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Stille Nacht - Böse Nacht

Stille Nacht – Böse Nacht

 

Der kleine Plastikweihnachtsbaum blinkte unaufhörlich in schillernden, bunten Farben. Er stand auf der Theke in der Tankstelle, in der ich heute Dienst hatte. Es war Heiligabend und es würde ein sehr ruhiger Abend werden. Die Tankstelle befand sich auf der Landstraße und lag zwischen zwei Dörfern. Das nächstgelegene Dorf lag 30km entfernt.

 

Einen Vorteil hatte die Lage des Tankstellenbetriebs. Es war die letzte Tankstelle vor der Autobahn und viele Autofahrer fuhren einen kleinen Umweg, um nicht das teurere Benzin von den Autobahntankstellen zapfen zu müssen. Ich richtete mich auf eine stille Nacht ein. Bei diesem Gedanken musste ich schmunzeln. „Heilig brauchte sie nicht zu werden“ dachte ich. „Moin Timo“ Mein Chef betrat den Tankstellenraum und grinste mich an. „Allens klaar bi Di? Ich nickte und er überreichte mir das Wechselgeld. „Dann man gute Geschäfte“ er verabschiedete sich und ich wünschte ihm ein schönes Fest mit seiner Familie.

 

Draußen war es bitterkalt. Die letzten Tage hatte es kräftig geschneit und die umliegenden Wälder in Eiswälder verwandelt. Die Wetterlage war ebenfalls ein Garant für einen sehr ruhigen Abend. Mir machte es nichts aus. Meine Eltern wohnten zu weit weg, um mit ihnen das Weihnachtsfest verbringen zu können und eine Freundin hatte ich nicht. Als Student konnte ich den Verdienst neben meinem BAFÖG gut gebrauchen. Ich zählte das Wechselgeld nach, verstaute es und bevor ich die Tankstelle für Kunden öffnete, machte ich noch einen kleinen Rundgang, um mich zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.

 

Wir hatten zwei Zapfsäulen. Ein paar Meter neben dem Verkaufsraum befand sich ein kleines, rotes Backsteinhäuschen. In diesem Häuschen gab es einen WC-Raum, welcher von Kunden und Personal genutzt wurde. Der andere Teil war Lager,- und Materialraum. Alles schien ok zu sein. Es konnte losgehen. Mir war kalt und ich freute mich auf den gewärmten Verkaufsraum. Im Sicherungskasten aktivierte ich die Stromversorgung der Außenanlage. Es war 17 Uhr und mittlerweile war es draußen stockdunkel geworden. Es schneite und beim Anblick des kitschigen Plastikbäumchens wurde mir so richtig warm ums X-Mas Herz. Ich lachte und zog mein Buch aus dem mitgebrachten Rucksack hervor.

 

Ich war so versunken in mein Buch, dass ich den Kunden gar nicht bemerkte. Erst ein durchdringendes Räuspern ließ mich aufschauen. Ich schaute in ein kaum erkennbares Gesicht. Ein weißer Rauschebart dominierte das Antlitz. Die rote Kapuze war tief ins Gesicht gezogen und unter den angeklebten Watteaugenbrauen erahnte man Augen. Ich musterte den Kunden von oben bis unten. Er war ganz in einen rot-weißen Samt-Pelerinen-Mantel gehüllt. Ein schwarzer Gürtel und schwarze Handschuhe vervollständigten das Erscheinungsbild.

„Ho, ho, ho junger Mann, noch nie einen Weihnachtsmann gesehen?“ Seine tiefe Stimme beindruckte mich und ich lächelte ihn etwas ehrfürchtig an. Der Weihnachtsmann nahm meine Unsicherheit wahr und lachte. „Na, na, na junger Mann nicht artig gewesen? „

Ich prustete los und fragte ihn, an welcher Säule er getankt hätte. Der Weihnachtsmann erzählte mir, dass er bis hier her von einem Anhalter mitgenommen wurde, weil er mit seinem Auto auf der Landrasse liegengeblieben sei. Er befürchte nun, nicht rechtzeitig bei der Familie, die ihn gebucht hatte einzutreffen.

