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Nadifa

Nadifa


Wenn Nadifa vorher gewusst hätte, dass sich ihr Leben in dieser neuen Welt so grundlegend ändern würde, hätte sie sich niemals auf den beschwerlichen und gefährlichen Weg begeben.


~Die Männer schleichen um die Hütte. Sie hört ihre schweren Schritte näherkommen. Zitternd streicht sie über die Haare des kleinen Jungen, den sie in ihren Armen hält. Sie hat Angst, dass er laut zu weinen beginnt. Je näher die Schritte kommen, desto mehr presst sie den kleinen Jungen an ihren Körper.

 

Aus angstgeweiteten Augen schaut sie zu den drei Männern auf, die mit Macheten bewaffnet vor ihr und ihrem Kind stehen. Eine der Macheten schnellt blitzend auf sie zu. Ihr Junge schreit und Blut fließt über den Lehmboden.~


Die Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel. Hin und wieder erklingt das Geschrei der Möwen. Nadifa leckt sich über die von Sonne und Durst ausgetrockneten Lippen. Wie lange hat sie geschlafen? Es müssen einige Stunden gewesen sein, denn die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht.

Ängstlich schaut sie sich um. Keiner der Männer um sie herum schwingt eine Machete. Sie hatte wieder diesen schrecklichen Albtraum.

 

Nadifa liegt geschützt in den Armen eines muskulösen Mannes. Sie schaut zu ihm herauf. Das Gesicht weist markante, harte Gesichtszüge auf. Sein Blick ist starr nach vorn gerichtet. Er hat nicht bemerkt, dass sie wach wurde. Seine Nasenflügel beben leicht. Er ist ihr Mann und er heißt Salman.



Ein Baby fängt an zu weinen und Nadifa schaut zu der jungen Frau. Das rote mit weißen Tupfen bedruckte Kopftuch, welches die Frau trägt leuchtet in der Sonne. Sie lächelt ihr Baby an und wiegt es hin und her.

Sie wiegt es im Einklang mit dem Schaukeln des Bootes.


Leichter Wellenschlag lässt das Boot auf dem Meer tanzen. Nadifa traut sich, sich aus den Armen von Salman zu lösen und sie setzt sich aufrecht hin. Apathische Gesichter schauen sie an. Sie blickt in leere Augen und auf von Sonne, Hunger und Durst ausgemergelte Körper.

Niemand redet, es herrscht fast gespenstische Stille auf dem maroden Holzboot.

 

„Trink“, ein junger Mann drückt Nadifa eine Flasche in die Hand. Sie saugt gierig an der Wasserflasche und reicht sie nach ein paar Schlucken an die junge Frau, die neben ihr sitzt weiter. Dankbar lächelt die Frau Nadifa an. Ihre blitzendweißen Zähne leuchten mit der Sonne um die Wette. Nadifa lächelt zurück und schaut zum Himmel hinauf. Ganz behutsam zerkaut sie das winzige Stück Fladenbrot, welches sie zuvor aus einem Stück Stoff ausgewickelt hatte.

 

Sie denkt an ihren Sohn. „Ob es ihm gut geht?“, fragt sie sich.



Kühler Wind umfängt die Menschen. Längst ist die Sonne untergegangen und eine eiskalte Nacht erwartet die Menschen auf dem Boot. Nadifa schaut mit scheuem Blick zu Salman, ihrem Mann. Er ist nicht ihr Ehemann, sie kennt ihn überhaupt nicht. Aber auf diesem knarrendem Boot ist er ihr Vertrauter. Sie beginnt zu frösteln und Salman zieht sie an sich.



Hoher Wellengang verhindert einen von den Torturen des Tages erlösenden Schlaf. Dicht gedrängt, einander festhaltend durchstehen die Menschen die Nacht.

 

Nadifa schaut zu ihrer Bootsnachbarin und bemerkt, dass sie lautlos weint. Ihr Baby ist eingeschlafen und zuckt mit den kleinen Ärmchen und Beinchen hin und her. Ganz fest drückt die junge Mutter ihr Kind an ihr Herz.

Nadifa weiß, dass dieser kleine Mensch überleben wird. Sie spürt die Entschlossenheit der Mutter und spannt ihre Muskeln an.


„Ich werde auch überleben“.

Ihr Kopf fällt zur Seite und sie schläft erschöpft ein.


~Mit knochigen Fingern zerrte die uralte Frau an Nadifas Bluse. Sie war die Dorfälteste und Nadifa hatte sehr großen Respekt und Angst vor ihr.

