich an diesen Tag zurückdachte. Kurz darauf war Ariens Vater verstorben.

»Der Herzog hat sich hoffentlich Mühe gegeben, dass du dich wohlfühlst, oder?«, fragte sie besorgt.

»Natürlich hat er das, Becky!«, versicherte ich ihr. »Ich vermisse das hier alles trotzdem sehr oft.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass du in den letzten Monaten öfter indisponiert warst. Muss ich mir Sorgen um dich machen? Früher hast du immer vor Energie gestrotzt. Die Vorstellung, dass du schwach und krank im Bett liegst, passt einfach nicht.«

Aufmerksam musterte mich meine Schwester.

»Es ist nicht schlimm. Nur, ich versuche noch mich einzugewöhnen. Das geht nicht so schnell.«

»Du schaffst das! Du bist eine der stärksten Personen, die ich kenne. Und wer hat sonst die Ehre, in einen Zweig der Kaiserfamilie einheiraten zu dürfen?« Rebecca seufzte verträumt. »Beneidenswert. Ich meine, sieh dich an! Dieses Kleid! Es ist einfach umwerfend.«

Ich musste lachen. »Du wärst sicher eine viel bessere Herzogin als ich geworden.« Zumindest wenn es sich um Repräsentationszwecke handelte.

»Meinst du?« Vergnügt hüpfte sie neben mir her. Ein Glück, dass ich das Thema von Arien und mir ablenken konnte.

»Ich wäre wahnsinnig gerne eine Prinzessin. Vielleicht habe ich ja Glück, und der Kaiser wird auf mich aufmerksam. Immerhin ist er noch unverheiratet.«

»Ja, wer weiß.«

»Es heißt, er soll wahnsinnig gut aussehen, und er ist auch noch jung.« Plötzlich packte sie mich, zog mich zu sich und sah mir mit ihren großen türkisfarbenen Augen direkt ins Gesicht. »Wenn du in den Palast eingeladen wirst, wag es ja nicht, ohne mich dorthin zu gehen!«

»Das kommt darauf an, weswegen ich dorthin bestellt werde«, erwiderte ich.

Becky packte mich fester. »Versprich es!«

»Also gut, ich verspreche es. Aber jetzt lass mich los.«

Rebecca klatschte begeistert in die Hände und verfiel in ihre Tagträumereien.

Ich fragte mich, ob sie oder irgendjemand sonst außer dem Hofe, den Kaiser zu sehen bekommen würde. Nicht einmal zu Ariens und meiner Hochzeit war er erschienen. Dabei waren Arien und er immerhin blutsverwandt. So hatte es den Anschein erweckt, dass der Kaiser kein großes Interesse an seiner Familie hegte. Vielleicht täuschte ich mich jedoch auch, und er hatte an diesem Tag einen wichtigen Termin gehabt, den er unmöglich verschieben konnte.

»Hast du mir zugehört, Lianne?«, fragte Rebecca und stupste mich an.

»Was?«, fragte ich, da ich nicht aufgepasst hatte.

»Ich hab gefragt, ob du denn schon einmal im Palast gewesen bist«, wiederholte sie neugierig.

Ich schüttelte den Kopf.

»Wie schade. Er sieht aus der Ferne so wundervoll aus. Wie es erst sein muss, wenn man ihn betritt! Sicher atemberaubend.«

Das stimmte. Das Schloss des Kaisers thronte auf dem Gipfel des höchsten Hügels über Corona. Ganz in Weiß, mit goldenen Dächern, Stuck und vergoldeten Statuen, die die Morgensonne reflektieren. Wie goldene Sterne wirkten sie aus der Entfernung. Manchmal fragte ich mich, wie der Palast von innen aussehen mochte.

Allerdings wäre mir das Hofleben sicher bald zuwider. All die Feste, Bälle und Banketts und das vornehme Getue des Adels. In dieser Gesellschaft fühlte ich mich unwohl. Meine Aufgabe war mir tausend Mal lieber, als auf einem Ball in einem prächtigen Kleid von allen Seiten begafft zu werden. Für Becky allerdings würde sicher ein Traum wahr werden, dürfte sie ihn eines Tages von innen bewundern.

