Die Lichter der Straßenlaternen verschwinden hinter dicken Nebelschwaden in der Dunkelheit. Die Erde dreht sich. Schwerfällig zieht er die Füße über den Asphalt. Seine Hände zittern. Umrisse verblassen vor seinen Augen, er taumelt, rutscht ab, fällt aufs Straßenbahngleis. Seit Jahren war die Angst sein ständiger Begleiter. Er konnte sie nicht ertragen, versuchte, sie zu betäuben. Jetzt, als sein letzter Atemzug entweicht, sieht er klar … sieht die Menschen, die unter seinen Qualen am meisten gelitten hatten ...
Die Verkäuferin ist sooo langsam, erinnert mich an meine Yogalehrerin. Ich stehe mitten im Einkaufswahnsinn mit zwei Hosen und einer schweren Winterjacke. Seit Stunden renne ich durch das Center und hab nur diese paar Sachen erobert. Die Verkäuferin bewegt sich in einem Zeitraffer. Adrenalinstösse zucken durch meinen Körper. Mein linker Fuß wippt nervös auf und ab. Die letzten Tage waren verdammt hart. Die Anstrengungen auf Arbeit, die vom Chef nie richtig gewürdigt werden. Und dann der Streit mit meiner Mutter. Immer wieder geraten wir aneinander, weil sie nicht in der Lage ist, eine endgültige Entscheidung zu treffen.
Musik ertönt lautstark aus meinem Handy. Ich krame mich durch meine Tasche. Auffordernde Blicke berühren mich peinlich. „Ich mach doch schon“, flüstere ich vor mich hin. Es ist meine Schwester. Ich werd ihr nur schnell sagen, dass ich gleich zurückrufe. Ich drücke die Annahmetaste und ziehe das Handy an mein Ohr.
„Hallo?“
„Hi. Ich bins, Lea.“
„Lea, ich ruf ...“
Sie fällt mir ins Wort: „Sitzt Du gerade?“
„Nein, ich stehe an der Kasse. Wieso?“
Vor mir drängelt sich eine Diva in die Schlange.
„Hey“, meine Stimme ist gereizt, „stell Dich gefälligst hinten an!“ Sie greift sich, nasehebend, die Hand durchs Haar. Meine Gesichtszüge verhärten sich.
„Thomas ist tot!“, höre ich Lea sagen.
Stille.
Mein Blick lässt von der Dränglerin ab, ich schaue auf den Boden.
„Was? Wer?“, frage ich entsetzt.
„Thomas. Er ist gestern Nacht gestorben! Man hat ihn auf einem Straßenbahngleis gefunden!“
Ich erstarre, fühle, wie etwas von mir abfällt und etwas noch Schwereres dessen Platz einnimmt.
Ich schiebe die Klamotten über den Ladentisch. „Ich bezahle später!“
„Später?“ fragt die Verkäuferin.
Ich gebe ihr einen kurzen Wink mit meiner Hand und verschwinde aus dem Laden.
„Silvia, alles in Ordnung?“
„Ja! Ich ruf später zurück.“ Ich lege auf.
Eine Schlinge zieht sich um meinen Hals, ich spüre einen Draht, der ganz eng auf meiner Kehle liegt. Mein Herz rast, stolpert. Das Stolpern wird heftiger. Hitze umspült meinen Körper, meine Haut brennt. Eine Gefangenschaft im Fegefeuer. Ich muss hier raus. Raus aus dem Center!
Schwindel treibt mich durch die Menschenmassen. Ich fühle, zu ersticken ... Strauchelnd laufe ich ins Innere der Drehtür. Sie stockt. Nur ein Glas trennt mich von der Freiheit. Davon, wieder atmen zu können. Meine Beine sacken für einen Moment in sich zusammen. Ich muss mich zusammen reißen. Die Tür beginnt, sich zu drehen. Ich stürze über die Schwelle hinaus. Eine Schweißdecke umhüllt meinen Körper. Mit einem heftigen Zug sauge ich die eisige Luft in meine Lungen. Es sticht von innen, wie kleine Nadeln, die meinen Körper durchbohren. Sensationsgierige Augen starren mich an. Ich laufe ein Stück und setze mich auf eine Bank. Sollte ich mich nicht eigentlich gut fühlen? So oft hatte ich mir seinen Tod gewünscht ...
Ich sehe einen Mann vor dem Kiosk stehen. Dieser Bart, die langen Haare und die Bierflasche direkt am Abzug. Das ist er! Nein. So war er ... Ich könnte mich übergeben! All diese Gefühle des Mitleids auskotzen. Mitgefühl, das ich eigentlich nicht haben sollte für einen Mann, der seiner Alkoholsucht nachgegeben hatte und die Menschen in seiner Nähe verletzte. Der Mann, dem ich aus Notwehr schon einmal eine Flasche an den Kopf geschmissen hatte. Der sich uns wegen häuslicher Gewalt nicht mehr als einhundert Meter nähern durfte. Den aber meine Mutter einfach nicht auf Abstand halten konnte. Mein Stiefvater, den ich so sehr hasste. Der, der ja eigentlich tief im Inneren kein schlechter Mensch war. Er war eben ein Alkoholiker. Eine weitere Seele auf Erden, die dem trinkfesten Teufel verfallen war. Beim Wetttrinken verloren. Jetzt hat er sein Leben gefordert. Ich verspüre Todesangst. Das ist alles, was bleibt. Kein Hass. Nur Todesangst, entstanden aus dem Bewusstsein der Sterblichkeit.
Texte: © Savanna
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2010
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