 

Während unseres Gesprächs öffnete sich die Eingangstür und eine junge Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand kam herein. Der Junge zappelte und zog an der Hand der offensichtlichen Mutter. Die junge Frau lächelte uns an und sagte, dass der junge Mann an ihrer Seite schon voller Vorfreude auf die Bescherung war. „Bist Du der Weihnachtsmann?“ Der Junge schaute forsch in das Gesicht des Mannes. „Natürlich bin ich das“ Der Junge schien zufrieden mit der Antwort. Er fragte seine Mutter, ob der Weihnachtsmann denn nun mit zu ihnen nach Hause fahren könne. Dann würde es bestimmt auch schneller die Geschenke geben. Wir lachten.

 

Der Mann im Weihnachtskostüm erzählte kurz von seiner misslichen Lage und fragte die Frau wohin sie fahren würde und ob sie ihn ein Stück mitnehmen könnte. Er müsse in die Kreisstadt. Sie willigte ein und ich freute mich, dass der Weihnachtsmann noch rechtzeitig bei der Familie, die ihn sicherlich schon sehnsüchtig erwartete eintreffen würde.

 

Die Mutter fragte mich, ob wir eine Kundentoilette hätten. Ich ging mit ihr und dem Jungen zum Backsteinhaus und zeigte ihr das WC. Der Wagen der jungen Frau parkte in Richtung Landstraße und beim Vorbeigehen sah ich „Mister Santa“ auf dem Beifahrersitz. Er lächelte mich freundlich nickend an.

 

Ich war froh, wieder hinter der Theke sitzen zu können. Draußen zog ein eisiger Wind auf und es schneite. Die mitgebrachte Lektüre fesselte mich und ich achtete nicht auf die Wegfahrt der jungen Frau. Ein neuer Kunde betrat den Verkaufsraum. Er klopfte sich den Schnee von der Jacke und ging auf mich zu. Was er sagte verstand ich kaum. Er nuschelte. Seine Pudelmütze war tief ins Gesicht gezogen, so dass ich sein Gesicht kaum erkennen konnte. Er zeigte auf die Zigaretten, die sich hinter mir befanden und ich verstand nun, was er haben wollte. Seine Stimme empfand ich sehr unangenehm. Ich bemerkte, wie seine Blicke mich und den gesamten Raum taxierten. Er steckte das Päckchen Zigaretten in seine Jackentasche und murmelte etwas in meine Richtung. Beim Hinausgehen schaute er sich nochmals intensiv um. Ich war irgendwie erleichtert, als der Mann sich zu Fuß von der Tankstelle entfernte. „Vielleicht ist es ein Dorfbewohner “ dachte ich. Ich schaute auf meine Armbanduhr und gähnte. 20.30 Uhr. Es lagen noch etliche Arbeitsstunden vor mir. Aus meiner Tasche holte ich meinen uralten MP3 Player heraus, setzte mir die Kopfhörer auf und versank in meiner Musik.

 

Plötzlich sah ich eine schemenhafte Gestalt in gebückter Haltung vor der großen Ladenfensterscheibe vorbeischleichen. Die Ladentür öffnete sich nicht. Es war also kein neuer Kunde. Durch das Schneegestöber konnte ich keine Einzelheiten erkennen, wer oder was das gewesen sein konnte. Mich beschlich ein mulmiges Gefühl. Ich setzte die Kopfhörer ab. Minuten später vernahm ich ein lautes Scheppern. Es kam von draußen. Vielleicht war durch den Wind die Mülltonne umgefallen. Ich musste nachsehen.

 

Draußen war alles ruhig. Nur der Wind pfiff mir um die Ohren. Die Mülltonne stand aufrecht an ihrem Platz. Es musste etwas anderes gescheppert haben. Aber was? Und wer schlich auf dem Gelände herum? Ich begann nervös zu werden. Ein lautes Poltern ließ mich zusammenzucken. Es kam aus Richtung des Backsteinhauses. Mit zitternden Knien bewegte ich mich auf das Haus zu. War da nicht wieder jemand, der um das Haus schlich? Oder hatte mir nur meine Angst einen Streich gespielt? Je näher ich dem kleinen Haus kam, desto mehr klopfte mein Herz. Ich schaute mich mehrfach um, ob mir jemand folgte oder mich womöglich von hinten packen könnte.