Mittlerweile befanden wir uns auf dem Rückweg zum Anwesen, nachdem wir eine große Runde durch den weitläufigen Garten gedreht hatten. Hanard, der Gärtner, hatte wunderbare Blumenbeete mit einer bunten Blütenpracht neben den Wegen angelegt. Die verschiedenen Düfte vermischten sich und erinnerten mich an früher, als ich klein genug war, um mich zwischen den Beeten zu verstecken. Eine Vielzahl an Schmetterlingen flatterte über den Blüten umher. Ein Falter landete auf Rebeccas Schulter, bevor er weiterflog und es sich auf ihrem Finger gemütlich machte.

»Ist er nicht hübsch?«, fragte sie und hielt ihn ein Stück höher ins Sonnenlicht, das seine weißen Flügel beinahe leuchten ließ.

Mich erfasste eine Wehmut, die mich wünschen ließ, wieder sieben Jahre alt zu sein – als ich noch von nichts wusste und die Welt noch heil war und hell leuchtete.

»Wenn das nicht meine kleine Lianne ist«, drang eine tiefe warme Stimme an mein Ohr.

Noch bevor ich ihn erblickte, wusste ich, um wen es sich handelte.

»Großvater!«, rief ich und rannte quer über den Weg auf ihn zu.

Lachend breitete er seine Arme aus, um mich aufzufangen.

Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ein älterer Mann mit freundlichen Lachfalten um Mund und Augen, einer runden Brille auf der Nase und einer karierten Weste über dem Hemd. Mein Großvater, der Rebecca und mich nach dem Tod unserer Eltern allein aufgezogen hatte.

Wir fielen fast um, als ich ihn stürmisch umarmte. Selbst der Geruch nach Pfeifentabak haftete an seiner Kleidung. Doch der Lauf der Zeit ging auch an ihm nicht spurlos vorbei. Sein Haar war weiß geworden, die Falten in seinem Gesicht nahmen zu und er stützte sich nun auf einen Gehstock. Trotzdem machte er nach wie vor einen gesunden, kräftigen Eindruck.

»Ich freue mich so, dich wiederzusehen!« Ich drückte ihn noch ein bisschen fester an mich.

»Es ist schon eine Weile her.« Er legte mir die Hände auf die Schultern und schob mich sanft ein Stück von sich, bevor er mich musterte. »Gut siehst du aus. Und du bist noch hübscher geworden.«

Er strich mir über den Kopf. »Rebecca hat mir erzählt, dir ginge es nicht gut.«

»Nur eine Erkältung. Mach dir keine Sorgen.« Das Thema wollte ich nicht noch einmal durchkauen. Schon gar nicht mit Großvater.

»Nun, dann bin ich beruhigt. Du siehst sehr gesund aus.«

Während Rebecca zurückblieb, um uns Freiraum zu geben, spazierten wir gemeinsam auf das Anwesen zu.

»Was beschäftigt dich, dass du uns bisher kein einziges Mal besucht hast?«, erkundigte sich Großvater.

»Ich unterstütze Arien in einigen Dingen – hauptsächlich Papierkram.« Diese Ausrede hatte ich mir seit Langem zurechtgelegt, falls mich jemand danach fragen sollte. »Und wenn er mal nicht hinsieht, trainiere ich.« Verschmitzt zwinkerte ich ihm zu.

Ein leichtes Funkeln trat in Großvaters Augen. »So, so. Dann bist du sicher noch besser geworden mit dem Degen und den Messern.«

»Ein bisschen. Ich hatte den besten Lehrer.« Neckend stupste ich Großvater in die Seite.