Geh nach Europa und verdiene Geld für deinen Sohn und deine Angehörigen“.

 

Durch die großen Zahnlücken entwichen die Worte spuckend aus ihrem Mund. „Tust Du es nicht, wird deine Familie verflucht sein und in der Hölle schmoren. Dein Clan wird vernichtet werden und ihre Gebeine werden von Kamelen durch die Dörfer gezogen.

 

Drei Männer werden kommen und deinen Sohn töten“

Drei Männer werden kommen und deinen Vater und deine Mutter töten“

Drei Männer werden kommen und deine Schwestern und Brüder töten“

Drei Männer werden euch alle töten“

 

Ihre Macheten werden in der Sonne glänzen und mit fürchterlichen Schmerzen einhergehend die Todesbringer sein“.~



Nadifa erwacht und presst sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Immer wieder sieht sie das Gesicht der alten Frau vor sich. In den Dörfern erzählte man sich grausame Geschichten über sie und das ganze Clans durch ihre Verfluchungen regelrecht ausgelöscht wurden. Sie muss ihre Liebsten von den Flüchen befreien und ihren geliebten Sohn retten, dessen Vater durch eine Bombe zerfetzt wurde.


Die Nacht ging vorüber, wie so unzählig viele Nächte zuvor. Es gab kein Zeitgefühl mehr. Ganz leise fängt ein Mann, der am Bug des Bootes sitzt, zu singen an. Der wehklagendende Gesang vermischt sich mit dem lauten Sirenenhupen des riesigen Schiffes, welches in Sichtweite ist.


Zwei Männer und eine Frau sind in der letzten Nacht durch den hohen Wellengang über Bord gerissen worden. Ihre Hoffnung auf ein besseres Leben versank in den Fluten des Meeres.


Salman umfasst Nadifa und hebt sie hoch. Sie wird von fremdländisch aussehenden Männern in Obhut genommen. Eine Decke wird um sie gelegt. Lautes Stimmengewirr ist um sie herum. Von allen Seiten wird sie umarmt. Ihr wird schwindelig. Salman ist neben ihr. „Wife, Wife“, schreit er zeigend auf Nadifa.

 

Der Hafen von Lampedusa ist nicht mehr weit. An Bord des italienischen Schiffs ist Nadifa von den Qualen der vergangenen Wochen erlöst.

Essen und Trinken! Schlafen!

Ihre Wünsche sind bescheiden. Dankbar schaut sie die fremden Menschen an, die sie umsorgen.



Am Kai des Hafens steht sie in einer großen Schlange.

„Somalia“? Nadifa nickt. Die Männer in ihren weißen Schutzanzügen versetzen sie in Angst. Wie Vieh wird sie begutachtet und untersucht. Sie wird unsanft weitergeschoben. Hinter ihr befindet sich Salman und ein kleines Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit breitet sich in ihr aus.


„Germany“, sagt Salman im ruhigen und doch energischen Tonfall. Nadifa steht neben ihm. Er ist ihr einziger Vertrauter inmitten all dieser fremden Leute, fremder Gerüche, fremder Welt.

 

„Germany good“, lächelt der Mann auf dem Amt. Er überreicht Salman einige Papiere und nickt Nadifa zu.


Starr vor Angst sitzt Nadifa im Flugzeug. Sie klammert sich an Salman. Ohrenbetäubender Lärm durchdringt ihre Ohren. Sie wird in ihren Sitz gepresst. War sie jetzt tot? In der Hölle? Die Menschen um sie herum sind laut. Ständig wird auf sie in ihr unverständlichen Worten eingeredet. Sie möchte Ruhe. Ruhe, nur ein wenig Ruhe. Nadifa wird ohnmächtig.


„Hey“, Salman schüttelt sie und Nadifa erwacht. Das Flugzeug ist gelandet.


Welcome to Germany „ steht auf großen Plakaten, die einige Menschen hochhalten.



Der Beamte mit den goldeingefassten Brillengläsern schaut Nadifa und Salman etwas linkisch an. Immer wieder tupft er sich Schweißperlen vom Gesicht. Im Büro herrschen fast 30 Grad. Nadifa und Salman sind die dreiunddreißigsten und vierunddreißigsten Flüchtlinge, deren Anträge er an diesem Morgen im hochsommerlichen Deutschland bearbeiten muss.

 

Die Identitäts-Papiere sind gefälscht. Das ahnt der Beamte. Er ahnt auch, dass die Beiden kein Ehepaar sind.