 

Ganz vorsichtig öffnete ich die Tür. Ich wusste, dass sich im Lagerraum eine Axt befand. Diese wollte ich mir holen. Sie würde mir ein kleines Sicherheitsgefühl geben. Der Platz, an dem die Axt normalerweise stand war leer. Ich wich irritiert zurück. „Bestimmt hatte sie mein Chef mit nach Hause genommen“ beruhigte ich mich. Er lieh sie sich öfters aus. Hinter mir raschelte etwas. Blitzartig drehte ich mich um. Nichts. Ich sah nichts, was hätte rascheln können.

 

Ich ging nach draußen und traute meinen Augen nicht. Der Kleinwagen der jungen Frau stand noch an der Auffahrt. Sämtliche Türen waren weit geöffnet. „Was war hier los?“ Laut „Hallo“ rufend rannte ich zu dem Wagen. Es befand sich niemand in dem Fahrzeug. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass im WC Raum des Backsteinhauses Licht brannte. Meine innere Stimme sagte mir, dass etwas Schreckliches passiert sein müsse. Ich hatte wohl nichts mitbekommen, weil die Kopfhörermusik sehr laut gewesen war. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging erneut zu dem Backsteinhaus.

 

Ich öffnete die Toilettentür. Die junge Frau lag zusammengekrümmt, gefesselt und geknebelt auf dem Boden. Ihr Sohn lag seitlich, ebenfalls geknebelt und gefesselt neben ihr. Sie bewegten sich nicht. Ich bückte mich zu den beiden hinunter. Zitternd vor Angst berührte ich den Jungen. Angstgeweitete Augen sahen mich an. Die Frau bewegte sich. Nie zuvor in meinem Leben war ich so erleichtert wie in diesem Augenblick. Sie lebten! Ich löste die Fesseln und Knebel. Die Frau und ihr Sohn zitterten und brachten kein Wort heraus. Ich musste so schnell wie möglich die Polizei und den Notarztwagen rufen. „Ich hole Hilfe“ sagte ich zu den beiden und rannte auf das Tankstellengelände.

 

„Vorsicht“ Hinter Dir! Runter auf den Boden!“ Ich nahm die laute Männerstimme kaum wahr. Instinktiv drehte ich mich um. Eine große, blanke Axt sauste auf meinen Schädel zu. Zusammenzuckend, die Hände vors Gesicht schlagend ließ ich mich auf den Boden fallen. Der Schuss pfiff knallend über mich hinweg und durchschlug die Stirn des Weihnachtsmanns. Er fiel zusammen mit der Axt zu Boden. Blut sickerte auf den weißen Rauschebart.

Der Mann mit der Pudelmütze ging auf ihn zu und stieß ihn an. „Tot, mausetot“ nuschelte er. Ich lag noch immer auf dem Boden, unfähig mich zu bewegen. Als ich die Polizeisirene hörte, schossen mir die Tränen ins Gesicht.

 

Der unangenehme Kunde und mein Lebensretter war der Revierförster unserer Gemeinde. Er hatte die polizeilichen Warn-Durchsagen gehört und wollte nachschauen, ob bei mir alles in Ordnung sei.

 

Der als Weihnachtsmann verkleidete Täter hatte am frühen Morgen eine Familie, Vater, Mutter und drei Kinder im Alter von 4-10 Jahren auf bestialische Weise in unserem Nachbardorf umgebracht.

 

Eine der aufgeklebten Watteaugenbrauen trieb tänzelnd durch den Wind auf mich zu und hinter der Ladenfensterscheibe sah ich den kleinen Weihnachtsbaum unaufhörlich vor sich hin blinken.

 

„Stille Nacht, heilige Nacht“

 

 

 

 

Impressum

Texte: Ute Look
Bildmaterialien: Ute Look
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014

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