»Inzwischen hast du mich sicher längst überholt.« Schmunzelnd rückte er die Brille zurecht, bevor sein Gesicht ernst wurde. »Lianne, außer Papierkram trägt er dir aber nichts auf, oder? Du hältst dich da heraus?«

Rasch nickte ich bestätigend. »Natürlich. Wie ich es dir versprochen habe. Immerhin hast du mich damals davor gewarnt. Für den Notfall kann ich mich jedenfalls wehren«, sagte ich locker dahin, als wäre es nur eine Vergnügung, mit der ich mich beschäftigte.

»Ich hoffe, dass es dazu nicht kommt. Der Herzog hat seine Angelegenheiten allein zu lösen. Worum es sich dabei auch handeln mag«, sagte Großvater. »Ich hätte mir nur für dich gewünscht, dass du dir eines Tages deinen Mann selbst aussuchen würdest. Dich verlieben, aus freiem Willen heiraten.« Ein leises Seufzen entfuhr ihm, die Augen hinter den Gläsern wurden trüb. »Gerade dich hat der vorherige Herzog ausgesucht.«

»Es ist in Ordnung, Großvater.« Ich griff nach seiner Hand. »Mir geht es gut. Wirklich. Ich lebe mich langsam ein und fühle mich dort sehr wohl.«

Auf Großvaters Gesicht schlich sich ein kleines Lächeln. »Wenn du das sagst, dann bin ich zufrieden.«

Wir betraten Großvaters Arbeitszimmer durch die Terrassentür. Selbst hier sah alles genau so aus, wie ich es in Erinnerung behalten hatte. Der schwere Eichenschreibtisch in der Mitte des Zimmers, übersät mit aufgeschlagenen Büchern, Pergamenten und unachtsam gekritzelten Aufzeichnungen. Der gemusterte Teppich auf dem Boden, auf dem nach wie vor ein großer Tintenfleck prangte – Zeugnis meines verschütteten Tintenfasses als fünfjähriges Mädchen. Die Regale an den Wänden vollgestopft mit Büchern, sodass sie beinahe überquollen, der große Globus und zuletzt der Bambusstrauch neben der Terrassentür, der ein wenig vertrocknet wirkte.

»Genau wie vor einem Jahr.« Ich drehte mich einmal um mich selbst, um das ganze Zimmer zu sehen. »An was arbeitest du gerade?« Ich nahm eine der Notizen vom Schreibtisch.

»Nichts besonders Wichtiges«, winkte Großvater ab und nahm mir das Pergament aus der Hand, um es mit ein paar anderen Aufzeichnungen in einer Mappe zu verstauen. »Langsam werde ich zu alt für diese Geschäfte und widme mich mehr meiner Bienenzucht.« Als er die Krawatte um den Hals lockerte und den obersten Kragenknopf öffnete, entdeckte ich ein paar kleine rote Flecken.

»Wie es aussieht, mögen dich die Bienen nicht besonders.«

Großvater tastete nach einem der Stiche. »Wir gewöhnen uns noch aneinander.«

Ich schlenderte zu dem Globus hinüber, fuhr mit dem Finger über die Inseln und Meere.

»Früher wolltest du immer mit mir zur See fahren«, erinnerst du dich?«, fragte Großvater.

Ich kicherte, als ich daran zurückdachte, wie ich Stunden auf dem Fußboden verbracht und mir Seekarten oder Bücher über ferne Länder angesehen hatte.

»Als ich klein war, konnte ich mir nichts Aufregenderes vorstellen«, sagte ich, während ich die Konturen eines fernen Kontinents nachzeichnete. »Zusammen mit dir und Becky auf hoher See Abenteuer bestehen.«

»Obwohl deine Schwester diesen Gedanken ganz und gar nicht anreizend fand.« Großvater lehnte sich gegen den Schreibtisch.

»Stimmt, ihr war der feste Boden lieber.«

Wir lachten beide, und ich wandte den Blick vom Globus ab. Dabei entdeckte ich ein altes Kartenspiel, das auf dem Schreibtisch unter den Schriftstücken hervorgekommen war.

»Spielst du mit mir?«, fragte ich, schnappte die Schachtel und wedelte damit vor Großvaters Nase herum.