Seufzend und sich erneut den Schweiß von der Stirn wischend überreicht er Salman abgestempelte Dokumente. Er macht seinen Dienst. Dienst nach Vorschrift.

 

Als Salman und Nadifa das Büro verlassen, zieht der Beamte seine unterste Schreibtischschublade auf.

„Den habe ich mir jetzt verdient“. Der Flachmann rinnt durch seine Kehle. „Next please, come in“, ruft er mürrisch in den Gang.

 

Salman und Nadifa fahren mit einem Dutzend anderer Afrikaner begleitet von Helfern in einem Bus zu der zugewiesenen Unterkunft.



Die freundliche, grauhaarige Frau mit der Akte unter dem Arm zeigt Nadifa und Salman das Zimmer. Es ist hell und mit weißen Möbeln ausgestattet. Das Bett ist frisch bezogen. Die Bettwäsche mit dem bunten Muster erinnert Nadifa an ihren bedruckten Kitenge-Stoff in ihrer Heimat.

 

Alles ist so fremd. So neu und trotz Ängsten und Skepsis ist Nadifa neugierig.

 

Die erste Nacht im Flüchtlingsheim ist wunderschön. Es riecht fremd, aber irgendwie auch vertraut. Die Menschen, denen sie bislang in Deutschland, in dieser Stadt begegnet ist, sind freundlich und herzlich.

 

In dieser Nacht träumt sie von ihrem Sohn. Glockenhell klingt sein Lachen. Neckisch zieht er an ihrem Sarong und zeigt stolz auf die Ziegenherde, die er ganz alleine versorgt hat. Mit einem Lächeln auf den Lippen erwacht Nadifa zum ersten Mal in diesem fremden Land.



Salman weicht in den nächsten Tagen keinen Meter von ihr. Alle in der Unterkunft respektieren ihn als Nadifas Mann und Beschützer. Er wacht über sie. Sie ist keine Minute mehr alleine. Unbehagliche Gefühle beschleichen Nadifa.

 

In dieser Nacht liegt sie alleine im Bett. Zum ersten Mal hat sich Salman nicht neben sie gelegt.



Gierige Augen schauen auf Nadifa herab. Der Mann über ihr schaut böse und diabolisch aus. Seine Augen funkeln.

 

Nadifa schreckt hoch und eine grobe Hand presst sich auf ihren Mund. Sie spürt, dass ihre Beine gespreizt werden. Ein grauenvoller Schmerz durchfährt ihren Körper. Ihre Seele brennt. Brennend heiße Tränen fließen über Nadifas Gesicht. Der Mann hat die Hand von ihrem Mund weggezogen, doch sie kann nicht schreien. Er riecht bestialisch nach Schweiß und Urin.

 

Wortlos legt der Mann das Geld auf den kleinen Tisch und verlässt das Zimmer.

 

Missbraucht und gedemütigt liegt Nadifa auf dem Bett. Ihre großen, dunklen Augen starren teilnahmslos an die Decke.

 

In dieser Nacht stirbt ihre Seele.

 

Die Zimmertür öffnet sich und lachend steht Salman im Türrahmen.

„Die „Madame“ hatte recht“, feixt er.

„Du bist Geld wert, Du wirst mir viel Geld einbringen und alles abbezahlen, was ich an die Schleuser für Dich und mich bezahlt habe“

„Mein Leben wird nicht von Almosen bestimmt, mein schönes, reiches Leben bist Du meine Schöne!“. Teuflisch grinsend schaut Salman Nadifa an.


Abermals geht in der nächsten Nacht die Tür zu ihrem Zimmer auf. Zwei korpulente Männer halten sie auf dem Bett fest. Arabisch klingende Wortfetzen befehlen Ungeheuerliches. Nachdem die Männer das Zimmer verlassen hatten, liegt ihre seelenlose Körperhülle blutend auf den Laken. Ihr Gesicht ist vor Angst verzerrt.

In den nächsten Wochen und Monaten erlebt sie Nacht für Nacht unvorstellbare Martyrien.


Nadifa weiß nicht, wie viel Geld die Männer, die sie missbrauchen bezahlen. Dieses Geld wird von den missmutig dreinschauenden Männern der Security-Firma abgeholt. Die nette Dame mit der Akte unter dem Arm sagte bei Nadifes Ankunft, dass diese Security - Männer für ihren und den Schutz der anderen Bewohner im Heim bezahlt würden.