»Wenn du mich auch einmal gewinnen lässt?«, sagte Großvater, aber seine Augen blitzten.

»Mal sehen. Aber nur, wenn du es mir nicht zu einfach machst!« Freudig holte ich die Karten aus der kleinen Schachtel heraus.

»Ich werde mein Bestes geben«, sagte Großvater vergnügt. »Spielen wir im Teesalon.« Er öffnete mir die Tür und geleitete mich hinaus.

 

»Es ist schön, Sie lächeln zu sehen«, bemerkte Veena am Abend, als sie mir die Haare fürs Zubettgehen flocht.

»Ich habe meine Familie seit einem Jahr nicht gesehen und freue mich, zu Hause zu sein«, sagte ich, während ich die Bänder meines Nachthemdes vor der Brust zuschnürte.

»Ihre Familie ist sehr liebenswert. Schätzen Sie sie.«

»Das tue ich. Ohne Großvater wären Rebecca und ich ganz alleine gewesen.«

Veena hielt kurz inne, bevor sie mit meinem Zopf fortfuhr.

»Tut mir leid, ich weiß, dass du deine Familie nie kennengelernt hast«, setzte ich entschuldigend hinzu.

»Sie müssen sich nicht schuldig fühlen. Das ist in Ordnung. Ihr Großvater ist ein guter Mann.« Veena atmete etwas geräuschvoller ein, und kurz hielten ihre Hände in der Bewegung inne.

Meine Worte hatten sie doch getroffen. Ich würde mir etwas einfallen lassen, um es wiedergutzumachen.

»Sie könnten beide öfter auf das Anwesen einladen, wenn Sie keine Zeit für einen Besuch haben. Es scheint Ihnen gut zu tun«, schlug Veena vor, um das unangenehme Schweigen zu durchbrechen.

Wenn ich das nur könnte. Eine wundervolle Vorstellung, Becky und Großvater öfter um mich zu haben. Dennoch war es unmöglich.

»Das geht nicht. Du weißt, dass der Herzog auf dem Anwesen keinen Besuch wünscht. Außerdem ist er beschäftigt, und ich habe auch meine Verpflichtungen. Ich möchte sie nicht in unnötige Probleme verwickeln.«

»Es mir unbegreiflich, dass selbst Ihre Familie Sie nicht besuchen darf.« Für einen Moment wurde Veenas sonst ruhige Stimme laut, und sie packte fest die Haarsträhnen meines Zopfes.

»Es ist zu ihrem eignen Schutz«, sagte ich und konzentrierte mich ganz auf die Schleifen meines Nachthemdes.

Veena lockerte ihren Griff. »Das verstehe ich. Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit.«

»Das ist in Ordnung. Danke, dass du dir so viele Gedanken machst.« Ich tastete nach ihrer Hand, die auf meiner Schulter ruhte, als mein Zopf fertig war. Leicht drückte ich sie, ließ dann los und erhob mich. »Das wäre alles für heute. Gute Nacht, Veena.«

Veena neigte den Kopf und machte einen Knicks, bevor sie das Zimmer verließ. »Ich wünsche Ihnen angenehme Ruhe, Mylady.«

Nachdem Veena verschwunden war, ging ich zu der Reisekiste und holte den Dolch aus dem Versteck im Futter, den ich dort platziert hatte. Ich schob ihn unter das Kissen. Danach nahm ich das Buch von meinem Nachttisch, das ich aus Großvaters Arbeitszimmer ausgeliehen hatte, und legte mich ins Bett. Obwohl ich mich geborgen und beschützt fühlte, graute es mir ein wenig davor, einzuschlafen. Sicher die Gewohnheit, jederzeit mit einem Myraner zu rechnen.

Eine Bewegung im Augenwinkel ließ mich herumfahren und automatisch nach dem Dolch unter dem Kissen greifen. Meine Sorge war unbegründet. Es handelte sich lediglich um einen Raben, der es sich auf dem Geländer vor der Balkontür gemütlich machte. Seine schwarzen Knopfaugen starrten zu mir ins Zimmer. Direkt zu meinem Bett – zu mir.

Ein leichter Schauer jagte mir über den Rücken. Mit einem mulmigen Gefühl stand ich auf und zog die Vorhänge zu. Auch wenn es vollkommen schwachsinnig war, ich fühlte mich von diesem Vogel beobachtet. Als säße er dort, um mich auszuspionieren. Arien verwendete ebenfalls oft Raben. Ob er wohl ihm gehörte? Kopfschüttelnd schlug ich das Buch auf. So ein Blödsinn! Es gab jede Menge Raben in dieser Stadt.

Um mich abzulenken, vertiefte ich mich in die Geschichte und blendete meine Umgebung aus.

 

Ein Geräusch ließ mich hochschrecken. Das Buch fiel mir in den Schoß. Anscheinend musste ich beim Lesen eingeschlafen sein. Müde rieb ich mir den Schlafsand aus den Augen und lauschte.

Draußen krächzte der Rabe, als versuchte er, unbedingt Aufmerksamkeit erregen zu wollen. Wie es aussah, saß er immer noch auf dem Balkon. Hatte er mich geweckt?

Noch einmal spitzte ich die Ohren, versuchte, neben dem Krächzen andere Geräusche herauszufiltern. Unmöglich bei dem Lärm des Raben. Ungeduldig klappte ich das Buch zu, legte es auf den Nachttisch und schwang die Beine aus dem Bett. Mit schnellen Schritten lief ich zur Balkontür, riss die Vorhänge beiseite, die Tür auf und ging schnurstracks auf das Federvieh zu.

»Verzieh dich!«, zischte ich. »Oder halt endlich den Schnabel!«

Zweifelsohne verstand mich der Rabe nicht, aber er verstummte.

Endlich Stille! Ich lehnte mich neben ihm übers Geländer und achtete nochmal auf Geräusche.

Etwas aus der Ferne durchdrang die Ruhe. Ein Schrei? Auf jeden Fall eine menschliche Stimme. Ich versuchte, die Quelle zu orten. Es schien aus der Richtung des Schuppens im Garten zu kommen.

Sobald ich den Balkon verließ, breitete der Rabe seine Flügel aus und verschwand in die Nacht. Vielleicht bildete ich mir das ein oder war in meiner Zeit bei Arien misstrauischer geworden, aber ich zündete eine Kerze an, schnappte den Dolch und lief damit nach draußen in den Garten.

Der Schuppen stand nicht weit entfernt vom Haus hinter den Beeten. Der Kies knirschte leise, und die kühlen Steinchen piksten mich in die nackten Fußsohlen, während die kühle Nachtluft mich einhüllte.

Die Umrisse des Schuppens kamen in Sichtweite, und ich bemühte mich, so leise wie möglich zu sein, um nicht auf mich aufmerksam zu machen. Der Mond schien hell genug, also pustete ich die Kerze aus und stellte sie ab. Den Dolch fest in der Hand ging ich geradewegs auf den Eingang zu.

Die Tür stand offen. Ungewöhnlich. Normalerweise wurde sie am Abend verschlossen. Die Kette lag neben der Tür auf dem Weg. Ich ging in die Hocke, um sie genauer zu untersuchen. Eins der Kettenglieder schien kaputt zu sein – nein, es wurde auseinandergerissen. Wenn sich jemand mit einer Zange oder Ähnlichem daran zu schaffen gemacht hätte, wäre das Kettenglied nicht so in Mitleidenschaft gezogen worden.

Ein Wimmern drang aus dem Inneren. Ich ließ die Kette liegen und spähte durch die Tür in den Schuppen. Umrisse von Gartengeräten, einer Werkbank, Säcken mit frisch gemähtem Gras.

»Hallo?«, flüsterte ich. »Ist da jemand?«

Keine Antwort.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Ein leises Schluchzen. Der Stimme nach eine Frau.