 

Schutz? Niemand ist für Nadifa da. Niemand hilft ihr.


~Drei Männer mit Macheten.

Drei Männer schlachten deinen Sohn.

Zahnlose Worte.

Verflucht bist Du.~


Nadifa ist eine Gefangene.

 

Sie zahlt für die Schleuser.

Sie zahlt für ihren Zuhälter.

Sie zahlt für ihre Vermittler.

Sie zahlt für ihren Sohn.

Sie zahlt für ihre ersehnte Freiheit.

Sie zahlt für ihren Aufenthalt in Deutschland.

 

Sie zahlt und begräbt ihre Hoffnungen, ihre Sehnsüchte, ihre Wünsche, ihr Leben.

 

Sie geriet in die grausamen Fänge der profitablen Asylindustrie.

 

Bauinvestoren , die völlig marode Grundstücke mit Hilfe der Landesregierungen zu Tempeln der Hoffnung ausgestalten und nur an die Ausgestaltung ihrer eigenen Profite denken.

Sozialarbeiter, die lediglich auf Gehaltslisten geführt und abgerechnet werden. Sozialklone im Dienste der sozialen Vereine.

„Money makes the world go round“, das ewig gleiche Spiel der Menschenfeinde.

Vertuscht und verschwiegen.

 

Das gibt es in Deutschland nicht, das ist tabu. Basta!

 

Es kann nicht sein, was nicht sein darf.



Geschunden und gezeichnet irrt Nadifa durch die Innenstadt. Die Geschäftsauslagen sind hell erleuchtet und werben um Kunden. Überall glitzert und funkelt es. Der Gehweg ist mit Reif bedeckt. Nadifa bleibt vor einem Fenster stehen. Auf einer großen Scheibe dreht sich ein wunderschöner Rauschgoldengel, der in eine Trompete bläst. Durch die Außenlautsprecher ertönt Musik.

 

O du fröhliche, o du selige,

gnadenbringende Weihnachtszeit!

Welt ging verloren, Christ ward geboren:

Freue, freue dich, o Christenheit!

 

Nadifa klammert sich durchgefroren und von allen Kräften verlassen an die nächstgelegene Straßenlaterne und sinkt zu Boden.


„Hallo“, dringt es an ihr Ohr. „Kann ich Ihnen helfen?“

Die Worte klingen nebulös und aus weiter Ferne.

Dicke Fäustlinge heben sie hoch. Nadifa schaut in braune, besorgte Augen.

Die junge Frau ist ihre Retterin.


Der Tee ist heiß und erweckt ein wenig ihre Lebensgeister. Die erste Nacht in der Studentinnen-Wohngemeinschaft fühlt sich großartig an. In dieser ersten Nacht in Sicherheit stiehlt kein Mann ihre Würde.

 

Die nächsten Wochen verbringt Nadifa bei den jungen Frauen. Ihnen vertraut sie sich an und erzählt von den schrecklichen Erlebnissen in der Unterkunft. Sie konnte fliehen, als der diensthabende Wachdienstmitarbeiter sich um eine streitende Gruppe Männer in der Küche kümmern musste. Sie rannte einfach los in die kalte Winternacht.

 

Sie ist erstaunt über die Lebensweise der jungen Frauen und noch erstaunter über das Leben ohne Zwänge. So frei und ungezwungen würde sie auch einmal leben wollen.

 

Durch die Studentinnen lernt Nadifa SAIDA kennen. Eine Frauen, -und Menschenrechtsorganisation.



An diesem ersten sonnigen Frühlingstag im März hat Nadifa keine Angst, als sie im Flugzeug sitzt. Voller Vorfreude nimmt sie die Hände ihrer Sitznachbarin und drückt sie. Immer wieder lächelt Nadifa die Frau von SAIDA an. Als das Flugzeug zur Landung ansetzt, zittert Nadifa am ganzen Körper.



Flirrende Hitze herrscht in Mogadischu.

Der kleine Junge reißt sich von seiner Großmutter los und läuft auf Nadifa zu.


„Guryanta, Guryanta, Mama, Mama“


Nadifa breitet ihre Arme aus und hebt ihren Sohn hoch. Das Gesichtchen des Jungen ist von Küssen ganz nass.

 

Hand in Hand gehen Nadifa und ihr Sohn auf die freudig winkende Familie zu.


                                           Freiheit







 




 


Impressum

Texte: Ute Look
Tag der Veröffentlichung: 06.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

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