Ich versuchte, mehr zu erkennen, um genauer auszumachen, woher das Weinen kam. »Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie mir sagen, wo Sie sind.«

Vorsichtig trat ich ein, ging mit kleinen Schritten vorwärts. Es war zu dunkel. Auf der Werkbank ertastete ich eine Schachtel Streichhölzer. Mit einem zündete ich die Öllampe am Eingang an. Gleich viel besser, dennoch erhellte das Licht nur den vorderen Teil.

»Keine Angst. Sie können rauskommen.«

Ein kaum wahrnehmbares Geräusch erklang hinter ihr, als atmete jemand rasselnd ein und aus. Eine Bewegung in den Schatten, aber so schnell, dass ihr meine Augen nicht folgen konnten.

Im hinteren Teil des Schuppens fiel einer der Grassäcke um, ließ mich zusammenzucken und den Dolch heben. Sekunden später kroch ein Mädchen dahinter hervor. Der Kleidung nach zu urteilen, eine Dienstmagd aus dem Haus.

Sie rappelte sich hastig auf und rannte auf mich zu. In ihrem Gesicht stand das blanke Entsetzen. Tränen strömten ihr über die Wangen.

»Laufen Sie!«, keuchte sie mir entgegen.

In diesem Moment schnellte ein Schatten aus einer Ecke hervor. Ein Klicken ertönte aus der Dunkelheit. Bevor mich die Magd erreichte, packte sie der Angreifer, und sie fiel mit einem schrillen Schrei zu Boden.

Panisch schabten ihre Fingernägel über den Boden, versuchten Halt zu finden, als dieses Etwas sie Richtung Hinterausgang schleifte.

Meine Alarmglocken schrillten. Ohne zu zögern, rannte ich ihr entgegen, packte ihre Hand und zog daran. Hinter dem Mädchen erhob sich ein gigantisches Ungetüm. Viel zu groß, sodass Staub von der Decke rieselte, als es sich zu weit aufrichtete und der Kopf gegen das Dach schlug. Beinahe glitt mir der Dolch aus der Hand.

»Was zum …«

Mit einem Ruck wurde die Dienstmagd nach hinten gerissen, sodass ich Mühe hatte, sie festzuhalten.

»Nicht loslassen!«, flehte sie und klammerte sich an mein Handgelenk.

Ein ungeduldiges Zischen, dann schoss eine schwarze klauenartige Hand auf mich zu.

Instinktiv holte ich mit dem Dolch aus, stach die Messerspitze mitten in die große Handfläche. Es zuckte zurück. Das Ziehen an der Magd hörte vorübergehend auf. Das war meine Chance, sie zu befreien.

Mit einem Satz sprang ich vorwärts und hechtete an ihr vorbei. Mit zwei sauberen Treffern trennte ich die Klaue der Kreatur ab, die sie am Bein gepackt hielt. Die Klinge schnitt wie durch flüssiges Wachs.

»Schnell, renn ins Haus!«, rief ich dem Mädchen zu, das sich aufrappelte und loslief.

Ich stellte mich der Kreatur in den Weg. Durch die Dunkelheit konnte ich ihre genaue Gestalt nicht erkennen. Die abgeschlagene Klaue schmolz zu einer breiartigen Masse zusammen.

Mit einem Fauchen in meine Richtung schwang die Kreatur ihre Arme wild umher. Dabei wuchsen sie noch länger und formten sich zu zwei Peitschen, die in der Luft knallten.

Es schepperte laut, als sie sämtliche, fein säuberlich aufgehängte Gartengeräte von der Wand riss; gemähtes Gras flog durch die Luft, als sie einen der Säcke mit einem Hieb mitten durchschnitt. Ein Arm schnellte so knapp an meiner Wange vorbei, dass ich den Luftzug spüren konnte. Hinter mir splitterte Glas, ehe das Licht der Laterne erlosch.

»Ich kann nichts sehen«, flüsterte das Mädchen in meinem Rücken.

»Beweg dich nicht!«, wies ich sie an.

Ohne die Laterne war es fast komplett dunkel im Schuppen. Ich lauschte auf Geräusche, die mir halfen, besser einzuordnen, wo sich die Kreatur befand.

Schleppende Schritte auf dem Boden – direkt vor mir. Neben meinem linken Ohr knallte ein Peitschenhieb, ließ mich nach rechts ausweichen. Gleich darauf traf mich ein zweiter Schlag am Arm, der einen brennenden Schmerz hinterließ. Es hatte mich mit Absicht ausweichen lassen. Das Ding war clever, und wie es schien, konnte es im Gegensatz zu mir hervorragend in der Dunkelheit sehen.

Das erneute Schluchzen des Mädchens erschwerte mir, die anderen Geräusche wahrzunehmen.

»Ich weiß, du fürchtest dich, aber bitte beruhige dich, ich kann sonst nichts hören«, sagte ich und bemühte mich, meine eigene zitternde Stimme unter Kontrolle zu halten.

In diesem Moment schlang sich etwas um meine Taille, wie ein Seil, zog sich so fest zusammen, dass ich nach Luft schnappte.

Bevor ich mich versah, wurde ich durch die Luft gewirbelt, sodass ich oben und unten nicht mehr unterscheiden konnte. Der Dolch entglitt mir, als ich gegen einen Pfeiler knallte. Weiter, immer weiter schleuderte es mich herum, ließ mich hier und da gegen die Wände prallen. Bei jedem Aufprall fing mein Kopf an, mehr zu hämmern, und die Finsternis zu Flecken zu verschwimmen.

Das Mädchen schrie. Seine Stimme schallte in meinen Ohren wider, schien von überall herzukommen. Ich landete auf einem Tisch. Wieder polterte und klirrte es laut, während Werkzeuge von der Werkbank fielen und ich mit ihr zu Boden ging.

Meine Finger ertasteten etwas Spitzes, nach dem ich automatisch griff, bevor ich wieder in die Luft geworfen wurde. Mit einer Hand packte ich den glitschigen Arm, der mich umschlang, mit der anderen umklammerte ich fest das spitze Werkzeug und rammte es in das wabbelige Fleisch. Mit Erfolg, denn die Kreatur ließ mich fallen. Zum Glück landete ich in den Grassäcken.

Meine Muskeln rebellierten, und vor meinen Augen drehte sich alles.

Das Mädchen schrie erneut, noch schriller und panischer. Ein dumpfer Schlag. Das Gekreische endete in abrupter Stille.

»Halt!«, murmelte ich benommen, aber mein Körper reagierte auf keinen Befehl.

Schleifgeräusche auf dem Boden, dann erschienen die Umrisse des Wesens Kreatur im fahlen Licht des Hinterausgangs. Hinter sich her zog es den reglosen Körper der Dienstmagd. Ob sie nur bewusstlos oder schon tot war, konnte ich nicht sagen.

Ich versuchte mich zu bewegen, ihnen hinterherzulaufen, um ihr zu helfen. Alles was ich schaffte, war, mich von den Grassäcken auf den Boden zu rollen. Angeschlagen und … besiegt. Die Kreatur verschwand mit dem Mädchen aus dem Schuppen.

Einen wütenden Schrei ausstoßend, krallte ich mich an einem der Säcke fest, versuchte mich vergebens auf die Knie zu ziehen. Meine Beine zappelten nutzlos wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich hatte ihr nicht helfen können! Gegen dieses Ding war ich vollkommen machtlos gewesen.

Was für eine Kreatur hatte sich in unserem Schuppen versteckt? Es war kein normaler Myraner, wie sie sich sonst gerne in Corona herumtrieben. Jedenfalls keinen, den ich kannte.

Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich zurück und konzentrierte mich auf meine Atmung, um das Schwindelgefühl zu vertreiben.

Ganz egal, was es gewesen war – ich musste sofort Arien benachrichtigen. Wie es aussah, gab es ein neues Monster in Corona. Eine Kreatur, viel mächtiger als alle anderen, mit denen wir es je aufgenommen hatten.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 10.01.2018

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